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ZUKUNFTSTRENDS
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ZUKUNFTSTRENDS
Was sind Zukunftstrends?
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Bei den Zukunftstrends geht es um zukunftsweisende gesellschaftliche Entwicklungen und Tendenzen. Häufig handelt es sich um bestehende oder sich entwickelnde Phänomene bezüglich unserer Lebensweise oder unseres Verhaltens. Im Fokus stehen technologische Innovationen sowie ethische und moralische Grundsätze. Zukunftstrends werden von einer Vielzahl von Institutionen und Wissenschaftlern untersucht, sowohl beispielsweise vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, als auch von privaten Unternehmen wie dem sogenannten „Zukunftsinstitut“. Letzteres unterstellt die allgemeinen Trends den sogenanntes ‚Megatrends‘. „Megatrends benennen und beschreiben extrem komplexe Veränderungsdynamiken und sind ein Modell für den Wandel der Welt“, so die allgemeine Beschreibung durch das Institut. Sie seien gekennzeichnet durch eine gewisse Komplexität, Globalität, eine Dauer von mindestens 50 Jahren und Ubiquität, also einen Einfluss auf praktisch alle Lebensbereiche des Menschen.40 Viele Zukunftstrends haben naturgemäß auch eine architektonische Komponente. Die Architektur, als raumgebende und uns Menschen permanent umgebende Strömung, ist gleichermaßen Treiber und Tragender von Umwälzungen und Neuordnungen. Alleine durch ihre zeitliche Beständigkeit unterliegt sie einer Verpflichtung auf feststehende Herausforderungen der kommenden Jahre einzugehen. Das größte Gewicht haben, zumindest im Hintergrund, sich fortschreitend ändernde ökologische und technologische Bedingungen. Im Folgenden wird auf einige besonders prägnante Zukunftstrends eingegangen.
Beispiele für Zukunftstrends
Bio-Boom Der Bio-Boom steht für das steigende gesellschaftliche Bewusstsein für eine sogenannte gesunde Lebensweise und ein nachhaltigeres Konsumverhalten. Dieses geht mit der Bereitschaft einher, mehr Geld und Zeit für Lebensmittel und Güter des täglichen Lebens bereitzustellen. Der Konsument möchte dadurch Lebensmittel und z.B. auch Drogerieartikel oder Kleidung benutzen, die ohne den Einsatz von Gentechnik, moralisch unvertretbarer Tierhaltung oder den Einsatz von Chemikalien hergestellt wurden (Abb. 19). Der Zugang zu solchen Waren wird immer einfacher und wird zunehmend von einem breiten Teil der Bevölkerung wahrgenommen. Dieser Trend lässt sich durch steigende Zahlen auf Produzentenseite belegen. Von 2007 bis 2017 stieg die Anzahl von Bio-Bauern von 18.700 auf 45.000 und die Größe des durch Bio-Landwirtschaft bestellten Landes wurde von 865.000 Hektar auf 1.700.000 Hektar praktisch verdoppelt.41 Zurzeit gilt der Konsum von Bio-Lebensmitteln noch als Wohlstandsindikator. So ist er bisher hauptsächlich in den Industrienationen verbreitet. Dennoch ist, vor allem bei der Produktion, der Bio-Boom als neues weltweites Phänomen anzusehen. Dies kann auch kritisch betrachtet werden, wenn in den verschiedenen Ländern beispielsweise unterschiedliche Standards gelten.42 Die Produktionsstandorte von verschiedenen verarbeitenden Bio-Betrieben werden so gestaltet, dass diese besichtigt werden können. Diese Transparenz spiegelt sich häufig in großen Glasflächen wieder. Außerdem findet sich häufig Holz als tragendes Material oder aber zumindest als Verkleidung. Das ist als Analogie zu dem ‚natürlichen‘ Bio-Lebensstil zu sehen.
Urban Farming In der Bevölkerung steigt das Bewusstsein für die eigene Ernährung und dadurch auch das Verlangen, diese selbst anzubauen. Urban Farming eignet sich dafür, Städter an landwirtschaftliche Prozesse heranzuführen, das ökologische Bewusstsein zu fördern, Lieferwege zu verkürzen und eine Art von Ernährungsautarkie in die Stadt zu bringen. Historisch gesehen bauten schon vor und während der Industrialisierung Stadtbewohner ihre Lebensmittel in ihrer unmittelbaren Umgebung an. Kleingärten sind ein etabliertes, immer noch zeitgenössisches Beispiel. Diese entstanden ab 1800 in vielen deutschen Großstädten. Dabei wird ein kleines Stück Land gepachtet, meistens innerhalb einer Vereinsanlage. Der Begriff ‚Schrebergarten‘ etablierte sich ab ca. 1864, nachdem der Leipziger Arzt M. Schreber versuchte, Stadtkinder an die frische Luft zu bringen und mit dem Gärtnern vertraut zu machen. In der DDR spielten die Anlagen sogar eine wichtige Rolle bei der Versorgung der Bevölkerung. Heutzutage gibt es in Deutschland rund eine
Abb. 19: Auch Biogemüse muss gründlich gewaschen werden
Million Kleingärten, so der Bundesverband Deutscher Gartenfreunde. Das sogenannte Community Gardening ist das kommunale Gegenstück zum individuellen Gärtnern, welches sich ab 1970 parallel in den Vereinigten Staaten entwickelte. Mittlerweile wertet Urban Farming aber auch Brachflächen auf und macht Häuserfassaden und ganze Stadtregionen lebenswerter.43 Einen positiven Effekt stellen die größere Artenvielfalt in den Innenstädten (z.B. Insekten, Blumen und/oder Nutzpflanzen), die Verwendung von Regenwasser und die zusätzliche Sauerstoffproduktion dar. Das Phänomen ist in Klein- bis Großstädten in der ganzen Welt zu finden. In Havanna wachsen zum Beispiel ca. Zweidrittel der konsumierten pflanzlichen Lebensmittel in der Stadt. Auf 35.000 Hektar Nutzfläche werden über 100.000 Tonnen Lebensmittel von rund 90.000 Produzenten erzeugt. Dieser Erfolg inspiriert weltweit Gärtner-Gemeinschaften, so auch die Prinzessinnengärten in Berlin.44 Diese sind ein gutes Beispiel für die Kombination von gemeinschaftlicher Aktivität und ökologischen Aktivismus.45 Das Vertical Farming bezeichnet die sogenannte vertikale Landwirtschaft, also das Anbauen von Pflanzen oder sogar die Zucht von Nutztieren in der vertikalen Ebene. Häufig passiert das in einer industriellen Dimension in eigens dafür errichteten Hallen. Positiv ist, dass auf der gleichen Fläche Land manchmal das Vielfache an Lebensmitteln produziert werden kann. Bis zum Jahre 2050 sollen nämlich auf unserer Welt 10 Milliarden Menschen leben, bei rund 20% weniger fruchtbaren Boden.46 Als negativer Punkt des Vertical Farming ist natürlich die zusätzliche Bodenversiegelung anzuführen. Eine Sonderform des „Gärtnern“ in urbanem Kontext ist das Guerilla Gardening. Ursprünglich war es eine Form des Protests von ökologischen Aktivisten. Heutzutage gibt es eine wachsende Gemeinschaft an Menschen, die sogenannte Samenbomben zusammenbauen, um damit nach anarchistischen Prinzipien urbane, kahle Flächen zu begrünen. Wichtig ist, dass auf einheimische Pflanzenarten geachtet wird, damit auch die örtlichen Insekten davon profitieren.47
Entschleunigung Der Mensch des 21. Jahrhunderts ist einem zunehmenden Daten- und Informationsstrom ausgesetzt. Sogenannte Diffusionsinhalte, also die der elektronischen Medien und sozialen Netzwerke, bergen zusätzlichen Stress und psychische Belastung. In den letzten Jahren ist daher ein zunehmender Trend zur Entschleunigung festzustellen.
Slow Music, Slow TV und sogar Slow Sex sind inzwischen zu Trendbegriffen geworden. Doch was verbirgt sich hinter diesen abstrakten Anglizismen? Bereits greifbare Phänomene sind die Popularität von Yogaschulen oder etwa das aufstrebende Adult Colouring. Sogar Ausmalbücher für gestresste, erwachsende Menschen erleben eine wachsende Beliebtheit. All das spiegelt die Sehnsucht nach einem entschleunigten Leben wider und stellt einen Gegenpol zu der Unterbrechungskultur dar, in der unsere Aufmerksamkeit ständig von 7-Sekunden-Reels, Anrufen, Mails und generell Social-Media überstrapaziert wird.48 Die psychische Gesundheit steht durch unsere heutige Kultur auf dem Spiel, denn sie benötigt oft Zeit um zu „heilen“ und zu regenerieren. ‚Langsame‘ Architektur fügt sich nach einfühlsamen Aspekten in die Landschaft ein, generell spielen natürliche Baumaterialien eine Schlüsselrolle. Ein bekanntes Beispiel für Slow Architecture ist die Therme Vals von Peter Zumthor von 1996.49 Die 60.000 Platten Walser Quarzit bergen eine beruhigende geologische Erfahrung und sollen den Besucher mit dem Ort verbinden.50
Abb. 20
Abb. 20: Perspektive Therme Vals mit Schichtung der Natursteinplatten
Heilende Architektur Wie der Name der ‚heilenden Architektur‘ vielleicht bereits suggeriert, geht es bei dieser hauptsächlich um die Planung und Errichtung von Gesundheitsbauten. Sie rührt aus der Philosophie, dass die Architektur eines Krankenhauses, einer Reha-Klinik oder einer Therme (Gesundbrunnen) eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Genesung eines Patienten spielen kann. ‚Heilende Architektur‘ etabliert einen Gegenpunkt zu den oft grauen, anonymen Gebäuden des 20. Jahrhunderts. Das Konzept beruht auf der Annahme, dass durch die Förderung der menschlichen Sinne die Heilungsaussichten erkrankter Menschen steigen. Das kann unter anderem durch Fühlen, Riechen, Sehen, und Hören geschehen (vgl. Senseland). Der Architekt sollte einen besonderen Fokus auf Materialien, Licht, Farben, Akustik, Ausstattung mit Pflanzen, Haptik, Bodenbelag und Temperaturen legen. Eine wichtige Rolle spielt natürlich auch die Privatsphäre von Patienten. Durch ein positives Zusammenspiel der oben genannten Elemente können möglicherweise Stressfaktoren gesenkt werden. Das könnte idealerweise zur Folge haben, dass der Blutdruck von Patienten sinkt. Außerdem könnten diese weniger Schmerzmittel benötigen und sogar früher entlassen werden.51 ‚Heilende Architektur‘ kann also eine sinnvolle, die Therapie unterstützende Maßnahme darstellen.
Minimalismus Seit Menschengedenken versuchen Asketen und Geistliche durch eine Reduktion ihres materiellen Umfeldes zu höheren Erkenntnissen zu gelangen. Diese Haltung kann man bis in die Antike zurückverfolgen. Der Philosoph Diogenes von Sinope soll gesagt haben: „Es ist göttlich, nichts zu bedürfen, und göttähnlich, nur wenig nötig zu haben.“52 Heute sagt man: „Weniger ist mehr“. Dieses Grundprinzip hat sich im 20. Jahrhundert in der westlichen Welt in eine Design und Formensprache übertragen. Offensichtliche Exempel sind De Stijl und das Bauhaus. Parallelen gibt es auch zu der japanischen Lehre des Zen. Das Wort Shunyata bezeichnet den für Zen-Buddhisten erstrebenswerten Zustand der Leere. Dieser steht im Gegensatz zur Substanz. Durch Einfachheit und Klarheit, kurz gesagt Leere, finde man zur Erkenntnis.53 Minimalismus ist jedoch sowohl in der Architektur, als auch in der Gesellschaft nicht durch ein bestimmtes Aussehen oder bestimmte Regeln definiert. Viel wichtiger ist das bewusste Verhalten oder Gestalten. Für uns Konsumenten heißt das plakativ: „weg mit Doppeltem
Abb. 21
und weg mit dem, was wir nicht unbedingt zum Leben benötigen“.54 Für Architekten bedeutet dass, den Fokus auf das unbedingt Nötige zu legen. Sowohl in der Funktion, als auch in der Ornamentik. Der schwedische Architekt Sigurd Lewerentz schuf 1969 das sogenannten Flower Cloister auf dem Ostfriedhof in Malmö. Der Baukörper hat ein Pultdach und folgt klaren geometrischen Linien und ist eine Betonkonstruktion. Der Besucher nimmt die einfache Sichtbetonoberfläche des Gebäudes wahr. Die Umrisse der Schalung sind deutlich zu erkennen. Die Fenster sind simple, rahmenlose Glasscheiben, die von jeweils insgesamt acht Profilen gehalten werden. Die groben braunen Türen wirken wie nur für den Zweck des Ein- und Auftretens geschaffen. Durch die Reduktion und komplett fehlende Ornamentik, simplifiziert sich der einzelne Gebäudebestandteil auf seinen Zweck. Paradoxerweise kann dabei seine symbolische Bedeutung steigen. So wie die Tür für die Erschließung zuständig ist, so lassen die Fenster Licht in den Raum und die Wände schützen vor der Witterung.55
Abb. 21: Flower Cloister mit reduzierten Elementen
Progressive Provinz Die ‚progressive Provinz‘ ist heutzutage ein noch wenig populärer Begriff. Ländliche Regionen sollen auf digitaler, virtueller und physischer Ebene immer besser and die Wirtschafts- und Kulturzentren angeschlossen werden. Dadurch sollen mit der Zeit die lange bestehenden Nachteile des Landlebens verbessert werden. Durch die Möglichkeit als Digital Nomad von jedem Ort der Welt aus zu arbeiten - eine gute Internetverbindung ist die einzige Voraussetzung - wird der ländliche Raum als Arbeits- und Lebensraum aktuell neu definiert und entdeckt. Dieser wird als großzügiger und freier als die Stadt wahrgenommen. Niedrigere Mieten und eine gefühlt höhere Lebensqualität stellen einen weiteren Vorteil dar. In Nordrhein-Westfalen liegen die Immobilienpreise in der Umgebung beispielsweise von Düsseldorf und Köln bis zu 50% über dem landesweiten Durchschnitt. Die abgelegenen Teile Ostwestfalens hingegen bewegen sich 40% darunter.56 Daraus ergibt sich die möglicherweise willkommene Konsequenz, dass zu dem Platz- und Freizeitvorteil des Landlebens ein finanzieller Vorteil hinzukommt. Deutschlandweit ist dieser Trend bereits in vollem Gange. Abgesehen von den sogenannten Bildungswanderern, also der Altersgruppe von 18-29, die zum Studieren auf Universitäten und Hochschulen angewiesen ist, ziehen immer mehr Arbeitnehmer freiwillig aufs Land. Seit 1995 verliert Berlin mehr Einwohner an Brandenburg, als neue Einwohner nach Berlin hinzuziehen. Die kulturelle Identität, die Lebensweise, das Konsumverhalten und das sogenannte Mindset der Landbewohner passen sich dem der Großstädter immer weiter an. Das Coconat im brandenburgischen Klein Glien ist beispielsweise ein Co-Working-Space und Hostel in der ostdeutschen Provinz.57 Die Gäste können einen Work-and-Travel Aufenthalt in Anspruch nehmen oder einfach in der hügeligen Abgeschiedenheit des Naturparks Hoher Fläming arbeiten. Abgesehen von den Strandorten in „günstigen“ Ländern auf der ganzen Welt, in denen sich die Digital Nomads aufhalten, ist die progressive Provinz vor allem auch ein deutsches Phänomen. Hier leben nämlich - entgegen dem globalen Trend der Urbanisierung - 70% aller Einwohner in einer Stadt oder einer Gemeinde mit weniger als 100.000 Einwohnern.58 Der vormals steigende Grad der Urbanisierung flachte in Deutschland von 1950 bis 2010 immer weiter ab. Dagegen steht allerdings der jedes Jahr um ca. 2% steigende Urbanisierungsgrad der gesamten Welt.59
Felder
Werkstatt
Manufaktur
Pizzeria
Co-Working
Gästehaus Park
Obstgarten
Abb. 22
Urban Manufacturing Große Ketten und multinationale Unternehmen wie beispielsweise IKEA, H&M, Vapiano und McDonald’s prägen die großen Städte und den Begriff der Urbanität auf der gesamten Welt. IKEA hatte zum Beispiel im Oktober 2021 insgesamt 462 Standorte, davon lagen 276 in Europa. Man findet das schwedische Möbelhaus aber auch in Afrika, Asien, Nord- und Südamerika und Ozeanien.60 Das globale Phänomen ist, dass man nicht mehr an der Inneneinrichtung einer Wohnung unterscheiden kann, ob man sich beispielsweise in Dortmund oder in Rio de Janeiro befindet. Nicht nur, dass sich weltweit die Produkte immer mehr ähneln, gibt es außerdem auch keinen Bezug mehr zu den Quellen von Konsumgütern. Urban Manufacturing ist daher ein Trend, bei dem sich in unseren Städten wieder mehr heimische Handwerke ansiedeln. Das wird auch dadurch möglich gemacht, weil sich viele Herstellungsprozesse weiterentwickelt haben und zunehmend lärm- und emissionsfrei sind. Mittlerweile beziehen viele Städter ihre Seife von einer lokalen Seifenmanufaktur, ihren Kaffee von einer lokalen Rösterei und ihre Schuhe von einem lokalen Schuhmacher.61 Es ist wieder angesagter, durch ein örtliches Produkt den Einzelhandel im Viertel zu stärken, als mit einem Kaffeebecher von beispielsweise Starbucks zum Geschäftstermin zu laufen. An diesen Trend versuchte sich der Kaffeegigant aus Seattle schon 2009 anzupassen.62 Auch wenn vor allem in Entwicklungs- und
Abb. 22: Übersicht Coconat in Klein Glien
Abb. 23: Herren-WC in Little India_Singapur_2019
Schwellenländern eine europäische oder amerikanische Marke Modernität und Fortschritt bedeutet, ist es in einer Welt mit steigendem ökologischen Bewusstsein „en vogue“, sich aus dieser Maschinerie ausklinken zu wollen. Es existieren sogar Siegel, um die regionale Herkunft eines Produktes zu bestätigen. In New York City vergibt die Non-Profit-Organisation Made in NYC ein Solches an lokale Unternehmen.63
Privatsphäre Unsere Privatsphäre war ein lange Zeit missachtetes Gut. Nicht nur sehr wohlhabende Menschen oder Personen der Öffentlichkeit aber legen großen Wert auf ein möglichst privates Leben. Mit der Digitalisierung rückt die Privatsphäre immer weiter in unseren Alltag. Es geht praktisch darum, dass wir selbst bestimmen, wie viel andere von uns mitbekommen, im virtuellen als auch im realen Raum. Praktisch gesehen stoßen wir hier oft an unsere Grenzen. Im Gegensatz zu Personen wie beispielsweise Jeff Bezos oder Paris Hilton, können sich die meisten Menschen architektonische Privatsphäre nur bedingt erlauben. Viele Menschen wohnen in relativ kleinen Wohnungen, weniger auch in eigenen Häusern. Die Pro-Kopf-Wohnfläche vergrößerte sich in Deutschland immerhin von 34,9 m² 1991 auf 47,4 m² 2020.64 In der Stadt ist dieser Wert natürlich bedeutend geringer. Hier lebt man quasi gestapelt, nebeneinander oder gegenüber voneinander. Bei der Privatsphäre stoßen Menschen in der Stadt immer wieder an Interessenskonflikte. Auf der einen Seite sollte der Wohnraum natürlich lichtdurchflutet, zentral und offen-geschnitten sein. Auf der anderen Seite möchte man nicht, dass Nachbarn oder gegenüberliegende Büros freie Sicht in das Schlaf- oder Badezimmer haben. Die Planung moderner Wohnanlagen gibt dem Bewohner praktisch keinen privaten Außenraum mehr. Lediglich parzellierte Gartenabschnitte stehen Erdgeschossbewohnern gelegentlich zur Verfügung. Die Idee, zwischen Privatem und Öffentlichen zu unterscheiden, hat seine Ursprünge schon in der griechischen Philosophie. Im antiken Athen wurde vor rund 2.500 Jahren der Gedanke begründet, dass die Trennung beider Bereiche Mensch und Tier unterscheidet. Zu der Zeit, als Perikles einer der führenden Köpfe im Stadtstaat Athen war, stand das private oikos, ein Landgut wohlhabender Griechen, der öffentlichen agora, dem zentralen Platz einer Stadt, gegenüber. Das oikos stellte philosophisch gesehen den Ort der Reproduktion dar. Dort wurde gegessen, geschlafen und sich fortgepflanzt.
Das oikos war den animalischen Tätigkeiten vorbehalten. Unbeschadet dessen, dass der Mensch einen sicheren und von anderen abgegrenzten Raum besaß, konnte er sich im öffentlichen Stadtraum frei bewegen. Dieses legte gedanklich den Grundstein für die bürgerlichen Freiheiten und in letzter Konsequenz für freiheitliche und demokratische Werte. Auch der Philosoph Immanuel Kant sah, als Vertreter der Aufklärung, die Trennung des Privaten vom Öffentlichen als notwendige Voraussetzung für das moderne, kulturelle und bildungsnahe Leben. Diese Philosophie zieht sich bis zu dem Grundriss eines bürgerlichen Hauses. Hier gab es neben den Räumen für das gesellschaftliche Leben geschlossene und intime Bereiche, welche den Gästen nicht zugänglich waren. Der Diskurs zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre zieht sich über die Enttabuisierung der Sexualität in den späten 1960er Jahren bis ins digitale Zeitalter.65
Single-Gesellschaft Feste Beziehungen und familiäre Bindungen werden von immer weniger Menschen als vorrangig angesehen. Singles gibt es immer mehr, in allen Bevölkerungsschichten. Gesellschaftlich gesehen kann das beispielsweise durch eine hohe individuelle Karriereorientierung und Vereinsamung durch Digitalisierung erklärt werden.66 In Deutschland sind inzwischen ca. 16.500.000 von 40.500.000 Haushalten Einpersonenhaushalte.67 Als Alternative zu einer partnerschaftlichen Wohngemeinschaft gibt es freundschaftlichs-, familien- oder zweckbasierte Wohngemeinschaften.68 Diese erfreuen sich nicht mehr nur bei Studenten steigender Beliebtheit. Während in der westlichen Welt das mehr oder minder freiwillig gewählte Single-Dasein in der Bevölkerung akzeptiert und anerkannt ist, haben alleinstehende Menschen in traditionellen Gesellschaften oft mit Stigmatisierungen und Vorurteilen zu kämpfen. Im urbanen China gibt es ungefähr sieben Millionen unverheiratete Frauen zwischen 25 und 34. Diese sind häufig gut ausgebildet und gehören der aufstrebenden Mittelschicht des Landes an. Trotz ihres guten Verdienstes und höherer sozialer Stellung werden sie dort als Sheng-nu, als „übriggebliebene Frauen“ bezeichnet.69
Co-Living Das Co-Living profitiert von modernen Lebensentwürfen, wie den Digital Nomads oder dem von auftragsbasierten Arbeiten. Co-Living bedeutet, dass in urbanen Gebieten, häufig in (teil-)möblierten Apart-
ments, auf Zeit gewohnt wird. Obwohl es keine festgelegte Definition gibt, ist meistens nicht die klassische Wohngemeinschaft gemeint. Co-Living-Apartments werden von einem Unternehmen verwaltet und vermarktet und die ‚Mitbewohner‘ entscheiden in der Regel nicht, wer einzieht. Die Existenz von Co-Living-Apartments ist eine nahezu perfekte Untermalung der Single-Gesellschaft. Nutzer sind entweder Studierende oder Geschäftsreisende, die einen zentralen Anlaufpunkt mit guter Verkehrsanbindung in der Innenstadt brauchen. Meistens sind Zusatzleistungen wie ein gemeinschaftliches Fitness-Studio, Schwimmbad oder einfach Arbeits- und Spielräume mit inbegriffen. Co-Living-Nutzer zahlen in der Regel mehr als normale WG-Bewohner. Sie haben allerdings trotz ihres Kurzzeit-Mietvertrags meist keine versteckten Kosten und beispielsweise Internet, Warmwasser, Heizung und House-Keeping inklusive. Co-Living findet sich in allen größeren Studentenstädten Deutschlands und löst, durch die steigenden Ansprüche junger Menschen, immer mehr die klassischen Studentenwohnheime ab. In Deutschland gibt es immerhin über 3.000.000 Studierende.70 In Münster wohnen davon etwa 66.000. Die D-partments im Metropolis-Hochhaus am dortigen Berliner Platz sind nur eines von zahlreichen Wohnangeboten im Co-Living-Sektor. Hier werden zwei verschiedene Typen von Wohnungen ab einem Mindestmietzeitraum von vier Wochen angeboten.71
Sharing Economy Im Co-Living haben wir gerade das Mieten einer kleinen Wohnung samt ihrer Möbel beschrieben. Es geht im Prinzip um das Teilen von Gebrauchsgegenständen, Kultur oder Immobilien. Dabei stehen ressourcenschonendes Konsumieren oder aber finanzielle Gründe im Vordergrund. Einige Beispiele sind das Car-Sharing, das Streamen und Teilen von Musik, E-Roller, Dienstleistungen, private Ferienunterkünfte und das Mieten von elektronischen Geräten.72 Dadurch werden Menschen bestimmte Erfahrungen und Dinge zugänglich, die sie sich entweder nicht leisten könnten oder aber nicht die ganze Zeit benutzen würden. Dieser Trend ist in diesem Umfang überhaupt erst durch die Digitalisierung und die Popularität von Apps auf dem Smartphone möglich. In den vergangenen Monaten sind zunehmend Privatpersonen Eigentümer der bereitgestellten Güter. Positiv ist die Sharing Economy bei Erfahrungen, wie zum Beispiel dem nicht-kommerziellen Couchsurfing. Außerdem hat sie in der Regel, zum Beispiel beim Car-Sharing, einen positiven Einfluss auf die Umwelt. Negativ kann sie werden,
wenn die Leute kein Eigentum mehr besitzen und beispielsweise von ihren Abos abhängig sind.
Micro Housing Das Micro Housing hat unterschiedliche Facetten und Ausprägungen. Eine der Populärsten ist das Tiny House. Die Motivation in ein Tiny House zu ziehen, ist entweder das Bedürfnis außerhalb der Innenstadt auf einem großzügigeren Grundstück zu leben oder das kostengünstige Anschaffen von Wohneigentum. Außerdem können minimalistische, ökologische oder frugalistische Motivationen dahinter stecken. In der Regel verfügt man dann über eine Fläche zwischen zehn und fünfzig Quadratmetern, manchmal als gesamte Familie. Personen, die im Jahr 2020 ein Tiny House gebaut haben, gaben im Schnitt 2.300€ pro Quadratmeter aus. Insgesamt belief sich das im Mittel auf rund 67.000€ pro Haus. Weltweit gibt es in den großen Metropolen außerdem Mikroapartments. Auf kleinstem Raum liegen in modularer Anordnung Wohnungen bzw. Zimmer, die sowohl Küche, Schlaf- und Wohnraum und Bad enthalten, aneinandergereiht. Durch eine intelligente Planung und Anordnung und Vorfertigung in der Fabrik wird so kostengünstiger Wohnraum in den Ballungsräumen geschaffen. Ein Schlüsselbegriff ist dabei Verdichtung. Welche teils deutlichen finanziellen Vorteile diese Art von Wohnraum mit sich bringt, zeigt das Projekt Carmel Place in New York City von nARCHITECTS. Der durchschnittliche Wohnraum kostet hier $950 im Monat, wobei die marktübliche Miete in New York für eine durchschnittliche Zweizimmerwohnung monatlich bei etwa $3.400 liegt.73
Vertical Villages Vertical Villages, also vertikale Dörfer, sind multifunktionale Gebäude. Von Wohnungen zum Leben über Einkaufsläden bis hin zu Dienstleistern, Fitnessstudios und Co-Working-Spaces ist hier alles zu finden. Was sich anhört wie ein moderner Trend, hat seine Ursprünge eigentlich schon viel früher. In den 1970er Jahren gab es eine ähnliche Bewegung, die allerdings in der Errichtung von Beton-Ungetümen ‚unterging‘. Eines dieser Relikte aus der Vergangenheit ist das Ihme-Zentrum im Hannoveraner Stadtteil Linden. Hier sollte eine „Stadt in der Stadt“ errichtet werden, ein moderner und autofreier Stadtteil mit Platz für das ganzheitliche Leben. Fertiggestellt wurde sogar eine eigene U-Bahn-Station, die allerdings nie in Betrieb genommen wurde. Das Ihme-Zentrum hat
Abb. 24
nämlich seit Jahrzehnten mit massivem Leerstand zu kämpfen. Als problematischster Faktor wird immer wieder genannt, dass sich die Ladenzeilen und Gastronomie eine Ebene über dem Straßenniveau befinden. Die Intention der Architekten, den Aufenthaltsraum von der Stadt abzukoppeln, entpuppte sich als gravierender Planungsfehler. Obwohl zurzeit ein großer Leerstand herrscht, gibt es im Ihme-Zentrum dennoch rund 2.400 Bewohner auf den insgesamt 285.000 m² und 22 Stockwerken.74 In den Sozialbauten, Wohnkomplexen und Geschäftsgebäuden Singapurs gibt es die sogenannten Hawker-Center, eine Art Food-Court für die Bewohner der Kondominiumgebäude.75 Die kleinen Essensstände werden teilweise von den direkten Anwohnern seit Generationen betrieben und stehen für eine lebendige und kulturell durchmischte Nachbarschaft. In den modernen Vertical Villages wird versucht, eine erdrückende Urbanisierung zu vermeiden. Grünflächen und Freiräume spielen eine große Rolle. Es werden Wege gespart, öffentliche Verkehrsmittel und Straßen entlastet. Der Nutzen eines privaten PKW’s schwindet, da Einkäufe nur innerhalb des eigenen Wohnhauses transportiert werden müssen. Die negativen Seiten sind zum einen der schwindende Übergang zwischen privatem und geschäftlichem Leben, zum anderen die Isolierung von der Außenwelt. Die Vertical Villages würden genauso gut außerhalb der Innenstädte funktionieren, haben sie doch etwas Suburbanes.76
Condensed Spaces Als Condensed Spaces bezeichnet man die extrem verdichteten In-
Abb. 24: Skizze Ihme-Zentrum
nenstädte der Metropolen. In diesen gibt es gewöhnlicherweise alle Funktionen, die ein Mensch für das tägliche Leben benötigt. Das alles findet auf engstem Raum statt und ist für die Bevölkerung leicht erreichbar. Eine Spezifizierung ist der Begriff der 15-MinutenStadt. Dieser bedeutet, dass in Großstädten innerhalb von 15 Minuten alles lebensnotwendige erreicht werden kann, von Behörden bis hin zu Einkaufsmöglichkeiten und Ärzten. Eine Hürde ist häufig der stark verdichtete Verkehr. Deswegen steht und fällt mit einer gelungenen Verkehrsplanung das Prinzip eines lebenswerten Condensed Space. Der Begriff wurde von C. Moreno vom Institut ETI - Entrepreneuriat, Territoire, Innovation an der Sorbonne in Paris begründet.77 Als ein positives Beispiel kann das Zentrum der Metropolregion von Paris angeführt werden. Hier konnte durch ein massives Ausbauen der Radwege der Anteil der Radfahrer gesteigert werden. Insgesamt wurden zwischen 2015 und 2020 ca. 300 km neue Fahrradwege errichtet. Statistisch gesehen stieg auch der Anteil an Senioren und Familien als Radfahrer. Das führte dazu, dass die Staus des motorisierten In-
Abb. 25: Metrostation Bir Hakeim_Paris, Frankreich_2017
dividualverkehrs reduziert werden konnten und die 15-Minuten-Stadt nunmehr sogar fast Realität ist.78
Responsive Cities Die Responsive City ist die Weiterentwicklung der Smart City. Die Smart Cities haben als intelligente Städte einen starken Fokus auf technologischen Lösungen. Ein Beispiel ist die Utrechtsestraat in Amsterdam. In dieser belebten Einkaufsstraße werden mithilfe von moderner Technik die Beleuchtung, die Bewässerung und die Müllabfuhr gesteuert. Diese Methoden sollen erprobt und auf Tauglichkeit überprüft werden, um den Kohlenstoffdioxid- und Stickstoffdioxidgehalt in der Umgebung nachhaltig zu senken. Amsterdam strebt an, bis 2040 eine der nachhaltigsten Städte weltweit zu werden.79 Es gibt allerdings auch Kritikpunkte an den Smart Cities der ersten Generation. Es werden in der Regel der Mensch und seine Bedürfnisse nicht genügend integriert, um einen wirklich fortschrittlichen Lebensraum zu generieren. Sie werden für ihre Ignoranz den negativen Auswirkungen von Technologie und den Belangen der unteren sozialen Bevölkerungsschichten gegenüber, so wie das nahezu unbegrenzte Sammeln von Daten und der daraus resultierenden Wirklichkeit einer Überwachungsgesellschaft, kritisiert. In autokratischen Staaten hat dieses Vorgehen längst bedrohliche Ausmaße angenommen.80 In einer wünschenswerten Realität aber sollten nach wie vor die Belange aller, also der Pendler, Besucher und Bewohner einer Stadt im Fokus stehen. Bei der Responsive City können die Bewohner aktiv Einfluss nehmen. Der urbane Raum entwickelt sich durch die Bewohner anstatt an diesen vorbei. Das kann nur durch eine konsequente Vernetzung gelingen. Dabei wird vorausgesetzt, dass die Bewohner gut informiert sind und urbane Prozesse auch nachvollziehen können.81 Auch wenn Responsive Cities heute ein noch eher utopisches Konzept sind, ist die Weiterentwicklung der reinen Smart City die Smart Sustainable City. Die Verantwortung für die Definition von städtischen Zielen und Herausforderungen liegt bei den lokalen und nationalen Behörden. Mittlerweile gibt es bereits standardisierte, klar definierte Vorgaben auf globaler oder regionaler Ebene. Diese umfassen die Ökologie bis hin zu sozialen Strukturen oder der Sicherheit.82