Fliegenglobalisierung

Page 1

karmen frankl

fliegen globalisierung raum- und klanginstallationen

ein Projekt von ANDRĂ„ KUNST www.st-andrae-graz.at 1


F端r die Unterst端tzung bei der Realisierung des Ausstellungsprojekts bedanken wir uns bei folgenden Institutionen

2


inhalt

ZUM GLÜCK GIBT ES FLIEGEN

VERNISSAGE: KARMEN FRANKL – FLIEGENGLOBALISIERUNG

4

8

INSTALLATIONEN 10

NOTIZ ZUR FLIEGENGLOBALISIERUNG

12

SONNTAGSFLIEGE - EIN GEDICHT 14

DANKSAGUNG 20

3


zum gl端ck gibt es fliegen

4


Karmen Frankl beschäftigt sich mit Fliegen. Die deutsche Künstlerin kroatischer Herkunft widmet seit vielen Jahren einen Schwerpunkt ihrer bildnerischen Arbeit dem geopolitischen Kosmos von Fliegen. Sie sammelt Fliegen in einer spielerischen Art wie Souvenirs ihrer persönlichen Reisen und keineswegs in einer wissenschaftlich ausgerichteten Intention. Sie ist fasziniert von der Schönheit und Raffinesse der Tiere. Die vielen metaphorischen und symbolischen Gehalte ihrer Lieblingstiere sind ihr bewusst und geben ihrem künstlerischen Zugriff eine komplexe Mehrdeutigkeit. Fliegen sind nicht die angenehmsten Zeitgenossen. Sie stören schon allein durch ihre Anwesenheit. Auf der Suche nach Nahrung belästigen sie ungeniert und permanent Mensch und Tier. Mit ihren nervös trippelnden und mit Härchen und Haken besetzten Beinen sorgen sie für ein Kitzeln auf der Haut. Dazu kommt oft surrende Geräusch ihrer Flügelschläge, ihr unruhiges Suchen und endloses Abtasten aller Oberflächen nach Essbarem und potentiellen Brutstätten. Fliegen sind eine einzige Störung. Ihre positive Bedeutung als Insekten kommt nicht in den Blick. Sie provozieren durch ihre Rastlosigkeit. Ihr Beißen, Nagen und Saugen ruft jede Art von Notwehr mit Tötungsabsicht hervor. Fliegen will man eigentlich erschlagen, um dem ungestörten Leben einen Dienst zu erweisen.

5


Fliegen haben eine kurze Lebensdauer, im ausgeprägten Stadium der Insekten sind es oft nur Tage oder ein paar Wochen, wobei das vorangehende Larvenstadium als weitaus längster Lebensabschnitt dabei nicht mitberücksichtigt ist. Insekten und Fliegen symbolisieren wegen ihrer knappen Lebenszeit in der spätmittelalterlichen und barocken Ikonographie die Vergänglichkeit und Kurzlebigkeit. In den Darstellungen toter oder lebloser Gegenstände (natura mortua) tauchen sie auf den köstlichsten Speisen, speziell auf Früchten, Obst und Fleisch auf. Sie dienten jedoch nicht nur als Mahnbild (Vanitassymbol) für das oberflächlich vorübereilende Leben. Sie wurden wohl wegen des Gestanks der einsetzenden Verwesung auf den pflanzlichen und tierischen Substanzen, an denen sie sich laben und in die sie ihre Unmengen an Eier ablegen, als auch vermutlich wegen des parasitären, offensiven Besetzens des gerade noch Lebendigen als Begleiter des Teufels (Beelzebub = Herr der Fliegen) verstanden.

Fliegen (Brachycerae) tauchen weltweit auf. Die bekannte Schmeißfliege (Calliphora) oder auch die Fleischfliege (Sarcophagida) sind überall auf unserem Globus anzutreffen. Sie halten sich an keine Grenzen und Staatszugehörigkeiten. Sie sind transnational. Sie sind Prototypen des globalisierten Weltbürgers. Fliegen übertragen auch Krankheitserreger und stellen je nach Art und Gattung, Klima und anderen Umweltfaktoren eine ernsthafte Bedrohung für die Gesundheit der Bevölkerung dar.

6

Warum interessiert sich eine renommierte Künstlerin nun für Fliegen? Ist es diese fast durchgängig negativ assoziierte Symbolwelt, die sie reizt? Mag sein. Sie betreibt möglicherweise eine Argumentation ex Negativo – aus dem Gegenteil heraus, aus dem Verwesenden, Verworfenen, Unschönen und Ekelhaften heraus auf das eigentlich Lebendige hin verweisen. Die Störung in ihrer Bedeutung erkennen, das Anhalten der Zeit, das notwendig wird, wenn die Fliegen, diese Lästlinge auftauchen – vielleicht geht es darum. Der Geschwindigkeitswahn aller Lebensprozesse in unserer Gesellschaft schreit doch nach Unterbrechung, nach Entschleunigung und Rückgewinnung eines mensch-


lich verkraftbaren Tempos. Fliegen sind Störenfriede. Sie stören den scheinbaren Frieden. Sie zwingen zum break, zur vielleicht und hoffentlich kreativen Unterbrechung. Zumindest Sonntagsfliegen sollte man auf diese Bedeutung hin befragen. Zumindest ein Tag frei, ein Tag, der Gott geweiht ist und nicht dem Mammon und seinen auf Erfolg und – Teufel komm raus! – Menschen und Ressourcen ausbeutenden Institutionen. Fliegen sind überall anzutreffen – in jedem Business gibt es genügend Stoff, der nicht nur Wohlgeruch verbreitet. Es gibt die Täuschung und die Korruption in allen Lebensbereichen, nicht nur im Ökonomischen. Vielleicht braucht es die unangenehmen Fliegen, die sich draufsetzen und eine vorgetäuschte Rechtmäßigkeit aufdecken.

darüber hinaus gehende Kommunikation unter allen Mitgliedern einer Gesellschaft öffnet. Die Pfarre St. Andrä versucht ein spiritueller Ort des Willkommens zu sein, weil es von Gott her nicht die Einteilung in Nationalitäten und Rassen gibt. Es geht um den Aufbau einer Gemeinschaft, die trägt, die trotz Störungsanfälligkeit und Konfliktpotential die Suche nach dem Guten nicht aufgibt und in jedem Menschen ein Geschenk des Ewigen sieht. Hermann Glettler, ANDRÄ KUNST Graz

Fliegen sind global Players, überall präsent und auch wieder weg. Fliegen sind die eindeutig verständlichen Symboltiere für ruheloses Unterwegssein. Das Phänomen der ökonomisch bedingten Migration, das Faktum der Flucht aus lebensbedrohlichen Situationen, das touristisch ambitionierte Unterwegssein der Massen – was auch immer Menschen bewegt, ihre Heimat zu verlassen, aufzubrechen und irgendwo anzukommen – unsere Zeit ist geprägt von einer globalen Rastlosigkeit. In St. Andrä versuchen wir seit Jahren eine gastfreundliche Schnittstelle für Menschen aufzubauen, die nach dem Verlassen ihrer Heimat an diesem Ort gelandet sind. Es geht um die Promotion einer Lebenskultur, die sich nicht auf nationale Zugehörigkeiten versteift, die Identitäten wahrnimmt und verstärkt, aber eine

7


karmen frankl

fliegen globalisierung 22. September – 31. Oktober In Zeiten der Globalisierung sind die Menschen freier geworden, bewegen sich rund um den Globus. Nach welchen Prinzipien sie sich bewegen ist oft unklar, kaum vorhersehbar. Gehen sie freiwillig oder gezwungen, wählen sie beliebig oder planvoll ihre Orte…? Die Bewegungen der Menschen gleichen heute zunehmend denen der Fliegen. Ein Zyklus von Aufbruch, Bewegung und Ankommen und wieder Aufbruch beherrscht den globalisierten Raum. Graz, die Stadt und die Region sind – als Mikrokosmos betrachtet - analog zum Globus ein sich permanent „globalisierender“ Raum. Globalisierung - was nichts anderes heißt als Bewegung, initiiert aus ökonomischen wie sozialen Zwängen einerseits und dem Wunsch der Menschen andererseits nach Heimat und Wurzeln zu schlagen. Das Projekt Fliegenglobalisierung der deutsch-kroatischen Künstlerin Karmen Frankl ist ein work-in-progress und besteht aus zwei zeitlichen Phasen: Intervention und Installation. Das Zentrum der Arbeit bilden sechs große Kugeln, die von innen beleuchtet sind. Sie werden von Hand entsprechend als Globus gestaltet, mit einem

8

speziellen Leim präpariert, der die Fliegen anlockt. Im Zeitraum von Anfang Juli bis Mitte September wurden diese Globen an verschiedenen Orten in Graz aufgehängt. Wie werden nun die Fliegen im vorgegebenen Zeitraum diese Kugeln bevölkern? Wie werden sie sich entscheiden? Gleicht die Fliegenglobalisierung der der Menschen? Warum lassen sich die Fliegen auf dem Globus vor allem in Afrika nieder, in der Antarktis oder der Mongolei und Kasachstan? Alles Zufälle und Spekulationen – oder doch durch irgendwelche Faktoren beeinflusst? So entstehen Siedlungsströme mit neuen, unvorhersehbaren Fliegenbevölkerungsstrukturen. Im zweiten Teil des Projekts werden die Fliegengloben im Rahmen einer Ausstellung in der ANDRÄKIRCHE zusammengeführt und als komplexe Installation präsentiert. Sechs Globen – Sechs Modell-Globalisierungen. Diese Ausstellung der Work-In-Progress Arbeit, Intervention und Installation von Karmen Frankl ist das Finale dieses Globalen Theaters.


Ein Projekt präsentiert von ANDRÄ KUNST in Zusammenarbeit mit: Bundesasylamt Graz, Dr. Klaus Krainz Flüchtlingsquartier Mitterstraße Caritas, Graz Caritas, MARIANUM, Graz, Dr. Günther Polesnig Hotel Weitzer, Graz, Florian Weitzer

Die Kunstinstallationen sind tägl. von 8 – 18 Uhr, bis zum 31. Oktober zu besichtigen

Bundesgestüt Piber, Spanische Hofreitschule

Pfarre St. Andrä Kernstockgasse 9, 8020 Graz Tel. 0316 711918

I.S.O.P. - Innovative Sozialprojekte, Mag. Robert Reithofer, Graz

www.st-andrae-graz.at/ karmen-frankl-globalisierung

9


installationen #01 Fliegenglobalisierung Graz 2013 – Raum- und Klanginstallation #02 Sonntagsfliege, Klanginstallation #03 Schmale Stube, Klanginstallation #04 Echte Europäerinnen

Objekte – Fliege, Nagel, Papier

10


#05 Videodokumentation des Projektes Intervention und Installationen in der Region Steiermark, Graz, Andräkirche Kamera: Peter Palme und Lena Gföllner Filmrealisation: Kerstin Nieke

#06 „Die Franklschen Fliegen“

Rede der Moskauer Kunsthistorikerin Olga Ivanovna

#07 ...wenn Fliegen hinter Fliegen fliegen fliegen Fliegen Fliegen nach... 3D-Animation, Klanginstallation

11


notiz zur fliegengloba

Als Jean-François Lyotard 1979 seinen Bericht Das postmoderne Wissen schrieb, machte er darauf aufmerksam, dass das Wissen zur wichtigsten Produktionskraft geworden sei und sich infolge die Zusammensetzung der aktiven Bevölkerung in den Industrieländern deutlich verändert habe, dieselbe Tatsache indessen stelle für die Entwicklungsländer den schwierigsten Engpass dar. Im postindustriellen und postmodernen Zeitalter werde die Bedeutung des Wissens aufrechterhalten bleiben und für die Produktionskapazitäten der postindustriellen Nationalstaaten zweifellos noch steigen. Diese Situation sei mit ein Grund für die Annahme, dass die Schere zwischen Industrie- und Entwicklungsländern immer weiter auseinandergehen wird. Lyotard stellte damals fest, dass das Wissen als eine für die Machtproduktion unverzichtbare Informationsware bereits ein wichtiger, wenn nicht gar der wichtigste Faktor im weltweiten Machtwettbewerb sei und auch in Zukunft bleibe. So wie die Nationalstaaten einst um Territorien und dann um die Vorherrschaft über Rohstoffe und billige Arbeitskräfte gekämpft

12

hätten, so sei es vorstellbar, dass sie in Zukunft um die Herrschaft über Informationen kämpften, was für Industrie- und Handelsstrategien sowie für militärische und politische Strategien ein ganz neues Feld öffnet. In dieser Lyotardschen Zukunft leben wir längst, denn zehn Jahre nach Veröffentlichung seines Berichts brach das neue Zeitalter der Globalisierung an, zusammen mit der einstürzenden Berliner Mauer oder dem symbolischen Abbau des metaphorischen Eisernen Vorhangs, der den liberalen Kapitalismus im Westen alles andere als symbolisch und metaphorisch vom Realsozialismus im Osten getrennt hatte, als Grenzlinie zwischen der sogenannten liberalen Demokratie und dem Totalitarismus. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs fiel auch die letzte Hürde für die Erweiterung des freien globalen Markts, der bei Anbruch des neuen Millenniums auch den letzten Irrtum ausräumte, indem er bewies, dass Liberalismus nicht für die Freiheit der Menschen steht sondern für eine ungestörte Zirkulation des multinationalen Kapitals. Dementsprechend bildete sich in der glo-


alisierung

balen Sprache das Syntagma „menschliche Ressourcen“ heraus, während sich die Kritiktheorie zunehmend mit dem Begriff des Posthumanen befasste. Im Zeitalter der Globalisierung, die sich zunehmend als die bisher grausamste Form des Kolonialismus erweist, verschwand aus den wirtschaftlich stark entwickelten Ländern die industrielle Produktion. An deren Stelle traten die Entwicklung, die Anwendung und der Verkauf von Informations- und Kommunikationstechnologien, Dienstleistungen und sogenannte kreative Industrien, die eine unüberschaubare Menge an migrierenden, hochqualifizierten Arbeitskräften unter prekären Verhältnissen ausbeuten. Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, dass die sogenannte „schmutzige“ Industrie dorthin verlagert wurde, wo die nahezu versklavten Arbeitskräfte am billigsten sind, dass die Lebensmittelproduktion sich zu einem streng kontrollierten und monopolisierten Wirtschaftszweig entwickelt hat, dass auf dem „Schwarzen Kontinent“ heftige Kriege um Rohstoffe geführt werden, die für die Entwicklung von Informations- und Kommunikationstechnologien benötigt werden,

dass die „westliche Demokratie“ sich mithilfe von „intelligenten Bomben“ und Drohnen in die erdölreichen Länder Nordafrikas und Vorderasiens setzt, und dass die Entbindung von den Menschenrechten als Form der Bekämpfung des globalen Terrorismus zu einem neuen biopolitischen Paradigma geworden ist. „Die Bewegung der Menschen gleicht heute zunehmend der Bewegung der Fliegen“, stellt Karmen Frankl in der Begründung ihres langjährigen Projekts Fliegenglobalisierung fest. Dabei fragt sie sich, ob die Menschen diese Bewegung freiwillig wählen oder dazu gezwungen sind. Im selben Jahr, in dem Lyotard Das postmoderne Wissen veröffentlichte, schrieb Karmen Frankl das Gedicht Sonntagsfliege, aus dem in den darauffolgenden Jahrzehnten die gleichnamige intermediale Arbeit entstehen sollte, die sie heute als Rauminstallation präsentiert.

13


sonntagsfliege

14


Stellen Sie sich vor ein Tisch und ein leeres Glas – – umgedreht auf einer weißen Tischdecke. Und in dem Glas eine Fliege. Langweilige, summende Fliege. An einem Sonntag Nachmittag. Eine Sonntagsfliege. Sie prallt summend gegen die glasklare, durchsichtige Wand. Und sucht, sucht nach dem Aus. Das Glas schlägt zurück. Das Weiß der Tischdecke verwirrt sie. Die langweilige, summende Sonntagsfliege. Sie wird zu Ende summen, das Summen beenden, sich nie summend entfernen.

15


Voraussetzung für die Entstehung des Kunstwerks – der multimedialen Installation – ist für die Autorin das Fliegenfangen. Die erste Fliege fing sie mit einem umgedrehten Glas auf einer weißen Tischdecke während eines Sonntagsessens in Zagreb Ende der 70er Jahre. Mit der systematischen Jagd auf Fliegen begann sie 1991, inspiriert von einem Besuch im Wiener MuseumsQuartier, wo sie auf einer Ausstellung über Istrien im ethnografischen Museum zwischen zwei Fensterscheiben eine Ansammlung toter Fliegen entdeckte. Sie sammelte sie mit einer Tasse auf und nahm sie mit. Zurück im Hotelzimmer fing sie vorsätzlich die erste Fliege. Die Fliege, die später Teil der Installation mit dem Titel Sonntagsfliege werden sollte. Sie fing sie lebend, mit der Hand, und steckte sie auf eine Nadel, vorsichtig, um den lebendigen Eindruck durch die Flügelstellung zu wahren. Später entwickelte sie eine Jagdmethode, arbeitete die Dramaturgie aus und perfektionierte ihre Technik. Bei der Jagd kommuniziert sie mit der Fliege, die im Entstehungsprozess der Arbeit zu einer ästhetischen Tatsache wird. Zwischen der Fliege und ihr, sagt sie, gebe es eine Liebesgeschichte – einen Kampf um Ewigkeit.

16

Jede Fliege hat ihre eigene Geschichte. Die Moskauer Fliege fing sie an einem Regentag im Mai. Sie sei für 24 Stunden nach Moskau gekommen, erzählt sie, um der Stadt zu lauschen, um nach Stille zu suchen. Die sie in der Kommunikation mit der Fliege fand. Jede Fliege hat ihren eigenen Namen, und daneben ein Datum, an dem sie ihr Summen beendet hat. Sie heißen: Echte Moskowiterin, Echte Sofioterin, Echte Zagreberin, Echte Wienerin, Echte Berlinerin, Echte Kölnerin, Echte Pariserin. Karmen Frankl, eine passionierte Zuhörerin, von Beruf Ethnologin und Musikologin mit Audioübertragung als Schwerpunkt, hält Ereignisse und Situationen per Mikrofon fest und stellt sie neu zusammen. Die Fliegen, einstige Bewohnerinnen europäischer Städte, erlebten 1993 in einer Kölner Galerie ihre erste institutionelle Präsentation und wurden so zu Kunstwerken. An den Wänden der Galerie wurden Holzrahmen angebracht, in denen sich, isoliert und geschützt von Glas, die Fliegen befanden. Jeder einzelne Name stand in Handschrift der Künstlerin auf dem Passepartout, das den Fliegenkörper vor dem Druck des Schutzglases bewahrte. Am oberen Rand der Wände mit den eingerahmten Fliegen befestigte Karmen Frankl megafonartige schwarze Lautsprecher, die von einer dünnen Staubschicht überzogen und untereinander mit schwarzen Kabeln verbunden waren. Wie die Fliegen haben auch die Lautsprecher ihre eigene Geschichte. Nach ihrer Herstellung in Ungarn waren sie jahrzehntelang am Magdeburger Bahnhof im Einsatz, an der Grenze zwischen der DDR, die heute nicht mehr existiert, und der Bundesrepublik Deutschland. Auch Karmen Frankl kommt aus einem Land, das heute nicht mehr existiert – aus der SFRJ, der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien, die sie drei Jahre vor dem Mauerfall verließ, um sich


in Westdeutschland niederzulassen. Nach dem Mauerfall wurden die ostdeutschen Magdeburger Lautsprecher durch neue ersetzt, aus der Fabrik einer Firma, deren Name und Logo als Synonym für die westliche, kapitalistische Technologie gilt: Siemens. Die sozialistischen Lautsprecher wurden ausgesondert und mit ihnen der dazugehörige sozialistische Staub. Karmen Frankl hat diesen Staub sorgfältig konserviert, wie im Übrigen auch die Fliegen, und die Lautsprecher wieder eingesetzt. Während der Ausstellung ertönt daraus das Summen der Sonntagsfliege und die Stimme der Künstlerin, die ihren 1979 geschriebenen Text liest. Ein weiterer Teil der Installation Sonntagsfliege ist ein gedeckter Sonntagstisch, auf dessen Mitte sich eine Fliege in einem umgedrehten Glas befindet, während der Tisch selbst von einem zwanzig Meter großen Fliegennetz umhüllt ist. Dazu ein ausgesondertes sozialistisches Firmenlogo: das Leuchtschild mit der Aufschrift Mladost, das in der Stadt, wo Karmen Frankl aufwuchs, für die bekannteste Buchhandelskette stand. In den sozialistischen Mladost-Buchhandlungen in Zagreb konnte man westliche Literatur kaufen. Als der Westen Kroatien erreichte, verschwand Mladost. Heute befindet sich eine T-com-Filiale in den Räumen der früheren Fachbuchhandlung in der Innenstadt, was den Zagreber Bürgern ins Gedächtnis ruft, dass sie Teil der globalen Entwicklung sind, der Finanzialisierung, bei der das Wirtschaftswachstum nicht mehr auf industrieller Produktion beruht, sondern auf Information, Kommunikation und Dienstleistungen. Diesen anachronen, zu Zeiten des obligatorischen Corporate Brandings verworfenen Werbeschriftzug, rekomponiert Karmen Frankl. Sie trennt ihn in seine zwei Silben und bringt ihn in einer oberen Ecke des Ausstellungsraums an:

Mlad - Ost. Wobei sich die erste Silbe – mlad, Kroatisch für jung – auf ihre Jugend bezieht und die zweite Silbe – Ost – die Himmelsrichtung bezeichnet, die dem Westen und allem, wofür er metaphorisch steht, entgegengesetzt ist. 2011 wurde die Sonntagsfliege in den sakralen Räumlichkeiten der Kirche St. Michael in Köln ausgestellt. Dabei funktionierte Karmen Frankl einen Beichtstuhl zur Hörkabine um. Statt der prüfenden Stimme des Priesters ertönte die Aufnahme einer Stimme, die Das Lob der Fliege liest, einen Text von Lukian von Samosata aus dem zweiten Jahrhundert. Lukian schreibt darin unter anderem: „Sie saugt zwar auch Milch, aber Blut schmeckt ihr ebenfalls, ohne dass die Gestochenen dabei großen Schmerz empfänden.“ Zudem erwähnt er, dass Homer auf der Suche nach Komplimenten für Helden deren Mut nicht mit dem des Löwen oder des Wildebers vergleiche, sondern mit dem Mut der Fliege. Platon verübelt er sogar, in seinem Diskurs über die Unsterblichkeit der Seele die Tatsache übersehen zu haben, dass eine tote Fliege, wenn man sie mit Asche bestreue, neu geboren werde und davonfliege. Zwanzig Jahre nach der ersten Inszenierung

17


der Sonntagsfliege entwickelt Karmen Frankl mit der Installation Fliegenglobalisierung ihre interdiskursive Essayisierung der Fliege weiter. Darin visualisiert sie den Begriff der Globalisierung buchstäblich, in Form eines weißen, leuchtenden Ballons, mit der Konnotation eines Globus und einer globalen Kartografie der Macht. Im Übrigen sagt Lukian, mutige Fliegen seien nur bei Licht aktiv, so werden die leuchtenden Globen für die Fliegen buchstäblich zur Todesfalle. Die umrissenen Flächen der Kontinente sind mit einem Spezial-Leim überzogen, der das Geschlechtshormon der Fliege enthält. Bevor sie neben der Sonntagsfliege und der Geschichte über den Zustand einstiger osteuropäischer sozialistischer Langeweile ihren visuellen Essay zur aktuellen Globalisierung und die damit verbundene obligatorische Mobilität von Menschen und Waren präsentiert, stellt Karmen Frankl an sorgsam ausgewählten urbanen und ländlichen Orten, die unmittelbar oder symbolisch mit dem Begriff Migration in Zusammenhang stehen, sechs Globen als Köder auf. In einem Asylamt, im Großraumbüro eines multinationalen Konzerns, im Wohnzimmer einer Arbeiterfamilie, in einem

18

Flüchtlingsheim, an einer Universität und in einem Stall. Innerhalb von zwei Monaten, in denen sie dem verführerischen Duft der Modelle unseres Planeten ausgesetzt sind, gestalten die Fliegen mit ihren Körpern die Konfiguration der Welt. Klar ist: Das intermediale Projekt Fliegenglobalisierung stellt keinen fertigen ästhetischen Gegenstand auf, vielmehr problematisiert es – durch die Kategorien des Aufführens und Ereignens – die Bedeutung des Grundbegriffs Arbeit (einschließlich der künstlerischen Arbeit), wobei weder der Verlauf noch Rückwirkungen der Ereignisse vorherzusehen sind. Daher muss sich hier die Aufmerksamkeit auf den Arbeitsprozess und seine Temporalität richten. Der Prozess beginnt mit einer interdisziplinären Untersuchung, die eine Trennung in sogenannte künstlerische und außerkünstlerische Probleme negiert. Auch begrenzt sich die Ausstellungszeit nicht auf die Dauer der Aufstellung in einem strikt definierten Ausstellungsraum. Während der Ausstellungszeit, die auch die Zeit der Vor-Installation mit einschließt – an öffentlichen und privaten Orten, die für die Ausstellung von Kunstobjekten


nicht vorgesehen sind – wird jeder Globus zu einem Ort, an dem konkrete Leben hingegeben werden, in diesem Fall die Leben einer Vielzahl von Fliegen. Die Fliege, versteht sich, ist mehr als nur eine Fliege: Sie ist auch eine (globale) Metapher. In einem ihrer Texte zur Begründung ihrer Konzeption der dreizehnten Documenta in Kassel, versucht Carolyn Christov-Bakargiev, eine Antwort auf die (unbeantwortbare) Frage zu geben, was Kunst eigentlich sei, und gesteht dabei, dass sie nicht wisse, ob der Bereich der Kunst im 21. Jahrhundert fortbestehen würde. Sie fragt sich, wovon wir eigentlich sprächen, wofür das Wort Kunst verwendet werde, und weist darauf hin, dass das Wort Kunst die konventionelle Bezeichnung für empirische und praktische Formen der Erkenntnisbildung durch das Tun und die Erfahrung ästhetischer Objekte sei, die zugleich Metaphern darstellten, Modelle und aktuelle

Verkörperungen der Art und Weise, wie aus Perzeption Wissen und Verständnis entstehe, an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Gesellschaft. Weiterhin bezeichnet sie mit Kunst auch die Identifizierung der Untersuchungssprache mit dem Untersuchungsobjekt, einschließlich der Identifizierung der Politik mit der Praxis (oder der Praxis mit der Politik), sowie gesellschaftlicher Beziehungen mit Situationen gesellschaftlicher Interaktion. Dabei betont sie, dass der von ihr beschriebene Kunstbegriff in Europa relativ neu sei und die Tatsache in Erinnerung rufe, dass die Kunst erst mit der Geburt der Bourgeoisie als autonomer Kulturbereich zu existieren begann, kurz vor Anbruch der Ära der Kohle-Brennstoffe im Europa des achtzehnten Jahrhunderts2. Heute, im vorangeschrittenen Informations- und Kommunikationszeitalter, in dem Kohle-Brennstoffe noch längst nicht ad acta gelegt sind, ist klar: Die Kunst existiert nicht als autonomer Kulturbereich. Kultur, Wissenschaft, Technologie, Wirtschaft und Politik, oder Biopolitik, sind Teilchen desselben Energiefelds. Darum bilden gerade die gesellschaftlichen Beziehungen und die Situationen gesellschaftlicher Interaktion den Gegenstand von Karmen Frankls künstlerischer Untersuchung. Der Interaktion von Fliegen, versteht sich, wobei die Fliege mehr ist als nur eine Fliege. Wenn alle an der Performance teilnehmenden Fliegen mit ihren Körpern die Konfiguration des obligatorischen globalen Arbeitsmarkts bilden, werden sie dann von irgendeiner Hand, im Raum der die Unsterblichkeit der Seele feiert, mit Asche bestreut, oder wird der Leim nur noch Teilchen von globalisiertem Staub einfangen? Zagreb, Juli 2013

Dr. Leonida Kovač, Kunsttheoretikerin Akademie der Bildenden Künste Zagreb Übersetzung: Margit Jugo

19


Herzlichen Dank an alle Freunde und Kollegen in der Gemeinde St.Andrä, Graz und in Köln Wir bedanken uns bei folgenden Sponsoren: aeroxon, Waiblingen Thomas Nürk, Dr. Axel Engelhart, Stefanie Schüller RSL Lichttechnik St.Augustin Dirk Alheit LICHTPLAN – Cologne Robin Uber MARTIN JOHNA Kommunikationsdesign Kertin Nieke Filmrealisation Unser besonderer Dank gilt Ousman Bah, Lena Gföllner, Peter Palme, JoJo, Agron Nikoll Bibaj und Anna Gigl die dieses Projekt durch ihre uneingeschränkte Mitarbeit möglich gemacht haben.

20


21


Š Fotos Lena GfÜllner, Karmen Frankl

22


23


„Innerhalb von zwei Monaten, in denen sie dem verführerischen Duft der Modelle unseres Planeten ausgesetzt sind, gestalten die Fliegen mit ihren Körpern die Konfiguration der Welt.“

#karmen frankl

multimediale Künstlerin, Autorin und Regisseurin geboren in Kroatien, lebt und arbeitet in Köln

24

L. Kovac


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.