Kein Platz für Martin

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Kein Platz f端r Martin Eine Schulgeschichte von Eva-Katharina Huber


Teach For Austria rekrutiert persönlich und fachlich herausragende HochschulabsolventInnen, die nach einer intensiven Vorbereitung für mindestens zwei Jahre als vollwertige LehrerInnen - Fellows – an urbanen Hauptschulen, Neuen Mittelschulen und Polytechnischen Schulen unterrichten. Während dieser zwei Jahre werden sie von erfahrenen TrainerInnen begleitet und erhalten eine Leadership-Ausbildung. Ziel ist es, eine Bewegung von Menschen aufzubauen, die sich für Chancengerechtigkeit im Bildungssystem durch die Förderung von Kindern und Jugendlichen aus einkommensschwachen und bildungsfernen Familien einsetzen. Die Fellows sind den SchülerInnen Vorbilder, inspirieren sie durch hoch gesetzte Anforderungen, entfachen Feuer für Bildung und ebnen ihnen dadurch den Weg in eine hochwertige Lehre und/oder in weiterführende Schulen. Neben diesem akademischen und laufbahnrelevanten Wissen geben die Fellows den SchülerInnen insbesondere wichtige soziale Kompetenzen und Werte mit auf den Weg wie Respekt, den Umgang mit Diversität, Konfliktlösungspotenzial, Selbstständigkeit, Selbstbewusstsein und den Glauben an die eigenen Fähigkeiten.

Über die Autorin: Eva-Katharina ist Absolventin der Universität Wien und wirkt als Fellow an einer Neuen Mittelschule in Wien, Simmering.


„Wenn

jetzt nicht ganz schnell ein Wunder passiert, wird er sitzenbleiben“, sagt Kollege Haberich. Schwer und bedrückend hängt der Satz im Raum. Es ist Mai, ein Mittwoch, 12 Uhr 30. Ich sitze mit meinen Kollegen um den runden Tisch im Lehrerzimmer. Wir sprechen über die Noten einzelner Schüler, die uns Sorgen machen: Jelena hat einen Fünfer in Mathematik, darf aber trotzdem in die nächste Klasse aufsteigen. Hamit ebenfalls. Wenn Anna die Nachprüfung schafft, kann sie auch in der Klasse bleiben. Aber Martin? Bei ihm sieht es nach Sitzenbleiben aus. Er steht in zwei Schularbeiten-Fächern auf Nichtgenügend. Manchmal kann es für einen Schüler ja auch positiv sein, eine Klasse zu wiederholen, aber für Martin würde es den Verlust einer der wenigen sozialen Konstanten bedeuten, die er in seinem Leben hat. Seit Beginn dieses Schuljahrs unterrichte ich Biologie, Technisches Werken, Musik und Deutsch als Zweitsprache in den vier 1. Klassen an einer Neuen Mittelschule in Wien. Martin ist auch mein Schüler. Er ist elf, weiß viel und bringt sich bei mir im Biologieunter-


richt mündlich ein: Was ist ein Reflex? Wie kann man Halsweh lindern? Wenn ein Hund den Schwanz einzieht, was will er uns damit sagen? Immer wieder kann ich beobachten, wie er seinen Mitschülern Inhalte im Unterricht erklärt. Sobald es aber ans Schriftliche geht, läuft nichts mehr: Er schreibt kaum Antworten auf und gibt dann das Aufgabenblatt zerknüllt und weitestgehend leer ab. Es fällt ihm auch schwer, seine Aufmerksamkeit länger zu halten: Hat er nichts zu sagen, steht er auf, geht herum, stört Mitschüler, ruft durchs Klassenzimmer. „Ich warte noch die letzte Schularbeit ab. Wenn er da auch negativ ist, kann ich ihm keine positive Note geben“, pflichtet eine weitere Kollegin bei. „Aber das hat ja auch seinen Grund: Die Mutter unterstützt ihn nicht genug“, gibt ein anderer zu bedenken. Bereits in den ersten Schulwochen treffe ich Martins Mutter zufällig in der Schule und erfahre: Martin lebt mit ihr, ihrem Freund, dem kleinen Bruder und der älteren Schwester zusammen. Sein Vater lebt in Graz – das


Verhältnis der Eltern ist zerrüttet. Vor ein paar Jahren musste Martin von ihnen weg, lebte sechs Monate im Ausland und danach in einem Kinderheim. Er nimmt täglich das Medikament Ritalin gegen das bei ihm diagnostizierte ADHS (attention deficit disorder). Deshalb werfe ich ein: „Martin hat es wirklich nicht leicht zu Hause, wir sollten seine Familien- und Gesundheitssituation in der Entscheidung, ob er aufsteigen kann, mitbedenken“. „Ja, natürlich. Aber was können wir in dem Fall noch tun?“, fragt Kollegin Bertich. Auch viele andere Lehrer haben im Laufe des Schuljahrs mit Martins Mutter gesprochen, gaben ihr Tipps, wie sie Martins schulische und soziale Entwicklung fördern könnte und haben echtes Interesse, ihm zu helfen. In einem Elterngespräch im März erzählt mir die Mutter: die 14-jährige Schwester ist kürzlich ausgezogen – ein Streit mit der Mutter war der Auslöser. Die Familie wird von Sozialarbeitern betreut und es kann gut sein, dass auch Martin wieder in ein Heim muss.


Später kommt Martin zum Gespräch dazu und wir machen zusammen ein Zielscheiben-Diagramm: Er zeichnet ein, was er gut kann und woran er noch arbeiten will. Etwas ungläubig zuerst, aber dann stolz, lächelt Martin, als ich ihm beim Ausfüllen des Diagramms sage, dass er gut darin ist, anderen Kindern zu helfen, wenn sie nicht weiter wissen. Die Mutter nimmt die Zeichnung mit und ich habe das Gefühl, dass ihr und Martin das Gespräch geholfen hat. Sie wollen nicht noch einmal getrennt werden, sagen sie zum Abschluss. „Die anderen Kinder sagen alle, dass ich dumm bin“, erzählt Martin mir unvermittelt nach einer Biologiestunde einen Monat später. „Wie kommen sie auf sowas?“, frage ich überrascht, denn das hatte ich trotz aller Schwierigkeiten bisher nicht gehört. „Soviele Fünfer wie ich hat doch sonst keiner.“ „Mmmh, dumm? Du hast gerade letzte Stunde wieder gezeigt, was du alles weißt. Ich sehe auch, dass du


anderen hilfst und ihnen etwas beibringst. Ich glaube nicht, dass dumme Schüler sowas machen können.“ Er blinzelt nervös, aber etwas beruhigter in die Ferne und ich erinnere ihn an seine Aufgabe, die er sich auf dem Diagramm eingezeichnet hatte: Sachen für die Stunden vorbereiten, die Mitschüler respektvoll behandeln, Hausübungen machen. Die Biologie-Sachen sind in der nächsten Stunde auf dem Tisch und Martin fällt nicht negativ auf. Auch in den Folgewochen kann ich beobachten, wie er sich bemüht, im Unterricht aufmerksam zu sein. Das höre ich auch von seinen anderen Lehrern: In Turnen flitzt er voller Elan dem Fußball hinterher und ist der Erste, der sich ins kalte Wasser traut. Beim Lehrausgang zum Bauernhof ist Martin ganz vorne dabei und hört dem Bauern aufmerksam zu, stellt Fragen. Und trotzdem steht jetzt im Raum, dass er die Klasse wiederholen muss.


„Bei mir hat er dieses Jahr kaum eine Leistung gebracht“, reißt mich ein Kollege aus meinen Gedanken. „Ich habe schon oft mit der Mutter geredet“, sagt darauf sein Klassenvorstand, „ich sehe da auch kaum Fortschritte.“ „Martin ist ein netter Kerl und ich helfe ihm gerne. Wir haben wirklich alles versucht. Aber das wird dieses Jahr leider nichts mehr.“, fasst Kollegin Bertich das Gespräch zusammen und schließt es damit auch ab. Während die Kollegen schon über einen anderen Schüler diskutieren und das Sommerfest der Schule planen, frage ich mich, ob wir wirklich „alles versucht“ haben. Ob ich selbst alles versucht habe. Mir fallen etliche Dinge ein, die ich noch hätte tun können: Ich hätte noch intensiver mit seiner Mutter arbeiten können. Ich hätte mit Martin und seiner Mutter einen persönlichen Lernplan für ihn erstellen können. Ich hätte beide wöchentlich daran erinnern können, dass Martin eine gute Jause braucht und nicht ohne Frühstück an die Schule kommen soll.


Aber da gab es auch noch neunundneunzig andere Schüler, für die ich da bin. Viele davon mit ähnlich großen Herausforderungen wie Martin. Hätte ich wirklich mehr tun können? Auch Martins Mutter hat viel getan. Sie ist zu vielen Gesprächen gekommen, hat versucht, die Ratschläge umzusetzen. Sie hat mit Martin gearbeitet, ihm trotz angespannter Finanzen sogar Nachhilfestunden bezahlt. „Ich mach doch alles, was ich kann“, höre ich sie sagen. Und obwohl es nicht so wirkt, hat Martin selbst dieses Jahr wahrscheinlich das meiste von uns allen geleistet, mit seinem großen „Rucksack“ voller aufwühlender Erlebnisse, psychischen Verletzungen, Verlusten und Selbstzweifeln, den er ständig mit sich trägt. Ich schaue auf die Flügeltür des Lehrerzimmers und frage mich, ob er mit dem Rucksack da überhaupt durchpassen würde.


Trotz aller Bemühungen gibt es irgendwie nicht genug Platz für ihn und sein Gepäck, das er unverschuldet mit sich herumschleppen muss. Das Resultat: Ein nur vermeintlich „dummer“ Schüler muss die Klasse wiederholen und wird aus seinem sozialen Umfeld gerissen, das ihm zumindest etwas Halt gab. Ich blicke betroffen auf das Jahr mit Martin zurück, in dem ich vielleicht mehr machen, ihn unterstützen, bewegen hätte können. Aber ich blicke auch nach vorne, in ein neues Jahr, in dem ich mehr machen kann – auch und gerade für meinen Schüler Martin.


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