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ANTHROPOLOGIE UND ARCHITEKTUR
from WiSe 21/22_hellwig
ANTHROPOLOGIE UND ARCHITEKTUR
‚Anonyme Architektur‘
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Die Architektur begleitet den Menschen seit Beginn seiner Existenz. Der Mensch, ein Produkt der Evolution, verlor über zehntausende Jahre hinweg viele für Tiere typische Attribute und Verhaltensweisen. Verbunden mit der sozialen Entwicklung entwickelte sich über Jahrmillionen ein Lebewesen, das auf den physischen Schutz vor beispielsweise Nässe, Kälte und Hitze angewiesen ist. Dieser Schutz wurde und wird von Architekturen geboten, die entweder von der Natur selbst, anthropogen nach dem Prinzip der Subtraktion oder anthropogen nach dem Prinzip der Addition geschaffen werden. Dem schützenden Raum an sich liegen so, entweder durch Zufall oder durch das über tausende Jahre angelernte Wissen ihrer Erschaffer*, Eigenschaften zu Grunde, die ihn für einen längeren Aufenthalt des Menschen tauglich machen sollen. Über den größten Zeitraum der Menschheitsgeschichte waren diese Erschaffer keine Architekten oder Baumeister, sondern der jagende, sammelnde, hütende oder handwerklich arbeitende Mensch. Archaische Bauweisen wurden schon von einigen Architekten und Historikern, unter ihnen auch der Amerikaner Bernard Rudofsky, untersucht. Mit seinem Werk Architecture Without Architects (1964) prägte er den Begriff ‚Anonyme Architektur‘.
* Es sind in in dieser Bachelorthesis ausdrücklich alle Geschlechter oder geschlechtsneutrale Personen gleichermaßen angesprochen
‚Anonyme Architektur‘ durch Subtraktion
Die frühesten Behausungen vergangener Zeiten waren beispielsweise Felsüberhänge, Höhlen oder Bäume. Auf dem afrikanischen Kontinent wurden unter anderem die hohlen Stämme des massiven Adansonia digitata, dem Affenbrotbaum, schon zu archaischen Zeiten häuslich genutzt. In einigen westafrikanischen Staaten gibt es Nachweise von Begräbnisstätten in ebendiesen Bäumen, außerdem konnten diese auch Toilette und Gefängnis sein.1 Aber nicht nur vom Neolithikum (ca. 9.500-1.800 v. Chr.) bis ins vergangene Jahrhundert suchten die Menschen in natürlichen Formationen Schutz. In einigen Gebieten der Welt, beispielsweise in Papua Neuguinea, gibt es auch heute noch solche Lebensweisen. Das Volk der Meakambut lebt halbnomadisch in einem abgelegenen Gebiet im Regenwald, jede Familie hat dabei ihre eigene Höhle. Abgesehen vom Zweck des Wohnens dient eine andere Aushöhlung dem Zweck einer Kultstätte. Aus der Kopao, der ‚Schöpfungshöhle‘, sind einem alten dortigen Glauben nach die Menschen hervorgegangen.2
Menschen, die in Höhlen wohnen, nennt man Höhlenmenschen, veraltet Troglodyten. Da Aushöhlungen im Gestein überall auf der Welt zu finden sind, gibt es auch auf allen Kontinenten Zeugnisse von derartigen Lebensformen. Viele Wohnhöhlen entstanden anthropogen, hier durch Subtraktion von einer Erd- oder Gesteinsmasse. Ein Beispiel sind die Felsen von Pantalica (Abb. 1) am Monti Iblei auf Sizilien. Die regionale Urbevölkerung flüchtete in der späten Bronze- und frühen Eisenzeit vor den Siculi in die Berge und schuf im Kalkstein horizontale und vertikale Gänge und Räume. Diese dienten zunächst als Begräbnisstätte, weswegen die Anlage auch Nekropole von Pantalica genannt wird. Insgesamt gibt es dort schätzungsweise 5.000 Grabstätten, die meist in Gruppen dicht beieinander liegen.
Nach einigen Jahrhunderten, etwa um 800-900 v. Chr., wurden die leeren Grabkammern als Schutz vor den einfallenden Arabern wieder besiedelt.3 Diese Wohn- und Lebensform hat sich auch auf anderen Kontinenten entwickelt. In den Löss-Landschaften beispielsweise in den chinesischen Provinzen Shanxi und Shaanxi findet man bis heute noch unterirdische Wohnungen (Abb. 2), in denen schätzungsweise etwa zehn Millionen Menschen leben. Die quadratischen Aushübe und Ausgrabungen sind bis zu neun Meter tief und enthalten durch eine Treppe mit der Oberfläche verbundene Wohnräume. Schon der amerikanische Autor und Geograph George Cressey schrieb, dass man in China auf den Feldern Rauch aufsteigen sehen könne, aus Behausungen unterhalb der Erde.4 Der Architekt B. Rudofsky fasst weitergehend zusammen, dass dort außer Wohnungen auch Fabriken, Schulen, Hotels und Ämter zu finden seien. Die Porosität des kalkhaltigen Löss begünstigte die Fertigung der unterirdischen Bauwerke.5 Auch auf dem amerikanischen Kontinent gibt es Bespiele menschlicher Subtraktion von Erdmasse. Etwa die Amphitheater von MuyuUray (Abb. 3) liegen in Peru auf ca. 3.600 m über dem Meeresspiegel und sind heute von Ackerland umgeben. Die Erbauer waren vom InkaVolk der Maras. Die Theater wurden wie zylinderförmige Terrassen aus dem Boden ausgehoben und das größte von ihnen fasste nach heutiger Schätzung ungefähr 60.000 Besucher. Es wird auch angenommen, dass hier athletische Wettkämpfe stattfanden. Durch ungefähr 30 cm breite Rinnen, in Monolithen aus Stein geschabt, wurde die Trinkwasserversorgung aus Quellen sichergestellt.6 Da es sich um insgesamt fünf Anlagen handelt, sind die Ausmaße durchaus mit den berühmten europäischen Spielstätten in Rom oder Athen zu vergleichen.
„There is much to learn from architecture before it became an expert’s art. The untutored builders … demonstrate an admirable talent for fitting their buildings into the natural surroundings. Instead of trying to „conquer“ the nature, as we do, they welcome the varieties of climate and challenge of topography.“7 - B. Rudofsky
Abb. 1
Abb. 2
Abb. 3
Abb. 1: Felsenstadt Pantalica auf Sizilien; Abb. 2: Löss-Landschaften in Zentralchina; Abb. 3: Amphitheater von Muyu-Uray
‚Anonyme Architektur‘ durch Addition
Neben der ‚anonymen Architektur‘ der Natur und der ‚anonymen Architektur‘ durch Subtraktion gibt es die ‚anonyme Architektur‘ durch Addition. Es wird also (Bau-)Masse zu einem Objekt addiert. Auch hier existieren viele unterschiedliche Exempel in den verschiedensten Teilen der Welt und unter diversen klimatischen Bedingungen. Ein wahres Wunderwerk sind dabei die arabischen bādgire. Diese Windtürme aus Lehm sind unter anderem in der arabischen und persischen Welt zu finden. In dieser Region der Erde herrscht ein trockenheißes Wüstenklima vor. Auch wenn heute die meisten Einkaufszentren, Bürokomplexe und Wohnungen mit einer elektrisch-betriebenen Klimaanlage gekühlt werden, so kann man die bādgire als eine Art Vorläufer der Klimaanlagen betrachten. Der bādgir ist eine Art Windturm, der hoch über das Gebäude hinausragt und vielerorts das Städtebild dominiert. Er wird im Kapitel „Low-Tech und der Nutzen natürlicher Kräfte“ eingehender beschrieben. Vergleichbare Bauten, aber rudimentärere Arten der Kühlung durch Windauslässe in den Dächern, findet man auch bei arabischen Stadthäusern und den sogenannten souks der Altstädte.8 Bei der additiven ‚anonymen Architektur‘ ist aber nicht nur ein Gebäude an sich interessant, sondern auch die Anordnungen und Strukturen von Bauwerken. So ergibt sich beispielsweise bei den Dogon, die im Osten von Mali leben, ein einzigartiges Geflecht aus traditionellen Lehmbauten. Das Volk lebt in der Trockensavanne, in der innerhalb von drei Monaten Regenzeit nur bis zu ein Liter Regen pro Quadratmeter fällt. Meist ist es in der Savanne trocken und heiß mit kühlen und frostigen Nächten. Wohn- und Speicherbauten sind an den hohen Felswänden der Region orientiert. Diese bieten einen natürlichen Regenschutz. Um Erosion zu vermeiden, verfügen die Flachdächer der Speichergebäude über einen
Wasserspeier, außerdem sind sie aufgeständert. Man muss allerdings zwischen der westlichen und östlichen Dogon-Kultur unterscheiden, die sich durch zwei verschiedene Einwanderungswellen entwickelt haben. In der östlichen Kulturform herrschen axiale und geometrische Grundrisse vor. Die Dogonbauten des Westens sind zellartig aufgebaut. In organischen Formen heften sich die Räume aneinander, es gibt außerdem auch in der Vertikale eine Mehrschichtigkeit. Innerhalb dieses Geflechts aus Räumen herrschen genau festgelegte Nutzungsweisen und auch Rangordnungen vor. Diese lassen sich auch auf den Makrokosmos der ganzen Stadt übertragen. Die Siedlungen der Dogon passen sich an die örtliche Topographie an, sie enthalten nach wie vor höher gelegene Wehrdörfer, es gibt Gemeinschaftshäuser für Senioren und eine komplizierte Struktur aus öffentlichen, halböffentlichen und privaten Räumen und Plätzen (Abb. 4). In beiden Kulturkreisen sieht man in der Formensprache Analogien zwischen Architektur und der dortigen Kunst.9 An den engen, für Außenstehende undurchschaubar verwinkelten Gassen kann man ablesen, dass die Dogon ihre Stadt hauptsächlich zu Fuß erschließen. In den chinesischen Provinzen Fujian, Canton und Chaozhou gibt es den Typus des Rundhauses. Das chinesische Volk der Hakka entwarf ihre Wohn- und Arbeitsstätten auf einem runden Grundriss. Sie werden Tulou genannt (Abb. 5). Der Durchmesser eines solchen Gebäudes kann bis zu siebzig Meter betragen. Eine wehrhafte Außenmauer, bestehend aus Lehm und Bambus, schirmt die vertikalen und im Ring angeordneten Reihenhäuser von der Außenwelt ab. Die einzelnen Familien wohnten häufig in vier übereinander liegenden Etagen. Dabei lagen die Badezimmer im Erdgeschoss, darüber die Lagerräume und in den oberen Etagen die Schlafräume. Die Wohnungen waren um einen ebenfalls kreisförmigen Innenhof angeordnet. Hier fand das soziale und kulturelle Leben der Gemeinschaft statt. In den Rundhäusern der Hakka können bis zu 800 Menschen leben. Aufgrund der Abschirmung und der nach innen gekehrten Lebensweise wurden sie im übertragenden Sinne als eigene kleine Reiche gesehen.10
Abb. 4
70 m
Abb. 4: Kubaturen eines Dogon-Dorfes; Abb. 5: Tulou der Hakka-Kultur wehrhafte
Außenmauer
Schnitt
Abb. 5
Architektur und der städtische Makrokosmos
Auch heute gibt es naturgemäß Städteplaner und Architekten, die unsere Straßen und Wohngebiete anlegen. Das geschieht unter anderem nach ökonomischen, ökologischen und sozialen Gesichtspunkten. Diese Art von Planung gab es auch schon in der Vergangenheit in einigen Kulturen. Beispielsweise das antike Griechenland oder das kaiserliche China kannten bereits ausgeprägte stadtplanerische Regeln. Antike griechische Städte, wie Priene, waren nach dem sogenannten hippodamischen System angelegt. Dieser frühe Rasterplan beruht auf mathematischen Prinzipien und ist eine Errungenschaft der hellenistischen Welt. Heutzutage machen sich vor allem Städte in Nord- und Südamerika und Australien diesen einfachen Rasterplan zu Nutze. Ein ostasiatisches Beispiel ist das historische Peking. Nach einem chinesischem Glauben und den Feng-Shui-Regeln soll eine Nord-Südausrichtung Glück bringen. Die Metropolen des alten China hatten deswegen häufig eine Nord-Süd-Achse, sofern die Topografie und Geografie dieses zuließen. Chinesische Stadthäuser wurden, egal welchem sozialen Status der Hausherr unterlag, von Süden betreten. Ein ehrenhafter Gast wurde erst nach Norden geleitet, um sich dann mit ihm wieder gen Süden zu wenden.11 Es gab und gibt also Kulturen und Gesellschaften, die nach einem sogenannten Masterplan, sei er kulturell und/oder ökonomisch bedingt, ihre Siedlungen planen. Doch das ist nicht überall auf der Welt in diesem Maße Praxis: 2018 lag der Anteil der Slumbevölkerung an der Stadtbevölkerung im weltweiten Mittel bei 24%. Im Afrika südlich der Sahara liegt dieser Wert sogar bei 56,2%.12 Das legt die Vermutung nahe, dass ein beträchtlicher Teil der globalen Häuser und Behausungen nach sozialen Strukturen, Topographie oder
Wetterfestigkeit und nicht nach einer übergeordneten planerischen Vorgehensweise erschaffen werden.
Durch die Betrachtung des Makrokosmos einer Siedlung, einer Stadt oder sogar eines Geflechts von Städten, kann man viel über die Lebensweise ihrer Bewohner erfahren.
Die Struktur und Beschaffenheit der Verkehrswege ist ein Indikator für die Fortbewegungsart der Bewohner. In Venedig ist es, durch das Fehlen von Straßen und das Vorhandensein von über 3.000 Fußwegen und rund 400 Brücken, so wie Wasserstraßen zwischen den 100 Inseln selbstverständlich, dass ein Großteil der Bewohner sich im Boot oder zu Fuß fortbewegen.13 Hierzu ganz im Gegensatz steht die westliche Autostadt des 20. Jahrhunderts, allen voran Los Angeles. Sie zeugt von der Denkweise der Menschen dieser Zeit, als das Autofahren noch einen Wohlstandsindikator darstellte. Unter anderem im Ruhrgebiet, in Tokio, Sydney oder eben Los Angeles stauen sich jeden Tag Millionen Autos. An diesen Orten haben Autobahnen und große Straßen offenbar (noch) ihre Berechtigung. Es gibt allerdings als vielleicht absurd zu bezeichnende Nachahmer dieser auf Individualverkehr angelegten Städte. Die Hauptstadt von Myanmar, Naypyidaw, wird von ungefähr 300.000 Menschen bewohnt. Die Stadt ist in unterschiedliche Zonen eingeteilt und ist ursprünglich für mindestens 1.000.000 Einwohner angelegt worden. Sie umfasst eine Fläche von 7.000 km², etwa das Achtfache der Fläche Berlins. Die Yaza Htarni Road ist eine sogar 22-spurige Schnellstraße, auf der interessanterweise aber nur wenige Autos und Motorroller unterwegs sind.14 Doch nicht nur in verkehrstechnischer Hinsicht lässt sich der Makrokosmos einer Stadt untersuchen. Er spiegelt z.B. auch die natürlichen Rohstoffe einer Region wider. Ab der Industrialisierung haben sich in Europa die Baumaterialien vereinheitlicht. Zunächst wurde die Herstellung von Backsteinen standardisiert, danach hielt die Nutzung von Beton und Stahl Einzug. Spätestens ab dem 20. Jahrhundert wurde ein Großteil der Gebäude aus einem dieser drei Werkstoffe errichtet. Heute zeugen vor allem historische Sakralbauten noch von den natürlichen Lehm-, Stein- oder Holzvorkommen einer Region. Der Münsteraner St.-Paulus-Dom zeugt beispielsweise von den natürlichen Sandsteinvorkommen im Münsterland. Selbst beim Wiederaufbau nach dem Krieg ab dem Jahre 1946 wurde dieser Sandstein (Havixbeck, Billerbeck und Nottuln) benutzt.15
Außerdem kann man anhand einer historischen Wehranlage untersuchen, ob sich die Stadt in der Vergangenheit gegen Feinde verteidigen musste. So findet man in einigen deutschen Städten in Parks und Grünanlagen umgestaltete Mauern und Gräben. Abgesehen von der „Promenade“ in Münster sind die Wallanlagen in Frankfurt ein prägnantes Beispiel. Diese ziehen sich im Halbkreis um die innerste Stadtmitte und werden südlich vom Main begrenzt. Auf Satellitenaufnahmen und Stadtkarten kann man heute noch nachvollziehen, dass es sich mal um Befestigungswälle gehandelt hat. Ab dem frühen 19. Jahrhundert, mit dem Aufkommen von neuen Waffen und Kriegstechniken, wurden diese allerdings unbrauchbar und schrittweise in beispielsweise Gärten umgewandelt.16 Abgesehen von den oben aufgezählten Punkten kann noch einiges mehr am urbanen Makrokosmos abgelesen werden. Unterschiede in der Vermögensverteilung der Bevölkerung oder die eher industrielle, landwirtschaftliche oder vom Dienstleistungssektor geprägte Struktur eines Stadtraums sind offensichtliche Faktoren in der Entwicklung. Eine Verwaltungsstadt wie Canberra unterscheidet sich in Straßenführung (Abb. 6), Breite der Verkehrsflächen, Parkanlagen oder Grünflächen von denen einer englischen Arbeiterstadt wie Leeds.
Abb. 6: Schnellstraße in einer Autostadt_Canberra, Australien_2015