Spielt Wetter Mario Riatsch, 48, spritzt Wasser auf seinen Eisweg im Wald von Sur En GR.
Der SchlossEismeister Er verwaltet Schloss Tarasp und gestaltet den Engadiner Schlittschuhweg: Bis MARIO RIATSCH sein Glück fand, musste er die Leere im alten Beruf aushalten – und das Schlimmste, was einem Vater widerfahren kann.
Spielt Ritter Riatsch schultert den Besen in der Waffenkammer von Schloss Tarasp.
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Ein Traum Als drei Kilometer lange Schleife führt der Eisweg Engadin durch den Märchenwald von Sur En.
Eine glatte Lust ists, über den
Eiswaldweg zu gleiten
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Trutzig Schloss Tarasp ist tausend Jahre alt. Riatsch (mit grüner Jacke) hisst Fahnen auf dem Dach.
Eis-Nachbarn Riatsch (oben) besucht Priska und Daniel Cotti, die im Atrium aus Schnee Kunst ausstellen.
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Frisches Eis Vom Dreitausend-Liter-Tank auf dem Unimog sprüht Riatsch Wasser auf den Schlittschuhweg.
Schloss in Schuss halten Seraina, 44, beim Staubsaugen, Mario ersetzt Glühbirnen am Leuchter im Esssaal.
Knifflig Riatsch kontrolliert die GebläseRöhrchen der Schloss-Orgel, der grössten privaten Orgel in ganz Europa.
Der Helfer Sämi Wingeyer, 58, ist die gute Seele des Eisweges. Er vermietet Schlittschuhe – und macht Marroni.
Eisblau Vor allem im Licht der Morgen- und Abendstunden ist der spiegelglatte Eisweg traumhaft.
Badeblau Eines der Badezimmer im Schloss Tarasp. Die Plättli sind wertvolle Delfter Kacheln aus Holland.
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TEXT MARCEL HUWYLER FOTOS KURT REICHENBACH
S Im Schuss Gäste flitzen übers Eis. Riatsch (2. v. r.) trägt seine kurligen Daunenshorts.
Kaltstart Mario und Seraina. Nach einer Morgenfahrt auf dem Eisweg gehts ins Schloss an die Arbeit.
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ur En, das Dörfchen am Inn, ist die Tiefkühltruhe des Unterengadins. Meistens. An diesem Wintermorgen sind hier milde drei Grad. «Schlecht fürs Eis, gut fürs Schloss», sagt Mario Riatsch. Sein Eisweg schmilzt den Schlittschuhgästen unter den Kufen weg. Anderseits muss er dank des samtenen Wetters sein Schloss weniger heizen, «was bei zirka hundert Zimmern – ich sollte sie endlich mal durchzählen – ganz schön viel ausmacht». Riatsch, 48, warme Stimme, Dreitagebart, die Kappe bis über die Augenbrauen gezogen, trägt über seiner Jeans Skitourenshorts aus Daunen, die ihn wie einen hochalpinen Bademeister aussehen lassen. Er hat gefunden, wonach er lange suchte. Er spricht von «Glück» und «Erfüllung», er könne jetzt «macha, was i wott». Dafür musste er kämpfen, mit sich, der Situation im Job, der Leere in seiner Karriere. Und Riatsch hat das Furchtbarste durchlebt, was einem Vater widerfahren kann. «Oder ist das richtig», fragt er und erwartet keine Antwort, «wenn der Sohn vor dem Vater stirbt?» An diesem Wintertag ist Mario Riatsch zeitig unterwegs auf seinem Eisweg. Von einer Tanne pflotschen Schneekrumen auf seinen Kopf. Er schüttelt sich, lächelt verlegen, als sei er eben mit Komplimenten überhäuft worden. «Waisch», sagt er, «ich hätte nie gedacht, dass irgendwann alles wieder gut ist im Leben.» Heute Morgen wässert und wischt er erst seinen drei Kilometer langen Schlittschuhparcours, am Nachmittag wird er die Säle
und Stübli im Schloss Tarasp staubsaugen. Riatsch kümmert sich um Kaltes und Altes. Er ist Eis- und Schlossmeister. 21 Jahre lang war er Förster, vor eineinhalb Jahren gab er seinen Beruf auf, «und seither bin ich mehr im Wald als früher». Riatsch spricht Vallader, das Romanisch der Unterengadiner. «Ich bin von hier, kenne nur das und bin zufrieden damit.» Sagt er mit jener nüchternen Inbrunst, wie man sie oft bei Förstern antrifft; vielleicht, weil ihr Beruf sie dazu diszipliniert, vor lauter Bäumen den Wald trotzdem zu sehen. Es gab eine Zeit, da wurde Riatsch von Tag zu Tag unzufriedener, leerer. Dass er, der Betriebsleiter des Forstamts, kaum mehr im Wald steht und vornehmlich im Büro sitzt, stimmt ihn nachdenklich. Dass er mehr Chef-Entscheide als Bäume zu fällen hat, macht ihn traurig. Statt in der Natur zu hegen und zu holzen, beackert er nur noch Papierkram. Es bedrückt ihn, gärt in ihm, doch noch mag er sich nicht lossagen. Mario Riatsch, Förster, Jäger, Berg steiger, ist ein geduldiger, geerdeter Mann. Und fromm. Der Herr gebe ihm Halt, «auch wenn ich nicht alles verstehe, was er tut». Es ist Sommer 2014, und Vater Riatsch ist stolz, als sein Ältester, Niculin, 16, den gleichen Beruf wie er ergreift und eine Lehre als Forstwart beginnt. Vier Kinder hat Familie Riatsch, alle im Teenageralter, Tochter Arina und die Buben Niculin, Fadri und Albin. Am Vormittag des 7. Juli 2014, im Wald von Val d’Assa auf dem Gemeindeboden von Ramosch GR, wird Niculin beim Baumfällen von einem Stamm erschlagen. Der Tod seines Sohnes, an einem so emotionalen Ort, auf diese Weise, geht dem Vater derart
Eis & Schloss Alle Infos: www.eiswegengadin.ch und www.schlosstarasp.ch
nah, dass er am liebsten seinem Buben folgen möchte. Womöglich ist das der Moment, in dem Riatsch vollends realisiert, wie kostbar das Leben ist. Und dass man tun soll, was einem guttut, und eine Arbeit machen, die erfüllend ist. Mit einem alten Unimog traktörlet Riatsch über den Natureispfad; aus dem Dreitausend-LiterTank auf der Ladefläche spritzt Wasser via selbst konstruierter Sprühanlage auf den Weg. Der Nadelwald von Sur En gehörte einst zu seinem Forstrevier. An einem eisigen Morgen, nachdem es nachts geregnet hatte, fiel er auf dem spiegelglatten Waldweg hin. Was ihn auf die Idee brachte, seinen Ausrutscher touristisch zu vermarkten. Mit ein paar Helfern präpariert er seither von Dezember bis März den Eisweg Engadin. Die ersten Gäste sirren los, hinein in den Wald. Manche wacklig, manche zackig – rotbackig kehren sie alle zurück von der Eistour, mit seligem Lächeln und krossen Augenwimpern vom bissigen Fahrtwind. Eine Träumerei ists, auf der Spiegelglätte durch den verschneiten Nadelwald zu kufen. Und selbst wer nicht jede Kurve kriegt – nie waren Ausrutscher im Leben glatter. Im blauen Bauwagen ist die Umkleidekabine eingerichtet. Im grünen Bauwagen kann man bei Sämi Wingeyer, 58, Schlittschuhe und Helme mieten – und heisse Marroni geniessen. Er sitzt in mitten soldatisch ausgerichteter Schlittschuhpaare und rüstet Kastanien. «Er ist der gute Geist des Eisweges», sagt Riatsch. Sämi, wortkarg, Kartoffelnase, die Kinnbarthaare drahtig wie Gitarrensaiten, stammt aus Lauterbrunnen BE. «Das Einzige, was mir hier fehlt, sind richtige Ber- u SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 57
Vom Glück, zwei
u ge», spöttelt er, schnieft dann,
sagt, in seine Heimat zurück wolle er aber nie mehr. Und man ahnt, dass in Sämis Leben nicht alles so gradlinig verlief wie die Schnitte, die er eben mit einem Messer in die Kastanien kerbt. Gegen Mittag fährt Riatsch zum Schloss Tarasp. Unterwegs steigt seine Frau Seraina, 44, zu, das pechschwarze Haar zu einem Rossschwanz gebunden, in einem Korb die Zmittagsbrote, welche die beiden am langen Rittertisch in der Schlossküche essen werden. Mit Seraina zusammen verwaltet Mario das Schloss, empfängt jährlich 15 000 Besucher. Das Ehepaar putzt, repariert, macht Führungen und betreut Musikveranstaltungen, Kunstevents und Hochzeiten, die hier stattfinden. Schloss Tarasp gehört dem einheimischen, weltweit tätigen 70-jährigen Künstler Not Vital. 2016 kaufte dieser das Schloss für 7,9 Millionen Franken und stellte das Ehepaar Riatsch als Verwalter ein. Nicht ganz zufällig. Not Vital ist Marios Onkel. Die letzten zweihundert Meter gehts zu Fuss ein stotziges Weglein hoch zur tausend Jahre alten Festung. Ein Reh stakst im Schlosspark durch den Schnee. Riatsch erklärt mit grossen Armbewegungen das Anwesen, zehn Hektaren Land gehören dazu, vieles davon Wald. Ja, der Wald … hier könne er wieder tun, was er als Büroförster so lange vermisste, junge Bäume pflanzen, alte fällen. Wobei … Riatsch bleibt stehen, «nach dem Tod von Niculin wollte ich lange nichts mehr von Wald wissen. Ich zuckte zusammen, wenn ich eine Motorsäge hörte.» Man könne sich so etwas nicht vorstellen, sagt Seraina, «dieser Schmerz, wenn ein Kind stirbt, man denkt, man überlebt das 58 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE
Traumjobs machen zu dürfen
nicht». Und ihr Mann erzählt Seltsames, wie er Monate vor dem Unglück immer wieder Angst um seinen Buben verspürte und er Niculin andauernd fotografierte, «als wollte ich möglichst viele Andenken von ihm sammeln». Heute, vier Jahre nach dem Unglück, geht Riatsch wieder gern ins Holz, fällt Bäume im Schlosswald. Er gibt Kurse für Jungforstwarte. Wenn die Burschen das Thema Sicherheit etwas gar locker sehen, erzählt er ihnen von Niculin. Und er ist froh, kam Fadri, sein Zweitältester, vom ursprünglichen Berufswunsch ab. Am gleichen Tag, als Niculin starb, trat sein Bruder die Schnupperlehre als Forstwart an. «Die Zeit heilt eben doch alle Wunden», sagt Seraina und wischt die Zmittagsbrosmen vom Schlossküchentisch. Die Familie sei seit Niculins Tod noch inniger zusammengewachsen, man unternehme viel zusammen, mache Sport, Ausflüge, Berg- und Skitouren. «Wir haben heute mehr Angst um unsere Kinder als früher», sagt Mario, «wir sind aber auch weniger streng zu ihnen.» Dann zeigt er ein Handyfoto, das ihm vor ein paar Minuten seine Tochter geschickt hat, Arina beim Skifahren im Tiefschnee. Wohl hundert Räume hat Schloss Tarasp, und von so mancher Truhe oder Schublade fehlt der Schlüssel, so dass das Verwalterehepaar noch nicht alle Geheimnisse hat lüften können. Seraina ist am Staubsaugen, Mario wechselt Glühbirnen, «110 Volt,
die Elektroleitungen wurden vor hundert Jahren gelegt». Wenn er den Lichtschalter umdrehe, könne er den Strom knistern hören. Teppiche werden geklopft, Bärenfelle ausgelüftet, Hellebarden poliert und die wertvollen Badezimmerplättli, Delfter Keramik aus Holland, gepflegt. Und dann natürlich die Orgel. Die grösste private in Europa. Eine «Jehmlich» aus Dresden, für Kathedralen konzipiert, 1916 im Schloss Tarasp eingebaut. Über drei Stockwerke hoch sind 2594 Orgelpfeifen im Mauerwerk drin versteckt. Während Mario in die Hohlräume der Wände schlüpft und die Bleiröhrchen des Orgelgebläses kontrolliert, setzt sich Seraina an die Klaviatur, zieht ein paar der 43 Register und spielt das einzige Stück, das sie beherrscht: O du fröhliche. «Mario ist sehr glücklich mit seinen zwei Berufen», sagt Seraina, als ihr Mann in ein getäfertes Stübli verschwindet und nicht zuhört. «Seraina ist glücklich, wie wir heute leben», sagt Mario etwas später, als seine Frau grad nicht in der Nähe ist. Das Licht im Unterengadin wird fahler, die Landschaft farbloser, die Nacht naht, und Riatsch dreht den monströsen Eisenschlüssel im Türschloss des Haupttors und verriegelt Schloss Tarasp. Er legt seinen Arm um Seraina und marschiert mit ihr den Schlosspfad hinunter. Mario Riatsch hat seinen Weg gefunden.
Für alle Felle Der BärenBettvorleger in einer der holzgetäferten Schlafkammern wird ausgeschüttelt.
Alles mit Liebe tun Gegen Abend verlässt das Verwalterpaar Riatsch das Schloss und kehrt heim.
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