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Aufgeben ist keine Option

Katastrophe In der Folge des verheerenden Erdbebens in der Türkei und Syrien werden Rufe nach guter Regierungsführung und mehr Menschlichkeit laut.

Wieviel diese gegen die tiefen politischen Verwerfungen ausrichten können, ist fraglich.

TEXT SARA WINTER SAYILIR

Das letzte grosse Erdbeben liegt gar nicht so lange zurück: 1999 erschütterte ein Beben der Stärke 7,6 den Norden der Türkei rund um die Städte Gölcük und Izmit am Schwarzen Meer, auch Teile der Metropole Istanbul waren betroffen. Mehr als 18 000 Menschen kamen dabei ums Leben. Bei den aktuellen Erdbeben im Südosten der Türkei und in Nordsyrien liegen die offiziell angegebenen Opferzahlen mit mehr als 42 000 Verstorbenen in der Türkei und gemeldeten mehr als 5800 in Syrien weit höher –Tendenz weiter steigend.

Und wieder wird in der Türkei darüber diskutiert, dass das Ausmass von Profitinteresse, Korruption und fehlendem Knowhow in der Baubranche massgeblich dafür verantwortlich ist, dass so viele Gebäude eingestürzt sind. Damals wurden einzelne Unternehmer vor Gericht gestellt, strukturell änderte sich offensichtlich kaum etwas. Auch führte die türkische Regierung vor 23 Jahren eine sogenannte Erdbebensteuer ein, deren Gesamteinnahmen laut der türkischen Zeitung Cumhuriyet heute 37 Milliarden US-Dollar betragen müssten. Doch anstatt in einen Fonds für Erdbebenkosten zu investieren, sei das Geld in den laufenden Staatshaushalt eingeflossen, vermuten Expert*innen.

Dies ist eines der leichter zu ertragenden Beispiele dafür, warum die Menschen im Erdbebengebiet derzeit lieber beispielsweise auf die gemeinwohlorientierte NGO Ahbap des Rockstars Haluk Levent vertrauen als auf den Staat – ein Staat, der in Form der Regierung Erdoğan trotz offensichtlich massiver Überforderung darauf drängt, alle Hilfe durch die eigenen Kanäle laufen zu lassen. Um ordentlich was abzuzweigen, befürchten Kritiker*innen. Um die eigene Klientel bevorzugt zu behandeln, es stünden schliesslich Wahlen ins Haus, ergänzen andere. So wurde mehrfach beobachtet, wie private Hilfslieferungen und sogar Baumaschinen beschlagnahmt oder mit dem Logo der staatlichen Katastrophenschutzbehörde AFAD umetikettiert und als eigene Leistung ausgegeben wurden. Und dem Roten Halbmond wurde schon vor den Beben eine grosse Nähe zur Regierung nachgesagt. Um die schnelle Verbreitung von Nachrichten über nicht-präsente Hilfe einzudämmen, hatte die AKP-Regierung bereits den Nachrichtendienst Twitter eingeschränkt und zahlreiche Accounts und Einträge auf sozialen Netzwerken sperren lassen. Kritiker*innen würden genau beobachtet und zu gegebener Zeit bestraft, warnte Präsident Recep Tayyip Erdoğan.

So war auch niemand unter den Überlebenden in der von der alevitisch-kurdischen Minderheit bewohnten Region rund um die im Epizentrum befindliche Kleinstadt Pazarcık in der Provinz Kahramanmaraş überrascht, dass es mancherorts 36 Stunden und länger dauerte, bis überhaupt Hilfe den Weg in die Dörfer fand. Und es waren privat oder über alevitisch-kurdische Solidaritätsnetzwerke organisierte Hilfsgüter aus dem Aus- und auch Inland, die der Region zugutekamen. Von AKP-Seite war nichts zu sehen, abgesehen von einem Pflichtbesuch des Präsidenten in Pazarcık am 9. Februar. Es mangelte weiterhin an medizinischer Versorgung, an Zelten und Öfen gegen die Minusgrade in den Nächten, an Hygieneartikeln, warmer Kleidung und Medikamenten. Selbst wenn man der Regierung wohlgesonnen ist und keinen bösen Willen sehen will; allein die schiere Grössenordnung des zu bewältigenden Problems – das betroffene Gebiet ist fast so gross wie Deutschland – bietet Grund genug für das langsame Vorankommen der Rettungsarbeiten. Und doch zementiert die Negativ-Präsenz des Staates bestehende Ängste und Unzufriedenheit in einer Region, aus der bereits viele aufgrund politischer Verfolgung durch denselben Staat fliehen mussten. Angehörige der pro-kurdischen Partei HDP werfen der Regierung denn auch vor, den in den betroffenen Provinzen ausgerufenen Ausnahmezustand dafür zu nutzen, zivilgesellschaftliche Hilfsaktionen einzuschränken, um ihr eigenes Scheitern zu vertuschen. Auch fragen sich hier viele, wo das sonst so präsente Militär in der Region eigentlich abgeblieben ist.

Syrien im Stich gelassen

Die Lage in Nordsyrien ist noch drastischer. Die komplexe Situation durch den Krieg, die damit verbundene Isolation des Landes sowie die gegenläufigen Interessen der politischen Akteur*innen vor Ort machen Katastrophenhilfe schwierig. Zunächst blieb die internationale Gemeinschaft einfach untätig. Martin Griffiths, Chef des Uno-Büros für humanitäre Angelegenheiten, gab am 12. Februar in einem Tweet zu, die Syrer*innen im Stich gelassen zu haben. Die private Organisation der syrischen Weisshelme tat mit über 3000 Freiwilligen ihr Bestes, nach Überlebenden zu suchen und diesen zu helfen, es fehlt jedoch an Ausrüstung, Personal, Hilfsgütern. Auch wenige andere zivilgesellschaftliche Organisationen wie der Kurdische Rote Halbmond leisten wichtige Hilfe vor Ort und unterstützen auch kleinere Initiativen. Der UNHCR schätzt die Zahl der Betroffenen in Syrien derzeit auf mehr als 8,8 Millionen.

Viele Überlebende des Bebens in der Südosttürkei hatten aus dieser Sicht gewissermassen noch Glück im grossen Unglück, dass sie auf Solidaritätsnetzwerke aus der Diaspora zählen können, die selbst über tausende Kilometer Distanz an gewisse Orte schneller Hilfe zu schicken vermochten als die meisten Behörden vor Ort. Auch wurden innerhalb kürzester Zeit in ganz Europa Geld- und Sachspenden zusammengetragen, welche die tiefe Verbundenheit vieler Menschen etwa in der Schweiz mit der Region unter Beweis stellten – aber auch die Notwendigkeit informeller, personengebundener Netzwerke für das Überleben vieler Betroffener. Allein in Basel versammelten sich rund 2000 im engsten Umfeld betroffene Menschen zu einer Gedenkveranstaltung. Viele werden probieren, obdachlos gewordene Verwandte in die Schweiz zu holen, bis überhaupt an Wiederaufbau gedacht werden kann. Politiker*innen rund um die Basler Nationalrätin Sibel Arslan machten sich für ein vereinfachtes Visaverfahren stark, kamen aber nur mit einem Teil ihrer Forderungen durch. Diese grenzüberschreitenden Solidaritätsnetzwerke brauchen denn auch einen wahrhaft langen Atem. Denn mit den Häusern sind nicht nur die konkreten Lebensmittelpunkte, sondern auch die Altersvorsorgen zahlreicher Re-Migrant*innen zusammengebrochen. Die Dimension der Armut, die dieser akuten Katastrophe auf dem Fusse folgen wird, ist noch schwer abzuschätzen. Millionen Menschen haben ihre Häuser verloren, offiziellen Angaben zufolge sind allein anderthalb Millionen in den von der türkischen Regierung bereitgestellten Notunterkünften untergebracht. Dabei ist das Land mit knapp vier Millionen Geflüchteten vor allem aus Syrien und Afghanistan bereits schwer belastet – auch weil Europa sich inklusive der Schweiz so gut abschottet. Und trotzdem, wie könnte es anders sein, warnen die üblichen Verdächtigen bei den Massenblättern Bild und Blick schon vor der nächsten «Fluchtwelle», obwohl wie auch bisher alles darauf hindeutet, dass die betroffene Region mit dem Grossteil des Leids weitgehend selbst zurechtkommen muss.

In solch emotionalen Grenzlagen mag es vielen gut tun, wenn einer Hoffnung auf Wandel formuliert: In einer Solidaritätssendung im Fernsehen sprach der Leadsänger und Songschreiber der Rockband Mor ve Ötesi, Harun Tekin, vom Geist der Solidarität, der nach den Erdbeben im ganzen Land entstanden sei. «Wir müssen darauf ein ganz neues Land aufbauen. Wir müssen alles ändern, was dieses Landes nicht würdig ist. Damit wir in zehn oder zwanzig Jahren nicht wieder dasselbe erleben – wir müssen uns ändern und auch diejenigen, die regieren.» Die Republik dürfe im Jahr ihres hundertsten Geburtstags kein Ort der Mut- und Hoffnungslosigkeit sein. «Das ist nicht unser Schicksal. Wir können das Leben, das wir führen, ändern», so Harun Tekin. Schön wär’s ja. Nur unterliegt politisches Lernen auch in Krisenzeiten der Logik der Politik und nicht dem Einfluss einer Notlage. Das behauptet zumindest die Soziologin Franziska Engels. Das bedeutet auch: Selbst wenn man Entscheidungsträger*innen im türkischen Staat auf den verschiedenen Ebenen zutrauen würde, dass sie erkennen, was derzeit falsch läuft und schon vorher falschgelaufen ist – beispielsweise die Nichteinhaltung von Bauvorschriften –, so werden die aus den Krisenerfahrungen gezogenen Lehren oftmals nicht oder nur unzureichend umgesetzt, wenn diese nicht mit den vorherrschenden Machtstrukturen und Praktiken vereinbar sind. Wer von Korruption und Klientelwirtschaft lebt, schafft diese nicht ab, heisst dies im Klartext. Nun ist aufgeben aber auch keine Option, und so kann man sich einstweilen an den kleinen guten Nachrichten festhalten, die ebenfalls aus dem Katastrophengebiet dringen: Menschen, die nach unglaublichen über hundert Stunden lebendig geborgen werden. Oder Bürgermeister, die sich rühmen, besonders streng die Bauvorschriften durchgesetzt zu haben und nun kaum Schäden zu verzeichnen haben. Und all die vielen kleinen Hilfsinitiativen und hilfreichen Einzelmenschen, die auch auf lange Sicht noch nötig sein werden, um die Menschen in der Südtürkei und in Syrien nicht in Armut und Elend versinken zu lassen.

Sara Winter Sayilir ist Mutter eines zehnjährigen Sohnes, dessen Lieblingsort das Haus der Familie im Dorf in der Türkei war. Das ganze Dorf liegt nun in Trümmern. Zum Glück haben die Grosseltern überlebt. Sie wünscht allen, die Angehörige, Freund*innen und Heimatorte verloren haben, Geduld und Kraft mit der Trauer.

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