Anna Halm Schudel - Blossom

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Anna Halm Schudel

Blossom

Scheidegger & Spiess


Anna Halm Schudel

Blossom

Mit Texten von / With texts by: Nadine Olonetzky & Franziska Kunze

Scheidegger & Spiess


Herzzerreissende Schönheit

Blütenstaub zu Boden zu rieseln. Blätter verdorren, fallen. Stengel knicken, sinken in sich zusammen. Farben bleichen aus, gehen in Braun- und Grautöne über. Dann vermodern die Verblühten langsam, werden zu schleimigem, stinkendem Mus. Und, auf den Kompost geworfen, mit der Zeit zu guter, nährstoffreicher Erde. Zu Nahrung für neue Blumen. Verführung und Verfall

Nadine Olonetzky

Ein Blumenbouquet altert jeden Tag um zehn Jahre. Frisch stellt man es in die Vase, dann verändert sich sein Ausdruck und seine Spannung zuerst unmerklich. Eine frühe zarte Müdigkeit? Eine winzige Verfärbung? Nur sehr Aufmerksame erkennen die Alterung innerhalb der ersten Stunden. Nach einer Woche ist es 70. Der Schnitt durch den Stengel der Blume ist ein Mord, der zum Leben befreit, so wird es in der Kunst des Ikebana (wörtlich: Leben, Blume) gesehen. Abgetrennt von ihren Wurzeln, bilden Blumen und Zweige auch in unseren Sträussen ein Kunstwerk auf Zeit; ihr Welken ist unvermeidlich. Doch im Sterben offenbaren sie ihre Schönheit oft umso lodernder: Die Blüte glüht, bevor sie verglüht. In den Tagen, die ihr bleiben, öffnet sie ihre Kronblätter weit, reckt Stempel, Narbe, Staubblätter gegen das Licht, in die Luft. In allen Farben erstrahlt sie, ist noch einmal ganz Verlockung. Irgendwann beginnt

Anna Halm Schudel fotografiert seit über 25 Jahren Blumen – nicht in der Natur, nicht im Garten, sondern geschnittene Blumen, die sie zu sich ins Fotostudio holt: Schneeglöckchen, Passionsblumen und elegante Calla; Iris, Tulpen, edle Rosen; Mohn, Sonnenblumen, Gladiolen und üppige Pfingstrosen; Veilchen, Lilien und krause Nelken; Anemonen und Chrisanthemen, fröhliche Dahlien; robuster Eisenhut, Ranunkeln und Rittersporn; Seerosen, Amaryllis, Hortensien und exzentrische Artischocken. Sie feiert ihre Schönheit, ihre Vielgestaltigkeit. Doch Anna Halm Schudel geht weit darüber hinaus. Mit dem Objektiv ihrer Kamera zoomt sie in die Kelche hinein. Zeigt Pfingstrosen, die ihre Kronblätter lasziv von sich strecken, ihren Kranz Staubblätter offenlegen. Sie schaut auf den haarigen, sich windenden Stengel des Mohns, auf seine wie feinstes Krepppapier geformten Kronblätter, die ein einziges Verlangen auszudrücken scheinen. Sie führt unseren Blick in den dunklen Schlund des Stiefmütterchens, zwischen die gespreizten Blätter der Tulpe. Anna Halm Schudel rückt den Blüten auf den Leib, untersucht ihre Beschaffenheit, ihre Farben und Formen, hält die Raffinesse der Verführung und die intensive Lebenskraft fest, die sie in der Tiefe des Blütenbodens findet. Damit macht sie die Geschlechtlichkeit der Blüten als Drama sichtbar, als Kampf ums Dasein, der mit ästhetischer Virtuosität ausgefochten wird. In ihren Bildern geht es um Schoss und Schössling, um Trieb und Triebe. Um Erblühen, Sein. Wir erkennen in ihnen eine Hingabe, ein sich Weitergebenwollen trotz der Bedingungen, die die Welt bietet. Blüten wollen nur das Eine – Bestäubung, Nachkommen. Dafür entwickelten sie ihre grosse Vielfalt in Formen und Farben. Der Nektar ist die Lockspeise für die Insekten, damit Pollen auf Narben gelangen, damit Samenanlagen zu Samen, Fruchtknoten zu Früchten werden. Blüten sind ganz Anlockungsorgan, und ist die Befruchtung vollzogen, stirbt dieses Organ – oder wandelt sich vielmehr. Apfelblüten sollen Äpfel, Rosen Hagebutten werden, und dann irgendwann zu neuen Apfelbäumen und Rosenbüschen heranwachsen. So lebt nicht nur die Pflanze von der Blüte. Auch die Biene, der Falter. Und wenn Früchte zu Boden fallen und vor sich hinfaulen, die


Schnecke, der Wurm, die Made. Und dann auch der Mensch, denn ohne Blütenpflanzen keine Früchte, Beeren, kein Gemüse, Getreide, keine Baumwolle, Flachs – keine Nahrung, Kleider, keine Medizin. Die Vielfalt der Blüten allerdings ist eine schlichte Folge von Klima, Standort und Fauna, ihre Pracht ist Zweck. Mit Züchtungsmethoden aller Art hat der Mensch jedoch Varianten von Blütenpflanzen in die Welt gesetzt, bei denen die natürliche Fortpflanzung durch die Blüte ge- oder sogar zerstört ist. Bei Kosmeen vom Samenproduzenten etwa gibt es kein Leben nach dem Tod der Blüte: Sie verblüht und die Samen wachsen, wenn überhaupt, nur noch zu verkrüppelten Blumen heran, Gerste oder Roggen muss neu angesäht werden. Die meisten unserer Sträusse bestehen aus solch hochgezüchteten Blumen, die in der Natur niemals zur selben Zeit und nicht am gleichen Ort blühen würden. Um die Welt transportiert, zieren sie nur Stunden nach der Ernte unsere Wohnzimmer- und Konferenztische. Es sind Bouquets, in denen geografische und klimatische Gegensätze zu einem Natur imitierenden Schmuckstück zusammenfinden, einem Schmuckstück, das gerade durch seine Künstlichkeit einen besonderen Reiz hat. Die amerikanische Künstlerin Taryn Simon (*1975) öffnet mit Bildern solcher «Impossible Bouquets» in ihrer Arbeit Paperwork and the Will of Capital (2015) die Augen für das Verhältnis von zarter Blüte und – wirtschaftlich, politisch – schwerwiegenden Interessen. Doch senken wir die Nase in die kühlen, duftenden und seidigweichen Blätter einer Rose, vergessen wir solche Zusammenhänge sofort und verfallen ihrer Verführungskunst. Ein Blick in die Tiefen zwischen ihre Kronblätter ist ein Blick in ihren Intimbereich, in eine Sphäre freilich, die sie ohne jede Scham offenlegt. Und natürlich: Weil Rosen in der Anordnung und Form der Blätter an die Vulva erinnern, an die weibliche Scham, stehen sie für Lust, Schamlosigkeit; ihrer Dornen wegen auch für Schmerz, ein blutendes Herz. Um sie länger frisch zu halten, kann man ironischerweise Sildenafil-Citrat ins Wasser geben, besser bekannt unter dem Namen Viagra. «Oh Rose, reiner Widerspruch», schrieb Rilke, «Lust, niemandes Schlaf zu sein unter so vielen Lidern.» Die Symbolsprache der Blumen, insbesondere der Rosen, hat Anna Halm Schudel jedoch nie interessiert. Ihr geht es um die Materialität der Blüte, ihre Farben und Formen, um ihre Expressivität und Vitalität selbst im Verfall. Sie betrachtet mit ihrer Kamera nicht nur frische Blumen, sondern vor allem jene, die ihren Zenit überschritten haben. Deren Aufgabe nicht mehr Anlockung und Bestäubung ist, und die also neben sinnlos üppigen Men-

gen von Pollen in Rot, Orange, Gelb oder Blaugrün schon welke, müde, schon braune, trockene Kronblätter haben. Es sind gealterte Pfingstrosen und Sonnenblumen, verblühte Anemonen und trockene Rosen. Oder Tulpen, die schon so dürr sind, aus denen so viel Leben gewichen ist, dass sie sich bereits weit auf dem Weg zum Kompost, zu neuer Erde befinden. Aber noch immer stehen sie in Anna Halm Schudels Atelier, sind zu einem gerade noch lebenden, fast toten Stillleben geworden. Ihrer Kamera schenken sie eine letzte, expressive tänzerische Geste, die das Aufgeben, Niedersinken, Eingehen in herzzerreissender Schönheit und Würde vor Augen führt. Nature morte Der holländische Begriff «stilleven» (wörtlich: unbewegtes Dasein), um 1650 eingeführt, erfasst, was Stillleben sind: Arrangements mit stillstehenden und toten Objekten. Aufgeschnittene Zitronen, Silberplatten mit Austern, erlegte Hasen und Fasane, Waffen oder Instrumente und opulente Sträusse mit Tulpen, Nelken, Lilien und Rosen – allesamt dem Tod geweiht, noch bevor das Gemälde fertiggestellt ist – zeigen Pracht und Reichtum, mahnen aber immer die Vergänglichkeit allen irdischen Seins an. Blumenstücke erlebten in der Barockzeit eine nie dagewesene Blüte und florierten mit der Erfindung der Fotografie erneut, denn in den Anfängen des Mediums waren Blumen wie alle Dinge, die ein «unbewegtes Dasein» führen, ideale Motive. Anna Atkins (1799–1871) etwa verband ihr botanisches Interesse mit der Fotografie und begann schon 1841 Cyanotypien zu machen, in Blautönen leuchtende Fotogramme von Algen, Farn und verschiedenen Blumen. Und bis heute stehen Blüten in der Kunst für ein dichtes Geflecht aus Bedeutungen, Hoffnungen, Leidenschaften. Ob Georgia O’Keeffes Blumengemälde (ab 1924) oder Karl Blossfeldts Schwarzweissfotografien für Urformen der Kunst (1928), ob Robert Mapplethorpes in Farbe aufgenommene Flowers (1978– 1989), David Hockneys iPhone-Bilder von Sträussen (ab 2008) oder die mit dem Scanner gemachten Blumenstillleben Stockage (ab 2006) von Luzia Simons: Immer stehen die Blüten für das, was den Kern auch des menschlichen Seins und Wollens ausmacht. In ihnen ist Schönheit mit Vergänglichkeit, Stärke mit Verletzlichkeit verbunden, Sex mit Tod. Diese Verschmelzung von Widersprüchen macht sie zum vielschichtigen Symbol, zum Objekt der Begierde und zum Wirtschaftsfaktor. Besonders Schnittblumen stehen für Schönheit ohne Zweck, für die Freude des Augenblicks, für Luxus und Trost. Diese Faszination war es auch, die 1637 zum ersten Börsencrash der Geschichte führte: Im holländischen Handel mit Tulpenknollen platzte die irrwitzige Spekulationsblase, und tausende Menschen fielen aus der Gier

nach Reichtum in die Armut zurück. Der Schweizer Künstler Rémy Markowitsch (*1957) hat sich mit Arbeiten wie The Onion Option und Bullish on Bulbs (2007) mit der Potenz der unscheinbaren Knolle beschäftigt. Die Möglichkeit zu Entfaltung und Schönheit in sich tragend, verkörpert sie die Hoffnung auf Gewinn – und wird so zum Objekt für wildeste Projektionen. Metamorphose Anna Halm Schudel führt mit ihren teils über Monate, teils über Jahre verfolgten Serien Blumenporträts, Tanzende Tulpen, Nature morte, Nature morte vivants, Uralte Tulpen, Schöner Schein – in dieser spielt die noch viel flüchtigere Seifenblase die Zweitrolle – und mit Trash Flowers die Tradition des Blumenstücks fort; es sind Vanitas-Bilder, die in der Kunstgeschichte eine lange Ahnenreihe haben. Mit Blumenmeer erfindet sie das Genre neu. Ausgangspunkt ist ein nächtlicher, in Variationen wiederkehrender Traum, in dem sie vergeblich versucht, Blumen und Sträussen Wasser zu geben. Ungeachtet der seelischen Bedeutung für Anna Halm Schudel selbst, verraten ihre Blumenstücke eine existenzielle Dringlichkeit. Diese grundiert selbst die buntesten Blumenbilder in einem dunklen Ton. Zugespitzter noch in der Serie Blumenmeer: Wir erkennen Rittersporn, Magnolien, Tulpen, Anemonen, Hortensien oder Rosen – unter Wasser driftend – und spektakulär verlaufende Farben wie in einem Gemälde. Auch diese Serie ist von einem Traum inspiriert, in dem Anna Halm Schudel von einem Strand aus Blumen entdeckt, die sich im seichten Küstenwasser den Wellen des Meers hingeben; Anna Halm Schudel möchte zu ihnen gelangen, kann sich aber nicht bewegen. In ihren Blumenmeeren sehen wir nun Blüten im blauen Wasser und intensive, mit dem Wasser rinnende Farben. Doch wir sehen auch lebendige Wesen, die auf unnatürliche Weise unter den Wasserspiegel gedrückt sind, und fürchten, dass diese Blumen für einmal nicht verdorren, sondern ertrinken – und schaudern, angezogen und abgestossen von dieser brutalen Schönheit. Anna Halm Schudel hat für die Gleichzeitigkeit von Verführung und Vergänglichkeit, für den Kreislauf von Aufblühen und Untergang, für das Wasser als Nahrung und als Gefahr ein starkes Bild gefunden. Das ertränkte Blumenstück, ein neues Genre. Ein Kampf auf Leben und Tod ist Anna Halm Schudels Blumenbildern gegenwärtig – und in den Blüten dieser Welt verdichtete Wirklichkeit. Ob in Kälte, Hitze, Feuchtigkeit oder Trockenheit: In duftig zarten Materialien umgesetzt, in allen Farben und Formen ausgestaltet, sind die Kronblätter die Ballkleider für den Tanz ums nackte Überleben. Die natürliche Bestimmung der Blü-

ten, sich zu Früchten oder Samen zu wandeln, sich zu reproduzieren und dabei auch Nahrung zu sein für andere Lebewesen ist immer untrennbar mit ihrem Ende verbunden – deshalb berührt und bewegt uns ihre Existenz so sehr, deshalb ist ihre Schönheit herzzerreissend. Doch im Sterben der Blüte ist die Erneuerung, die Hoffnung angelegt, das zeigt uns Anna Halm Schudel. Und das ist es auch, was uns vor blühenden Kirschbäumen auf die Knie sinken lässt, verrückt nach ihrer schaumigflüchtigen Anmut, beglückt von ihrer verschwenderischen Poesie.


Heartbreaking Beauty

Stems buckle, collapse into themselves. Colors fade, turn to tones of brown and gray. Then the blossoms slowly decay, become a slimy, stinking mush. And when thrown on the compost pile, over time, they become good, nutrient-rich earth. Nourishment for new flowers. Seduction and decay

Nadine Olonetzky

Every day, a bouquet of flowers ages ten years. Placed fresh in the vase, its expression and tension do not change noticeably at first. An early, gentle tiredness? A tiny discoloration? Only the most attentive eyes recognize the aging within the first hours. After a week, the bouquet is seventy years old. Cutting through the flower’s stem represents a murder that liberates it to live, is how it is seen in the art of Ikebana (literally: life, flower). Cut off from their roots, also in our bouquets, flowers and branches form a temporary artwork; their fading is unavoidable. Yet in dying, they often blaze in a revelation of their beauty: the flowers glow before they fade. In the days left to them, they open up their petals wide, stretch pistil, stigma, stamen out toward the light, into the air. They radiate in a full array of colors, are utterly enticing once again. At some point, stamen sprinkle to the ground. Leaves wither and fall.

Anna Halm Schudel has photographed flowers for more than twenty-five years—not out in nature, not in the garden, but cut flowers that she brings into the photo studio: Snowdrops, passionflower, and elegant calla: iris, tulips, noble roses; poppy, sunflowers, gladiolas, and lush peonies; violets, lillies, and frizzy clove; Anemones and chrysanthemums, cheerful dahlias; robust monkshood, butter cups and larkspur; water lillies, amaryllis, hortensia, and excentric artichokes. She celebrates their beauty, their complex shapes. But Anna Halm Schudel does much more than that. With her camera lens, she zooms into the calyx. Shows peonies lasciviously stretching out their petals, their crowns exposing stamen. She looks at the hairy, winding stem of the poppy, at its petals shaped like the finest crepe paper, seeming to express a single desire. She guides our gaze into the dark abyss of the pansy, between the spread leaves of the tulip. Schudel breathes into the faces of the flowers, examines their character, their colors and forms, captures the sophistication of seduction and the intense vital force found in the depths of the receptacles. She thereby makes the sexuality of the flowers visible as a drama, as a battle for existence, fought out with aesthetic virtuosity. Her photos are concerned with seedlings and shoots, sprouts and saplings. With blossoming, with being. We recognize in them a devotion, a desire to impart, despite the conditions that the world offers. Flowers want only one thing—pollination, offspring. For this, they developed their great diversity of forms and colors. Nectar is the decoy for the insects, so that pollen turns to stigma, the ovulum to seed, ovary to fruit. Flowers are entirely organs of enticement, and when pollination is complete, this organ dies—or rather, transforms. Apple blossoms become apples, roses become rosehips, and then at some time, grow up to become new apple trees and rose bushes. In this way, not only the plants live from the blossoms. Also the bees and butterflies. And when fruit fall to the ground and decompose, snails, worms, and maggots. And then also human beings, as without flowering plants no fruit, berries, no vegetables, grains, no cotton or flax—no nourishment or clothing, no medicine. While the diversity of the flowers is a simple consequence of climate, location, and fauna; their splendor is purpose.


However, people use all types of breeding methods to put variants of blossoming flowers into the world for which natural reproduction through the blossoms is disturbed or even destroyed. With seed producers’ garden cosmos, for example, there is no life after the death of the blossoms: they wither and if the seeds grow at all, then only to crippled flowers; barley and rye have to be newly sown. Most of our bouquets are comprised of such highly cultured flowers, which in nature would never bloom at the same time and in the same place. Transported around the world only hours after the harvest, they decorate our living rooms and conference tables. They are bouquets in which geographic and climatic differences come together to a piece of jewelry imitating nature, which has a special attraction precisely because of its artificiality. With such “impossible bouquets” in Paperwork and the Will of Capital (2015), the American artist Taryn Simon (*1975) opens our eyes to the relationship of tender blooms and—economically and politically—grave interests. Yet when we sink our noses in the cool, fragrant, and silky-smooth leaves of a rose, we immediately forget such connections and succumb to their seduction. A gaze into the depths between their petals is a gaze into their intimate realms, in a sphere that they expose, of course, without any shame. And naturally: because roses, in their arrangement and the form of the leaves recall the vulva, they stand for lust, wantonness; because of their thorns, also for pain, a bleeding heart. To keep them fresh for longer, one can, ironically, put Sildenafil-Citrat into the water, better known as Viagra. “Oh Rose, pure contradiction,” wrote Rilke, “joy of being No-one’s sleep under so many lids.” Schudel, however, is not interested in the flowers’ symbolic language, especially not that of roses. She is concerned with their materiality, their colors and forms, their expressivity and vitality, even in decay. With her camera, she views not only fresh flowers, but primarily, those that have passed their peak. Their purpose no longer enticement and pollination, and in addition to senselessly voluptuous amounts of pollen in red, orange, yellow, and bluishgreen, they have petals that are already withered and tired, already brown and dry. They are aged peonies and sunflowers, faded anemones and dried roses. Or tulips that are already so thin, from which so much life has drained, that they are far along on the way to becoming compost, new earth. But they still stand in Anna Halm Schudel’s studio, have become a practically still living, nearly dead still life. They offer her camera a final, expressive dance-like gesture, which makes us aware of their surrender, their collapse, their death, in heartbreaking beauty and dignity.

Nature morte The Dutch term “stilleven” (literally: motionless existence), introduced around 1650, grasped what still lives are: arrangements of motionless (still) and dead objects. Sliced lemons, silver platters with oysters, slain hares and pheasants, weapons and instruments and opulent bouquets with tulips, sweet Williams, lilies, and roses— all consecrated to death, even before the painting is finished—show magnificence and opulence, yet always evoke the transcience of all earthly existence. Flower pieces experienced an unprecedented prime in the baroque era and flourished once again with the invention of photography, as like all things that led a motionless existence, flowers were ideal motifs in the medium’s early days. Anna Atkins (1799–1871), for example, linked her botanical interests with photography and already began to make cyanotypes in 1841, photograms of algae, ferns, and various flowers in blue glowing tones. And until today, in art, flowers stand for a dense weave of meanings, hopes, and passions. Whether Georgia O’Keeffe’s flower paintings (beginning 1924) or Karl Blossfeldt’s blackand-white photographs for Urformen der Kunst (1928), or Robert Mapplethorpe’s Flowers (1978–1989) taken in color, David Hockney’s iPhone photos of bouquets (beginning 2008), or Luzia Simons’s flower still lives created with a scanner, Stockage (beginning 2006): flowers always represent what also comprises the core of human existence and desire. They connect beauty with transcience, strength with vulnerability, sex with death. This fusion of contradictions renders them a complex symbol, an object of desire, and an economic factor. Cut flowers, in particular, represent beauty for beauty’s sake, for the pleasure of the moment, for luxury and solace. This fascination was also what led to the very first stock market crash in 1637: the absurd speculation bubble burst in the Dutch trade in tulip bulbs and thousands of people’s greed for wealth drove them to poverty. The Swiss artist Rémy Markowitsch (*1957) became occupied with the potency of the inconspicuous bulb in works such as The Onion Option and Bullish on Bulbs (2007). By bearing both the possibility to evolve and beauty, they embody the hope of profit—and thus become an object of extremely wild projections. Metamorphosis With her different series, some pursued for months, some for years, Blumenporträts, Tanzende Tulpen, Nature morte, Nature morte vivants, Uralte Tulpen, and Schöner Schein—in which the even more fleeting soap bubble plays a secondary role—and Trash Flowers, Schudel continues the tradition of the flower piece; vanitas pic-

tures that have a long ancestry in art history. Blumenmeer reinvents the genre. Starting point is a nocturnal dream recurring in variations, in which she tries in vain, to give water to flowers and bouquets. Notwithstanding the spiritual significance for Schudel, her flower pieces betray an existential urgency. She grounds even the most colorful flower pictures in a dark tone. Even more pointedly in the series Blumenmeer: we recognize larkspur, magnolia, tulips, anemone, hortensia, and roses— drifting below the water—and colors that blend spectacularly, like in a painting. Also this series is inspired by a dream in which Schudel is on a beach and discovers flowers in shallow coastal water succumbing to the waves of the ocean; Schudel wants to reach them, but cannot move. In Blumenmeer we now see flowers in blue water and intense colors blending with the water. But we also see living beings that are pressed below the surface in an unnatural way, and fear that this time, these flowers will not wither, but instead, drown—and we shudder as we are drawn to and repelled by this brutal beauty. Schudel has found a powerful image for the simultaneity of enticement and transcience, for the cycle of blossoming and demise, for water as sustenance and danger. The drowned flower piece, a new genre. A life and death struggle is present in Schudel’s flower pictures—and in the flowers of this world, condensed reality. Implemented in gossamer-fine, delicate materials, designed in all colors and forms, the petals are the ball gowns for the dance of mere survival, whether in cold, heat, humidity, or drought. The natural purpose of flowers, to transform to fruit or seed, to reproduce and in doing so, to provide nourishment to other living beings is always inseperably tied with their demise—for that reason, their existence touches and moves us so greatly, for that reason, their beauty is heartbreaking. Yet what Anna Halm Schudel shows us, is that laid out in the flower’s death is renewal, hope. And that, too, is what has us fall to our knees before blossoming cherry trees, crazy for their frothy, volatile grace, delighted by their extravagant poetry.


1 Alium 9 Amaryllis 16 Anemonen 5 Astern 3 Astrantien 1 Artischockenblüte 7 Bartnelken 2 Bougainvilleas 4 Calla 4 Celosia 5 Christrosen 21 Chrysanthemen 11 Dahlien 1 Distel 3 Efeus 1 Eisenhut 1 Erika 2 Farne 1 Feigenblatt 1 Freesie 3 Geranien 22 Gerberas 1 Germini 2 Gladiolen 3 Hibiscus 4 Hortensien 5 Iris 1 Kapuzinerkresse 1 Kleeblume 6 Kosmeen 11 Lilien 12 Lisianthus 1 Lysimachia 27 Margueriten 17 Mohnblumen 1 Nachtkerze 7 Nelken 4 Orchideen 12 Ranunkeln 7 Pfingstrosen 1 Rittersporn 18 Rosen 1 Schafgarbe 2 Seerosen 3 Sommerastern 7 Sonnenblumen 2 Sonnenhüte 1 Stiefmütterchen 383 Tulpen 4 Wachsblumen 14 Wicken 1 Winde 1 Zinnie

Allium Amaryllises Anemones Asters Astrantia Artichoke blossoms Sweet Williams Bougainvillea Callas Celosias Christmas roses Chrysanthemums Dahlias Thistle Ivies Aconitum Heather Ferns Fig leaf Freesia Geranium Gerberas Mini Gerbera Gladiolas Hibiscus Hortensia Irises Nasturtium Clover Cosmos Lilies Eustoma Lysimachia Leucanthemum Poppies Oenothera Dianthus Orchids Ranunculus Common garden peony Musk larkspur Roses Yarrow Waterlily China asters Sunflowers Coneflowers Pansies Tulips Wax flowers Vetches Bindweed Zinnia























































Partituren des Floralen

Franziska Kunze

Blumen. In allen Formen und Farben. Im Werden und im Vergehen. Saftig oder vertrocknet, kraftvoll oder fragil, farbenprächtig oder blass. Anna Halm Schudel macht keine Unterschiede und behandelt sie alle gleich, die Blumen, die sie umgeben und deren Schönheit sie mit ihrem Fotoapparat festhält. Hunderte, vielleicht tausende hat sie bis heute durch die Kameralinse minutiös studiert, um einen aussergewöhnlichen Ausschnitt, den besten Winkel, schlicht das aussagekräftigste Bild zu ermitteln. Viel Zeit bleibt ihr dafür nicht. Die Blumen welken schnell und das nicht nur, weil es in ihrer Natur liegt, sondern weil sie das Licht und die Wärme der Studiobeleuchtung dazu zwingen. So beginnen die zarten Organismen, sich immer weiter zu öffnen, die Oberfläche der Blütenblätter zu verändern, ihre Farbe zu verlieren und die Köpfe hängen zu lassen. «Ich sehe daher gerne sofort das Resultat. Schaue, ob es das Foto geworden ist, nach dem ich

suche, oder ob ich noch etwas verändern muss.» Es ist der entscheidende Grund, weshalb sie der Digitalfotografie schon seit Jahren den Vorzug gibt. In einem Wettlauf mit der Zeit befindet sie sich besonders, wenn sie die Blumen auf dem Höhepunkt ihres Blütenstands fotografisch festhalten möchte – eine Herausforderung, der sie sich für das Projekt 365 Blumen mit der Polaroid SX-70 Kamera im Verlauf des Jahres 1995 sogar täglich stellte. Ein geniesserisches wie auch bisweilen nervenzehrendes Unterfangen, das der Fotografin Konsequenz und Disziplin abverlangte. Das Resultat ist ein kalendarisches Blütenfest, das den Facettenreichtum des Blumenmotivs in Form und Farbe vorführt, einen Tag für Tag begleitet und neugierig vorblättern lässt. Dieses Projekt spiegelt nicht zuletzt die Leidenschaft, mit der sich Anna Halm Schudel der Fotografie widmet. Das war nicht immer der Fall. Die Fotografie stellte zunächst lediglich die Möglichkeit eines Neuanfangs dar. «Meine Kindheit war schrecklich. Es gab keine Freude darin. Und als mir mein Vater später vorschlug, seine Sinar-Planfilmkamera zu nehmen und Fotografin zu werden, war dies zunächst nur eine Gelegenheit für mich, von zuhause wegzugehen.» Die Idee einer beruflichen Laufbahn im Bereich des Modedesigns – ein Studiengang, der in ihrer Heimatstadt angeboten wurde – gab Anna Halm Schudel zugunsten des Fotografiestudiums in Vevey auf. Und so zog sie 1964 nach bestandener Aufnahmeprüfung von Basel in die französische Schweiz. Dort erlernte sie das Handwerk insbesondere im Hinblick auf dessen gebrauchsfotografische Anwendung in der Studiofotografie. «Rückblickend betrachtet, hat sich aber schon früh meine Vorliebe für das Blumenmotiv abgezeichnet. Ich erinnere mich, wie ich hie und da scheinbar beiläufig Blüten in meine Gebrauchsfotografien integrierte, ohne jedoch gross darüber nachzudenken.» Die bewusste Hinwendung zu diesem bestimmenden Element in ihrem Schaffen erfolgte erst später. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie längst mit ihrem Mann Peter Schudel im Bereich der Werbe- und Industriefotografie Fuss gefasst. Gemeinsam führten sie ein Studio in Zürich und gestalteten Aufträge für international tätige Firmen. An auftragsfreien Tagen realisierten sie eigene Fotoprojekte und stellten diese ab 1978 regelmässig aus – zu einer Zeit, als Fotografie als Kunstform beim breiten Publikum noch nicht durchschlagend akzeptiert war. Wirklich glücklich war Anna Halm Schudel aber nicht. «Ich fühlte mich unsichtbar, nicht wahrgenommen – sowohl von anderen als auch von mir selbst. Also beschloss ich 1991, die Polaroidkamera nicht auf andere Dinge zu richten, sondern auf mich beziehungsweise auf Körperteile von mir und diese nackt in Interaktion mit Blumen zu inszenieren.» Die so entstandenen 120 Bilder ordnete


sie zu einem Raster, das in seiner Gesamtheit ein eindrückliches Selbstbild der Künstlerin zeichnet, es allerdings auch vermag, durch das Arrangement aus vielen Einzelbildern nicht das eine Bild von ihr zu entwerfen. Vielmehr sind es verschiedenste Schichten, Töne und Nuancen, die sich auf dieser Palette zeigen und erst im Zusammenspiel ein Ganzes ergeben. Als Erinnerung, vielleicht auch als Mahnung an das Gefühl, das sie empfunden hatte, und die Kraft, die sie aus der Fotografie ziehen konnte, hängt die Serie noch immer in ihrem Studio in einem Gang, den sie täglich mehrfach passiert. «Aus diesem anfänglichen Beruf, der mir die Möglichkeit gab, von zuhause wegzugehen und mein eigenes Leben zu führen, ist mit der Zeit tatsächlich eine Berufung geworden, eine Möglichkeit, mich unaufhörlich mit eben jenen Motiven zu umgeben, die mir Freude schenken.» Der Griff zur Polaroidkamera spiegelte in dieser Zeit indes bereits das tiefe Bedürfnis der Künstlerin, die Arbeiten sofort betrachten zu können. Die Unmittelbarkeit zwischen Bildarrangement, -produktion und -ergebnis versetzte sie in die Lage, sich sofort vom Erfolg des Bilds überzeugen zu können. Darüber hinaus vermochte diese Methode, die Farbenpracht der Blumen auf jene Weise wiederzugeben, die für die Polaroidaufnahmen so charakteristisch ist: «Das Einfangen von Farben ist in meiner Arbeit mit dem Blumenmotiv essenziell. Und obwohl ich versucht habe, etwas Verbleichendes zu gestalten, wird am Ende doch immer alles bunt.» In einer Serie schaffte es die Künstlerin dennoch, diesem Wunsch weitestgehend Ausdruck zu verleihen. Diese Werkreihe könnte als die unbunteste in ihrem bisherigen Œuvre bezeichnet werden. Dafür hatte sie einzelne Tulpen auf bereits abgelaufenes Fotopapier gelegt, mit einer Glasplatte beschwert und in die Sonne gelegt. Die Sonnenstrahlen hatten nicht nur zur Folge, dass sich die Formen, Umrisse und Strukturen der Pflanzen fotogrammatisch in das lichtempfindliche Papier einschrieben, gleichzeitig entstand zwischen Papier und Glasplatte ein warmes Milieu, das die zarten Organismen «schwitzen» liess. Auf den Bildresultaten mutet dies wie eine magische Atmosphäre an, die die Tulpen schützend umhüllt. Um jene so eigene, zurückgenommene Farbigkeit aus zarten Roséund Grautönen zu bewahren, hat die Künstlerin die Fotopapiere nicht entwickelt, sondern lediglich fixiert. Dadurch bleibt die Unmittelbarkeit des Abdrucks bewahrt und erzeugt das Bild einer beinahe geisterhaften Präsenz. Das Experimentieren mit Fotogramm-Effekten sollte zwar kein singuläres Unterfangen bleiben, steht jedoch nicht im Fokus des Schaffens von Anna Halm Schudel. «Die leuchtenden Farben haben eine Lebenskraft, die mich anspricht und tief bewegt.» Sie sind der Grund für

den schon Jahrzehnte anhaltenden Impuls, sich dem Motiv der Blume ausnahmslos zu widmen. «Diese Begeisterung für die Farbfotografie hat René Groebli auf mich übertragen – ebenso wie für kreative und technisch anspruchsvolle Fotografie.» Groebli gilt als einer der Wegbereiter der modernen Farbfotografie; die Fotozeitschrift Popular Photography würdigte ihn 1957 mit einer Bildstrecke unter dem Titel René Groebli – Master of Color. Zwischen 1968 und 1973 war Anna Halm Schudel als Assistentin im Zürcher Atelier des Fotografen tätig, wo sie nicht nur verschiedenste technische Verfahren, sondern auch ihren Mann kennenlernte. Insbesondere ihren grossformatigen Blumentableaus ist die Experimentierfreudigkeit mit der Farbe abzulesen, die sie in harmonischen Tonverläufen komponiert. Und obwohl sie seit dem Aufkommen der Digitalfotografie dieser Technik den Vorzug gibt, setzt sie keine Filter für ihre Bildschöpfungen ein. Stattdessen nutzt sie die Möglichkeiten, die das Digitale bietet, um ihrem Sujet schnell und äusserst präzise näherzukommen. Eindrücklich zeigt sich dies in der Serie Tanzende Tulpen. Wieder sind es ihre Lieblingsblumen, die sie ins Zentrum ihrer künstlerischen Auseinandersetzung rückt. Inspiriert wurde sie dazu vom britischen Fotografen Nick Knight. Für seine Publikation Flora (2004) hatte sich Knight in das Naturhistorische Museum Londons begeben und ausgewählte Pflanzen – einem modernen Herbarium gleich – arrangiert und fotografiert. Anna Halm Schudels Vorgehen gleicht diesem Ansatz jedoch nur im ersten Moment. Im Unterschied zu Knight verlegte sie sich nicht auf gepresste Pflanzen, sondern positionierte jede einzelne Blume in ihrer ganzen Körperhaftigkeit auf dem Leuchttisch. Um ihren Formen und Strukturen genauestens nachspüren zu können, machte sie mehrere Aufnahmen – mit fünf bis sechs Schärfeebenen. Diese setzte sie anschliessend zu einem Bild zusammen: Keine Falte, kein Äderchen, kein Blütenstaubkorn entzieht sich der Betrachtung. «Ich wollte das optimale Bild erzeugen. Und dies ist eben jenes, das sich in meinem Kopf formiert hat.» Die Entscheidung, für dieses Projekt Tulpen zu wählen, die bereits im Welken begriffen sind, zeigt das Interesse der Fotografin an der Blume in jedem Stadium ihres Seins. Hier wird sie zur Choreografin des finalen Tanzes jener so fragilen Organismen. Doch selbst diesen scheinbar letzten fotogenen Moment im Leben der Tulpen reizt sie noch weiter aus. Eine ihrer jüngsten Serien zeigt die Blumen – in üppigen Mengen zusammengefasst – in grossen Vasen. Die Aufnahmen entstanden im Sommer und Herbst des Jahres 2018, in einem Zeitraum also, in dem die Tulpenblüte längst vorbei war: Gekauft hatte sie die Blumenpracht bereits im Frühjahr, arrangierte sie in ihrem Atelier und beobachtete

über Wochen und Monate, wie sie sich veränderten, ihre Hälse immer länger wurden, die Blätter an Saft verloren, der Blütenstaub langsam herabrieselte, die Farben allmählich verblassten. Ein Motiv, dem sie sich nicht entziehen konnte und dem sie mit Eleganz und Präzision frönte. In der Manier niederländischer Stilllebenmalerei inszenierte sie die Sträusse vor tiefschwarzem Hintergrund und gedachte der lasierenden Malweise, die jeden sichtbaren Pinselstrich vermissen liess, indem sich auch ihre Technik auf die minutiöse Darstellung jeder einzelnen Blume der Gebinde konzentrierte. Und dann war der Moment gekommen, da sie sie vorsichtig zu einem Haufen zusammenlegte, den Inhalt mehrerer Vasen. Es gab nur diesen einen Versuch, denn die Blumen waren mittlerweile so stark getrocknet, dass sie jede Sekunde zu Staub zerfallen konnten. Das Resultat ist eine Sinfonie aus Blüten: reich an Tönen, harmonisch in der Komposition. Fällt es Anna Halm Schudel schwer, sich schlussendlich von ihren geliebten Modellen zu verabschieden? «Es ist nie leicht. Insbesondere nicht nach intensiven Stunden im Atelier. Umso überraschender war es für mich, als ich einen Strauss Blumen in den Mülleimer fallen liess, ihm wehmütig nachblickte und darin ein weiteres Motiv erkannte. Die Trash Flowers sind daher auch eine sehr wichtige Serie für mich. Ein Bild aus der Reihe hängt grossformatig bei mir im Studio. Es war einer dieser zufälligen, gänzlich unerwarteten Momente, die plötzlich eintreten und aus denen ich ein Bild machen musste.» Eine weitere Möglichkeit, die Schönheit der Vergänglichkeit eindrucksvoll in Szene zu setzen. «Eben dies ist auch mein Antrieb dafür, mich so konsequent mit dem Blumenmotiv auseinanderzusetzen – diese ästhetische Vielfalt im Leben und Vergehen der Blumen. Mit Blick auf meine Vergangenheit kann ich durchaus sagen, dass mich ihre Schönheit gerettet hat.» In ihrer Wortwahl bezieht sie sich ganz bewusst auf das Buch Quand la Beauté nous sauve des französischen Philosophen und Schriftstellers Charles Pépin, den sie tief verehrt. «Er schreibt so wundervolle Sätze. ‹La beauté? Il faudrait plutôt dire: l’émotion esthéthique.› Er drückt genau das mit Worten aus, was auch ich mit meinen Fotografien anstrebe. Denn was ist Schönheit anderes als ästhetische Emotion?» Aber ganz gleich, wie ausgeprägt diese Liebe zum Leitmotiv der Blume auch sein mag; es stellt sich doch die Frage, wann sich ihr Potenzial erschöpft haben mag. «Die Beschränkung darf keine Ausrede sein, das ist mein künstlerischer Anspruch. Ich kreise solange um die Blume herum, drehe und wende sie, betrachte sie von oben und von unten, blicke in sie hinein, bis etwas zu mir spricht. Und wenn ich ihr ganz nah bin, mit der Linse förmlich in sie eindringe, dann halte ich den Atem an, bevor ich den Auslöser betätige.»


Floral Scores

Franziska Kunze

Flowers. In all forms and colors. Emerging and elapsing. Succulent and withered, powerful and fragile, gaudy and pale. Anna Halm Schudel makes no distinction; she treats them all the same, the flowers that surround her and their beauty, which she captures with her camera. She has meticulously studied hundreds, perhaps thousands through the camera’s lens, to mediate an extraordinary detail, the best angle, or simply the most meaningful image. But she doesn’t have a lot of time to do so. Flowers wilt quickly; not only is it in their nature, but they are compelled to do so by the brightness and heat of the studio lights. The delicate organisms thus begin to open up wider, the surfaces of the petals change, lose their color and hang their heads. “That’s why I prefer to see the results immediately. See if it is the photo that I am looking for, or if I have to change something.” For years, this has been the compelling reason for her preference for

digital photography. She finds herself in a race with time especially when her aim is to capture the flowers at the peak of their florescence—a challenge that she confronted with the Polaroid SX-70 camera daily for the project 365 Blumen over the course of the year 1995. A pleasurable, as well as at times nerve wracking undertaking that demanded the photographer’s consistency and discipline. The result is a calendrical flowering festival that demonstrates the multifaceted nature of the blossom motif in form and color, providing accompaniment day after day, and letting one leaf forward inquisitively. This project reflects, last but not least, the passion that Anna Halm Schudel devotes to photography. That was not always the case. At first, photography simply presented the possibility of a new start. “My childhood was horrible. There was no pleasure in it. And when my father later suggested that I take his Sinar largeformat film camera and become a photographer, at first this was simply an occasion for me to get away from home.” Schudel abandoned the idea of a career in fashion design—a course of study offered in her hometown—in favor of studying photography in Vevey. Therefore, after passing the entrance exam, she moved from Basel to Vevey in French Switzerland in 1964. There she learned the craft, in particular, its industrial photographic application in studio photography. “However, looked at retrospectively, my preference for the flower motif became apparent early on. I recall how I now and then seemingly randomly integrated flowers into my commercial photo­ graphy, yet without thinking much about it.” The conscious orientation towards this defining element in her oeuvre ensued only later. At this point in time, she had already established herself together with her husband Peter Schudel in the area of commercial and industrial photo­ graphy. They managed a studio in Zurich together and organized contracts for internationally active firms. On their free days, they worked on their own photo projects and beginning in 1978, exhibited them regularly—at a time when photography had not yet been resoundingly accepted by a general audience as an art form. But Schudel was not truly happy. “I felt invisible, unseen— both by others as well as myself. Thus, in 1991, I decided that rather than focusing the Polaroid camera on other things, I would focus it on myself, or rather, my body parts, naked, staged in interaction with flowers.” She arranged the 120 images that were thereby created into a grid, which as a whole creates an impressive self portrait of the artist, yet was also capable, through the arrangement of many individual images, of drafting what was not the single picture of her. Instead, there are various layers, tones, and nuances revealing themselves on this palette, which only in interplay, yield a whole. The series still


hangs in her studio in a hallway that she passes through several times a day, as a reminder or perhaps also as warning of the feeling that she had had, and the power that she was able to draw from the photographs. “This original profession, which gave me the possibility to leave home and lead my own life, actually became a calling, an opportunity to perpetually surround myself with precisely those motifs that give me pleasure.” Meanwhile, choosing the Polaroid camera, reflected already at this time, the artist’s intense need to be able to see the works immediately. The immediacy of pictorial arrangement, production, and result allowed her to instantly assure herself of the success of the image. Furthermore, this method was capable of reproducing the flowers’ colorfulness in that special way characteristic of Polaroid shots. “The capturing of colors is essential in my work with the flower motif. And although I tried to design something fading, in the end, everything is always colorful.” Nonetheless, in one series the artist succeeded in lending expression to this desire. This series of works could be described as the least colorful in her hitherto oeuvre. For it, she laid individual tulips onto already expired photo paper, weighed them down with a glass plate and placed it in the sun. The sun rays not only succeeded in inscribing the forms, outlines, and structures of the plants into the light-sensitive paper as a photogram, at the same time, a warm milieu arose between the paper and glass plate, causing the delicate organisms to “sweat.” In the resulting images, this appears as a magical atmosphere protectively surrounding the tulips. In order to preserve such unique, revoked colorfulness composed of delicate rosé and gray tones, the artist did not develop the photo paper, but instead merely fixed it. In this way, the immediacy of the imprint remained preserved, and generated the image of a practically ghostlike presence. Although Anna Halm Schudel’s experimenting with photogram effects would not remain a singular undertaking, it would also not become the focus of her work. “The luminous colors have a vitality that appeals to and moves me deeply.” They are the reason for the enduring, decadeslong impulse to devote myself without fail to the flower motif. “René Groebli passed on to me this enthusiasm for color photography—as well as for creative and technically demanding photography.” Groebli is considered one of the pioneers of modern color photography: the photo journal Popular Photography devoted a picture spread to him in 1957 entitled René Groebli – Master of Color. Between 1968 and 1973, Anna Halm Schudel worked as an assistant in his Zurich studio, where she became acquainted with not only various technical processes,

but also her husband. The joy of experimenting with color is legible especially in her large-format flower tableaus, which she composes in harmonic developments of hues. And although she has preferred digital photography since the advent of this technique, she does not use any filters for her pictorial creations. Instead, she uses the possibilities that digital techniques offer for approaching her subject quickly and with extreme precision. She shows this impressively in the Tanzende Tulpen series. Again, she places her favorite flower at the center of her artistic confrontation. The British photo­g rapher Nick Knight inspired her in this. For his publication Flora (2004), Knight went to London’s natural history museum and arranged and photographed selected plants—a modern herbarium as it were. However, Anna Halm Schudel’s working method resembles this approach only at first glance. In contrast to Knight, she does not rely on pressed plants, but instead, positions each individual flower in its full corporeality on the light table. In order to be able to trace the flowers’ forms and structures as precisely as possible, she takes several photos—with five to six focus levels. She then puts these together to an image: no fold, no tiny vein, no speck of pollen escapes observation. “I wanted to generate the optimum image. And this is, after all, the one that has formed in my mind.” The decision to choose already drooping tulips for this project reveals the photographer’s interest in the flower in every stage of its existence. Here, she becomes the choreo­ grapher of the final dance of such fragile organisms. Yet she exhausts this seemingly final photogenic moment in the life of the tulip even further. One of her most recent series shows the flowers—gathered in abundance—in large vases. The photos were taken in summer and autumn of 2018, at a time when the tulip blossom was long past: she had already purchased the glorious flowers in the spring, arranged them in her studio, and observed them for weeks and months as they changed, their necks growing longer, leaves losing their succulence, pollen slowly sprinkling down, colors gradually fading. A motif that she could not refrain from, and which she indulged in with elegance and precision. In the style of Dutch still life painting, she staged the bouquets against a deep black background and evoked the translucent painting style in which there are no visible brush strokes, in which also her technique concentrated on the most meticulous depiction of each individual flower in the bunch. And then came the moment that she carefully folded the contents of several vases together to a pile. Only this one attempt was possible as the flowers were meanwhile so heavily dried that they could have fallen into dust at any moment. The result is a symphony of blossoms: rich in tones, harmonious in composition.

Is it difficult for Anna Halm Schudel to ultimately bid adieu to her beloved models? “It’s not easy. Especially not after intense hours in the studio. It was that much more surprising for me when, after throwing a bouquet of flowers into the trash, I looked back wistfully and recognized another motif. For that reason, the Trash Flowers are also a very important series for me. One of the images from this series is hanging in large-format in my studio. That was one of those random moments, appearing suddenly, entirely unexpected that I have to take a photo of.” A further possibility of impressively staging the beauty of transience. “This is also precisely my incentive for dealing so consistently with the flower motif— this aesthetic diversity in the life and passing of the flowers. With a view to my past, I can definitely say that their beauty saved me.” In her choice of words, she refers quite deliberately to the book Quand la Beauté nous sauve by the French philosopher and writer Charles Pépin, whom she deeply reveres. “He writes such wonderful sentences. ‘La beauté? Il faudrait plutôt dire: l’émotion esthéthique.’ He expresses with words exactly what I aspire to express with my photos. After all, what is beauty other than an aesthetic emotion?” But regardless of how distinctive this love for the leitmotif of the flower might be; the question is posed of when its potential might possibly be exhausted. “The constraint cannot be an excuse, that is my artistic aspiration. I will circle around the flower, twist and turn it, view it from above and below, gaze into it, as long as something is speaking to me. And when I am very close to it, when I virtually penetrate it with the lens, then I hold my breath before pressing the release.”


Autorinnen / A uthors

Impressum / Imprint

Dank / A cknowledgments

Franziska Kunze, 1984 in Rostock geboren, ist Kunstund Fotohistorikerin, Kuratorin und Wissenschaftlerin. Als Stipendiatin der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung arbeitet sie derzeit im Victoria and Albert Museum in London. / Born in Rostock in 1984, is an art and photo historian, curator, and scholar. As a fellow of the Alfried Krupp von Bohlen and Halbach Foundation, she is currently working at the Victoria and Albert Museum in London.

Bildredaktion / Photo Editing: Claudio Barandun, Anna Halm Schudel, Nadine Olonetzky, Megi Zumstein Texte / Texts: Franziska Kunze, Nadine Olonetzky Übersetzung Deutsch-Englisch /  Translation German-English: Lisa Rosenblatt Lektorat Deutsch / Copy editing German: Barbara Geiser, Nadine Olonetzky, Christian Schmidt Lektorat Englisch / Copy editing English: Charlotte Eckler Korrektorat Deutsch / Proofreading German: Anna Brinkmann Korrektorat Englisch / Proofreading English: Charlotte Eckler Gestaltung / Design: Hi – Megi Zumstein, Claudio Barandun Lithografie / lithograph: Anna Halm Schudel Druck und Bindung / Printing and binding: DZA Druckerei zu Altenburg GmbH, Thüringen

Die Publikation dieses Buchs wurde unterstützt durch /  The publication of this book was supported by meinen Vater / my father Fritz Halm und meine Stiefmutter / and by my stepmother Alice Halm.

Nadine Olonetzky, 1962 in Zürich geboren, ist Autorin, Herausgeberin von Büchern über Fotografie und Projektleiterin/Lektorin im Verlag Scheidegger & Spiess. Sie ist Mitglied von Kontrast (www.kontrast.ch) und lebt in Zürich. / Born in Zurich in 1962, is as an author and editor, and writes for books on themes related to photography, art, and cultural history. She is a member of Kontrast in Zurich (www.kontrast.ch) and an editor at Scheidegger & Spiess Publishers.

© 2019 Verlag Scheidegger & Spiess AG, Zürich © für die Texte / for the texts: die Autorinnen / the authors © für die Bilder / for the images: Anna Halm Schudel Verlag Scheidegger & Spiess AG Niederdorfstrasse 54 8001 Zürich Schweiz www.scheidegger-spiess.ch ISBN 978-3-85881-621-4 Alle Rechte vorbehalten; kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. / All rights reserved; no part of this publication may be reproduced, stored in a retrieval system or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording or otherwise, without the prior written consent of the publisher. Der Verlag Scheidegger & Spiess wird vom Bundes­amt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt. / Scheidegger & Spiess is being supported by the Federal Office of Culture with a general subsidy for the years 2016–2020.

XY Stiftung ((LOGO VERWENDEN)) XY Stiftung ((LOGO VERWENDEN)) Ein spezieller Dank geht an / Special thanks go to Werner Schudel, Peter Biedermann, Christian Graber, Uschi Rückert und Georges A. Wino, die meinem kranken Mann Gesellschaft leisteten, während ich an diesem Buch arbeitete / who kept company with my sick husband while I was working on this book.


Anna Halm Schudel 1945 in Bern geboren, ist Fotografin und Künstlerin. Nach einer Ausbildung zur Fotografin an der Kunstgewerbeschule in Vevey (heute Centre d’enseignement professionnel de Vevey CEPV) und am College of Art and Design in Birmingham, England, arbeitete sie fünf Jahre als Assistentin des Fotografen René Groebli in Zürich. Seit 1973 ist sie freie Fotografin und Künstlerin und führt gemeinsam mit ihrem Mann Peter Schudel ein Atelier in Zürich. / Born in Bern in 1945, is a photographer and artist. After her education as a photographer at the arts-and-crafts school in Vevey (today, Centre d’enseignement professionnel de Vevey CEPV) and at the College of Art and Design in Birmingham, England, she worked for five years as an assistant to the photographer René Groebli in Zurich. Since 1973, she has worked as a freelance photographer and artist, and runs a studio in Zurich together with her husband Peter Schudel. www.fotoschudelhalm.com



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