Blonde Magazin Ausgabe 02 2019 Klartext #47

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BLONDE #047 BLONDE 02/19 WWW.BLONDE.DE EUR 3,80 / DEUTSCHLAND EUR 3,90 / ÖSTERREICH CHF 5,20 / SCHWEIZ EUR 5,20 / SONSTIGES AUSLAND

P O L LY & C H A R LO T T E RO C H E Zwei Generationen, no Bullshit —

QUEERBAITING Ausbeutung in Regenbogenfarben — DNA- HYPE

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O K T

2 019

-

A P R

2 0 2 0

Von Spucke zu Identität

KLARTEXT

— WILDE HER ZEN Vienna Calling im Lover-Look

Aussprechen, mitsprechen, versprechen – weil Labern keine Lösung ist


IXO it! Schraub it! Der neue IXO. Du wirst schon was zum Schrauben finden. Wollen.

WEIL ER KLASSE AUSSIEHT. UND KLASSE AKKUSCHRAUBT. BOSCH-IXO.COM


Editorial

heit und Schmerz des Ansprechens, des Aus­sprechens, des Absprechens. „Muttersprache“ steht über unserer Titelgeschichte: Charlotte Roche und ihre Tochter Polly haben einen Weg gefunden, mit sich und dem Zeitgeist auf Augenhöhe zu kommunizieren. Kleiner Spoiler: Auch die beiden feiern den Mittelfinger als klares

Edith Löhle Chefredakteurin

Kommunikationsmittel (ab Seite 60). Unsere DNA sagt mehr als tausend Worte. Deswegen haben wir in der Redaktion für diese Ausgabe tatsächlich unsere Ethni­ zitäten testen lassen. Raus kam dabei eine Geschichte über Identität – inklusive ge­ netischer Überraschungen und ein Diskurs Es hebe die Hand, wem auch mal im Laufe

über die Sprache der Wissenschaft (ab

seines Lebens eingetrichtert wurde: „Re-

Seite 72).

FOTO: SIMONE RUDLOFF

den ist Silber, Schweigen ist Gold.“ Wenn ja, forme die Hand zu einem stolzen Mittel­

Modisch geht es diesmal um die Sprache

finger in der Luft! Sorry, not sorry. Reden

der Lover (ab Seite 26) und unsere Beau­

lieben wir. Kommunikation ist verbales

ty-Strecke porträtiert das Selbstgespräch,

Hand­reichen, Handhalten oder auch das

die

Hand­zeichen für Stopp – ohne ist nicht.

braucht‘s eben auch den Dialog mit sich

Selbstreflexion.

Denn

manchmal

selbst. (ab Seite 40). Deswegen haben wir die neue Ausgabe „Klar­text“ genannt und beleuchten Schön-

Liebst, Edith 3


Blonde Inhalt 026 Mode: Wilde Herzen NACHT-ROMANTIK DES WIENER CHICS 003 Editorial 006 Impressum 007 Did You Know? DAS HEFT IN FAKTEN 008 Blonde Welt BEHIND THE SCENES & CONTRIBUTORS 010 #girlsforblonde STATEMENTS AUS DEM BLONDE-KOSMOS 012 Kolumne: Gönn dir… WUTANFÄLLE

H A B E N & WO LLE N 016 Trend: This Just In NEUES AUS FASHION & BEAUTY 020 Don’t Panic, It‘s Organic FAIRE LIFESTYLE-PRODUKTE 023 Eat, Sleep, Repeat TIPPS ZUM SCHLEMMEN, SCHLAFEN, STREAMEN 024 Das neue Schwarz MASCHEN

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038 Beauty News: Mundpropaganda SEXY ZAHNHYGIENE. JA, EHRLICH!

FREU N D E & A FFÄ RE N 052 Kultur: Heartxwork, die Geschichtenerzähler*innen EINE HERZENSANGELEGENHEIT 054 Zeitgeist: Eine Frage, drei Antworten WORÜBER MUSS IN DER POLITIK GESPROCHEN WERDEN? 058 Lifestyle: Who’s That Girl? 9 FAKTEN ÜBER SURFERIN FRANKIE HARRER 060 Cover Story: Muttersprache WILLKOMMEN BEI DEN ROCHES! 072 Report: DNA-Test WER SIND WIR UND WOHER KOMMEN WIR? 076 Portrait: Bro, I see you LOIS UND BENNY OPOKU: GESCHWISTERLIEBE IN EIGENREGIE

LU F T & LI E B E

084 Essay: „Willst du noch mit hoch, meine Bromelie sehen?“ ÜBER DIE OBSESSION MIT ZIMMERPFLANZEN


088 Portrait: Alice Herbst ERST TOPMODEL, JETZT AWARENESS-KUNST

FÜR DEN DIALOG MIT DIR SELBST BRAUCHST DU KEINEN SPIEGEL. IM BEAUT Y-EDITORIAL FEIERN WIR DIE SCHÖNHEIT DER SELBSTREFLEXION AB SEITE 42

092 Feature: Que(e)rfinanziert WIE AUS QUEEREM LEBEN EIN VERKAUFSARGUMENT WURDE 096 Feature: Wenn Wörter wehtun SINTI UND ROMA FORDERN SENSIBLEN SPRACHGEBRAUCH 100 Interview: Joy Crookes EINE ALTE SEELE IM JUNGEN KÖRPER 102 Reise: Georgien TECHNO IN TIFLIS 108 Essay: Funkloch EIN KOMMUNIKATIONSVERSUCH MIT MEINEM TOTEN VATER 110 Leseprobe: „Lvstprinzip“ DIE MEMOIREN EINER SEXBLOGGERIN

C O V E R : F O T O /

114 Illustration: Tara Booth DIE EVOLUTION DES UMGANGS MIT DER MENSTRUATION

A N S G A R

S T Y L I N G / H A A R E

&

N I N A

M A K E - U P /

P R O D U K T I O N / M O D E L S /

P O L L Y

&

S O L L M A N N , P E T T E R S , M A R C O

J E N N Y

A L E C C I ,

W E S E R ,

C H A R L O T T E

R O C H E

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Impressum

C H E F R E DA K T I O N Edith Löhle A R T D I R E K T I O N Christine Köhler R E DA K T I O N Robin Micha, Kristin Roloff, Martyna Rieck, Nina Petters M A R K E T I N G & C O N T E N T Jenny Weser: jenny.weser@blonde.de, Cornelia Göbel H E R S T E L L U N G S L E I T U N G Kai Weise C O N T R I B U TO R S Anna K. Baur, Laura Binder, Tara Booth (Illustration), Theresa Lachner, Alice Hasters, Maximiliane Haecke, Julia Küchler, Naya Bindzus, Nadine de Buhr, Kerstin Richter (Foto), Lois Opoku, Helen Fares, Yasmine M’Barek, Carina Parke F OTO G R A F E N Joanna C. Schröder, Ansgar Sollmann, Maja Hidde, Simone Rudloff, Irina Gavrich, Marina Rosa Weigl S C H L U S S R E DA K T I O N Gunnar Hinrichs H E R AU S G E B E R & G E S C H Ä F T S F Ü H R E R Wolfgang Block (V. i. S. d. P.) D R U C K Möller Druck, Berlin E - M A I L : info@blonde.de

WWW.BLONDE.DE INSTAGRAM: @BLONDEMAGAZINE FACEBOOK: @BLONDEMAG Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Auf­n ahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen sowie sonstige Vervielfältigungen nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags. Für unverlangt eingesandtes Text- und Bildmaterial wird keine Haftung übernommen.

REDAK TIONSANSC HRIFT Blonde Magazin, c/o Pool Creative GmbH, Bei St. Annen 2, 20457 Hamburg VERTRIEB Stella Distribution GmbH, Hamburg VERTRIEB Stella Distribution GmbH, Hamburg BLONDE ABONNENTENSERVICE PrimaNeo GmbH & Co. KG, Tel. 040-23670-3763, abo@primaneo.de VERL AG Pulse Publishing GmbH, Offakamp 9a, 22529 Hamburg

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Did you know ?

Der Japaner Shigetaka Kurita erfand 1999 die ersten Emojis. Eigentlich war er damit beauftragt, kleine Zeichnungen für das Wetter zu e ­ rfinden. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass sowohl Pflanzen als auch Bäume untereinander kommunizieren. Eine Studie aus dem Jahr 2010 belegt, dass die Stimme der Mutter bei Teenagern die Stresshormonausschüttung senkt und dafür die Freisetzung des Glückshormons Oxytocin vorantreibt. Polly und Charlotte Roche haben sich bis jetzt 615 Medien bei WhatsApp gesendet. Die LGBTQ+-Repräsentation durch TV-Kommu­ni­ ka­­­ tion erreichte 2018 ein Rekord-„Hoch“: 8,8 Prozent der 857 Seriencharaktere im US-TV wurden als queer eingestuft.

KOMMUNIKATION

Wir hören nur 100 bis 125 Wörter pro Minute, während

IST ALLES! UND

unser Gehirn beim Denken bis zu 3.000 Wörter pro Mi­nu­

DESWEGEN VERSORGEN

te aufnehmen könnte.

WIR EUCH GETREU

Es gibt keine „akzentfrei“ gesprochene Sprache

DEM MOTTO DIESER

und das gilt auch für Gebärdensprache.

AUSGABE MIT

Joy Crookes setzt sich in Taxis immer nach vorne, weil die

FUN FACTS FÜR DEN

Gespräche mit den Fahrern für sie wie Therapiestunden

NÄCHSTEN REAL

sind.

TALK. WER DIE INFOS

Google spuckt über 600.000.000 Ergebnisse für

DEN STORYS DES

die Suchanfrage „Real Talk Podcast“ aus.

MAGAZINS ZUORDNEN

Fast 90 Prozent der DNA werden nicht zur Eiweiß­synthe­

KANN, BEKOMMT

se benötigt, sondern dienen zur Kommunikation und als

EIN FLEISSSTERNCHEN.

­Informationsspeicher. 7


Blonde Welt

behind the scenes & contributors

———— Was haben wir für eine große, kreative Familie! Hier wollen wir einmal stellvertretend allen Danke sagen, die diese Ausgabe so bunt, geistreich und charmant machen.

CHARLOTTE & POLLY.

Was ist denn ein „Mamamann“? Wie wurde der Mittelfinger bei den ­Roches zum Stimmungsbarometer? Und warum kann man nicht anders, als sich in Charlotte und ihre Tochter Polly zu verknallen? Haben wir alles beim BLONDE-Cover-Shooting rausgefunden – das erste für Polly. Darauf sind wir ein bisschen stolz! Und Charlotte n ­ atürlich. AB SEITE 60

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CORINNA MADJITOV.

Job kündigen, sich neuen Aufgaben stellen, heiraten und den eigenen Instagram-Kanal mit Fotos von DalmatinerPuppy Pippa überfluten – wer darüber lästert, ist insgeheim ja eh bloß neidisch. Dabei hat niemand ihr Glück so verdient wie Coci, die bis April 2019 bei uns Chefredakteurin war. We miss you <3


Unsere freie Autorin Laura Binder verab­schie­det sich nach drei Jahren mit ihrer letzten illustrierten Kolumne: „Danke für alles, Team, Leser und BLONDE, I love you forever!“ AB SEITE 12

DIE OPOKUS. „Als langjährige Fans war es uns eine große Freude, in Eigenregie eine Strecke beisteuern zu können. Danke für euer Vertrauen!“ AB SEITE 76

LAURA BINDER.

SIMONE RUDLOFF.

Die Hamburger Fotografin hatte beim Beauty-Shooting zum Thema Selbstreflexion viel Spaß mit Model Rosevianney. Das glauben wir sofort – auch wenn das Shooting ursprünglich mal mit zwei Models geplant war. Aber wenn’s ums eigene Spiegelbild geht, sind ja sowieso irgendwie zwei im Spiel, oder nicht? AB SEITE 40

JULIA KÜCHLER.

Die Fotografin aus Berlin ist nach Tiflis gereist, um die Techno-Szene, geheime Bars und Denkmäler der georgischen Hauptstadt zu fotografieren. Ganz nebenbei lernte sie auch die dampfenden Chinkali-Teigtaschen kennen – und träumt zu Hause noch heute ­davon. AB SEITE 102

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#girlsforblonde ———— Es gibt Redebedarf! Wir wollten wissen: Worüber müssen wir unbedingt sprechen?

A L E X A N D E R

P R O B S T

Das habt ihr geantwortet:

F

T H E K L A /

thekla la la _ k e h t @

nadja ey re b m o @

„Über Body Positivity. Die kann nicht einfach mit einem morgendlichen, in den Spiegel gesagten ,Du bist schön, wie du bist‘ entstehen oder erhalten werden. Es ist harte Arbeit – in dir, in und mit anderen.“

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„Wir müssen aufhören, unsere Zu­kunft zu ignorieren! Es fängt bei mir selbst an: Geht es mir besser, wenn ich das Stück Pizza esse, das Glas Wein trinke, die Zigarette rauche, Tinder benutze? Wenn ja, dann b ­ it­te! Wenn nicht, dann not. Das Gleiche gilt für unsere Erde: Wie können wir so produzieren, so kon­su­mieren, dass es auch in der Zukunft gut ist? We­niger ,Nach mir die Sintflut‘ – mehr ,Hi, zukünftiges Ich, ich denke an dich!‘“

e n i f e s o j it a n i p p @pe „Wenn Frauen andere Frauen schlechtmachen, werde ich wütend. Es gibt Männern die Legitimation, uns ebenfalls runterzumachen und sol­c he Ver­haltensweisen zu recht­­fer­tigen. Stellt euch mal vor, was wir alles er­rei­c hen können, wenn wir zu­sammen­halten und uns gegenseitig stär­ken. #notmycompetition“


nna an a i r a m esw h t n n ya @mar „Nichts ruiniert deine Mittzwanziger mehr als das Gefühl, nicht genug er­reicht zu haben, da man bereits auf die Dreißiger zugeht. Die ,Mid-Twen­ties-Crisis‘ ist etwas, wofür man sich nicht schämen sollte. Im Ge­gen­teil, sie dient zur Selbstreflexion und da­z u, für sich selbst den geeigneten ­L e­bensweg zu finden, ohne jeglicher Norm zu folgen.“

nn a y r ma gs n i s . n yan r a m @

„Selbstliebe. Das heißt die eigenen Fehler verzeihen, Nein sagen und sich Zeit für sich selbst nehmen. Und das hat nichts mit Egoismus zu tun.“

anna nck hu c s a n @an dra n a x e al lia @ a „Wie unser Herz unsere Realität beeinflusst. Das Organ, welches in unserem embryotischen Entwicklungszustand als erstes entsteht, verfügt über eine elektromagnetische Reichweite. Die ist 100 Mal kraftvoller als die des Gehirns. Das heisst, dass du die Vibes in deiner Umgebung direkt upgraden kannst.“

„Wir müssen aufhören, unsere Zukunft zu ignorieren! Das gilt auch für die Erde: Wie können wir so produzieren und konsumieren, dass es in Zukunft gut ist?”

„Über die Klimakrise – immer noch lauter und immer noch mehr. Und vor allem müssen wir handeln, die Politik zum Handeln zwingen. Reden ist gut. Aber Worten müssen Taten folgen!“

sarah ulz sch _ e i d @ „Sexuelle Belästigung sollte offen kommuniziert und nicht verschämt weg­ge­lächelt werden. Fremde Män­ner haben sich neben mir in der vol­len Bahn einen runtergeholt, mir an­ge­boten, nackt zu putzen, oder mir, während ich gearbeitet habe, Sex an­geboten. Ich bin eine Frau mit einer umfangreichen Persönlichkeit und kein Objekt.“

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Text & Illustration: Laura Binder

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Gönn dir Wutanfälle ———— Gegen Panikmache und für die Vernunft. Wir wollen, dass ihr euch mehr gönnt, und sagen Ja zu Gefühlsausbrüchen.

Zu explodieren ist nicht immer einfach. Es könnte jemand verletzt werden, etwas zu Bruch gehen oder im schlimmsten Fall fliegt einem selbst alles um die Ohren. Aber alle negativen Gefühle in sich hineinzufressen ist in etwa so hilfreich, wie bei einem Magen-Darm-Virus die Toilette zu meiden. Gelebte Aggressionen sind garantiert nicht der Superboost für deine Beliebtheitsskala, okay. Die Menschen meiden Hitzköpfe. Und sich die Seele aus dem Leib zu schreien, Hasstiraden freien Lauf zu lassen oder vandalistischen Gelüsten nachzugehen lässt nur darauf schließen, dass man die Kontrolle über sein Leben verloren hat.

„Lieber gut sein lassen“, „der Klügere gibt nach“, „hab dich doch nicht so“, „für eine Lady schickt sich das nicht“, „sie hat wohl ihre Tage“ – all diese Redewendungen unterdrücken unsere Gefühle. Wenn Frauen keine Wutanfälle haben dürfen, entsteht eine große Hemmung. Und angestaute Wut wirkt sich negativ auf die Psyche aus. Passiv-aggressives Verhalten lässt nicht lange auf sich warten, und wenn sich alles Aufgestaute dann doch mal unkontrolliert entlädt, heißt es: Jetzt rastet sie aber richtig aus! Und mehr als Kopfschütteln gibt es nicht. Da lässt die Frustration nicht lange auf sich warten.

Allerdings gibt es verschiedene Sorten von Wut. Wut gepaart mit Rache oder Hass ist eine explosive und gefährliche Mischung. Wut auf sich selbst ist wiederum hilfreich beim Reflektieren. Und Wut gegen Ungerechtigkeiten oder Zustände ist ein Motor, um eine Bewegung ins Rollen zu bringen. Das kann man zum Beispiel jeden Freitag auf den Straßen dieser Welt sehen, wenn Fridays-for-Future-Aktivisten sich Gehör verschaffen.

Auch wenn es ein abgedroschener Spruch ist, stimmt er wissenschaftlich: Gewitter reinigen die Luft. Jede kleine Reiberei führt zu Ladungen und Spannungen, die freigesetzt werden müssen. Deshalb ist ein Wutanfall bes­ser als sein Ruf. Man muss nur schauen, wie man richtig Zugang zum Zorn findet.

Wenn du deiner Wut freien Lauf lässt, setzt dein Körper Energien frei. Atem- und Pulsfrequenz steigen, auch dein Blutdruck geht nach oben. Die Wahrnehmung fokussiert sich auf die Ursache deines Zorns. Dein Körper will ein mentales Hindernis beseitigen. Wenn du dir über diesen Modus bewusst bist, dann kann es sehr heilsam sein, kontrolliert Dampf abzulassen, und das wortwörtlich. Negativität verfliegt, Ängste lindern sich und du fühlst dich befreit. So einfach wie in der Theorie ist der Umgang mit Zorn in der Praxis allerdings nicht. Gelebte Wut ist – fernab aller Krankheiten – ein Privileg. Würde es eine gesellschaftliche Mindmap zum Thema Zorn geben, ließe sich bei Frauen schnell das Wort „Zicke“ finden. Ausflippen steht denen zu, die im Machtgefüge oben stehen. Und in puncto Gleichberechtigung hat es bei Frauen zusätzlich noch einen veralteten Beigeschmack aus Belustigung und unsittlicher Manier. Pseudowitzige Beziehungsratgeber erzählen Männern, sie sollen der wütenden Frau einfach immer recht geben oder „Schokolade hinwerfen und warten, bis sie sich beruhigt hat“. Aber um Wut zu verarbeiten, braucht es Verständnis, Respekt und eine gute Diskussionskultur. Keine Süßigkeiten.

Wut ist auch ein Zeichen von Hilflosigkeit. Und die kann schnell zu Überreaktionen führen: obligatorisches Tellerschmeißen, beleidigende Dinge rausschreien, übereilte Entscheidungen treffen. Therapeuten raten: Luft anhalten, Fäuste ballen und bis zehn zählen. Das klingt wie ein Rat für Kinder in der Trotzphase, ist aber tatsächlich sehr hilfreich und wirkt im­pul­ siven Ausrastern entgegen. Danach können Emotionen rausgelassen werden, die noch heiß sind, aber nicht so heiß, dass es einer emotionalen Kernschmelze gleicht. Auch wenn Frauen und Wutanfälle nicht automatisch zusammenpassen, ist es gut, in Sachen Aggression die Underdog-Po­ si­tion zu haben. Jennifer Lawrence schrieb nach Donald Trumps Wahlkampfsieg: „Frauen, erzürnt euch. Habt keine Angst und seid laut!“ Denn besonders bei sozialen Ungerechtigkeiten oder narzisstischen Despoten lohnt es sich, mit unvorhersehbarer Wut zu kämpfen. Mehr als mit dem Partner die „Tribute von Panem“ nachzuspielen. Also gönnt euch, den Zorn für die richtigen Momente zu nutzen und damit für andere einzustehen. Gönnt euch einen Wutanfall und scheißt darauf, dass andere „Zicke“ sagen oder eurem menstruierenden Uterus die Schuld geben. Und vor allem gönnt euch das Selbstbewusstsein, dass Wut wichtig ist, um sich zu befreien.

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Haben & Ressort S . 0 1 4 ———— S . 0 4 9 S. 016 ———— S. 018 THIS JUST IN Unsere neuen Fashion-Favoriten von 80s-Throwbacks zum Hier und Jetzt

Was ihr essen, wo ihr schlafen und wen ihr hören müsst S. 024 ———— S. 025 DAS NEUE SCHWARZ Wie Maschenware Coolness und Kuscheln zusammenbringt S. 026 ———— S. 037 WILDE HERZEN Gemeinsam gegen das Morgengrauen – in Lover-Looks auf den Straßen von Wien S. 038 ———— S. 039 MUNDPROPAGANDA Sechsmal Zahnhygiene, die wir stolz im Schrank präsentieren S. 040 ———— S. 049 REFLEXION Selbstreflektierte Beauty braucht keinen Spiegel – wir kennen uns am besten

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Wollen

S I M O N E

S. 023 ———— EAT, SLEEP, REPEAT

F /

Vegane Fetish Wear und Mode aus Algen: faire Lifestyle-Produkte

R U D L O F F

S. 020 ———— S. 022 DON‘T PANIC, IT’S ORGANIC



This just in ———— Ständig gibt es so viele tolle neue Designs, Produkte und Labels – wer behält da den Überblick? Machen wir für euch! Hier kommen unsere aktuellen Favorites – von 80s-Throwback ins Hier und Jetzt.

BEDINGUNGSLOS

WIEDERGEBURT

#FIRSTDROP

Die neuen Styles der schwedischen Brand Peak Performance beweisen einmal mehr, dass sich Design und Funktionalität nicht ausschließen müssen. „Keine Kompromisse“ übernehmen wir deshalb direkt als Motto fürs gesamte Winter-Outfit.

Wenn aus einem VintageDesigner­tuch ein Scrunchie wird, ist das dann Recycling oder schon Upcycling? Egal, in beiden Defini­tionen erhalten Tücher von Chanel, Hermès und Co. jedenfalls ein neues Leben. Und wem danken wir dafür? Dem neuen Berliner Label James.

Es ist so was wie der tragbare Blick hinter die Kulissen: Die ersten Designs der StreetwearKollektion von Jägermeister enthalten zum Beispiel eine Logo-Beschreibung in Textform oder sogar einen Auszug aus der Geheimrezeptur. Cheers!

JACKE „CLARA”, CA. 450 EURO, PEAKPERFORMANCE.COM

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news

AB 100 EURO, JAMESCASTLE.DE

HOODIE „56”, CA. 90 EURO, SHOP. JAEGERMEISTER.DE


#ESPRITTHROWBACK

Bunte, grafische Neon-Prints auf tiefem Schwarz und Weiß oder doch lieber der volle Beanie-Farbflash? Mit der #Throwback-Kollektion von Esprit ist die Zeit­reise schon gebucht. BEANIE CA. 50€, JACKE CA. 120 €, SNEAKER CA. 100€, VON ESPRIT

DASS WIR IM Zeitalter der Nostalgie leben, beweisen uns regelmäßige

Flashbacks von Musik bis Mode. Und auch wenn nach wie vor die 2000erJahre im Fokus von Street-Style und Insta-Feed stehen, lohnt es sich, schon mal den vorausschauenden Schritt zu gehen – beziehungsweise in diesem Fall den Schritt zurück. Get it? Wir reden von den 80ern! Mit Esprit greifen wir schon jetzt tiefer in die #Throwback-Kiste und orientieren uns an Jahrzehnten, in denen die Gen Z noch nicht mal in der Planungsphase war. Und mal ehrlich, manchmal ist es doch fast einfacher, Jahrzehnte zu inter­ pre­tieren, die man gar nicht miterlebt hat, nicht wahr? Mit der limitierten Capsule Collection im Stil der 80s reisen wir also ganz entspannt zurück zu eklektischen Farbcollagen und Muster-Prints in Neongelb, Lila, Pink und

Mintgrün. Die passenden Schnitte der 28-teiligen Kollektion sind natürlich typische Cropped-, Oversized- und High-Waist-Cuts, die sich problemlos mit den Nostalgie-Items anderer Jahrzehnte in unserem Kleiderschrank kom­bi­nieren lassen. Wer die 80er-Zeitreise aber doch lieber konsequent durchziehen will, vervollständigt den Look durch Accessoires wie Fanny Pack, Beanie, Bandana und Sneaker. Bei all der Nostalgie dürfen wir aber nicht vergessen, dass wir uns im #Throwback-Hype ja eben die Looks ver­ gangener Jahrzehnte zurückwünschen – nicht etwa die gesellschaftliche Lage. Esprit schaltet deshalb auf aktuellen Zeitgeist um und verzichtet mit der Kollektion aufs überholte Gender-Konzept. Vergangenheit und Gegenwart gehen eben doch gut zusammen. Oder kurz: Yesterday is now.

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ICH PACKE MEINE (PARTY-) TASCHE...

AUGENPAAR

Dass sich Interior und Mode schon lange lieben, zeigt auch diese Collab: Für eine Reihe neuer schraubenloser Brillen hat sich die Berliner Marke ic! Berlin mit dem Produktdesigner Sebastian Herkner zusammengetan. Das Ergebnis: Liebe auf den ersten Blick, literally. „AVUS“, CA. 369 EURO, „BELLEVUE”, CA. 409 EURO, IC-BERLIN.DE

NEUE (SNEAKER-)WELLE

Wer den 90er-Hype um die Schuhsilhouette „Espresso” von North­wave nicht erlebt hat, darf aufatmen: Die iko­nische Kombination aus Snowboard-Sohle und Sneaker-Design ist zurück und kommt mit Update in vier Farben und kuscheligem Innenleben. Wir sagen: „nice to meet you” – oder eben „welcome back!”

... und nehme ab jetzt mit: die neue Collab von Jägermeister x uslu airlines. Das Limited Edition Pack enthält zwei Probierflaschen des neuen „Jägermeister scharf“ plus einen eigens kreierten Lippenstift mit Ingwernote. Welche Farbe der hat? Knallrot, natürlich. Oder wie seht ihr „scharf”? SET, CA. 30 EURO, SHOP.JAEGERMEISTER.DE

NORTHWAVE „ESPRESSO”, CA. 120 EURO, ÜBER SLAMJAM.COM

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news

SONNE IN DER FLASCHE

EINS FÜR ALLE

Wenn wir schon in Sachen Kleidung nicht am Sommer festhalten können, sorgt jetzt unser Drink für Hot Vibes: Mit dem V+ Curuba denken wir an Festivals, Urlaub und Sommerabende mit der Crew – und wärmen uns einfach von innen heraus.

Kaum ein Muster verkörpert sowohl Elite als auch Rebellion so sehr wie Argyle. Zur Feier dieser Ambivalenz hat Pringle of Scotland jetzt seine Unisex-Argyle-Designs der 80er geupdatet – und macht erneut Preps und Punks glücklich.

„V+ CURUBA” MIT TEQUILA FLAVOR, VPLUS.DE

„REISSUED”, PRINGLEOFSCOTLAND. COM



AL(L)GEGENWÄRTIG

Aus Alge mach Mode: Malu Lücking hat in ihrem Studium begonnen, näher in die Algenforschung einzusteigen. Daraus ist für sie eine echte Leidenschaft geworden. In ihrem Zimmer hat die Berlinerin – anstatt wie andere ein Aquarium mit Fischen – Gläser mit Algen. Die pflanzenartigen Lebewesen nutzt sie als Fasern für nachhaltige Mode. „Je nachdem welche Garnqualität man haben möchte, kann man die Algen zunächst trocknen oder direkt im nassen Zustand verspinnen. Zum Verspinnen habe ich mir eine kleine Spinnmaschine gebaut. Es werden keine Chemikalien hinzugegeben oder andere Additive benutzt – nur die pure Alge“, erklärt uns Malu im Interview. DAS GANZE GESPRÄCH FINDET IHR AUF BLONDE.DE

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fair labels


AUF WIEDERSEHEN – HOFFENTLICH!

Der Abschiedsgruß „ciao” ist im Repertoire der Naturkosmetik­marke naturmädchen ziemlich präsent – aber mit po­si­tivem Hintergrund: Die Brand sagt unter anderem „ciao“ zu chemischen, genmodifizierten und synthetischen Zutaten, zu Tierversuchen, Mineralölen, Nanopartikeln, Mikroplastik, Duftstoffen und mehr. Und wenn eine Verabschiedung so läuft, winken wir gerne mit. GESICHTSCREME, CA. 33 EURO, VITALPFLEGEÖL, CA. 28 EURO, NATURMÄDCHEN.DE

Don’t Panic, It’s Organic Wir führen euch durchs positive Labyrinth der fairen Produkte und zeigen euch Wege, die ihr vielleicht noch nicht eingeschlagen habt: vegane Fetisch-Lingerie oder Algen-Mode zum Beispiel.

LACE & (NO) LEATHER

FAIRPACKT

Obwohl das Thema Body Positivity immer präsenter wird, gibt es trotzdem Mode-Nischen, die hierbei un­bedient bleiben – zum Beispiel die der Fetischwäsche. Das Label Pique Lingerie aber hält dagegen: Designerin Heidi strahlt mit ihren Entwürfen aus veganem Leder Sexpositi­vität für Frauen mit Körbchengröße E bis J aus. Tie us up!

Schenken macht Spaß, Auspacken noch mehr. Der dabei entstehende Verpackungsmüll wird allerdings gerne mal vergessen – bis Designerin Hema Kumar mit FabRap ins Spiel kommt. Die Stoffverpackungen eignen sich zu Weihnachten und Geburtstagen, sind wiederver­wendbar und büßen null Spaß beim Auspacken ein. Versprochen.

BH, CA. 279 EURO, PANTY, CA. 129 EURO, PIQUELINGERIE.COM

„DOVE & LILY DOUBLE SIDED”, AB CA. 13 EURO, FABRAP.CO

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SPRAYER IN DER NOT

MUSTERSTÜCKE

Das Facial Mist der schwedischen Kosmetikmarke L:A Bruket könnte mit seinen Zutaten aus dem (Märchen-) Wald stammen: Sein enthaltener Birkenextrakt wirkt re­vitalisierend und Schmetterlingsingwer-Extrakt schützt gegen Stress und blaue Lichteinstrahlung. Magic, oder?

Die Mädels hinter Tassel Tales wollen Geschichten von Frauen für Frauen erzählen – daher auch der Markenname. Als Stilmittel nutzen sie dafür ihre Designs aus fair produzierter Yogawear, Jeansjacken, Schuhen oder Accessoires. All das gibt’s übrigens auch ohne Tassel.

„217 FACE MIST BIRCH”, CA. 29 EURO, LABRUKET.SE

HOSE „BLACK RUG”, CA. 210 EURO, TASSEL-TALES.COM

MORAL ZUM MITNEHMEN

EIN BECHER BIO, BITTE!

„Eco & fair“ lautet die Tagline des Labels O My Bag. Die gesamte Philosophie dahinter lässt sich – natürlich nicht ausgedruckt – in einer der aus ökofreundlichem Leder gefertigten Taschen transportieren, zum Beispiel zum Nach­lesen auf dem Screen des Laptops – dafür gäb’s auch direkt ein passendes Taschenmodell. You’re welcome!

Die Story geht so: Setzen sich fünf junge Berliner 2016 zusammen, um die „leckersten und gesündesten” Smoo­thies ever zu entwickeln. Die Pointe ist der Launch von Wholey. Seitdem gibt’s Smoothies, Shakes und Bowls ready to blend im kompostierbaren Becher auf Mais­stärke­basis (kein Plastik) per Abo-Box zu bestellen.

TASCHEN, JE CA. 129 EURO, OMYBAG.NL

ABO-BOX AB CA. 4 EURO PRO CUP, WHOLEY.DE

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fair labels


Eat, sleep, repeat ———— Die besten Tipps zum Schlemmen, Schlafen und Streamen.

eat

repeat

— „Standard“, Hamburg —

— „2019 Lollapalooza, Official Spotify Playlist“ —

FOTOS: PR

Mina, Egbert und Maurice holen voller Leidenschaft die italienische Aperitivo-Kultur nach St. Pauli ganz in die Nähe der Großen Freiheit. Bei Wohlfühlatmosphäre lassen alle Gäste in dieser Bar an langen Tafeln gemeinsam den Feierabend ausklingen. Hach, wie schön! Wer sich zwischen der großen Auswahl an klassischen Getränken wie Gin Tonic, Mule und Spritz entschieden hat, kann sich jetzt kulinarisch entspannt zurücklehnen und überraschen lassen. Denn frei nach dem Prinzip „Sharing is caring“ werden zu den Drinks in regelmäßigen Ab­ ständen Stuzzichini (kommt vom italienischen Wort „stuzzicadenti“ für „Zahnstocher“) aka saule­cke­re Snacks auf Platten zum Teilen an die Tische gebracht. So führt der Besuch in der Bar schnell zu endlosen Gesprächen mit bis dato Unbekannten und auch der Gaumen lernt Neues kennen. Saisonale, frische Lebensmittel in­spi­ rieren die täglich wechselnden Häppchen. Besonders schön ist auch deren Dekoration: Auf Holzplatten werden sie nicht selten auch mit heimischen Blüten verziert. Sweet! Ihr merkt, hin­ter dieser Idee stecken Menschen, die auf keinen Fall nur Dienstleister sein wollen, sondern vielmehr den Anspruch haben, ihre Gäste zu Freunden zu machen. www.standard.hamburg

sleep — „Huilo Huilo Montaña Mágica Lodge“, Chile — Eigentlich könnten wir nur diese beiden Fotos für sich selbst sprechen lassen und müssten gar nicht weiter erklären, warum ihr bei eurer nächsten Chile-Reise dort übernachten solltet, oder? An alle „Herr der Ringe“-Fans da draußen: Auenland-Atmo! Möchtet ihr in Puerto Fuy nicht nur eine Unterkunft, sondern gleichzeitig die Erfüllung eurer kühnsten Fantasy-Träume buchen, hat die Suche an dieser Stelle ein En­ de. Als ob es nicht schon besonders genug wäre, dass ihr hier in einem de luxe bergförmigen Baumhaus umgeben von atmenberaubender Natur und – Achtung – einem permanent fließenden Wasserfall residiert, gibt’s hier zusätzlich noch einen Innenpool, ein Spa sowie ein Wellness-Center. Die hölzerne Inneneinrichtung ist außerdem extra gemütlich und kuschelig. Book it and thank us later. Über booking.com

85.000 Musikbegeisterte sind 2019 zum zweitägigen Lollapalooza im Berliner Olympiapark gestürmt. Alle mit einem Ziel: ein Wochenende voller Lifestyle-Action mit wirklich diversen LiveActs. Wart ihr selbst dort, habt ihr Musikgrößen wie Billie Eilish, Princess Nokia und Kings of Leon bestaunt. Wart ihr nicht dort, habt ihr wahrscheinlich die Konzerte via Insta-Stories verfolgt und euch ordentlich geärgert, nicht selbst dabei gewesen zu sein. Für beide Parteien folgt hier ein Tipp, um die Lolla-Liebe nicht so schnell abklingen zu lassen beziehungs­weise die Vorfreude auf nächstes Jahr zu steigern. Gönnt euch die kostenlose offizielle Spotify Lollapalooza 2019 Playlist mit 172 Hits der globalen Festivalreihe. Bei allen zukünftigen Hauspartys oder Chill-Abenden mit Freunden könnt ihr bei dieser Songsammlung ganz easy die Shuffle-Taste drücken und sicher sein, dass jedes Lied Mitsing-Laune verbreitet. Beweise gefällig? Wir sagen nur: „Light On“ von Maggie Rogers, „Something Just Like This“ von The Chainsmokers und Coldplay und „Break Up With Your Girlfriend, I’m Bored“ von Ariana Grande. Ohrwurm-Level 100! Also, wir drücken dann mal fix auf Repeat. Playlist „2019 Lollapalooza“ via Spotify

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FOTO LOU DE BÈTOLY


Das neue Schwarz: Maschen ———— Was Omas und Millennials in ­es­­ka­pis­­tischen Handwerkskursen ­zu­sam­men­kommen lässt, kann nur Stan­dard werden: warum Knitwear die Begleitung fürs Leben ist. Text Robin Micha

Eigentlich stellen wir in dieser Kategorie einen Bereich der Mode vor, der sich zum „neuen Schwarz“, also zu einer Art neuem Klassiker etabliert hat. Dieses Mal ist das die Masche. Hm. Klassiker? Waren Strick und Häkelei nicht irgendwie schon immer präsent, sind also weder klassisch noch neu, weder alt noch revolutionär? Strick ist doch einfach da, wenn man Lust drauf hat. Wenn’s kalt ist. Wenn man Strick braucht. Ende der 90erJahre heißt es in einem Artikel der Zeitung „Hamburger Abendblatt“, es würden immer mehr Basics gekauft, gerade die sogenannte „Kom­ bi­ nationsmode” würde durch die Decke gehen – und dazu zähle vor allem auch Strick. Man sieht sie vor sich, die niedlichen Strick-Kombis, die gemütlichen, prak­ti­schen Kleider. Klingt ziemlich staubig und – entgegen allen 90er-Hype­-Trends der letzten zehn Jahre – das ist es vermutlich auch. Dass Knitwear aber eben in so vielen Formen kommt, wie man mit einer Nadel Maschen anlegt, beweisen Extremfälle der letzten Dekade. Sänger Lenny Kravitz hat es mit seinem wolldeckengleichen Strickschal (nach­ gucken!) vor einigen Jahren auf die Spitze ge­trieben und ist damit sogar zum Meme geworden. Wobei, wenn wir es in der modischen Fachdiskussion

ganz genau nehmen, war sein XXL-Accessoire vermutlich sogar gehäkelt. So wie zum Beispiel auch die Runway-Styles von Lou de Bètoly links. Und die strahlen trotz ihrer dem Strick gegenüber festeren Häkelmaschen und groben Oberflächen mindestens genauso weiche Vibes aus wie das ob­li­ gatorische Strickpulli-Bild in ewig wiederkehrenden Kuschel-Strecken ein­ schlägiger Modemagazine. Wer sich jetzt für den eigenen saisonal geprägten Insta-Feed aus gestrickten Sockenfüßen im Bett schämt, muss nicht verzweifeln. Strick darf so einiges sein, und ja, auch klischeegetreu gemütlich. Aber es gilt auch in Sachen Knitwear, nach links und rechts zu schauen, so wie es Abschlussklassen an Modeschulen oder Seniorinnen in Findungsphasen tun. Das muss nicht in der gestrickten Belly-Bag enden, aber mehr als Bommelmütze ist immer drin. Und vielleicht werden solche Stücke im eigenen Kleiderschrank dann genau zu den Klassikern, von denen wir hier sprechen. Oder man nimmt sich ein Beispiel an Designerin Sonia Rykiel, ehemals „Königin des Strick“. Sie hat‘s geschafft, einen Klassiker wie den Strick-Sweater über Jahrzehnte neu zu inszenieren. Stricken konnte sie übrigens nicht.

Große Masche, kleine Masche, deine Sache. Der hot, new Knit:

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ASOS DESIGN,

SOLID & STRIPED,

MOLLI,

CA. 27 EURO,

JE CA. 116 EURO,

CA. 750 EURO,

ASOS.DE

NET-A-PORTER.COM

MOLLI.COM

MAIAMI.DE

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MAIAMI,

ZARA,

KARIN FRAIDENRAIJ,

CA. 349 EURO,

CA. 27 EURO,

CA. 209 EURO,

ZARA.COM

KARINFRAIDENRAIJ.COM

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(LUNA) KLEID/ ETRO, KETTE/ JULS, (AMAR) HEMD/ VERSACE, KETTE/ JULS, BRILLE/ MODEL’S OWN


Fotos Irina Gavrich

Styling Nina Petters

———— In der ersten gemeinsamen Nacht ist alles egal und trotzdem urromantisch. Zusammen ge­gen die Zeit, bis zum Morgen – und nur Wien schaut zu. ————

Wilde Herzen 27


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LINKE SEITE: (LUNA) OBERTEIL & SLIP/ & OTHER STORIES, BOOTS/ UG CARDIGAN/ PRINGLE OF SCOTLAND, BOOTS/ UGG NEUMEL CHESTNUT, RECHTE SEITE: (LUNA) BADEMANTEL/ ANNI CARLSSON, BOOTS/ UGG BH/ LE PETIT TROU, SLIP/ CK, (AMAR) ANZUG/ TOPMAN, BOOTS/ UGG G CLASSIC SHORT II BLACK, (AMAR) BRILLE & BOXERSHORTS/ MODEL’S OWN , CLASSIC REBEL BIKER SHORT BONE, NEUMEL C HES TNUT, BRILLE/ RAY BAN


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LINKE SEITE: SAKKO/ SCOTCH & SODA , HEMD/ PHILIPP PLEIN , KETTE/ JULS, BRILLE/ MODEL’S OWN , REC HTE SEITE: (LUNA) BL AZER/ SANDRO, T-SHIRT/ PINKO, ROC K/ PATRIZIA PEPE, BOOTS/ UGG CL ASSIC FEMME OVER THE KNEE CHESTNUT, (AMAR) HEMD/ SCHEPPERHEYN, HOSE/ SCTOCH & SODA , BOOTS/ UGG NEUMEL CHESTNUT


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L I N K E S E I T E : ( LU N A ) K L E I D / P I N KO , JAC K E / TO M M Y X Z E N DAYA , TA S C H E / E S S E N T I E L A N T W E R P, BO OT S / U G G CLASSIC BOOM BUCKLE CHESTNUT, SONNENBRILLE/ MIU MIU, (AMAR) JACKE & SHIRT/ SANDRO, HOSE/ VERSACE, BOOTS/ UGG NEUMEL CHESTNUT, REC HTE SEITE: KLEID/ TALBOT RUNHOF, STRUMPFHOSE/ WOLFORD, KETTE/ JULS, BOOTS/ UGG CLASSIC FEMME MINI CHESTNUT


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(LUNA) MANTEL/ ESCADA , KLEID/ ETRO, STRUMPFHOSE/ FALKE, BOOTS/ UGG CL ASSIC REBEL BIKER SHORT BONE, (AMAR) MANTEL/ ETRO, HEMD/ VERSACE


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LINKE SEITE: MANTEL/ PHILIPP PLEIN, TUCH/ VERSACE, KORSAGE/ URBAN OUTFITTERS, SHORTS/ BA&SH, STRUMPFHOSE/ OROBLU, BOOTS/ UGG CLASSIC SHORT II BLACK, RECHTE SEITE: (LUNA) JACKE/ TOMMY X ZENDAYA , KLEID/ ENVII X FREJA WEWER, S TRUMPFHOSE/ HUDSON , BOOTS/ UGG CL ASSIC FEMME OVER THE KNEE CHESTNUT, (AMAR) ANZUG/ PHILIPP PLEIN, HEMD/ SCHEPPERHEYN, SCHUHE/ UGG NEUMEL CHESTNUT, SONNENBRILLE/ ETNIA BARCELONA


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PRODUKTION/ JENNY WESER, NINA PETTERS, MODELS/ LUNA & AMAR @ CASTING BÜRO WIEN, CASTING/ MAX MÄRZINGER, HAARE & MAKE-UP/ MARCO ALECCI @ BALLSAAL USING C HANEL UND DAVINES, STYLING-ASSISTENZ ANNA THÜRING, FOTO-ASSISTENZ/ CLEMENS BEUTLER


Mundpropaganda ———— Wir verbreiten hier keine Gerüchte, nur frischen Atem, starke Zähne und unverkennbare Sexiness. Text Martyna Rieck

FRAGT MAN DIE GROSSELTERN, was sie in Sachen Gesundheit in ihrer Ju-

gend gern anders gemacht hätten, kommt eine Antwort besonders oft: besser auf die Zähne aufgepasst! Ja, ja, noch sind doch alle Beißer dort, wo sie hingehören, denken die Enkel. Aber Zähne wachsen – anders als der Stoff, aus dem neuartige, ökologische Zahnbürsten hergestellt werden – nicht nach und kranke Zähne können später massig Probleme bereiten, eine Menge Geld kosten und sogar den ganzen Körper in Mitleidenschaft ziehen. Da kann man noch so viel cremen, pflegen und peelen; ist der Zahn einmal hinüber, gibt’s kein Zurück! Klar, Zahnseide ist nervig, und ja, 20 Minuten lang ein Öl im Mund hin und her zu gurgeln, sich danach noch die Zähne mit einer auf die eigenen Bedürfnisse zugeschnittenen und mög-

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lichst nachhaltigen Zahnpasta zu putzen – und bloß nicht das Zahnfleisch vergessen! – ist eine ganze Menge Arbeit. Aber überlegt man, dass einer der essenziellsten Wesenszüge des Menschen, die Kommunikation, zu einem großen Teil mit dem Mund geschieht (zumindest in der Offline-Welt), bekommt die Erhaltung dieses kostbaren Organs plötzlich eine übergeordnete Bedeutung. Sieht man die Mundhygiene als die Instandhaltung eines bedrohten Raums, wird die Dringlichkeit vielleicht deutlicher. Wer jetzt bereits wild den App-Store nach einer gratis Zahnputzuhr-App durchsucht, hat den Sinn scheinbar nicht ganz verstanden. Ruft doch bei der morgend­ li­chen Mundroutine mal die Oma an – die ist bestimmt schon wach und freut sich über ein paar Minuten gesunder Kommunikation.


TRÈS CHIC & ORGANIQUE

BIOKUNST AUS SCHWEDEN

ÖLWECHSEL

Bei Dingen „am Stiel“ denkt man eher an Film­klassiker oder süße Schlecke­reien – aber nicht unbedingt an n ­ achhaltige Zahnhygiene. Dabei hält diese feste Zahnpasta definitiv länger als Bennys und Nilis Liebe oder ein Ed von Schleck. Außerdem besteht die Paste am Stiel der französischen Brand Lamazuna zu 100 Prozent aus Naturmaterialien, die zwei Prozent ihres Gewinns für die Aufforstung des Amazonas spendet. Und davon haben wir doch alle was!

Die Schweden preschen in Sachen Sus­tai­na­bility mächtig nach vorn. Allen voran die Klimaaktivistin Greta Thunberg. Womit sie sich wohl die Zähne putzt? Vielleicht ja mit dieser zu 95 Prozent klimaneutral herge­stell­ten Zahnbürste. Die besteht aus Bio­kunst­stoff, speziell Zuckerrohr, und hat Borsten aus Rizinus. Zudem verwendet die schwedische Marke TePe zur Herstellung ausschließlich grüne Energie. Wir sollten öfter auf die Schweden hören, merken wir selbst!

Die morgendliche Mund­hygiene muss nicht zwangs­läu­f ig mit einer Bürste starten und kann viel mehr bewirken als schöne Zähne. Ölziehen ist eine jahrhun­der ­t e­alte ayurvedische Methode, die über Nacht im Mundraum gesammelte Schad- und Giftstoffe bindet, Zähne und Zahnfleisch schützt und sogar den Fettstoffwechsel ankurbeln sowie den Cholesterinspiegel sen­ken soll. Dauert zwar mit 20 Minuten länger und ersetzt nicht das Zähneputzen, aber hilft auch mehr!

LAMAZUNA „ZAHNPASTA AM STIEL“, CA. 10 EURO

TE PE GOOD „ZAHNBÜRSTE“, CA. 4 EURO

OLIVEDA „MUNDZIEHÖL BALANCING LAVENDER“, CA. 37 EURO

BALSAM FÜR‘S ZAHNFLEISCH

MAKE ZAHNSEIDE COOL AGAIN

DIE SOZIALE ZAHNBÜRSTE

Oft unterschätzt wird die Wichtigkeit eines kräftigen Zahnfleischs – dabei bildet das überhaupt erst die Basis für gesunde Zähne. Leuchtet ein? Leuchten werden auch die Beißer, nachdem man einfach mal in eine Portion Aufmerksamkeit für die Muttererde des Munds investiert hat. Wie im Garten kann man am Ende entspannt dabei zusehen, wie alles prächtig gedeiht. Da blüht das Lächeln auf!

Nichts anderes hat ein Amerikaner mit dem Künstlernamen Backpack Kid im Jahr 2017 durch den Tanz „Flossin“ versucht. Hat nicht ganz geklappt, denn statt mehr „Flosser“ (aka „Zahnseide-Benutzer“) im ursprünglichen Sinne hat er bloß mehr Nachahmer erschaffen, die komisch wackeln. Vielleicht schafft ja diese ökologische Zahnseide das, was die Popkultur versäumt hat.

Dass das Zähneputzen mit einer elektrischen Zahnbürste effektiver ist als mit einer manuellen, ist bekannt. Aber dass ein solches Gerät nicht nur den Mundraum, sondern auch die Welt ein kleines Bisschen besser macht, ist neu. Mit der eigenen Initiative #BrushForWater spendet Happybrush an die Welthungerhilfe und unterstützt so Wasserprojekte für Menschen in Not.

WELEDA „SALBEIZAHNFLEISCHBALSAM“, CA. 6 EURO

GEORGANICS, „NATURAL FLOSS“, CA. 6 EURO

HAPPYBRUSH STARTERKIT, CA. 60 EURO

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Reflexion

Das eigene Selbstbild muss nicht der klassische Spiegel vermitteln – die Kameralinse weiß mehr über dich, als du denkst.


LINKE SEITE: OHRRIN GE/ & OTHER S TORIES, EYELINER (WAN GE)/ C HARLOTTE TILBURY ROC K ’N’ KOHL, REC HTE SEITE: KLEID/ AÉRYNE, SC HUHE/ & OTHER STORIES, SPANGE/ VINTAGE, ALLE LOOKS: PRIMER/ ARMANI LUMINOUS SILK HYDRATIN G PRIMER, FOUNDATION/ C HARLOTTE TILBURY AIRBRUSH FL AWLESS FOUNDATION 8 WARM, HIGHLIGHTER/ THE BEAUT Y ARCHIVE EMPOWER ILLUMINATING CREAM, CONTOUR/ TOM FORD SHADE & ILLUMINATE BRONZER, EYEBROWS/ UND GRETEL FROH BROW BOW GEL

Fotos Simone Rudloff Styling Insa Meier

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LINKE SEITE: KLEID/ AÉRYNE, REC HTE SEITE: KLEID/ AÉRYNE, SPANGE/ VINTAGE, LIPS/ EYELINER C HARLOTTE TILBURY ROCK ’N’ KOHL


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LINKE SEITE: BLUSE & HOSE/ AÉRYNE, OHRRINGE/ VINTAGE, EYESHADOW/ LETHAL COSMETICS AFTERGLOW, REC HTE S E I T E : O H R R I N G E / V I N TAG E , E Y E S H A D OW / C H A N E L O M B R E P R E M I È R E B L U E J E A N 16 , E Y E L I N E R / C H A N E L S T Y LO Y E U X WATERPROOF BLUE


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LINKE & RECHTE SEITE: ROLLKRAGENPULLOVER & HOSE/ MBYM, BOOTS/ MANGO, EYESHADOW/ LETHAL COSMETICS AFTERGLOW


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HAARE & MAKE-UP: EVELYN INNERHOFER USIN G C HARLOTTE TILBURY UND DAVINES, ASSIS TENZ: MARGARIDA SANTOS, MODEL: ROSEVIANNEY @ MODELWERK, LOC ATION: BLOCC S TUDIO HAMBURG


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LINKE SEITE: KLEID/ AÉRYNE, REC HTE SEITE: KLEID/ AÉRYNE, SPANGE/ VINTAGE, LIPS/ EYELINER C HARLOTTE TILBURY ROCK ’N’ KOHL


Freunde & Ressort S . 0 5 0 ———— S . 0 8 1 S. 052 ———— S. 053 DIE GESCHICHTENERZÄHLER*INNEN

S. 058 ———— S. 059 WHO’S THAT GIRL? Frankie Harrer ist in Malibu zu Hause – aber surft für Deutschland S. 060 ———— S. 071 MUTTERSPRACHE: CHARLOTTE & POLLY ROCHE Unsere Coverstars erzählen von der Kommunikation zwischen Generationen S. 072 ———— S. 075 REPORT: DNA-TESTS Die Redaktion fragt sich: Wer bin ich und woher komme ich? S. 076 ———— S. 081 BRO, I SEE YOU Lois und Benny Opoku zeigen Geschwisterliebe in Eigenregie

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Affären

M A J A

Worüber muss politisch mehr gesprochen werden?

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S. 054 ———— S. 056 EINE FRAGE, DREI ANTWORTEN

H I D D E

Das Projekt Heartxwork.com sorgt für Gesprächsstoff zwischen den Kulturen



Die Geschichtenerzähler*innen ———— Zwischen den Kulturen gibt’s mehr als Rassismuserfahrungen und Identitätsfragen. Warum das Projekt Heartxwork.com jede Woche für neuen Gesprächsstoff sorgt. Und wir zuhören sollten!

Text Anna K. Baur Fotos Joanna C. Schröder

Wenn ich gefragt werde, woher ich komme, und wahrheitsgetreu ant­wor­ te: „Aus einem Dorf in der Nähe von Stuttgart“, folgt meist die Frage: „Wo­her kommst du wirklich?“, aber nie die Frage: „Weißt du, was ,Kar­tof­ fel‘ auf Schwäbisch heißt?“ Das liegt daran, dass mein Vater Nigerianer ist und mein Aussehen nicht mit Deutschsein und erst recht nicht mit Schwä­ bisch­sein assoziiert wird. Wie geht dieser Small Talk, der sich in meinem Alltag wie eine kaputte Platte ständig wiederholt, häufig weiter? Entweder wechsle ich das Thema oder ich beende die Unterhaltung. Weil ich in den meisten Fällen keine Lust darauf habe, einer Person, die ich gerade erst ken­nen­gelernt habe, als Antwort auf die zweite Frage meine Familienverhältnisse preiszugeben. Die Person ist dann oftmals irritiert von der plötzlichen Wendung des Gesprächs.

Autorin Anna K. Baur und Fotografin Joanna C. Schröder haben heartxwork.com gegründet, um die Geschichten von Menschen mit Migrationshintergrund zu erzählen

Diese Situation ist ein Paradebeispiel und einer der Gründe dafür, warum Joanna C. Schröder und ich uns entschieden haben, heartxwork zu gründen. Eine Plattform, die Geschichten von Menschen mit Migrations­hin­ter­ grund erzählt. Rund ein Viertel der in Deutschland lebenden Menschen haben einen Migrationshintergrund. Tendenz steigend. Wie kann die Kommunikation zwischen Menschen mit unterschiedlichen kulturellen und nationalen Identitäten funktionieren, ohne dass sich jemand vor den Kopf gestoßen fühlt oder in Stereotypen stecken bleibt?

des gebrochenen Herzens. Sie ist die Tochter kongolesischer Eltern. Ihr Exfreund ist weißer Deutscher, der rassistische Themen entweder kleingeredet oder persönlich genommen hat. Whitney berichtet, dass sie erst durch die Beziehung realisiert habe, dass sie schwarz sei, und was das für sie bedeute. „Die schmerzhafte Trennung von ihm hat mich befreit, meine Magic aus mir herausgeholt, mir gezeigt, was ich wirklich brauche in meinem Leben.“ Die türkische Fotografin Eylül Aslan, die vor einigen Jahren von Istanbul nach Berlin gezogen ist und mittlerweile in Wien wohnt, teilt mit uns ihre innere Ambivalenz, seit sie Mutter ist. „Ein Teil von mir möchte die ganze Zeit mit dem Baby zusammen sein, sich kümmern. Aber zur gleichen Zeit sagt mir mein Innerstes, dass ich ausgehen möchte. Und Alkohol trinken. Und tanzen.“

Persönliche Geschichten schaffen ein Bewusstsein dafür, dass man nicht unbedingt den Springerstiefel im Gesicht spüren muss, um sich ausgegrenzt zu fühlen. Persönliche Geschichten vermitteln mehr, dass Klischees nie das vollständige Bild einer Person wiedergeben. Auf heartxwork erzählt die deutsch-kurdische Rapperin Ebow: „Ich schreibe Love-Songs über queere Liebe, weil ich finde, dass es davon zu wenig gibt. Auch ich habe lange versucht zu verheimlichen, dass es in meinen Songs um Girls geht, weil ich Angst vor Ausgrenzung hatte. Ich habe immer alles so umgeschrieben, dass die Lyrics am Ende an einen Typen gerichtet waren.“ Die Geschichte der 23-jährigen Kunststudentin Whitney dreht sich um die Kraft

Die Beispiele zeigen, dass sich Menschen mit und ohne Migrationshintergrund mit den Geschichten identifizieren können. Themen wie Coming-out, Mutterschaft oder Liebeskummer kennen keine Landesgrenzen. Interessant und wichtig finden wir, dass die Tatsache, dass die Geschichten von Menschen mit Migrationshintergrund erzählt werden, eine zweite Ebene öffnet, die Identitätssuche und Ausgrenzungserfahrungen spürbar machen. Wir wollen viele Geschichten aus unterschiedlichen Perspektiven erzählen. Denn die Vielfalt führt mit großer Wahrscheinlichkeit zu mehr Schnittstellen, mehr Gemeinsamkeiten, mehr Verständnis füreinander. Und übrigens: „Kartoffel“ auf Schwäbisch heißt „Grombira“.

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„Persönliche Geschichten schaffen ein Bewusstsein dafür, dass man nicht unbedingt den Springerstiefel im Gesicht spüren muss, um sich ausgegrenzt zu fühlen. Persönliche Geschichten vermitteln mehr, dass Klischees nie das vollständige Bild einer Person wiedergeben.“

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Text Martyna Rieck

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Frage Antworten

Worüber muss in der Politik jetzt geredet werden? Das haben wir deutsche Podcasterinnen gefragt und drei ganz unterschiedliche Antworten bekommen.

Geredet wird in der Politik viel. Aber auch über die für euch relevanten Themen? Das Klima, Geflüchtete und der Rechtsruck in der Gesellschaft sind wichtige Schlagwörter – und gehen uns alle an –, werden jedoch in einer solchen Häufigkeit via Twitter und Push-Notifications unterschied­ licher News-Plattformen auf unsere Smartphones katapultiert, dass man nicht mehr weiß, wo nur drum herum geredet wird und was aktiv besprochen wird, um Dinge gerechter zu machen. Und: Das Polit-Karussell lässt nur selten neue Gäste mitfahren. Aber wer spricht ­Klartext über das, was uns unter den Nägeln brennt? Was ist zum Beispiel mit Netz­politik? Wenn wir ein Kommunikationsproblem haben, wie lösen wir es? Es braucht mutige Menschen, die ansprechen, was sich sonst vielleicht niemand traut. Und die Politiker*innen konkret auffordern. Einige von ihnen, die das boomende Medium Podcast als Mikrofon nutzen, haben uns aufgeschrieben, wo sie politische Kommunikationslücken sehen und welche Diskussionen sie sich am Pult wünschen. Wir drücken Play für diese Stimmen – und weisen darauf hin, dass es sich um persönlichen Meinungsstücke handelt, die nicht zwangsläufig die Haltung der Redaktion widerspiegeln.

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ALICE HASTERS UND MAXIMILIANE HAECKE VOM PODCAST „FEUER & BROT“, @FEUERUNDBROT

FOTOS/ LINKS: KATJA RUGE / RECHTS: CIHAN CAKMAK

Alice ist Journalistin, Maxi Sprecherin. Seit 20 Jahren sind die beiden befreundet. Über Politik, Feminismus, Popkultur und alles, was sonst noch bewegt, unterhielten sie sich in der Vergangenheit stundenlang über das Telefon, bis ihnen die Idee kam, aus ihren faktenbasierten und emotionalen Diskussionen einen sorgfältig geplanten Podcast zu machen. Oft sind es ­ gerade Themen, die sonst niemand anfassen mag. Für BLONDE haben sie sich der fehlenden Netzgesetze zum Thema Call-out-­Cul­ture angenommen. „Stellen wir uns Folgendes vor: Du wachst auf, normaler Tag, greifst zu deinem Smartphone, checkst Twitter und siehst: 100+ Mitteilungen. Was bedeutet das? Wenn du dich schon länger in sozialen Netzwerken herumtreibst, kennst du es vielleicht, dieses Herzklopfen, diesen inneren Stress, bevor du Gewissheit hast. Ist irgendwas passiert? Entweder, du bist der neueste Hype im Internet oder über dir wütet gerade ein Shitstorm – du wurdest outgecallt. Call-out-Culture – das steht für die einen für Netzaktivismus, für andere ist es Mobbing-Mentalität. Sie tritt vor allem dort besonders stark auf, wo es um Politisches geht. Sie ist Instrument derjenigen, die nicht genug beachtet werden, vielleicht sogar aktiv missachtet werden, derjenigen, die seitens der Politik zu wenig geschützt werden. Wir lassen jetzt – theoretisch zumindest – mal die ganzen Menschen aus der rechten Ecke weg, die prinzipiell gegen alles halten und hassen, was richtig und fortschrittlich ist – sie sind explizit nicht gemeint. Let’s face it: Wer im Netz ,outgecallt‘ wird, hat wahrscheinlich irgend­etwas falsch gemacht. Das kann auch etwas Kleines sein: ein blöder Spruch, ein verletzender Witz oder ein problematisches Statement, vielleicht auch schon vor Jahren, das jetzt wieder aufgetaucht ist. Das Netz vergisst nicht. Eigentlich gut – so kann Mensch lernen, Verantwortung übernehmen, wach­sen und sich gegebenenfalls entschuldigen. Aber so einfach ist es eben nicht. Weil sich im Netz quasi alle einschalten können, besteht die Möglichkeit, dass der Shitstorm nicht mehr einzufangen ist. Aus einem kleinen Feuer wird ein lodernder Brand und dann – ebbt es entweder ab, verläuft sich, gerät in Vergessenheit oder man ist gecancelt. In vielen Fällen geschieht dies absolut zu Recht. Und ist die letzte Instanz, denn Cancel-Culture greift oft da, wo staatliche Organe oder die Gesellschaft versagt haben. Heißt dann so viel wie: Du wirst ausgestoßen, ignoriert, verbannt: aus einer bestimmten Community, vielleicht sogar von Freund*in­nen. Vielleicht ist dein Verhalten, deine Art zu kommunizieren toxisch für bestimmte Menschen. Sogenannte Call-out- und Cancel-Culture kann Gutes bewirken. Sie kann Communities schützen und marginalisierten Menschen eine Stimme verleihen, die meist zu wenig wahrgenommen wird. Doch was passiert, wenn du dazugelernt hast? Wenn du deine Fehler eingesehen und dich geändert hast? Das Risiko besteht, dass du vergessen wirst oder dir eine Rückkehr verwehrt wird. Dass du gemobbt und bestraft wirst. Das ist die brutale Seite von Call-outund Cancel-Culture. Was fehlt, sind ein kol­lektiver öffentlicher Prozess des Um-Vergebung-Bittens und eine Form der Vergebung. Und sie wäre we­ niger scharf, wenn die Politik gesellschaftliche Ungerechtigkeit ernster nehmen würde.“

HELEN FARES VOM PODCAST „HOMEGIRLS“, @HELEN_FARES Alle zwei Wochen treffen sich die Moderatorin, Journalistin und Psychologin Helen Fares und DJ, Sängerin und Moderatorin Josi Miller mit einem Gast aus dem Musikkosmos, um über Gesellschaft, Politik, Hip-Hop, Kurioses aus der Wissenschaft, Gefühle und Tiere zu sprechen. Helen Fares macht unter an­de­ rem gesellschaftspolitische Aufklärungsarbeit auf Instagram und klärt insbesondere über Themen auf, die Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland betreffen. „Für mich ist die Wurzel allen Übels ein Wort: Kapitalismus. Unter dem Deckmantel des Kapitalismus werden Waffen verkauft, Kriege geführt, die Umwelt in einem unglaublichen Ausmaß zerstört. Für den Kapi­ ta­lismus werden Brunnen und Quellen gekauft, Völker vertrieben, Menschen ausgebeutet, versklavt, ermordet. Mit ihm wird die weltweite Schere zwischen Arm und Reich immer größer. Durch Kapitalismus verschieben sich gesellschaftliche Werte und Moral. Mit ihm, glaube ich, verkümmern wir innerlich als Erde und Gesellschaft, während es so aussieht, als hätten wir immer mehr. Politik. So ein vielschichtiger, diffuser Begriff ,Politik‘ auch ist, lange habe ich mir darunter nichts weiter als eine Horde unangenehmer Personen vorgestellt, die an einem großen ovalen Tisch irgendwelche unethischen Entscheidungen treffen. Und jetzt... ja, das Setting ist anders, aber wie steht es um die ethischen Entscheidungen? Blicke ich auf Umwelt, Kriege, Konsum, Neokolonialismus, Sklaverei, Rüstungsindustrie, Bildung, Massentierhaltung (uff, ich könnte ewig weitermachen...), weiß ich nicht, an welcher Stelle ich mit meinem Aktivismus ansetzen soll. Selbst wenn wir uns nur innerhalb der Grenzen Deutschlands umsehen, sehen wir Armut auf wirt­schaft­licher, sozialer und Bildungsebene. Wir sehen Extremismus aufgrund dieser Missstände und der Markt schreit so laut wie nie zuvor: ,Kauf dich glücklich! Jetzt! Tu es!‘, um künstlich erschaffene Bedürfnisse zu stillen, während echte Bedürfnisse ignoriert und im Keim erstickt werden.

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Nach wie vor haben Menschen mit privater Krankenversicherung oder viel Reichtum eine bessere medizinische Versorgung als der Rest der Bevölkerung. Menschen mit psychischen Erkrankungen warten teilweise drei bis sechs Monate auf eine Therapie, obwohl es genug Therapeuten gibt, nur eben leider ohne Zu- und Niederlassungen. Hier produziert man fröhlich Waffen, als wären es Süßigkeiten, hier isst man alltäglich Süßigkeiten, die durch Sklaverei entstehen. Die Politik muss einen Riegel vor diesen unermesslichen, gnadenlosen Kapitalismus schieben. In erster Linie muss öffentliche Bildungsarbeit zu oben genannten Themen finanziell und strukturell gefördert werden. Es kann nicht sein, dass diese Arbeit an mir und vielen anderen PoC-Aktivist*innen hängen bleibt, die wir unbezahlte Bildungsarbeit leisten, damit wir nach den nächsten Wahlen nicht wieder das Gefühl haben, ,nicht unser Bestes ge­geben zu haben‘, um diese Wahlergebnisse zu verhindern. Der kapitalismuskritische Diskurs muss über das linke Spektrum der Politik hinausragen, denn er betrifft uns, allerspätestens seit unsere Umwelt hoch­gradig gefährdet ist, alle. Die Politik muss jetzt aufklären und schnell handeln. Ich glaube, nur so können wir Umwelt und Menschen schützen.“

macht. Auch das Branding als „Allround Muslima“ stört sie. Deswegen lässt sie uns in ihrem Podcast wöchentlich an ihrer Meinung teilhaben. „Es muss mehr über die immer problematischere Wirtschaftspolitik ge­ sprochen werden. In all den Debatten rund ums Klima fehlt mir vor allem das als Fundament. Was haben das neoliberale Wirtschaftssystem und die Abkehr von der Realwirtschaft zum Istzustand beigetragen? Jedoch sind wirtschaftliche Argumente stets inhaltsloses Hörensagen, um vermeintlich intellektuell zu wirken. Oder kernlose Antipathie. Dementsprechend diskutieren wir nicht über den Fakt, dass deutsche Autokonzerne das Vertrauen durch Dieselskandale verspielt haben und sich wenig einsichtig in der klimafreundlichen Weiterentwicklung von Mobilität zeigen. Nein, wir diskutieren, ob man einen SUV fahren darf und ob ,Kli­materroristen‘ den politischen Diskurs verrohen lassen. Ist man vom falschen System überzeugt und hinterfragt dies nicht, wird die Situation und Diskussion nur stagnieren. Dabei ist es vonnöten, dass die Politik demütig das eigene System infrage stellen kann und sollte. Dazu gehört, offen zu sagen, dass die liberale Ethik der Profitorientierung falsch war und zu einem fahrlässigen Ausbau des Niedriglohnsektors geführt hat. Dies als Fehler zu betiteln ist der erste Schritt zur Änderung. Reflektiertes Umorientieren wäre der nächste. Denn: Die profitorientierte Finanzspekulation und das stetige Wachstum haben die Sozialpolitik demoliert und Platz dafür geschaffen, dass der Mensch dem System unterlegen ist und die Wirtschaft von ihm profitiert und nicht andersrum. Somit setzt man die Wirtschaft über die Klimakrise. Die Politik ist verantwortlich dafür, dies umzukehren. Dabei sollten die neokolonialen Zustände und der Hauptverursacher des Klimawandels, die Industrie, insbesondere Automobilindustrie und Energie­ gewinnung, zur Verantwortung gezogen werden. Die mittlerweile stagnierte deutsche Wirtschaft darf nicht mehr als negativ bewertet werden. Der irrationale Faktor Klimakrise stellt eine Profitsperre dar, außer man geht dafür über sozialpolitische Leichen. Insbesondere medial zielt man auf Be­griffe wie ,schwarze Null‘ ab und nimmt ihr nicht die Wertung, was dringend vonnöten ist. Im Diskurs sitzen oftmals überhypte Personen im Schein­werferlicht und können ihre wirtschaftsliberalen Gegner nicht mundtot machen. Rein ökonomisch gesehen lassen sich alle Liberalen in die Knie zwingen. Wir diskutieren jedoch über das Weshalb, wenn wir schon längst beim ,Was müssen wir tun‘ angekommen sind.

YASMINE M’BAREK VOM PODCAST „AUF EINEN POLITTEE MIT YASMINE M’BAREK“, @CEREMONIALSOFASAVAGE Yasmine M‘Barek lebt und studiert Wirtschaftsjournalismus in Köln. Als freie Autorin schreibt sie über Politik und Wirtschaft und kommuniziert via Instagram mit ihren Followern regelmäßig über alle weiteren Themen, die ihr sonst noch so auf der woken Millennial-Seele brennen. Trotzdem findet sie, dass „das Internet nicht ansatzweise zeigt“, was Menschen aus-

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Das heißt, wir müssen, gerade im öffentlichen Raum, das Wirtschafts­sys­ tem infrage stellen und von den Alternativen erzählen und Schulden in der Politik als etwas Positives, Förderliches übermitteln. Überproduktion und Erd­erwärmung haben viel mit dem Abkehren von der Realwirtschaft zu tun. Feelgood-Aktivismus muss mit wirtschaftlichen Gegenargumenten gestützt werden, ist die Wirtschaft doch der größte Feind in der Debatte. Die Grundlagen für erfolgreiche Debatten sind gegeben. Aber: Linke Ökonomen sind nicht so interessant wie schillernde Einzelpersonen. Das muss sich ändern.“

FOTO: EVA ROSSBACH

Resultat ist eine gesellschaftliche Spaltung durch inhaltslose Meinungs­ macher und Reiberei durch Begriffe wie ,Verbote‘ oder ,Freiheit‘, die nur in ihrer Semantik und nicht im Ausmaße der Politik umfassend durchleuchtet werden. Es ist eine Sackgasse, kehrt man nicht ab davon.



Who’s that girl? Frankie Harrer ist born and raised in Malibu, hat aber nichts mit dem typischen Beachgirl-Klischee zu tun. Dank ihrer deutschen Eltern hat die Surferin so viele Sommer hierzulande verbracht, dass sie bei internationalen Meisterschaften für Deutschland antritt. Ihr oberstes Gebot: Glück, Leben genießen, sie selbst sein.

1. Wenn man @frankieharrer auf Instagram folgt, sieht man: bunte Haarfarben, cute Analog-Shots und Surf-Videos (Überraschung!). Dazu gehören aber auch Ausschnitte aus Frankies Kurzfilm „Tenderness”, der allen ans Herz gelegt sei, die sich für fünf Minuten mal wirklich audiovisuell entspannen wollen. 2. Dürfte sie ihr eigenes Surfboard designen, sähe das so aus: ein Board mit Kritzeleien! Meistens bestellt Frankie sie blanko, um sich dann erst mit Markern bewaffnet draufzustürzen. 3. Dieses Surfer-Klischee trifft absolut auf sie zu: „Sand überall, immer!“ 4. Zuletzt hat Frankie spontan Freunde tätowiert – diese Geschichte steckt dahinter: „Riley, ein Fotograf, und David, ein Filmemacher, sind gute Freunde von mir aus Malibu. Und wenn wir nichts zu tun haben, tatöwieren wir uns schon mal! Vor ungefähr einem Jahr hab ich angefangen, damit rumzuspielen. Zum Glück habe ich Freun­de, die ihre Haut zum Üben anbieten – bei Riley wurde daraus ein Tiger und bei David der Kopf von Disneys Goofy.“ 5. Das unterscheidet sie von anderen Surfer*innen: Am liebsten experimentiert Frankie mit verschiedenen Surfboards und -arten. Dabei mixt sie auch mal gerne Wettkämpfe mit Freestyle-Surfing; so bleibt schließlich alles spannend. 6. Diese Tracks kommen in ihre Alltags-Playlist: „Fever“ von The Cramps, „Disarm“ von The Smashing Pumpkins, „Starry Night“ von Peggy Gou und „Blah Blah Blah“ von Girlpool. 7. Anderen Girls, die ins Surfen einsteigen wollen, rät sie: „Habt einfach Spaß dabei und nehmt das Ganze nicht zu ernst. Am Ende bedeutet Surfen doch, Spaß im Meer zu haben – und genau das ist der Grund loszulegen!” 8. Für diesen zweiten Karrierezweig wäre sie noch bereit: „Ich hoffe, dass ich Surfen so lange wie möglich als Karriere weiterführen kann, aber realistisch gesehen halten Sportkarrieren eben nicht für immer. Wenn die Zeit kommt, will ich immer noch etwas machen, worin ich meine Kreativität ausdrücken kann. Ich wollte zum Beispiel schon immer meine eigene Brand haben.” 9. Ohne diese Teile findet man sie nie am Strand: Surfboard, Sonnenbrille – „und ein trockenes Handtuch“.

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Text Robin Micha

Foto Tony Accosta

Big waves: Im Frühjahr 2020 hat das Team um Frankie eine weitere Chance, sich für Olympia zu qualifizieren – dort wird Surfen zum ersten Mal zur Disziplin.

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Text Edith Löhle

Fotos Ansgar Sollmann

Styling Nina Petters

Produktion Jenny Weser

Muttersprache Willkommen bei den Roches. Hier ist der Mittelfinger das nonverbale, aber durchaus liebevolle Kommunikationsmittel. Der Sprech von Charlotte Roche und ihrer 16-jährigen Tochter Polly setzt auf Selbstbestimmung und Ehrlichkeit. ————

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DIESE SEITE: (CHARLOTTE) BH/ SLOGGI, OHRRINGE/ JANE KØNIG, KETTE/ CHARLOTTE’S OWN, (POLLY) BH/ SLOGGI, OHRRIN GE/ JANE KØNIG


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LINKE SEITE: (POLLY) ANZUG/ ESC ADA , BH/ SLOGGI, BRILLE/ MYKITA , OHRRIN GE & KETTE/ JANE KØNIG, DIESE SEITE: (C HARLOTTE) MANTEL/ DRYKORN , LONGSLEEVE/ PATRIZIA PEPE, S TRUMPFHOSE/ FALKE, SC HUHE/ SCOTC H & SODA , (POLLY) KLEID/ TALBOT RUNHOF, OHRRIN G/ VIBE HARSLØF, SC HUHE/ SCOTC H & SODA


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cover story

DIESE SEITE: (C HARLOTTE) ZWEITEILER/ S TIEGLITZ, OHRRIN GE/ JANE KØNIG, (POLLY) WIC KELKLEID/ S TINE GOYA , BL AZER/ BRØGGER, SLIP/ SLOGGI, OHRRIN GE/ JANE KØNIG, REC HTE SEITE: (POLLY) ZWEITEILER/ BRØGGER, BH/ SLOGGI, OHRRIN GE/ JANE KØNIG


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LINKE SEITE: (CHARLOTTE) HEMD/ STIEGLITZ, BRILLE/ MYKITA X MAISON MARGIEL A , OHRRINGE & KETTE/ JANE KØNIG, DIESE SEITE: (POLLY) MANTEL/ S TINE GOYA , HOSE/ BRØGGER, LON GSLEEVE/ WOLF ORD, SC HUHE/ FL ATTERED, (C HARLOTTE) ANZUG/ PATRIZIA PEPE, OHRRINGE/ JANE KØNIG


PRODUKTIONS-ASSISTENZ: MARTYNA RIECK, HAARE & MAKE-UP: MARCO ALECCI @ BALLSAAL USING SISLEY PARIS UND DAVINES, FOTO- ASISSTENZ: JAKOB RIEDEL

Charlotte Roche ist kein Muttertier. Sie ist ein Mutterfabelwesen. Jedenfalls fantasiert man sich schnell in bunte, fabelhafte Familienszenen, wenn Charlotte, 41, und Polly, 16, von ihrer Beziehung erzählen. „Pollinski“, „Polli­ lolly“ und „Polderanzie“ fallen als Spitznamen. Polly nennt die Mama am liebsten „Mamamann“ – das ist einer ihrer Running Gags, so zu tun, als wä­re Charlotte ein Mann. „Charles“ wäre langweilig. Und langweilig ist nicht bei den Roches: Durch „Paardiologie“, der Podcast mit Ehemann Martin, hat sich die Autorin und Moderatorin einmal mehr zur Galions­fi­gur für schonungslose Ehrlichkeit und soziale Gerechtigkeit gemacht. Es ist der richtige Zeitpunkt fürs Roches Comeback, denn wir alle wissen, es gibt viel zu tun – so viele Themen, die wir anpacken müssen, um als Men­ schen nicht kollektiv verkackt zu haben. Und die Charlotte Roche ist eine, die krempelt die Ärmel hoch und greift öffentlich in die Scheiße. Vielleicht liegt es in der DNA, denn während Polly Kreuze in den Kalender streicht, bis sie die Schule nächsten Mai abschließt und mit dem Erwachsenwerden klarkommen muss, überlegt auch sie sich, wie sie ihre Zukunft und ihre neue Öffentlichkeit nutzen kann, um die Welt zu verbessern. Gedanken kreisen um Netzaktivismus und das Freiwillige Soziale Jahr nach der Schule. Double trouble means double power: Im Juni postet Polly auf ihrem damals noch überschaubaren Insta-Kanal @pollyrroche zum ersten Mal ein gemeinsames Bild mit „Mamamann“. „Danke, dass du mich erträgst. Du bist alles, was ich anstrebe. Ich liebe dich“, so die Caption. Sie entscheidet sich für die Öffentlichkeit, jetzt ist sie also alt genug. Ein Modelvertrag folgt, Follower folgen (heute sind’s 12 k) und schnell wird deutlich, dass auch Polly Roche was zu sagen hat. Und dass sie eine junge Erwachsene ist, ernst zu nehmend, eigenständig und eigensinnig.

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„Es kam der Punkt, an dem ich lernen musste, einfach mal die Fresse zu halten. Wenn ich manchmal noch versuche, Polly zu erziehen, dann be­ kom­me ich sofort von ihr und von Martin gesagt, dass alles, was noch nicht erzogen sei, jetzt zu spät sei und die eh ganz toll und fertig. Dass ich mich daran gewöhnen müsse, dass sie jetzt erwachsen ist und ich sie in Ruhe lassen soll“, erzählt Charlotte. „Wir sind ein Haushalt von drei Leuten und zwei davon sagen mir zehnmal am Tag: ‚Halt die Fresse!‘“ Liebespöbeln ist das. Dazu zählt auch der Mittelfinger als Mutter-TochterCode. „Das ist ein Symbol dafür, dass ich nicht reden will. Zum Beispiel nach der Schule, da bin ich echt kurz eine andere Person, weil ich so gestresst bin. Wenn Mama dann in mein Zimmer kommt, zeige ich ihr den Mittelfinger und sie geht rückwärts wieder raus. Das ist nicht böse gemeint, sondern klare Kom­munikation“, erklärt Polly. „Unsere Kommunikation hat sich verändert: Ich kann nur da sein für sie, aber meistens kommt Polly nicht mehr zu mir. Und dann kann ich nur diese ganz kleinen Fenster abpassen, wenn sie noch Hilfe braucht oder Geborgenheit. Und sonst tagelang Mittelfinger und ‚Halt die Fresse‘ und dann ist mal ganz kurz Umarmen und Wieder-da-Sein angesagt, Wärmegeben und Sicherheit“, sagt Charlotte. Kleiner Flashback in den eigenen Abna­ belungsprozess: Wer kennt den aufregenden, aber auch ätzenden TransitZustand als Teenager nicht mehr? Und trotzdem wirken die Roches auch dabei wieder eine Spur cooler als andere. „Wir können zwar über alles reden, aber müssen es auch nicht. Und viel wichtiger: Wir reden uns nicht rein“, sagt Polly. Hätte sie zum Beispiel etwas gegen Charlottes Aktion des Wahnsinns beim „Duell um die Welt“


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PULLOVER/ TSE CASHMERE, SLIPS/ SLOGGI


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DIESE SEITE: (POLLY) ZWEITEILER/ BRØGGER, BH/ SLOGGI, OHRRIN GE/ JANE KØNIG, RECHTE SEITE: (CHARLOTTE) ROCK/ ETRO, BH/ SLOGGI, HALSKRAUSE/ BRØGGER, OHRRINGE/ JANE KØNIG


ge­habt, hätte sie ihre Mutter auch nicht davon abgehalten. Ab­ ge­ sehen davon, dass das wahr­ scheinlich auch nicht menschenmöglich ist. Wenn Mama eben einen Bun­gee-­Stunt mit Titanbolzen unter der Haut machen will, dann ist das so. „Das wäre nicht mein Place zu sagen: ‚Mach das nicht.‘ Ich muss meine Mutter nicht beschützen“, erklärt Polly. Bei aller Coolness ist die Rollenverteilung aber klar. Das Klischee der Mutter als beste Freundin fällt in unserem Gespräch nicht. „Wir versuchen, die Erwachsenenrolle zu behalten, sodass sich das Kind keine Gedanken oder Sorgen um uns machen muss. Wenn das mal in Anflügen kommt, dann würde ich sagen: ,Das ist nicht dein Problem. Leb dein Leben und wir sind für dich da“, lautet Charlottes Devise.

Oft kommt das aber wohl nicht vor, denn die junge Erwachsene „leiht“ so­gar gern mal was aus dem Kleiderschrank der Mutter. Sie witzeln um die Drei-Tages-Regel: Wenn etwas, das dir nicht gehört, länger als drei Ta­ge in deinem Schrank ist, dann gehört es dir. „Ich versuche, der Polly beizubringen, dass Leihen ohne Fragen Klauen ist. Ich will nicht beklaut werden, deshalb klaue ich nicht – und zieh nichts von der Polly an. Aber andersrum klappt das nicht“, sagt Charlotte. Böse ist sie ihr aber auch nicht, denn in Wirklichkeit ist es doch ein großes Kompliment, wenn die 25 Jahre jüngere Tochter die Klamotten feiert.

Auch bei unserem Shooting in einer Hamburger Altbauwohnung in St. Pauli sind die beiden in ihren Rollen: Es ist Pollys erstes Editorial-Shooting, ihre Mutter aber kommuniziert seit 20 Jahren mit Kameras. Charlotte redet ihr nicht rein, aber ist für ihre Tochter da, wenn sie das will. Sie kuscheln, sie feixen, sie verdrehen die Augen, sie lachen. Es ist eine erfrischende MutterTochter-Kombination, denn sie lassen sich und ihre Momente sein.

Apropos Langfinger – ein cheesy Übergang darf erlaubt sein: Nicht nur der Stinkefinger ist symbolträchtig. Der kleine Finger hat bei den RocheFrauen ebenfalls eine große Bedeutung. Polly streckt Charlotte den hin, ohne hinzuschauen, wenn sie nach einem Streit bereit ist, sich zu vertragen. „Ich als Mama will mich nach einem Streit schneller vertragen, aber Polly kann richtig lang sauer auf mich sein. Ich komm dann so viermal in ihr ­Zim­mer und hole mir eine Abfuhr ab und beim fünften Mal streckt sie mir vielleicht den kleinen Finger hin.“ Den Zwang, sich zu vertragen, gibt es in der Familie nicht, aber wenn Polly es dann fühlt und die Wut verflogen ist, tippt Charlotte zurück.

„Es gibt eine Regel: Meine Mama darf nichts zu meinen Klamotten sagen. Egal was ich anziehen möchte, es gibt keine Sätze wie: ‚Wie siehst du denn aus? So gehst du mir nicht aus dem Haus!‘“, sagt Polly. Kleidung sei Ausdrucksform, Selbstverwirklichung, erklärt Charlotte darauf. Aber auch, dass Polly durchaus ein Vetorecht habe für Mamas Outfits, wenn es ihr wirk­lich um was ginge. „Ich weiß, wie das ist, wenn man sich schämt für seine Mutter und sich blamiert fühlt, und deswegen darf mich Polly tatsächlich verkleiden als dunkelblau angezogene Business-Lady mit Perlen-Ohrringen, wenn ihr das lieber ist als die Michael-Jordan-Schlappen und das Michael-Jordan-Stretch-Kleid vom Strand. Da habe ich tiefes Verständnis für die Polly.“

Klingt nach einer süßen Dynamik, was? Aber sag einer Charlotte Roche bloß nicht, dass sie niedlich ist. „Ich bin ja jetzt größer als die Mama und dann schau ich auf sie runter und sag oft: ,Mama, du bist so süß und so klein und so niedlich.‘ Und dann sagt Mama immer: ,Ich bin böse, hässlich und alt. Wiederhole das!‘ Und dann lachen wir uns tot“, erzählt Polly noch. Und auch, dass sie immer Fragezeichen lachen muss, wenn ihre Mutter ihr random irgendwelche Emojis auf Fragen antwortet. Auf eine Frage zur Wäsche kann dann einfach unvermittelt mal nur ein Igel zurückkommen. Oder gleich eine Reihe von zusammenhangslosen Tier-Symbolen. Sagen wir doch: Sie ist ein Mutterfabelwesen.

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Text Martyna Rieck

DNA 72

report


———— 100 Millionen Menschen werden sich bis 2021 einen DNA-Test nach Hause bestellt haben*. Alle in der Hoffnung, Antwort auf eine der ältesten Fragen der Menschheit zu erhalten: Wer bin ich? Sechs Mitglieder der BLONDE-Redaktion haben jetzt schon mitgemacht bei der Ahnenforschung der etwas anderen Art. Wir lassen die Wissenschaft zu Wort kommen und fragen uns: Sagt ein DNA-Strang wirklich mehr als tausend Worte? ———— NAYA B. „Meine Familienhistorie ist recht transparent und trotzdem stellte ich mir schon häufiger die Frage, wie ich wohl ethnisch zusammengesetzt bin und welche kulturellen Strukturen in mir zusammenlaufen. Auch war ich gespannt, ob meine Optik, sprich meine dunklen Haare, meine hellen Augen und mein eher dunklerer Hauttyp, einfach nur einem zufälligen Gen-Mix entspringt. Dass ich zu über 50 Prozent aus Nord- und Westeuropa komme, hat mich eher enttäuscht. So einen kleinen nicht europäischen Ausschlag hatte ich mir schon gewünscht. Kommt meine Kör­pergröße von den Nordeuropäern und Skandinaviern, der Teint von den südlicheren Westeuropäern, sind meine Gesichtszüge eine Mischung aus skandinavisch und osteuropäisch und ist das Ganze gewürzt mit einem derben Humor, der polnischen Frauen oft nachgesagt wird? Ändern tut sich für mich durch diesen DNA-Test nichts, denn ich betrachte ihn eher als interessante Spielerei. Unsere jeweilige ethnische Zusammensetzung ist vielfältig und zum Beispiel durch Völkerwanderungen nicht wirklich eindeutig nachvollziehbar. Den Diskussionsanstoß – innerhalb der Familie –, den solch ein Test liefern kann, finde ich allerdings großartig. Am Ende kann man so oder so nur dazulernen.“

* Quelle: „MIT Technology Review“

MARTYNA R. „Auf wenige Fragen zu meiner Familiengeschichte kenne ich genaue ­Antworten, denn ich bin ohne Vater und somit auch ohne jegliches Wissen über satte 50 Prozent meiner Gene aufgewachsen. Aber aus welchem Land meine Vorfahren stammen, dachte ich zu wissen: Polen. Vielleicht noch aus der Ukrai­ne, weil wir aus dem südöstlichsten Zipfel des Landes stammen. Und so auch laut Aussage meiner Oma die Familie meines Erzeugers. ‚Hier ist früher niemand hin- oder weggezogen.’ Das kam mir schon immer eher spanisch als polnisch vor... Der Wunsch, Ahnenforschung zu betreiben, besteht in mir wegen der ­Va­ter­thematik bereits quasi seit meiner Geburt. Gefühlt werde ich auch ständig mit dieser Lücke konfrontiert. Beim Arzt, wenn die Frage nach der Familienhistorie bestimmter Krankheitsbilder fällt, kann ich nur von mütter­

licher Seite sprechen. Bei Dates, wenn ich salopp dahinsage, dass ich meinen Vater nie kennengelernt habe, darf ich mir in neun von zehn Fällen Fra­gen nach eventuellen Komplexen anhören. Beim Beantragen des eltern­ ab­­hängi­gen BAföGs wurde ich in einem offiziellen Wisch unwirsch darum ge­beten, doch einen Nachweis darüber einzureichen, denn ,das kann ja jeder behaupten‘. Für mich hat dieser DNA-Test also mehr bedeutet als Prozentzahlen. Und die kommt scheinbar nicht nur aus Polen, sondern auch aus dem Balkan und – Überraschung – dem Mittleren Osten? Gut, 0,9 Prozent ist jetzt nicht viel, aber dennoch interessant. Meinen Vater habe ich per DNA-Test nicht gefunden. Aber das war erst der Anfang, denn für mich geht die Reise durch die Stränge definitiv weiter.“

EDITH L. „Ich habe dunkle Augen, dunkle Locken und Sommersprossen – das allein gab vielen Menschen um mich herum wohl mein Leben lang die Legitimation, mir das Deutschsein abzusprechen. Als Kind wurde ich auf Türkisch angesprochen oder gern mal damit aufgezogen, dass meine Eltern mir was ver­schweigen würden... Meine Eltern sind aus dem Schwabenland, meine Großeltern auch. Die Linie meines Vaters lässt sich wohl bis ins 14. Jahrhundert an den Bodensee verorten. Ich persönlich traue den Deutschen auch dunkle Augen, dunkle Locken und Sommersprossen zu – und trotzdem hat mich der DNA-Test interessiert. Man muss ja schon sagen, dass in Kriegsgenerationen viel passiert ist, das zu schmerzhaft oder vermeintlich schandhaft war, um es weiterzuerzählen. Und jetzt die große Auflösung: Laut MyHeritage bin ich zu 60,4 Prozent Engländerin, dann sind da noch 27,7 Prozent griechische, 7,7 Prozent osteuropäische und 4,2 Prozent aschkenasische DNA. What? Glauben kann ich das wirklich nicht. Entweder, da hat sich jemand im Familienstammbaum regelmäßig verschrieben oder der DNA-Test aus dem Internet ist Quatsch. Ich reise also jetzt nicht nach England oder gar nach Griechenland, um meine Verwandten ausfindig zu machen. Meine Familie bleibt meine Familie und mein Schwäbischsein – tja, manchmal wünschte ich, ich könnte es verleugnen, aber bei mir Sparfüchsin gibt es daran wohl keinen Zweifel.“

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Naya B.

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58,6 % Nord- & Westeuropa 22,9 % Osteuropa 12,0 % Skandinavien 6,5 % Baltische Staaten

Martyna R. ————

64,9 % Osteuropa 34,2 % Balkan 0,9 % Mittlerer Osten

Edith L. ————

60,4 % England 27,7 % Griechenland 7,7 % Osteuropa 4,2 % Aschkenasim

Nina P. ————

52,3 % Nord- & Westeuropa 43,9 % Osteuropa 3,8 % Schottland & Irland

Christine K. ————

82,4 % Nord- & Westeuropa 11,5 % Baltische Staaten 3,7 % Osteuropa 2,4 % Skandinavien

Anne S.

———— 66,7 % Nord- & Westeuropa 28,3 % Osteuropa 5,0 % Balkan 74

report


CHRISTINE K. „Oft laufe ich durch diese wundersame Welt, und wenn ich kurz innehalte in meinem täglichen Gebaren, frage ich mich: ,Was tust du hier? Wozu, warum? Ist das hier mein Ort? Warum bist du, wer bist du?‘ Während meiner Surf-Reisen, die für mich die intensivste Form der Auseinandersetzung mit mir selbst sind, suche ich nach Antworten. Die Wahrheit liegt womöglich doch in den Genen. Schon seit dem Tod meines Vaters vor zweieinhalb Jahren beschäftige ich mich verstärkt mit meiner Herkunft. Er stammt aus Ostpreußen. Eigentlich kam die Frage nach meinem Interesse an der Teilnahme an einem DNA-Test genau richtig. Sollte man zumindest meinen. Da ich aber eine sehr distanzierte Haltung zu den sozialen Medien habe – soll heißen, ich poste mein Privatleben weder auf Facebook noch auf Instagram –, war ich den­noch skeptisch und dachte: ,Vielleicht steckt ja Trump oder die CIA da­hinter, eine verkappte übergriffige Aktion aus dem Oval Office? You never know...‘ Aber es arbeitete in mir und jetzt wollte ich es wissen! Eigentlich hat mich nur der baltische Teil gewundert – und dennoch hat sich etwas mit dem Ergebnis für mich verändert: Mein Interesse für die Hei­mat meines Dads hat sich verstärkt. Die habe ich noch nie bereist, was ich aber bald tun werde. Ich kenne viele Erzählungen, weiß, dass er dort glück­lich war als Kind bis zur Flucht vor den Russen. Diese Tatsache hat ihn sein gan­ zes Leben lang beschäftigt und unser Familienleben beeinflusst. Es gab Ost­preu­ßen-­Treffen, er hat als Rentner Geschichte studiert, ein Buch ge­ schrie­ben, es gibt detaillierte Berichte über die Flucht. Im aktuellen Kontext der internationalen Flüchtlingsdebatte habe ich ein anderes Verständnis dafür bekommen, was es heißt, sein Land, seine Habe, Menschen und Orte verlassen und verlieren zu müssen.“

NINA P.

FOTOS: PRIVAT

„Was prägt mich und hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin? Ist es meine Sozialisation, meine Familie, Freundschaft oder womöglich Datteln, meine Geburtsstadt, in der ich aufgewachsen bin? Wie viel Einfluss haben meine Wurzeln, die vielen vor mir gelebten Generationen, meine Ahnen, auf mein heutiges Ich? Da ich meinen Stammbaum nur grob bis zu meinen Urgroßeltern nachverfolgen kann und heute kein Kontakt mehr zur Familie väterlicherseits besteht, taucht die Frage nach meiner Herkunft in mir in regelmäßigen Abständen auf. Schon oft wurde ich darauf angesprochen, woher ich komme, und die Schät­zungen gingen von Frankreich über Polen bis nach Russland. Höchst interessant – denn mein genaues Ergebnis lautet wie folgt: 52,3 Prozent Nord- und Westeuropa (Deutschland, Frankreich, Niederlande), 43,9 Prozent sind osteuropäisch (Ukraine, Polen, Russland) und 3,8 Prozent sind Schottland und Irland zugeordnet. Meine Oma ist im Zweiten Weltkrieg mit ihrer Familie aus Schlesien nach Deutschland ge­flo­hen – mir sind meine ost­europäischen Wurzeln also bekannt. Aber mit einer so hohen Prozentzahl habe ich nicht gerechnet. Ich habe seit jeher eine Vorliebe für osteuro­ päische Kultur, sogar bei meiner Männerwahl. In der Berliner Karl-MarxAllee fühle ich mich zu Hause, obwohl ich dort nie gewohnt habe.

Wie viele Antworten ein DNA-Test bringen kann, ist fraglich; auch ohne diesen habe ich im tiefsten Inneren meine Zugehörigkeit gefühlt. Es ändert sich dadurch also nichts für mich. Dass ich Kontakt mit meinen DNA-Matches aufnehmen werde, beipsielsweise einen Neffen dritten Grades in der Ukraine treffe, steht für mich nicht zur Debatte. Da sind mir meine nicht genetischen DNA-Matches, meine Freunde, um ,Kettenlängen‘ lieber!“

ANNE S. „Die Frage nach der Herkunft eines Menschen empfinde ich als wichtig und äußerst interessant. Durch die Kenntnis des ethnischen und damit kulturellen und gesellschaftlichen Hintergrunds ist es möglich, einen Menschen in seinem Denken und Handeln besser zu verstehen. Die Identitätsfindung ist ein zentrales Begehren, ein Ur-Wunsch. Das beinhaltet nicht nur, wer man ist und wer man sein wird, sondern auch, woher man kommt. Für mich sind das alles entscheidende Parameter der Selbsterkenntnis. Mein Vater hatte diesen Test bereits gemacht, sodass mir die väterlichen Einflüsse bekannt waren, als ich an der Reihe war. Nun interessierten mich die restlichen 50 Prozent, nämlich die ethnischen Einflüsse meiner Mutter. Ihr Vater war Jude, kam ursprünglich aus Holland, lebte aber als Schauspieler schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, nach der Teilung dann in der damaligen DDR. Viel mehr habe ich über die Herkunft der Vorfahren meiner Mutter nicht gewusst. Enttäuschen können hätte mich nur ein Ergebnis: Wenn der Großteil meiner Vorfahren aus dem Teil der Erde gekommen wäre, der heute Deutschland ist. Dass ich also 66,7 Prozent nord- und westeuropäische DNA in mir trage, die sich dazu noch in französische, griechische und italienische Vorfahren unterteilt, ist mir neu. Für mich verdeutlicht das die Vielfalt der DNA. Mir reicht dieser grobe Überblick; die vielfältige Herkunft meiner Urväter ist wie bei den meisten Menschen somit bewiesen. Die immense Vielfalt macht, so empfinde ich es, uns alle doch zu universelleren Menschen, als wir erst einmal immer vermuten möchten. Vergessen darf man bei alledem nicht, dass die aller­ersten Menschen aus Afrika kamen. Wenn man dieses Wissen mit dem Wissen um seine eigene DNA-Vielfalt ergänzt, macht es einen ein Stück weit demütiger.“

Speziell bei so sensiblen Informationen wie der DNA sollte man das Kleingedruckte genauestens lesen, insbesondere da die Kit-Hersteller meist nicht in Deutschland sitzen und demnach anderen Datenschutzgesetzen unterliegen, als wir es in der EU gewohnt sind. 2018 gab es ein Datenleck, bei dem die Log-in-Daten von Millionen von Nutzern auf einem privaten Server landeten. Das rief DNA-Test-Kritiker auf den Plan. Mit Einsendung der Probe an MyHeritage (Sitz: Israel) akzeptiert man automatisch die Nutzung der Daten. Diese kann ­jedoch jederzeit schriftlich widerrufen werden. Wie verlässlich dieser Tausch Daten gegen (Familien-)Informationen ist und ob es einem das Risiko wert ist, bleibt am Ende jedem selbst überlassen. Man sollte aber wissen: Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, warum sich das vermeintliche Wissen über die eigene Ethnizität nicht mit den Ergebnissen deckt. Dazu gehören laut MyHeritage „biologische Beschränkungen für DNA-Tests wie die Tatsache, dass einige Populationen ähnliche DNA haben, weil sie sich in geo­grafischer Nähe befinden, oder Migrationsmuster, die zur Vermischung von zuvor isolierten Gen-Pools führten“. Damit lässt sich der Unglaube einiger BLONDE-­Teammitglieder erklären. DNA-Tests dieser Art sind noch recht neu und gleichen die wissenschaftlich äußerst komplexen Ergebnisse bisher nur mit ihren eigenen Datenbanken ab.

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Text Lois Opoku

Hey Bro, I See You

Fotos Maja Hidde

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portrait

Produktion Martyna Rieck


———— Geschwister können einander so nah und dann plötzlich doch so fern sein. Wir haben Lois Opoku und Benny Opoku-Arthur gebeten, eine der äl­tes­ten Beziehungen zu porträtieren – in Eigenregie.

Geschwister, die sind für dich da, wenn du Mist baust, sie stehen ein für dich oder helfen dir aus der Patsche. Sie machen sich über dich lustig und lachen dich schamlos aus, vor allem aber lachen sie mit dir. Egal wie weit man sich distanzieren mag, irgendwann findet man sich wieder. Man merkt plötzlich, dass die Entfernung nie wirklich da war. Und wenn doch, dann eigentlich nur ein Kinderzimmer weit. Als Kinder waren wir unzertrennlich, sind zusammen auf die Geburtstage der Freund*innen des anderen gegangen, haben in unserem Kinderzimmer gemeinsam Abenteuer erlebt. Ob wir im Wohnzimmer der heißen Lava entkamen, von der Couch in die Unterwasserwelt der Nixen tauchten, unter ei­ner Decke die entführte Prinzessin aus einer Burg befreiten – alles taten wir zu zweit. Ich designte Kleider für meine Puppen, er schneiderte sie mir aus Tuch- und Stofffetzen. Schon damals habe ich ihn für seine Intelligenz und kreativen Ansätze bewundert. Auch den ­aufregenden Schul- und Heimweg in unserer Spielwiese Berlin meisterten wir zu zweit, schauten Filme, la­sen zusammen Bücher oder übten Texte für Bennys erste Theaterauftritte ein. Wenn wir gestritten haben, dann laut und mit den dicksten Krokodils­ tränen. Oftmals wurde auch das Geschwistersein gekündigt, wobei meiner Mutter schon klar war, dass wir es nie länger als fünf Minuten, maximal zehn aushalten würden, während mein Vater sich fragte, wie wir so friedlich miteinander spielen konnten, als wäre nichts geschehen, obwohl wir Augenblicke zuvor am liebsten die gesamte Bude abfackeln wollten. Ich bin 25 Jahre und Benny 21 Jahre alt, uns trennen also vier Jahre. Nicht viel, aber eben auch nicht wenig. Mit meiner Pubertät trennten sich nicht nur unsere Schulwege, wir entfernten uns auch sonst voneinander. Ich will ungern mit Klischees kommen wie „So ist das eben, wenn man älter wird“, aber so war es. Mädchenkram und meine erste Liebe besprach ich lieber mit meinen Freundinnen. Und wurde neugierig, wer ich außerhalb meiner Familie war, wer ich war, wenn nicht die große Schwester von Benny? Statt zu spielen, bis die Müdigkeit uns in den Schlaf zwang, ging ich lieber mit meiner Girls-Clique in die Stadt. „Du kannst Freunde haben, aber vergiss niemals deinen Bruder. Wenn wir mal nicht mehr sind, werdet ihr beide euch immer noch haben“, sagte ­mei­ne Mutter während meines Freiheitsdrangs. Dramatisch, aber über­zeu­ gend. Statt Widerworte gab es höchstens einen genervten Seufzer. Aber

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Mama hat recht – hat Mama nicht immer recht? Unsere Eltern sind 1992 nach ihrem Zahnmedizin- und Ingenieursstudium in Russland, wo sie sich wie vom Schicksal bestimmt nach ihrer Erst­begegnung in Ghana wiedertrafen, nach Deutschland gekommen. Hier in Berlin haben Benny und ich nur uns. Der Rest unserer Familie ist in Ghana. Schneller als ich mich versah, wurde auch Benny zum Teenager. Auch er durchlief den Weg der Selbstfindung auf der Suche nach dem Ich außerhalb der Familie – außerhalb von mir. Neben seinem immer wichtiger wer­denden Freundeskreis fühlte es sich so an, als wäre nun kaum noch Platz für mich. Ich hatte zu der Zeit nämlich genug vom Erkunden und sehnte mich nach meinem kleinen Bruder. Er war es nun, der durch die Stadt zog, mich aber nicht mitnahm. Welch zeitverschobene Symmetrie der ­Entfernung! Unsere Distanz hielt bis vor ein paar Jahren an. Heute sind wir wieder un­ zertrennlich. Ohne ein Gespräch oder einen besonderen Anlass fingen wir eines Tages wieder an, mehr miteinander zu unternehmen. Wir erkannten un­se­re Verbindung in der Mode und Kunst. Kreativ waren wir ja als Kinder schon. Unsere modischen Spielereien aus der Kindheit wurden mit uns erwachsen. Ich studiere heute Wirtschaftsinformatik und bin Bloggerin

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portrait

(„L is for Lois“) und er hilft mir mit meinen Fotos. Er ist Schauspieler. So beglei­ten wir uns gegenseitig auf Events wie früher zu den Geburtstagen von Freun­d*­­innen. Wenn wir heute durch Berlin streifen, dann fühlt es sich wieder an wie in den frühen 2000ern, damals nach der Schule. Ich schätze sein Auge genau so wie früher. Bennys Worte tragen Gewicht, weil ich weiß, dass sie immer ehrlich sind. Während andere sich ein letztes Mal im Spiegel beäugen, bevor sie das Haus verlassen, unterziehe ich mich dem Benny-Opoku-Arthur-Check. Aber auch bei neuen Ideen zur Umsetzung eines neuen Blog-Projekts frage ich ihn um Rat. Und auch Benny hat seinen eigenen Weg gefunden. Bei seiner ersten Filmpremiere („Get Lucky“) kam ich aus dem Staunen kaum mehr heraus. Ich glaube, dass jede gesunde Geschwisterbeziehung Freiraum benötigt. Einfach sein zu können, ohne Verurteilung. Ob wir uns heute noch streiten? Definitiv. Wahrscheinlich mehr, als mir lieb ist. Worte fliegen wie Fetzen durch die Gegend, gefolgt von einem Austritt aus der Whats­App-Gruppe, damit ja klar wird, dass der Bogen überspannt wurde. Aber auch heute ist nach Minuten alles wieder gut und es gibt einen Like bei Instagram. Die Kommunikation hat sich verändert. Wir uns aber kaum.


„Was für Musik gerade cool ist, welche Sneaker angesagt sind, welche Serien und Filme man unbedingt sehen muss, all das hat mir meine Schwester gezeigt. Und wenn Lois und ihre beste Freundin ,Hanni & Nanni‘ gespielt haben, wurde eben ein kleiner Bruder hinzuerfunden.“ BENNY OPOKU-ARTHUR

„Benny wird immer eine große Schwester in mir haben, die zu ihm steht und ihm den Rücken stärkt oder ihn unterstützt, wenn er es braucht – egal wie oft er mich noch wegstoßen wird und egal wie oft ich es tun werde.“ LOIS OPOKU

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Luft & Ressort S . 0 8 2 ———— S . 11 3 S. 084 ———— S. 087 WILLST DU NOCH MIT HOCH, MEINE BROMELIE SEHEN? Wir klären ein für alle Mal, warum Millennials so besessen von Zimmerpflanzen sind S. 088 ———— S. 090 PORTRAIT: ALICE HERBST

S. 092 ———— S. 095 QUE(E)RFINANZIERT Ausbeute: Queerbaiting macht das Leben der LGBTQ+ Community zum Verkaufsargument S. 096 ———— S. 099 WENN WÖRTER WEHTUN

S. 100 ———— S. 101 GEHÖRT ZUM GUTEN TON

J U L I A

Musikerin Joy Crookes lehrt ihre Oma Stolz – und ist selbst eine alte Seele im jungen Körper

F /

Die fehlende Sichtbarkeit der Sinti und Roma zeigt, warum Sprache und Rassismus untrennbar sind

S. 102 ———— S. 107 TECHNO IN TIFLIS Zwischen Bass und Beton lernen wir den Charme von Georgiens Hauptstadt kennen S. 108 ———— S. 109 FUNKLOCH Ein Kommunikationsversuch mit dem toten Vater S. 110 ———— S. 113 LESEPROBE: „LVSTPRINZIP“ Ein Auszug aus den Memoiren von Sex-Bloggerin Theresa Lachner

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K Ü C H L E R

Das ehemalige Topmodel über ihre Dysmorphophobie und Awareness-Kunst

Liebe



Text Martyna Rieck

Am liebsten werden Bromelien mit kalkarmem Regenwasser besprüht oder begossen

Willst du noch mit hoch, meine Bromelie sehen? Fotos Marina Rosa Weigl

Warum sind Millennials so obsessed mit Zimmerpflanzen? Um das und die zahlreichen Gründe für den Kauf der hippen Gewächse zu verstehen, ihre Schönheit aus neuen Blickwinkeln zu bestaunen, hat BLONDE die Bromelie neu inszeniert. 84

essay

In allen Ecken der Bromelie soll Liebe drin stecken



DJ Freedem hat den grünen Instagram-Daumen. In kurzen Videos verrät der Amerikaner seinen 40 k Followern via Instagram regelmäßig, welche Pflanze am besten zu welchem Persönlichkeitstyp passt, und verliest den opti­malen Pflegehabitus. Für ihn bedeuten Pflanzen Leben. „Ich habe so viele Menschen innerhalb kürzester Zeit verloren, dass ich eine Ecke meines Wohn­raums für etwas Lebendiges reservieren wollte.“ Leuchtet ein, oder? Millennials, die Problemlöser, und Pflanzen als ihre grünen ­Seelsorger. Eine Bromelie hat der Amerikaner noch nicht in einem seiner Videos ge­ featured. Dabei gehört diese unter anderem wegen ihrer Farbenvielfalt und ihres eigentlich perfekt zur FOMO-geschuldeten Spontaneität ihrer Pfleger passenden Wässerungsrhythmus zu den beliebtesten Zimmerpflanzen überhaupt. Und ja, wir haben sie fotografieren lassen. Typisch Millen­ ni­als? Na und?

Die Liebesbeziehung zwischen uns Menschen und Pflanzen blüht gerade wieder so richtig auf und das vor allem wegen der oftmals kritisierten Generation der Millennials. Auch wenn ihnen nachgesagt wird, eine Vielzahl anderer Traditionen sterben zu lassen, sind es tatsächlich die zwischen 20- und 37-Jährigen, die maßgeblich am Rekordumsatz von Zimmer­ pflan­zen des ver­gangenen Jahres beteiligt waren. Ihr Streben nach einem nachhaltigen Life­­style be­steht in der Realität häufig doch nur aus Terminen, spontanen Urlauben und konstantem High-Speed-Internet und scheint damit eine Art Dünger für Monsteras zu sein. Um die tiefe Verbindung von Millennials mit ihren Pflanzen zu erahnen, muss man nicht weit blicken. Da reicht die kunterbunte Welt von Instagram. Um diese neu entflammte und untypische Faszination wirklich zu verstehen, bedarf es wohl eines abgeschlossenen Psychologie-Studiums. Denn für viele sind Pflanzen ein dankbares Sammelbecken für die eigenen Tränen, ein Stückchen Natur in Zeiten des Artensterbens, gesunde Luft in Zeiten von Smog, Gemeinschaft in einsamen Stunden, something to care for, even though you cant’t care for yourself.

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Rote Pflanzen gehören demnach in die Küche, weil sie die Lust am Kochen stimulieren sollen und Millennials davon abhalten, ständig den Lieferservice zu rufen. Eine Bromelie gehört nicht einfach nur zur Einrichtung, nein sie ist das Herzstück, transportiert Bedeutung und formt zugleich die Persönlichkeit des Haltenden. Mit einer lilafarbenen Art im Schlafzimmer wird eventuell sogar etwas gegen den generationstypischen Mangel an Nachwuchs getan. Denn bei Lila trifft Rot auf Blau, Weibliches auf Männliches. Stellt man beispielsweise die Zierananas ins Schlafzimmer, gibt diese über Nacht Sauerstoff ab und soll so Schnarchen entgegenwirken. Win-win! Merke: Pflanzen sind so viel mehr als Dekoration. Sie sind Lebenshilfe für uns Menschen. Am Ende ist es doch aber so: Zimmerpflanzen sind so vielfältig wie ihre Halter, gleichzeitig individuelle Ausdrucksform sowie unparteiisch. Ein grü­ ner Daumen und fundiertes Wissen über die richtige Pflege gelten ­heut­zutage als anerkannte Soft-Skills und als Zeichen dafür, dass das mit dem Erwachsenwerden doch irgendwie geklappt hat. Wer hätte jemals gedacht, dass ausgerechnet die Millennials als die Generation in die Geschichte eingehen, die die Zimmerpflanze vor dem Aussterben bewahren? Oder anders gefragt: Gewinnen diese Pflanzen gerade den Kampf gegen ihren einzigen natürlichen Feind, den „Oh, schon wieder vergessen zu gießen“-Menschen? Lässt sich darin vielleicht sogar sinnbildlich ein Sieg des Lebens über die digitalisierte Moderne ablesen?

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Wegen ihrer schönen Blüten gelten Vrieseen als besonders aufregend. Ein Attribut, das sie mit Wunderkerzen teilen

Die immergrünen Stauden, die ihren Ursprung in Südamerika haben, bestechen mit unterschiedlichen, farbenfrohen Formen und stellen so manchen Interessenten beim Shoppen vor existenzielle Fragen: „Bist du eher Typ Blütentrompeten, Löffel, Federn oder Becher? Kaufe ich eine Guzmania, Zierananas, Vriesea, Tillandsia oder Aechmea?“ Geschmackssache, denn reine Luft zaubern die Augenweiden alle. Was die Zierananas so insta­gramable macht, ist, dass in ihrem Herzen eine minikleine Ananas haust. Guzmanien hingegen verschenkt man traditionell zum Bestehen des Führerscheins (wenn Millennials denn noch einen machen...), und wer seine Wohnung der Farbenlehre nach einrichten will, kann auch dies per Bro­melie lösen. So viele Wege, sein Inneres mithilfe eines anderen Lebewesens auszudrücken. Uh, da wird auch gleich Gen Z h ­ ellhörig.


Einige Bromelienarten können selbst auf sehr armen Böden wachsen, denn sie beziehen ihre Nährstoffe nicht nur aus dem Boden, sondern auch aus der Luft


Alice Herbst

Stundenlang betrachtete sie ihr Spiegelbild, um irgendwann zu lieben, was sie da sah. Es half nichts. Alice war gezeichnet von ihrer Wahrnehmungsstörung, bis sie anfing (ihre Geschichte neu) zu malen. ———— ————

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portrait


Text Edith Lรถhle

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Für das #womencollective des dänischen Labels Object modelt Alice Herbst nach sieben Jahren wieder – diesmal nicht als Rolle, sondern als die Künstlerin, die sie ist

Aber andere sahen nicht, was sie sah. Denn die Welt um sie herum nahm ein junges Mädchen mit Model-Potenzial wahr. Sie wurde angesprochen von Agenten, schließlich gewann sie 2012 die fünfte Staffel besagter TVShow. „Ich habe dadurch gelernt, mit vielen unerwarteten und stressigen Situationen umzugehen, unabhängig und stark zu sein. Ein paar Monate nach der Show in Los Angeles musste ich mich ein paar harten Lektionen stellen. Aber die kann ich heute für mich nutzen“, sagt sie und meint damit, dass auch sie eine Anekdote zur Me-too-Diskussion beisteuern kann. Nach einer inakzeptablen Erfahrung mit einem Fotografen zieht sie zurück zu ihren Eltern nach Schweden – und beschließt, mit dem Modeln Schluss zu machen. „Ich würde heute nicht mehr bei der Show teilnehmen, denn ich verfolge keine Model-Karriere mehr. Aber ich bin auch dankbar: Ich habe durch den Sieg ein Auto gewonnen. Das habe ich direkt verkauft und so hatte ich die Möglichkeit, mich bei einer teuren Kunstschule zu bewerben.“

Dysmorphophobie. Was für ein Wort. Gar so unaussprechlich wie unglaublich. Denn ausgerechnet die Frau, die „Schwedens Next Topmodel“ gewann und augenscheinlich das ist, was wohl kollektiv als klassisch schön beschrieben wird, konnte dem Blick auf sich selbst nicht trauen. Vor zehn Jahren litt Alice Herbst an einer Wahrnehmungsstörung – Achtung, jetzt kommt der Zungenbrecher wieder. Der Begriff „Dysmorphophobie“ setzt sich zusammen aus den altgriechischen Worten „dys“ (= schlecht), „morphé“ (= Gestalt) und „phobos (= Angst), übersetzt also etwa: „die Angst, von schlechter Gestalt zu sein“. Etwas häufiger fällt der englische Ausdruck „Body Dysmorphic Disorder“ (kurz BDD). Zu den zwei bis drei Prozent der Bevölkerung, die an BDD erkrankt sind, gehörte auch Alice. Die Schwedin hatte die obsessive Vorstellung, hässlich zu sein. „Ich war krank und mein Schönheitsideal stützte sich auf den Geschmack der Jungs meiner Schule. Ich habe mir Kurven gewünscht, wollte nicht so groß sein und ein runderes und ,süßeres‘ Gesicht“, sagt die heute 26-Jährige. Ein Leben mit BDD ist ein Leben voller Rituale der Scham. Alice gewöhnte sich zum Beispiel an, so zu sprechen, dass man ihre Zähne nicht wirklich sehen konnte. „Und ich wollte nicht, dass jemand meine linke Seite sah. Anstatt Spiegel zu meiden, saß ich stundenlang davor – in der Hoffnung, mich mit meinem Aussehen zurechtzufinden.“ Was Alice in unserem Interview beschreibt, ist mehr als die Unsicherheit mit sich selbst und mit ihrem Körper als Teenager. Sie setzte sich morgens vor der Schule Clip-in-Extensions in die Haare und schleppte eine schwere Make-up-Tasche mit sich, um sich in jeder Pause schminken zu können. So hoffte sie, dass andere nicht sähen, was sie sah.

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portrait

Ein neues Kapitel, in dem sie ihren Bezug zu Schönheit und sich selbst anders illustriert als zuvor. „Ich sehe heute jemanden im Spiegel, auf den ich stolz sein kann. Für viele Jahre habe ich nicht gut über mich gedacht. Also, jetzt erlaube ich mir, mich schön und talentiert zu fühlen.“ Alice malt Frauen mit ihren vielen Facetten – sie verbinde, so sagt Alice, der Prozess der Selbst­akzeptanz. „Ich bin einfach sehr daran interessiert, die Geschichten von Charakterköpfen zu erzählen. Aber sie sind in verschiedenen Bereichen gefangen: Einige von ihnen sind mitten in einem Leben, von dem sie nur denken, dass sie es wollen, und andere lernen gerade, sich vom Unerwünschten zu verabschieden.“ Am schwersten fiel es ihr bisher, sich selbst zu malen. Sie kaufte sich Perücken und startete eine Reihe von Selbstporträts mit dem Namen „Identität“. Es war ihre Auseinandersetzung mit dem Ich: „Diese Gemälde sind alle ein Spiel mit dem, was ich wäre, wenn ich mich weiter an mein Umfeld angepasst hätte und wenn ich heute noch mit Body Dysmorphic Disorder zu kämpfen hätte.“ Da musste erst ein Teil in Alice heilen, um das Geschäft mit der Schönheit nicht komplett zu verteufeln. Sieben Jahre lang sagte sie alle Model-Jobs ab und näherte sich dem Thema lieber vor weißen Leinwänden. „Ich dachte mir, dass ich erst wieder modeln werde, wenn ich die Möglichkeit habe, komplett ich zu sein in einer Kampagne“, erklärt sie. Als die dänische Brand Object Alice in ihr #womencollective aufnehmen will und Alice aufgrund ihrer Geschichte und ihrer Kunst – eben nicht nur wegen ihres schönen Gesichts – als Markenbotschafterin porträtieren möch­te, sagt sie Ja. Und nutzt diese Plattform wieder, um über Selbstannahme zu sprechen. „Da ich sehr offen mit meiner eigenen Geschichte umgehe, habe ich die Hoffnung, betroffenen Menschen zu helfen. Es handelt sich um eine sehr weit verbreitete Krankheit und ich glaube, dass die Mehrheit der Betroffenen nicht erfasst wird.“ Und so ist Alice in Wirklichkeit viel mehr Markenbotschafterin für ein gesundes Selbstbild. Und das sollten wir alle beginnen zu malen.


DIG PRODIGI ITAL ES OUT NOWISSUE

FASHION BEAUTY

LISA & LENA BILLIE EILISH

NYLONMAG.DE

WILLOW SMITH

RICO NASTY

MADELAINE PETSCH

STEFANIE GIESINGER

POP CULTURE

KIM PETRAS


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feature


Que(e)rfinanziert

Text Robin Micha

Ist die ernst gemeinte, wohldurchdachte Repräsentation der LGBTQ+ Community denn wirklich so schwer? Offensichtlich ja, denn von TV-Shows bis Werbekampagnen ist aus queerem Leben ein Verkaufsargument geworden. Willkommen im Zeitalter des ­Queerbaiting. ———— ————

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Fan­dom: Teasing Fans through Homoerotic Possibilities“. Seit Madonna und Britney ist Queerbaiting in der Entertainmentwelt aber keineswegs zurückgegangen.

Szenen wie der Kuss von Madonna und Britney bei den VMAs suggerieren queere Identitäten, die zum Regenbogenwölkchen verpuffen. ————

Es reicht. Denke ich, als sie vor mir steht, die Frau mit dem Regenbogenturnbeutel. Hamburger Christopher Street Day 2019, ich stehe auf der Mönckebergstraße und der Turn­ beutel vor mir ist das tausendste Stück Merchandise zur ­Pride in diesem Sommer. Gefühlt jedenfalls. Heute ist der Absender ein Verkehrsunternehmen. Das kann ich gerade noch ver­­kraf­ten, aber nicht, was in jenem Turnbeutel steckt. Aus dem zugezogenen Verschluss ragt ein Pride-Fähnchen in Re­gen­bogenstreifen, wie sie seit Jahrzehnten zumeist als stolzes Sym­bol und Erkennungszeichen für viele Mitglieder der LGBTQ+ Community gelten. Es ist genau die Art Flagge, mit der gerade Tausende Menschen um mich frenetisch wedeln. Auf dem kleinen Stück Papierregenbogen vor mir aber steht etwas geschrieben. Es ist keine motivierende Message, kein Schlach­truf für den Kampf um Gleichberechtigung. Auf dem Fähnchen prangt allen Ernstes das Logo von Tupper­ ware. Auch Tupperware macht jetzt also Pride. Ich jongliere kurz den Gedanken im Kopf, wie es ist, mich als Mitglied der LGBTQ+ Community nun auch tatsächlich von einer Firma für Haushaltsgeräte und Butterbrotboxen repräsentiert zu wissen. An dieser Stelle, so denke ich, möchte ich mich erbrechen. Und dann schreibe ich stattdessen diesen Text über Queerbaiting, die Ausbeutung queeren Lebens für den Profit anderer. „Queerbaiting ist eine Strategie, mit der Künstler, Autoren, oder Regisseure bewusst versuchen, ein LGBTQ+-Publikum zu gewinnen, indem sie Charaktere, Beziehungen oder öf­fent­ liche Auftritte präsentieren, die als ,queer‘ interpretiert werden können – ohne das aber je explizit machen zu wollen”, beschreibt Dr. Hannah Mueller, Assistenz-Professorin an der Bowling Green State University in Ohio/USA, den Be­griff im BLONDE-Interview. Kurz: Queerbaiting ist das falsche Versprechen queerer Storylines und Narrative, so wie gekreuzte Finger hinterm Rücken. „Bait” heißt übersetzt übrigens „Köder“. Und der kommt in diesem Fall in Regen­bogen­farben. Köder, Falle, Lüge: falsche Versprechen von Sherlock Holmes bis Taylor Swift

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feature

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Hierzulande ist der Begriff „Queerbaiting” noch nicht allzu verbraucht. Er zirkuliert in sozialen Netzwerken dennoch als Buzzword – und als schneller Urteilsspruch über Medien und Firmen, die eben genau jenes betreiben. In der Popkultur wird mitunter am häufigsten vorgegaukelt. Man nehme zum Beispiel den inszenierten Kuss von Madonna und Britney Spears bei den VMAs 2003 oder das russische Pop-Duo t.A.t.U. und ihr vermeintliches Lesben-Narrativ. Szenen wie diese suggerieren queere Identitäten, die im Endeffekt zum Regenbogenwölkchen verpuffen. „Aus medienwissenschaft­ licher Perspektive ist das Teil einer langen Geschichte, in der die Medienindustrie queere Audiences wahrnimmt und versucht, aus ihnen Kapital zu schlagen – man nennt das häufig auch den ,pinken Dollar‘”, sagt Dr. Joseph Brennan, Wissenschaftler und Herausgeber des Buchs „Queerbaiting and

Da wären etwa Boybands, deren Mitglieder mit Gerüchten um band­interne Liebschaften erst kokettieren, um sie dann ge­gen­über Fans abzuschmettern. Dr. Hannah Mueller hat Queer­­baiting in Serien untersucht, ein prominentes Beispiel ist die Hype-Serie „Sherlock”, die für ihre angeteaserte Beziehung zwischen den Hauptfiguren fast bekannter zu sein scheint als für ihre tatsächliche Storyline. Als deutsches Beispiel nennt Mueller die Produktion „Dogs of Berlin”, die zwar einen schwulen, deutsch-türkischen Kommissar als Figur hat, ihm aber längst nicht so viele Sexszenen einräumt (er küsst seinen Partner geradezu selten) wie seinem heterosexuellen Co-Cop. Und dann wäre da in jüngster Ver­gan­ gen­heit noch Pop-Superstar Taylor Swift, die sich für ein vor Pride-­Symbolik triefendes Musikvideo ihre Haare in den Farben der Bisexuellen-Flagge färbt – und damit Fan-Sphä­ren auf Twitter zu ernsthaften Speku­la­tionen verleitet. Ähnliche Urteile gelten für viele andere Beispiele wie die kon­troverse Calvin-Klein-Kampagne um Model Bella Hadid und die vir­ tuelle Influencerin Lil’ Miquela, die sich in einem Kam­ pagnenvideo küssen. Keine von ihnen ist offen lesbisch oder bisexuell – queer ist hier niemand. In einer öffentlichen Stel­ lung­nahme erklärte Calvin Klein dazu, man könne verstehen, wie die Präsenta­tion einer sich als heterosexuell iden­ti­ fi­zierenden Person in einem gleichgeschlechtlichen Kuss als Queer­ baiting interpretiert werden könnte. Man habe die Com­ munity nicht miss­ repräsentieren wollen, sondern die Kam­pagne sei lediglich dazu gedacht, „konventionelle Normen zu überschreiten und Stereotype in der Werbung zu überkommen”. Aber zurück zum Beispiel der Tupperwaren-Flagge und des Turnbeutels. Besonders 2019 scheinen äußerliche Pride-Ini­ tia­tiven ihren Gipfel erreicht zu haben: In britischen Medien ist ein beliebtes (Anti-)Beispiel das von der Supermarktkette Marks & Spencer präsentierte „LGBT-Sandwich“. Und wirklich ist es bei einer Flut von Pride-Kollektionen mittlerweile noch maximal der lokale Käsehandel, der keine Regen­bo­ gen­­flagge gehisst hat. Der Käseladen oder eben ein Hersteller für Haushaltswaren. Wie Tupperware. Von Loyalität und queerem Hype Grundsätzlich ist am Community-Support seitens großer Firmen erst einmal nichts auszusetzen – solange denn die vermeintlich unterstützte Gruppe auch nachweislich davon profitiert. Geschehen aber hinter den Kulissen der Firma keine Taten, die von der wahren Unterstützung (und Anstellung!) queerer Personen zeugen, bleibt der Support ein reines Lippenbekenntnis. Das ist ein bisschen so, als wenn man ein Haus neu anstreicht, die Inneneinrichtung jedoch dieselbe bleibt.


Grundsätzlich ist am Community-Support seitens großer Firmen nichts auszusetzen – solange die vermeintlich unterstützte Gruppe auch davon profitiert. ————

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Und dennoch: Wenn auch immer zu hinterfragen gilt, wie „Pride“ zum „Trendbegriff” werden konnte und warum viele Marken nicht schon lange auf Events wie dem CSD präsent sind, schaffen kontroverse Initiativen zumindest eines: Sicht­ bar­keit. Dieser Vorsatz unterscheidet für Dr. Mueller auch die simple queere Konnotation in Medien von tatsäch­li­­cher Ausbeutung der Community: „[Es ist] ganz klar, dass es natürlich nicht immer gefahrenfrei möglich war, queere Charaktere oder Beziehungen zu zeigen oder sich als Künstler zu outen. [...] Das gilt auch für Kulturen, in denen Homo­se­xua­ lität immer noch völlig tabu oder illegal ist.“ Für Dr. Jo­seph Brennan zielt der Begriff „Queerbaiting“ gerade deswegen auch fest auf den aktuellen Zeitgeist ab. „,Queerbaiting‘ entstand in seiner heutigen Verwendung durch Fans um 2010 und wurde von dem Glauben getrieben, dass wir endlich in einer Zeit leben, in der queere Repräsentation mög­lich ist – aber nach wie vor verwehrt wird. Oder, noch schlimmer: an­gedeutet, ermutigt, aber niemals realisiert.“

Jahrzehnte-, wenn nicht jahrhundertelang haben queere Menschen keine Loyalität erfahren. Wir haben heteronormative Inhalte konsumiert, ohne davon direkt „abgestoßen” zu werden oder – schon allein aus Mangel an Alternativen – das Interesse zu verlieren. Wieso also sollte es nicht auch im Umkehrschluss funktionieren? Von Studiobossen bis Künst­ lern will trotzdem um jeden Preis das Interesse einer treuen, konservativen Followerschaft gehalten werden – eine allumfassende Zielgruppe bedeutet schließlich auch den allum­ fassenden, maximalen Profit, egal ob für Taylor Swift oder Calvin Klein. Kurz: Bei Queerbaiting geht’s um Kohle und mit einer „rein queeren” Zielgruppe ohne konservatives Back-up füllen sich die Kassen nicht genug. Scheinbar. Es gibt auch Antithesen: Laut der US-amerikanischen NonProfit-Organisation GLAAD, die sich für eine faire, korrekte und inklusive Darstellung von LGBTQ+-Menschen in Mas­sen­ medien einsetzt, können queere Charaktere für ein sich immer diverser identifizierendes Publikum sogar wahre Mag­ nete sein, die sich auf den Erfolg eines Medienprodukts aus­wir­ken. Sich beziehend auf eine Studie des Analyseunternehmens Nielsen, berichtet die GLAAD davon, dass queere Zielgruppen mit höherer Wahrscheinlichkeit einen Social Me­ dia Hype generieren und ein Thema per Mundpropaganda verbreiten würden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie einen Film ein zweites Mal sähen, ist außerdem um 22 Prozent höher als bei ihren heterosexuellen Mitmenschen. 49 Prozent queerer Audiences gaben zusätzlich an, noch am gleichen Tag über einen Film zu posten oder darüber in Nachrichten zu diskutieren, im Vergleich zu nur 34 Prozent einer hetero­sexuellen Zielgruppe. „Wir sollten Queerbaiting auch als Aktivismus und Movement feiern, das Schluss macht mit dem Mangel an bedeutsamer queerer Mediensichtbarkeit”, hebt Dr. Joseph Brennan hervor. Also nun, wenn’s denn sein muss, dann eben auch die Inhalte auf queere Audiences ausrichten – so scheint häufig der firmeninterne Gedanke.

Rassistisch, misogyn, to be continued: die Schubladen des Queerbaiting Folgt man diesem Gedanken, scheint es auch wenig über­ raschend, dass wahres Queerbaiting vermutlich erst am Anfang seines möglichen Ausmaßes steht. Zu oft geht es bei der Dis­ kus­ sion bisher um Storylines, die sich um zwei weiße Män­ner dre­hen. Frauen – seien es weibliche Serienfiguren oder Real-­Life-Partnerinnen von Künstlern – werden im Vergleich mit der idyllischen, loyal-platonischen „Bro-­Beziehung” unter Män­nern als Störenfriede oder Verführerinnen dargestellt, wie Dr. Mueller beschreibt. Kommt es noch schlimmer, sind ihre Figuren oft nur dazu da, die tatsächliche Hete­ro­se­ xualität eines Mannes zu belegen. Gleiches gilt für „queergebaitete“ Storys, bei denen auch schon mal Rassismus im Spiel sein kann. Hannah Mueller nennt als Beispiel Winnetou und Old Shatterhand oder Ishmael und Queequeg in Moby Dick – der „zivilisierte Mann” und der „edle Wilde”: „Diese Geschichten [stellen] meistens den Fremden als den ,weiblichen‘, das heißt letztlich ,unterlegenen‘ Partner [dar], der vom weißen Mann quasi gezähmt wird.” Dass das Thema Queerbaiting wissenschaftlich derart analysiert wird und so viele Facetten aufweist, haben Studiobosse oder Firmenchefs sicher nicht im Kopf. Wenige Wochen nach meinem Turnbeutel-Erlebnis sehe ich die Tupperware-Fähnchen wieder. Meine beste Freundin entdeckt sie auf dem CSD in Bremen, dort werden sie ebenso ekstatisch gewedelt wie noch Wochen zuvor in Hamburg. Bei der Recherche für diesen Text sehe ich mir die Fahne noch einmal genauer an. Unter dem Tupperware-Logo steht eine Internetadresse – und es ist nicht die Website der Plastikbox-Firma. Es ist die Website eines freien Partymanagers von Tupperware, der – selbst pansexuell – 25.000 Fähnchen in Eigenregie entworfen hat, drucken ließ und auf den CSDs in Norddeutschland und Köln verteilte. Er wolle damit soziales Engagement und Marketing unter einen Hut bringen und junge Menschen vor Erklärungsnot und Mobbing bewahren, steht dort. Schön und gut, denke ich, eine motivierte Aktion. Dann werde ich ein letztes Mal überrascht. Die Firma Tupperware selbst habe absolut nichts mit der Aktion zu tun, steht ebenfalls auf der Website. Und dann: „Das Logo der Firma Tupperware ist quasi nur der Eyecatcher. Es ist immer besser, eine große Firma hinter sich stehen zu haben.“ Und zuletzt frage ich mich dann, ob sich Queerbaiting, das falsche Versprechen, die Ausbeutung und Kapitalisierung auf Kosten queerer Menschen, auch umdrehen kann. Eine eigene, der Kapitalisierung entgegenwirkende Macht. Eine Pride-Initiative – aus den eigenen Reihen.

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Sinti & Roma Sinti & Roma Sinti & Roma Sinti & Roma Sinti & Roma

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Sinti & Roma Sinti & Roma Sinti & Roma Sinti & Roma Sinti & Roma Z wie „zweifelsfrei diskriminerend“. Wenn Wörter wehtun, müssen wir neue finden: Warum Sprache und Rassismus untrennbar sind und warum die fehlende Sichtbarkeit von Sinti und Roma nicht zu übersehen ist.

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Text Carina Parke

Bei so manchen Speisekarten kann uns in deutschen Restaurants wirklich der Appetit vergehen. Denn dort steht es schwarz auf weiß: ein Wort, das mit Z anfängt und dessen Gebrauch künftig hoffentlich aufhört. Das sollte von nun an der Anspruch sein. Es geht um den Namen eines Schnitzels samt Tomatensoße, Paprika und Zwiebel – mit schlimmem Beigeschmack. Die Bezeichnung des Gerichts ist schließlich auf vielen Ebenen problematisch. Es ist kein großes Rätsel, von welchem Begriff die Rede ist. Er ist eine ab­ wer­tende Fremdbezeichnung, mit der Sinti und Roma (Gender-Schreib­ weise: Sinti*zzi und Rom*nja) ausgegrenzt werden. Trotzdem hat sich das Wort auch fernab der Lebensmittelindustrie im deutschen Sprachgebrauch eingenistet. Fehlendes Bewusstsein, fehlendes Wissen? Lange wurde kein Ge­­danke daran verschwendet, dass mit dem Begriff etwas nicht stimmen könn­te. Bis das Forum für Sinti und Roma mit Sitz in Hannover die Debatte ent­fachte: Man forderte Lebensmittelkonzerne öffentlich dazu auf, den Na­ men zu verbannen. Diverse Medien berichteten, bezeichneten das Gan­ze unter anderem als „bizarren Streit“, wiederholten den umstrittenen Begriff vehement. „Heutzutage darf man ja gar nichts mehr sagen“, lautete der gefährliche Grundton mancher Leser*innen. Unverständnis auf der einen Seite, auf der anderen wahrscheinlich Ent­täuschung darüber, mit dem eigenen Anliegen nicht ernst genommen zu werden. HABEN WIR IN SACHEN EMPATHIE DEN ABSPRUNG VERPASST? Müssen wir wieder Empathie lernen? Tut es weh, einen Namen nicht mehr zu nutzen, weil er schmerzhaft für andere ist? Was würden wir dabei schon verlieren? Nur ein Wort? Es sind komplexe Fragen, die wir uns selbst stellen, und vielleicht kommen wir zu unterschiedlichen Schlüssen. Aber in einem Punkt sollten wir uns einig sein: Ein reflektierter Sprachgebrauch ist wegweisend. Für manche handelt es sich hierbei vielleicht nur um ein Wort, doch es ist historisch belastet.

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Was es damit auf sich hat, erklärt uns Roxanna-Lorraine Witt. Ihre Großmutter und deren Familie sind Sinti*zzi und dem Holocaust entkommen, sie selbst ist Leiterin des Referats Bildung beim Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma. Der besagte Begriff sei ein „Konstrukt, das einst von privilegierten Menschen geschaffen wurde, um eine ganze Gruppe von heterogenen Menschen und Kulturen als Untermenschen zu de­klarieren, ihnen auf dieser Grundlage Freiheit, Rechte und den Zugang zu Ressourcen zu verwehren und letztendlich ihre Ausrottung zu legi­ti­mie­ ren“, bringt es Witt gegenüber BLONDE auf den Punkt. „Menschen, die diesen Be­griff weiter nutzen, sollten sich im Klaren sein, dass durch ihren Sprach­ge­brauch diese Mechanismen – ob sie es wollen oder nicht – er­hal­ ten bleiben. Dass die Emanzipation von Sinti und Roma dadurch unterdrückt wird und dass es ganz konkrete Auswirkungen auf die Lebensrealitäten jedes und jeder Angehörigen der Minderheit hat, weil sie ihnen den Zugang zu Möglichkeiten, Chancen, ja, zu einem selbstbestimm­ten, freien Leben verwehren. Denn die mit dem Begriff immer noch weitläufig ver­bun­ de­nen Stereotype und Vorurteile werden reproduziert und auf die An­ge­ hö­rigen der Sinti und Roma projiziert. Selbst wenn sie in keiner Weise zutreffend sind.“ Ein sensiblerer Umgang mit Sprache und Ausdrücken – für die Expertin ein Muss. Das findet auch Aktivistin und Künstlerin Tayo Awosusi-Onutor, die sich bei den feministischen Gruppen IniRromnja und RomaniPhen engagiert. „Die Existenz von Rom*nja und Sinti*zzi ist gesamtgesellschaftlich nicht klar. Es herrscht generell viel Unwissenheit. Viele Menschen wissen noch nicht mal, dass es den Begriff ,Sinti und Roma‘ gibt“, erklärt die Afro-Sintezza, wie sie sich selbst nennt, im Gespräch mit BLONDE. „Stattdessen wird der rassistische Begriff für Rom*nja und Sinti*zzi von vielen Menschen benutzt, weil sie denken, das wäre der normale Ausdruck. Rassismus kann aber über Sprache weiterwirken und erhalten bleiben. Deswegen ist mir die Wirkweise von Rassismus in unserer Sprache ein besonderes Anliegen. Wenn Menschen mehr über die Thematik wissen, passiert oft ein Umden-


ken und ein Bewusstsein wird geschaffen.“ Und deshalb sorgen wir an die­ser Stelle einmal für etwas Aufklärung: Sinti*zzi und Rom*nja leben seit Jahrhunderten in Europa, im Gebiet des heutigen Deutschlands seit etwa 600 Jahren. Sie bilden in ihren jeweiligen Heimatländern historisch ge­wachsene Minderheiten, wie es das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma schreibt. „Sinti“ bezeichnet die in West- und Mit­tel­europa beheimateten Angehörigen, „Roma“ die in Ost- und Süd­ost­ europa. Die rund 70.000 hier lebenden deutschen Sinti*zzi und Rom*nja sind Bürger*innen dieses Staats und sprechen neben Deutsch als zweite Muttersprache Romanes. Weil diese mit der altindischen Hochsprache Sanskrit verwandt ist, konnte ihre Herkunft aus Indien nachgewiesen werden. In der Geschichte wurde die Minderheit immer wieder verfolgt, ihre Ausgrenzung lässt sich bis ins 15. Jahrhundert nachweisen. In der NS-Zeit fielen mehrere Hun­dert­tausend Sinti*zzi und Rom*nja dem systematisch geplanten Völkermord zum Opfer.

Dabei gibt es so viel zu entdecken – das Empowerment verschiedener selbst organisierter Initiativen, Kulturveranstaltungen, konkret den Romnja Power Month, der jährlich Akteurinnen der Sinti*zzi und Rom*nja eine Büh­ne und Plattform gibt. Es ist nun mal so: Überspitzt gesagt fehlt es uns nicht am Angebot, sondern an der Nachfrage. Wir malen zum Beispiel Schilder für den Women’s March, gehen für den Klimaschutz auf die Straße, informieren uns während des Black History Month – und das ist auch gut so. Es ist wichtig, eine positive Stimmung zu verbreiten, die ihre Wurzeln in unseren Köpfen schlägt. Nur so kann langfristig eine Veränderung in unseren Herzen gedeihen. Aber hierbei sollten Sinti*zzi und Rom*nja nicht mehr außer Acht gelassen werden.

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Man lernt bekanntlich nie aus. Vom Gegenüber über das Miteinander und das „Was steckt dahinter?“. Bildung ist auch hier der Motor, der den Fortschritt antreibt. Darauf baut auch Awosusi-Onutor bei ihrer pädagogischen Arbeit. „Ich bekomme häufig das Feedback, dass im Geschichts­unter­richt zu wenig oder nicht über dieses Thema gesprochen wird. Ich frage dann in die Runde, wer in der Schule etwas zum Thema Sinti und Roma gehört hat. Es ist schon erschreckend. Da sitzen 30 junge Leute, die gerade Abi gemacht und noch nichts über die Geschichte der Rom*nja und Sinti*zzi, also auch Teil deutscher Geschichte, gehört haben“, erzählt sie. „Viele wissen nicht, dass Rom*nja und Sinti*zzi Teil der deutschen Ge­sell­schaft sind. Dass sie das Land als ehemalige Gastarbeiter*innen mit auf­gebaut haben. Wenn man aber das vorhandene Wissen abfragt, bekommt man viele rassistische Stereotype, die man aus Literatur, Film und Musik kennt. Das bezeichnet man dann als Allgemeinwissen. Was ich mir wünsche und woran wir arbeiten, ist, dass hier Gegenbilder geschaffen werden.“

Auch die fehlende Sichtbarkeit in unserer Medienlandschaft ist ein Thema. Ihre künstlerischen, wissenschaftlichen und politischen Beiträge finden dort nur wenig Beachtung. Stattdessen werden immer wieder Menschen gezeigt, die am Rande der Gesellschaft leben. Wir alle kennen diese Bilder.

Das Schlussplädoyer fürs Miteinander lautet also: Um Gegenbilder zu schaffen, ist es nicht nur wichtig, darüber öffentlich zu reden, sondern vor allem zuzuhören und das Gegenüber für sich selbst und über sich sprechen zu lassen.

Reden wir Klartext: Die Unterdrückung von Rom*nja und Sinti*zzi hat sich heute weitgehend zu einer Grundhaltung entwickelt. Rassismus, Sexismus, Feindbilder und Schubladendenken prägen ihren Alltag. Sie sind so stark von Ausgrenzung und Diskriminierung in allen Lebensbereichen betroffen wie kaum eine andere Bevölkerungsgruppe. Das schreibt die Antidiskri­mi­ nierungsstelle des Bundes. Diese Realität wollen manche Mitbürger*innen nicht einmal abstreiten. In der Studie „Zwischen Gleichgültigkeit und Ab­ leh­nung“ brachten die Teilnehmer*innen Sinti*zzi und Rom*nja im Vergleich zu anderen Minderheiten am geringsten Sympathie entgegen.

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interview


Gehört zum guten Ton Joy Crookes’ Seele scheint älter zu sein als ihr biologisches Alter von gerade einmal 20 Jahren. Wir haben mit der Singer und Song­writerin über Generationenaustausch gesprochen. Passend, oder?

Interview Edith Löhle

BLONDE ———— In deinen Liedern singst du oft über deine Familie und vor allem deine Großmutter. Was ist das Wichtigste, was sie dir beigebracht hat? JOY CROOKES ———— Wahrscheinlich Freiheit und Ehrlichkeit und damit meine ich, immer mein authentisches Selbst zu sein. Sie hat in ihrem Leben viel erlebt, ist aus Ländern geflohen und hat eine Menge durch­ma­c hen müssen, ist sich dabei aber immer treu geblieben, ohne sich von dem Urteil eines anderen beeinflussen zu lassen. ———— Und was ist das Wichtigste, was du ihr beigebracht hast? ———— Ich hoffe, dazu beigetragen zu haben, dass sie mehr Stolz für ihre Herkunft empfindet, denn ich liebe meine irischen und bangladeschischen Wurzeln und kann nicht aufhören, sie zu praisen! ———— Wenn du bei deiner Familie zu Besuch bist, über welche Themen führt ihr die längsten Gespräche? ———— Wir reden über alles – meine Projekte und Aktuelles, klar. Mit meinem Vater drehen sich die Gespräche oft um das Thema Verbesserung. Nicht nur als Künstlerin, sondern auch als Person und vor allem in Bezug auf psychische Gesundheit.

FOTO SONY MUSIC

———— Generationsübergreifende Gespräche sind nicht in allen Familien üblich. Warum sind sie für dich so wichtig? ———— Weil es so viele Ähnlichkeiten zwischen uns und unseren Eltern gibt, von denen man nichts wissen kann, wenn man keine Fragen stellt. Für mich ist es wichtig, diese Dinge über vergangene Generationen zu wissen, um mich selbst besser zu verstehen – es ist eine perfekte Möglichkeit, das, was in meinem Blut ist, zu kontextualisieren. ———— Was möchtest du deiner Generation mit auf den Weg ­geben? ———— Gerade für meine Generation, die mit Social Media aufgewachsen ist, ist es so einfach, sich ständig mit anderen zu vergleichen. Ich möchte Authentizität weitergeben. Und gerade weil die älteren Generationen so

hart für unser aller Freiheit und Rechte gekämpft haben, sollten wir das Beste aus den Möglichkeiten machen, die uns gegeben wurden. ———— Über welche Themen sollte zwischen Millennials und älteren Generationen ein verstärkter Austausch stattfinden? ———— Ich denke, psychische Gesundheit ist eines dieser Themen, das die älteren Generationen nicht gerne haben, Millennials hingegen sprechen ständig darüber – nur eben untereinander. Sich mit Verwandten über die Gedankenmuster in unseren Köpfen auszutauschen ist für mich essenziell! Nur so kann man sich selbst und sie besser verstehen und schätzen lernen. ———— Female Empowerment ist dir wichtig. In welchen Situa­tio­ nen hast du das Gefühl, es gibt noch Verbesserungsbedarf in der Kommunikation untereinander? ———— Die sozialen Medien haben in meinen Augen eine extrem von Konkurrenz getriebene Generation geschaffen. Ich würde gerne sehen, dass Instagram und Co. verstärkt von Aktivist*innen für Gutes genutzt würden. Um Menschen zu vereinen und aufzuklären, anstatt ihnen zu sagen, was sie zu denken haben. Und ich habe das Gefühl, dass es beim Female Empowerment manchmal mehr darum geht, dass Frauen sich anschreien, als dass sie sich gegenseitig helfen, zu den Personen zu werden, die sie deep down sein wollen. Wir müssen einander mehr zuhören und versuchen, einander zu verstehen. Denn die Menschen sind einfach anders, weil die jeweiligen individuellen Erfahrungen jeden anders prägen und gedeihen ­lassen. ———— Fühlst du einen gesellschaftlichen Wandel in Bezug auf Female Empowerment? ———— Ja, auf jeden Fall! Es ist eine große, positive Verschiebung merkbar. Noch mal das Stichwort soziale Medien: Die Digitalisierung hat den öffentlichen Diskurs leichter zugänglich gemacht, was nicht immer positiv ist, aber allein, dass wir sprechen, ist der springende Punkt. Es gibt so viele Veranstaltungen, die es Frauen ermöglichen, Gespräche zu führen, und es gibt mehr sichere Orte – on- und offline–, an denen das Teilen einzigartiger Erfahrungen dank Social Media möglich ist.

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Text & Fotos Julia Küchler

Techno in Tiflis Zwischen Bass und Beton blüht die Hauptstadt von Georgien gerade in ihrer Anziehungskraft auf. Warum in Tiflis auch abseits von Clubbing alle Zeichen auf Zukunft stehen. Ein Foto-Essay. ———— ————

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sich hineinsetzen kann. Entspannung pur, gar nicht mal schlecht – und nebenbei hat man hier auch zu zweit wirklich seine Ruhe. Zugegeben, der Schwefelgeruch ist wirklich etwas gewöhnungsbedürftig, aber nach kurzer Zeit blende ich ihn aus und kann das Bad genießen.

„No photos on the dancefloor“ – das gilt auch fürs „Khidi“. Mit dem Handy fange ich zumindest die Stimmung ein

In Berlin wohne ich noch nicht lange. Und um jedem Klischee der Zu­ge­zo­ genen so richtig gerecht zu werden, habe ich mich direkt zu Beginn natürlich in einen DJ verliebt. Chris war schon mal in Tiflis gewesen und schwärmte vom Essen, von den Clubs, den Menschen der georgischen Hauptstadt. Also beschlossen wir, An­genehmes mit der Arbeit zu verbinden und Tiflis und das Nachtleben fotografisch und musikalisch zu erkunden. Ich gehöre zu der Art Mensch, der lieber ins Blaue hinein verreist. Ich lese selten Reiseführer oder Onlinebewertungen, sondern spaziere am liebsten einfach drauflos. Dadurch mag mir vielleicht die ein oder andere Attrak­ tion durch die Lappen gehen, aber auf diese Art erkunde ich einen Ort in meinem Tempo und entwickle ein besseres Gefühl für Entfernungen, Zu­ sam­menhänge und für das „echte“ Leben neben den Touri-Attraktionen. BÄDER AUS SCHWEFEL, SOUVENIRE AUS KRISTALL Ohne ein paar Empfehlungen aus dem Freundeskreis wollten Chris und ich aber auch nicht losziehen. Tiflis’ Schwefelbäder waren dabei immer ­wieder ein – im wahrsten Sinne des Wortes – heißer Tipp und reihen sich direkt in der Altstadt aneinander. Wir entscheiden uns für das günstigste: nur Bad, keine Massage, obwohl unsere Körper vom langen Fliegen angespannt sind. Anders als unsere Auswahl vielleicht vermuten ließe, werden wir direkt in einen simplen, mit Mosaiken verzierten Privatraum geführt, in der Mitte ein kleines Becken – sehr – heißen Schwefelwassers, in das man

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Mittlerweile kein Geheimtipp mehr, aber trotzdem schön ist der Dry Bridge Market. Hier finden sich Flohmarktstände mit antiken Möbeln, alten Platten, Kronleuchtern aus den 30ern, Porzellan, Orient­teppichen und An­den­ ken aus der Sowjetzeit. Hier kann man manchmal noch echte Schnäppchen machen. Ich freue mich vor allem über die glitzernden Kristalle der Kron­leuchter aus echtem Kristallglas. Chris hat beim „Platten-Diggen” weniger Glück: Viele Verkäufer kennen den Wert der Schallplatten sehr genau – und zahlungswillige Touris haben die Preise hochgetrieben. Ein wenig oberhalb der Stadt am Tiflis-See liegt das Monument „The Chronicle of Georgia“. Das totalitär anmutende und nie fertiggestellte Denkmal der Geschichte Georgiens gibt mir das Gefühl, winzig klein zu sein. Vielleicht wird es auch deshalb das „Stonehenge von Georgien“ genannt. Ganz nebenbei hat man übrigens einen fantastischen Blick auf die im Tal liegende Stadt und das Umland – das übrigens auch unter Wander*innen und Wintersportler*innen sehr beliebt sein soll. Noch einfacher zu erreichen ist die Festung Nariqala oberhalb der Altstadt, zu der man per Seilbahn reisen kann. Von dort glitzert Tiflis abends hell am Fuß des Bergs. WOHNUNG = CLUB = STADION Schon in unserer ersten Nacht in Tiflis geht es für uns quasi direkt vom ­Flie­ger in den Club. So ist das also, „die Freundin vom DJ“ zu sein – an diese Rolle muss ich mich erst noch gewöhnen. Chris spielt im „Khidi”, einem dunk­len Techno-Club, der sich an die Pfeiler einer Autobahnbrücke schmiegt. Es ist eine ruhige Samstagnacht, am Abend davor fand hier der „Boiler Room“ statt, viele scheinen sich noch nicht ganz davon erholt zu haben. Anders als in Berlin ist in Tiflis nämlich Freitag der Abend zum Tan­ zen­gehen und die georgische Drogenpolitik sehr streng – zwei Tage am Stück feiert hier kaum jemand. Ich beobachte die Leute und freue mich über ihren coolen Style und ihre Freude an der Musik. Vor allem aber fällt mir auf, wie jung die Techno-Szene im Vergleich zu Deutschland ist. Es ist schwierig, jemanden über 30 auszumachen. Ich lerne Leon kennen, Resident DJ im „Khidi“-Club. Er verspricht, mir Leute aus der Techno-Szene vorzustellen, die für ein Fotoprojekt interessant sein könnten. Eine von ihnen ist Nia. Ein paar Tage später treffe ich sie in der „Fabriak”, einer ehemaligen sowjetischen Nähfabrik, die heute ein Hostel, Co-Working Space, Cafés, Künstlerateliers, Workshops und kleine Läden in sich vereint und Treffpunkt für alle vom Cool Kid bis zum Weltenbummler-­ Hipster ist. Nia ist – ähnlich wie unser Treffpunkt – ein Multitalent. Mit


Links: Sonnenlicht verwandelt Nias Wohnzimmer in eine große, faszinierende Foto-Location. Rechts: Nia sagt, dass sie einen echten Menschenschädel von einem Filmdreh in den Händen hält

Links: Nia in ihrer Wohnung – Plüsch auf Plüsch. Rechts: Backstage in der „Success“-Bar


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Die Einfachheit vieler Wohnungen in Tiflis ist für uns ungewohnt, Bad und Waschbecken befinden sich oft im Innenhof. Rechts: Sammelsurium auf dem Dry Bridge Market

travel Links: Kirche neben dem „The Chronicle of Georgia“-Denkmal. Rechts: Blick vom Denkmal auf Tiflis


Herz­blut leitet sie die erste und einzige LGBTQ+-Bar in Georgien, das „Success“. Nebenbei ist Nia aber auch noch Mutter, Fotografin, ­entwirft Fetisch-Klamotten und ist für die Innenausstattung der Darkrooms in Tiflis‘ berühmtem Techno-Club „Bassiani“ verantwortlich – ein Besuch dort darf später natürlich auch nicht fehlen. Nach einem Drink in Nias Bar, die an diesem Abend eigentlich erst später aufmacht, ziehen wir zuerst weiter in die „Drama Bar“: eine riesige Alt­bau­ wohnung im dritten Stock eines alten Gebäudes in der Innenstadt, die zu einem Club umgestaltet wurde. Hohe Decken, verwinkelte Räume, Sofas, einen Wintergarten gibt es und hinterm DJ-Pult kann man durch drei große Fenster auf die nächtlichen Straßen von Tiflis blicken. Über dem Dance­ floor dreht sich ein glitzerndes Maschinengewehr im Kreis und schießt seine Lichtpunkte durch den Raum. Sogar ein spärlich beleuchtetes Zimmer mit Bett gibt es. Hier spüre ich mein Reise-Feeling vom „echten” Leben abseits von Touri-Attraktion und fühle mich eher wie auf der Haus­party eines extra­vaganten Künstlers als in einem Club. Dann wartet endlich das „Bassiani” auf uns. Nia hat Gästelistenplätze be­ sorgt. Und dann sind wir schon drin – im Bauch des Fußballstadions von Tiflis. Schnell wird mir klar, warum dieser Ort oft mit Berlins bekanntestem Club verglichen wird. Überall Beton, es ist dunkel und groß, Bass wummert. Der Main Floor liegt im ehemaligen Schwimmbecken des Stadions, der Boden ist in Richtung des DJ-Pults leicht abschüssig. Ich bin erstaunt da­rüber, dass die Techno-Szene in einem so kleinen Land – ganz Georgien hat in etwa so viele Einwohner wie Berlin – groß genug ist, um diese Lo­ cation auch nur annähernd zu füllen. Neben dem wirklich großen Techno-­ Floor gibt es noch einen kleineren House-Floor. Hier ist die Stimmung viel ausgelassener, bunter, queerer. Viele durchtanzte Stunden später bin ich auf Erkundungstour und blicke auf einmal durch ein Gitter nach draußen, auf den Rasen des Stadions. Party aus der Perspektive eines Fußballers. Ein paar Tage später lädt mich Nia zu sich nach Hause ein, eine großzügige Wohnung im elften Stock eines heruntergekommenen Hochhauses. Wie schon die „Drama Bar“ ist auch dies eine richtige Künstlerbude: Spar­ ta­nische Möbel, dafür allerlei sonderbare Objekte, Skizzen, angefangene Projekte, Plüsch, Teppiche, buntes Neonlicht... hier lässt sich sicherlich gut die ein oder andere After-Hour verbringen. Ich darf Fotos von Nia machen, sie weiß sehr genau, wie sie sich und ihre selbst entworfenen Acces­soires in Szene setzen kann. Kurzerhand dreht sie den Spieß um, wirft mir einen ro­ sa Plüschmantel um und inszeniert mich als „Pink Princess“ auf ihrem Sofa. TEIGTASCHENTRÄUMEREI Essen hat einen sehr großen Stellenwert in Georgien. Hier merkt man deutlich, dass aufgrund der geografischen Lage Georgiens das Beste aus West und Ost, Orient und Okzident zusammentrifft. Neben deftigen, fleisch­

Chinkali sind dampfende, mit Brühe und Fleisch gefüllte Teigtaschen.

lastigen Gerichten und den berühmten gefüllten Teigtaschen Chinkali, die es auch als vegetarische Variante gibt, beinhalten die Menüs auch viele tapas- oder antipasti-ähnliche Gerichte mit Aubergine und Walnüssen, im Ofen gebackenem und mit Käse gefülltem Brot, Salaten mit Gurke und ­Tomate, Pilzen in Knoblauch, kleinen gebratenen Fischen. Meidet man die tou­ ristischen Gegenden, ist solch eine traditionell georgische Auswahl auch wirklich günstig. Meistens können wir uns nicht entscheiden und be­ stel­len zu viel. Das heißt, wenn wir denn die Karte lesen können – ansonsten wird die Bestellung mithilfe kleiner Bildchen eine Auswahl auf gut Glück. Später frage ich mich, warum ich nicht mehr Fotos von unseren Tellern gemacht habe, aber die Antwort kommt mir genauso schnell: Ich war einfach zu sehr mit Essen beschäftigt. TOTAL(ITÄR) SCHÖN Als wir wieder in den Flieger steigen, denke ich an die Gegensätze, die in Tiflis aufeinanderprallen und sich durch alle Bereiche ziehen. Historische Holzhäuser in der Altstadt – zum Teil marode und rustikal, zum Teil romantisch und verspielt – treffen auf Betonbauten aus der totalitären Sowjetzeit, dazu kommt moderne, geschwungene Architektur aus Glas und Metall. Und während große Teile der Bevölkerung die Werte eines streng geor­ gisch-­­orthodoxen Staats leben, ist in der Gesellschaft zu erkennen, dass die Jugend aufbrechen will, offen und westwärts gewandt ist. Und auch wenn die äußerlichen Kontraste hart sind, weiß ich, dass in dieser Offenheit und Wendung vor allem das steckt, was ich ab jetzt in Georgien sehe: Zukunft.

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Funkloch ———— Unsere Autorin gab uns den wohl wertvollsten aller Schlüssel: den zu ihrem Tagebuch. Aufgeschlagen hat sie die Seiten an dem Datum, das am meisten schmerzt, an dem ihr Vater völlig unerwartet verstarb. Über Kommunikation mit der Trauer. Text Nadine de Buhr Am Anfang fühlt sich alles an wie in einem Film. Mamas Anruf Donnerstagmorgen um acht Uhr, die einstündige Fahrt ins Krankenhaus mit den gleichen, permanent im Kopf kreisenden Gedanken: „Es ist bestimmt nichts Schlimmes passiert. Vielleicht ist es bloß ein kleiner Herzinfarkt. Papa ist nie krank. Mama war bloß panisch. Es wird schon alles gut sein.“ Die An­ kunft in der Notaufnahme und die Ärztin, die mich in einen völlig leeren Raum führt. Und plötzlich steht die Zeit still... „Es tut uns sehr leid, das Herz ihres Vaters hat aufgehört zu schlagen. Wir konnten nichts mehr für ihn tun.“ Ich schreie, weine, schlage um mich. Von einer auf die andere Sekunde bricht mein Herz in tausend Teile und ich kann kaum atmen. An das, was in den darauffolgenden Wochen passierte, kann ich mich nur noch vage ­erinnern.

FOTO: UNSPLASH/DAYNE TOPKIN

Heute, mit 28 Jahren, genau ein Jahr, drei Monate und elf Tage nach dem plötzlichen, und völlig unerwarteten Tod meines Vaters bin ich endlich in der Lage, da­rüber zu schreiben. Wie es sich anfühlt? Erschreckend ähnlich zu damals. Wie betäubt, aber gleichzeitig sind da diese qualvollen Schmerzen – nur habe ich gelernt, mit den Schmerzen zu leben. Ich persönlich halte nichts von abgedroschenen Sprichwörtern wie: „Die Zeit heilt alle Wunden.“ Das ist meiner Meinung nach nicht wahr und kann auch gar nicht möglich sein. Der Verlust bleibt immer der Gleiche – egal wie viel Zeit vergeht. Was sich ändert? Nach einiger Zeit, habe ich damit angefangen, mich ernsthaft mit dem Thema Tod auseinanderzusetzen, ihn wahrzunehmen, zu erforschen und ihn für mich selbst irgendwie zu akzeptieren. Das Schlimme ist, der Mensch kann sich an alles gewöhnen. Selbst an die schlimmsten Umstände. Ja, wir sind in der Lage, beinahe alles zu ­ertragen. Und dann denke ich oft, dass Trauer etwas sehr Egoistisches ist. Ich bin traurig, den Menschen nicht mehr in meinem Leben zu haben. Papa selbst hat nichts von seinem Tod gemerkt, haben die Ärzte gesagt. Das sollte mir eigentlich ein Trost sein. Dennoch warte ich auf den Zeitpunkt, an dem ich wieder schöne Geschichten erzählen und mich über unsere gemeinsamen Zeiten freuen kann. Wann kann ich wieder an Papa denken, ohne direkt loszuweinen?

Die Menschen in meinem Umfeld sind heute immer noch überfordert. Übel nehme ich es niemandem. Ehrlich gesagt waren mir ihre Reaktionen auch egal. So etwas zählt nicht, so etwas ist nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass die Menschen da sind, die dir Kraft geben. Meine Familie, mein Freund und meine besten Freundinnen. Hauptsache, sie waren da – reden wollte ich gar nicht. Aber reden musste ich. Mittlerweile bin ich seit zehn Monaten in Therapie, um damit zurechtzukommen, einen der wichtigsten Menschen in meinem Leben verloren zu haben. Ich hätte nie gedacht, dass es mir guttun würde, mit einer fremden Person über meinen Papa zu sprechen, doch ich merke, wie sehr es mich befreit. An einem festen Termin in der Woche darf ich ohne Scham so richtig traurig sein, einfach losweinen, schreien und über nichts anderes nachdenken oder sprechen. Es ist wie ein Safe Space, ein Ventil für meine Gefühle, fast wie eine Massage für meinen Kopf. Trotzdem wünschte ich, ich könnte noch ein letztes Mal mit ihm sprechen. Ich würde ihm einfach nur zum abermillionsten Mal sagen wollen, was für ein wundervoller Mensch er gewesen ist und wie stolz ich bin, so einen Vater gehabt zu haben. Nur ist es für diese Art der Kommunikation nun zu spät. Und alles, was mir bleibt, sind diese leeren Seiten und die Hoffnung, dass du sie irgendwie lesen kannst. Ich sende und irgendwie weiß ich, du empfängst. Aus „bist“ wurde „warst“ und aus „haben“ „gehabt“. Aber ich weiß, dass die meisten Menschen auf der Welt irgendwann meinen Schmerz spüren werden – die einen früher, die anderen später. Und auch wenn sich das jetzt gemein anhören mag: Ich fühle mich wegen dieses Wissens ein wenig besser, denn ich weiß, ich bin nicht allein. „Wer sich an andere hält, dem wankt die Welt, wer auf sich selber ruht, der steht gut.“ Das war der Spruch, den du damals in mein Poesiealbum geschrieben hast. Du hast ihn einfach mitten ins Buch geschrieben und ich habe dich gefragt wieso. Deine Antwort darauf war: „Man muss nicht immer alles so machen wie die anderen.“ Papa, danke für all diese Worte, die so viel in mir ausgelöst haben. Du hast mir so viel auf meinen Lebensweg mitgegeben und ich konnte dir nie sagen, wie sehr du mir damit geholfen hast. Du warst der Beste und wirst es immer sein. Auch wenn du jetzt nicht mehr bei mir sein kannst, deine Worte werden immer in meinem Kopf bleiben, das weiß ich!

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Interview Edith Löhle

Leseprobe

Einfach mal mit 33 Memoiren raus­hauen? Journalistin und Sexbloggerin Theresa hat Eier(stöcke) – und die legt sie literarisch auf den Tisch. Lest hier die ersten Zeilen aus „Lvstprinzip“. 110

FOTO: PAULA WINKLER

Lvstprinzip ———— Theresa Lachner


01 Machen wir uns nichts vor: Dreißig ist ein bisschen früh, um die eigenen Memoiren niederzuschreiben. Normalerweise sollte man damit wahrscheinlich bis mindestens Anfang siebzig warten, bis man nicht nur aus dem Schaukelstuhl auf irgendeiner hyggeligen Holzveranda am Meer »auf ein bewegtes Leben zurückblicken« kann, sondern die ansonsten dringlichsten Alltagsfragen so was sind wie: Wer moderiert diese Woche eigentlich die »Kulturzeit«? Und was gibt’s gerade nochmal bei Kaufland im Sonderangebot? Selbst für mich, die ohne Pseudonym beruflich über Sex schreibt und dabei permanent predigt, dass diese Welt eine bessere wäre, wenn wir alle mal offener reden würden, fühlt es sich inhärent erst mal ein klein bisschen eklig an, sich so hinzustellen und zu sagen: »Und nun zu einem wirklich spannenden Thema: mir selbst!« Es hätte da ein paar pragmatische Auswege gegeben: einen Roman über eine gewisse Susi Sexbloggerin zu schreiben, der da mal ein paar echt kuriose Dinge passiert sind. Meine Geschichte wie eine brave Journalistin mit Statistiken zu unterfüttern, um ihr dieses Flair von gesamtgesellschaft­ licher Relevanz zu verleihen. Oder aus so einer »Freunde, ich hab’s voll verstanden«-Überwundenheitslogik heraus zu erzählen, damit sich das alles ein bisschen mehr nach Bedienungsanleitung anfühlt. Ganz ehrlich? Was für ein Scheiß. Als wäre das Leben Malen nach Zahlen und nicht eigentlich doch eher so Topfschlagen. Inzwischen hätte ich sogar das psychotherapeutische Fachvokabular, mit dem ich ein paar meiner Zustände und Verletzungen wesentlich kon­kre­ ter in die Außenwelt übersetzen könnte. Mehr ego-ethnologische Theoriekonstrukte, die mich und die geneigten Leser*innen begreifen lassen könnten, an welchen Stellen meine Gefühle und Gedankengänge zwangsläufig ein Kind ihrer Zeit waren. Aber darum geht’s nicht. Ich habe noch nie geschrieben, weil ich alles verstanden habe, sondern immer, weil ich etwas herausfinden wollte. In den zehn Jahren, in denen ich über Sex schreibe, habe ich gelernt, dass man anderen Menschen zwar eine Stimme geben kann, aber nie für sie sprechen darf. Konstruktivismus und so: Jeder hat seine eigene ­Wirklichkeit. Deswegen bleibe ich hier mit voller Absicht so subjektiv, wie es nur irgendwie geht. Auch wenn sich das zwischendurch von innen manchmal anfühlt wie eine Folge »Homeland«, in der man gleichzeitig angespannter Zuschauer, sadistischer Regisseur und ugly crying Carrie ist. »Geh da nicht rein, verdammt, da sind TERRORISTEN!«, möchte man laut schreien, während eine trocken-sonore Stimme aus dem Off kommentiert: »Komm schon, Mädchen. Du weißt, dass es sein muss.« Das Leben kann wirklich immer nur vorwärts gelebt und rückwärts verstanden werden. Und um meins verstehen zu können, musste ich alles noch mal fühlen: the good, the bad, and the ugly. Konsequent so schreiben, wie ich zum jeweiligen Zeitpunkt gedacht oder gefühlt habe; mir noch mal selbst dabei zusehen, wie ich immer wieder gegen dieselben Wände renne. Mich und meine eigenen Wider­ sprüch­lich­keiten komplett zerlegen und zu einer neuen, kohärenten Storyline zusammenbasteln.

Meine Monster unterm Bett hervorlocken, ihnen die Staub­flusen, vollgeschnäuzten Tempos und aufgerissenen Kondomverpackungen aus dem Zottelfell bürsten, bis sie wieder so halbwegs tageslichttauglich waren, und sie dann mit einem Schleifchen im Haar in die Kirschholz-Ein­bau­ schrankwand stellen, wo jeder sie sehen kann. Ich hatte nie den Anspruch an mich, ein Vorbild für andere zu sein. Influ­ encer*in ist kein zertifizierter Ausbildungsberuf. Man wird dazu ­­gemacht. Und dann muss man sich halt irgendwann überlegen, ob man mit der eigenen Reichweite nicht vielleicht auch noch was Sinnvolleres anstellen kann, als Teenagermädchen Detox-Tee zu verkaufen. Freiheit ist das Recht, nicht zu lügen, hat Camus mal gesagt. Für mich ist Schreiben die beste Art, diese Freiheit auszuleben. Und deswegen liebe ich es auch, über Sex zu schreiben. Das ist nämlich ein Thema, das meiner Meinung nach noch extrem viel Wahrheit vertragen kann. »Endlich mal jemand, mit dem man normal drüber reden kann«, höre ich oft, als wäre Sex nicht die allernormalste Sache der Welt. »Krass, und ich dachte, das geht nur mir so«, ist noch so ein Satz, der häufiger fällt. Genau das passiert nämlich, wenn man von seiner Freiheit, nicht zu lügen, Gebrauch macht: Ehrlichkeit multipliziert sich. Me too, me too, me too. Ich bin eine Art Sozialarbeiterin mit größerem Impact, nebenberuflich emotionales Nacktmodell, Projektionsfläche für anderer Menschen Befindlichkeiten. Ein Kratzbaum für Frustrationen und unerfüllte Sehnsüchte. Ich wurde schon höchstpersönlich für die gesamtgesellschaftliche Zu­ nah­me an erektilen Dysfunktionsstörungen und das Hotelsterben im Baye­ ri­schen Wald verantwortlich gemacht. All das passiert fast zwangsläufig, sobald man sich erdreistet, im Internet öffentlich Sachen zu sagen. Das ist oft nervig, aber irgendwie auch sehr menschlich. Wir machen Selfies von unseren guten Momenten und arbeiten uns in den schlechten an anderen ab, vergleichen uns mit ihren Highlight Reels und finden das Gras auf der anderen Seite grüner, die Poren kleiner, die Falten und Unsicherheiten weggephotoshoppt. Wir konsumieren, was Influencer*innen uns an wohlkuratierten Realitäts- und Identitätsfragmenten zum Fraß vorwerfen, auch wenn es meistens nur irgendein Produkt ist, das die Kluft zwischen uns und dem propagierten Idealzustand verkleinern soll. Wir sehen diese Fragmente, ver­gleichen uns und schneiden dabei natürlich fast zwangsläufig schlechter ab. Und wir halten uns selbst grundsätzlich für die komplexesten, coolsten, schlimmsten oder seltsamsten Menschen der Welt. Je mehr ich über solche Dinge schreibe und mit anderen darüber spreche, umso mehr merke ich: Jeder denkt das. Zumindest, bis er sich in den Hirnwindungen von jemand anderem wiederfinden kann. Ich schreibe, weil ich dieses Wiederfinden mag. Und das Wieder­ gefunden­werden. Ich schreibe, um die Geschichten zu erzählen, die noch nirgendwo an­ders stehen. Ich schreibe für diesen Ort in mir, an dem es dann ruhig wird, zumindest zwischendurch mal, für einen kurzen Moment. Ich schreibe, weil ich nicht weiß, wie Nicht-Schreiben geht.

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02 Wenn wir, wie Max Frisch sagt, auf Reisen einem Film gleichen, der entwickelt und dann von der Erinnerung belichtet wird, ist dieses Buch das ehrliche Selfie von den Momenten zwischen den Highlight Reels. Es handelt von meinen Zwanzigern, der Zeit, in der ich kein Zuhause hatte und keins wollte. Es ist die Geschichte meines Körpers in vielen Ländern, mit vielen Partnern und unter vielen Deutungshoheiten, die Geschichte meiner Verletzungen und meiner Lieblingsorte. In manchen Punkten ist diese Geschichte ungewöhnlich – und dann auch wieder nicht. Dafür gibt es leider genügend Statistiken. Sie aufzuschreiben war ein stellenweise schmerzhafter, skurriler, gleich­ zei­ tig aber auch ziemlich subversiver Prozess. Man erkennt we­ sentlich besser, welchen Narrativen man sich unterworfen hat, wenn man sie einfach mal neu schreibt. In ein paar Jahren werde ich sowieso wieder alles noch viel besser wissen. Und das ist okay. Denn, machen wir uns nichts vor, es kann sowieso keiner wissen, wer 2056 die »Kulturzeit« moderieren wird. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mir in meinem Schaukelstuhl am Meer mit dem Kaufland-Prospekt die ­Klimaerwärmung – an der ich jetzt wirklich nicht unbeteiligt war – aus dem runzligen Gesicht fächeln und mir denken werde: Klug war’s jetzt nicht immer. Aber dafür schon auch ganz schön geil. And now please sit back, relax, fasten your seatbelt and enjoy your flight with us today. Es wird Turbulenzen geben. Die eigene Katastrophe auszustellen hat etwas Aufdringliches; es aber nicht auszusprechen ist noch verquerer, wenn man ohnehin schon einmal bei den Konsequenzen angelangt ist. THOMAS MELLE

Wer alles loslässt, hat beide Hände frei Ich finde, Wut ist ein unterschätztes Gefühl. Wenn die Depression, wie Jung sagt, einer Dame in Schwarz gleicht, die man als Gast zu Tisch bitten soll, um sich anzuhören, was sie zu sagen hat, ist die Wut ihre angetrunkene Teenagerschwester. Sie knallt das Dosenbier so energisch auf den Tisch, dass es überschwappt und schreit: »Was soll eigentlich diese ganze Scheiße hier, verdammt?« Der Wut ist Etikette egal. Sie verschafft sich Gehör, egal, ob man sie höflich dazu einlädt oder eben nicht. Wut fragt nie, ob sie sein darf. Wut ist.

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Ich mag die Wut, weil sie so unbestechlich und archaisch ist. »Authentisch«, wie meine Werbekunden sagen würden. Die Wut und ich haben eins gemeinsam: Wir sehen die Welt zwi­ schendurch ganz gerne auch mal brennen. Auf konstruktive, gewaltfrei kommunizierte Ich-Botschaften verzichten wir zugunsten des ein oder anderen gepflegten kleinen Ausrasters. Und das ist okay. Über Leute, die immer beherrscht sind und alles im Leben richtig machen, werden keine Netflix-Serien geschrieben. Früher war ich oft müde. Dann habe ich angefangen, mich keto-vegan zu ernähren – ist eben einfach ein bisschen dünn für ’nen Plot. Ich mag die Wut, denn die Wut macht mich wach. Wut setzt Energie frei. Sie bringt mich dazu, Dinge in Bewegung zu bringen. Und mich. Immer wieder mich. »Mama, kann sein, dass ich nach Ho-Chi-Minh-Stadt ziehe«, erkläre ich Mama in Schlafanzughose und der Rohseidenbluse, die ich mir eben für das Skype-Interview in ihrem Arbeitszimmer übergeworfen habe. »Das ist Saigon, oder?«, fragt sie. Kann sein, keine Ahnung. Egal auch, irgendwie. »Sie können in drei Wochen anfangen«, steht in der E-Mail, die ich drei Tage später im Autobahnraststättenklo auf dem Weg zur Diplomprüfung ­bekomme. »Ich geh nach Saigon«, rotze ich also auch meinem Diplomprüfer entgegen, der mich dafür prompt mit Auszeichnung entlässt, obwohl mir während der mündlichen Klausur siedend heiß einfällt, dass ich die »Lolita« in echt nie zu Ende gelesen habe. Das Glück gehört denen, die keine Ahnung haben. Krieg und Nudelsuppe. Das ist alles, was ich über Vietnam weiß. Und das reicht mir auch völlig, weil: Nudelsuppe mag ich, und Krieg ist in mir. Er hat das doch nicht so gemeint. Er ist eben einfach sehr ungeschickt. Über was regst du dich überhaupt immer so auf? Nach Vietnam zu ziehen ist eine der leichtesten Entscheidungen meines Lebens. Ich bin bereit für diese sogenannte große weite Welt, weil sie mir so viel sicherer erscheint als das, was ich gerade hinter mir lasse. Wer alles loslässt, hat beide Hände frei. Es ist doch schließlich dein Freund. Er liebt dich und schreibt dir lange Briefe mit selbst gemalten Bildern drin, und ihr lacht zusammen, wie du noch nie mit jemandem gelacht hast. Wir bitten Sie nun, Ihre Sicherheitsgurte anzulegen und geschlossen zu halten, bis die Anschnallzeichen über Ihren Köpfen erloschen sind. Im unwahrscheinlichen Fall eines Druckverlusts fallen automatisch Sauerstoffmasken aus der Kabinendecke. Ziehen Sie die Maske ganz zu sich heran und drücken Sie sie fest auf Mund und Nase. Bitte legen Sie erst ihre eigene Sauerstoffmaske an, bevor Sie mitreisenden Passagieren helfen. Druckverlust, ja. Atmen. Ja, Atmen ist immer eine hervorragende Idee. Als du endlich gegangen bist, warst du erst mal grob zwei Wochen hauptberuflich mit Atmen beschäftigt. Das wusstest du gar nicht, dass es so was wie Augenringe aus Hornhaut gibt, wenn man so viel weint. Wieder was gelernt.


03 Atmen, Kaugummi, The XX im iPod. Drei Plastikbecher lauwarmer australischer Sauvignon Blanc. Was genau mache ich hier eigentlich? Als wir uns sechzehn Stunden später im Landeanflug befinden, weiß ich es: Saigon glitzert. Ein Meer aus Wellblechdächern und Wolken­ kratzern, in das ich mich schlagartig und rettungslos verliebe. Es ist eine Liebe, die ich seitdem gründlich auseinanderklamüsert habe, wie ich das eben immer so tue mit der Liebe: Sie möglichst scho­ nungs­los sezieren, um sie kleinreden zu können, zu ironisieren und endlich dingfest zu machen. Für Saigon gibt es genau zwei Gefühle: Liebe und Hass. Ich bin noch nie jemandem begegnet, dem dieser Ort egal ist. Und als ich jetzt zum ersten von sehr vielen Malen meinen Kopf schüttle über die hochvirtuose Cho­ reo­graphie namens Straßenverkehr, die sich da draußen vor der Windschutzscheibe des Taxis abspielt, wundere ich mich, dass niemand stirbt. Nicht das tief schlafende Baby mit dem Gesicht im Kissen auf dem RollerTacho, nicht die Sekretärin im Bleistiftrock, die mit leger übereinandergeschlagenen Beinen hinten auf einem Xé Om, einem Umarmungstaxi, sitzt, sich nur mit einer Hand an ihrem Chauffeur festhält und mit der anderen auf ein altes Nokia eintippt. Und anscheinend auch wir nicht, weil unser Taxifahrer wirklich ver­ dammt laut hupen kann. Ob ich denn einen guten Flug gehabt hätte? Ich glaube, ich höre die höfliche Small-Talk-Frage meiner neuen spanischen Managerin Marina erst beim dritten Mal, und es ist auch egal, wie mein Flug war, weil jetzt bin ich ja hier. Und es ist so sehr jetzt, wie es nur jetzt sein kann, wenn endlich das Leben passiert, das immer schon in einem drin war und endlich rausdarf.

Interview

BLONDE ———— Unsere Ausgabe heißt „Klartext“ – in welchen Bereichen redest du persönlich in diesem Buch so Tacheles wie nie zuvor? THERESA LACHNER ———— Ich zitiere in meinem Buch Camus: „Freiheit ist das Recht, nicht zu lügen“, und ein Buch bietet ja einfach schon mal viel mehr Raum, diese Freiheit auszuleben, als beispielsweise ein Zeitschriftenartikel oder Instagram-Post. Normalerweise lernen wir Menschen in Fragmenten kennen, ein Memoire erlaubt einen viel ausführlicheren Blick. Auch enge Freund*innen haben mich durch das Buch noch mal ganz neu kennengelernt. ———— Du hast dich in deinem Buch ja quasi nackig gemacht – hast du zwischendurch auch Angst vor der eigenen Courage gehabt? ———— Ja, eigentlich durchgehend. Immer noch. „Courage is fear walking“, sagt Brené Brown. Aber ich hab ja nicht wirklich mich nackig gemacht, sondern meine Zwanziger und die sind ja auch schon wieder ein paar Jahre vorbei. Ich sehe das Buch als Hommage an diese Zeit, die sich ohnehin relativ öffentlich für mich angefühlt hat, weil ich fast durchgehend auf Reisen war und angefangen habe, über Sex zu schreiben. ———— Nimmst du kompromisslose Ehrlichkeit als ein kollektives Gefühl unserer Zeit wahr? ———— Schön wär’s – ich habe eher das Gefühl, dass soziale Medien uns alle immer manipulativer machen, unsere Selbstdarstellung immer ausge­ klü­ gel­ ter wird und die Sehnsucht nach etwas „Echtem“ immer größer. Gleichzeitig soll alles möglichst „authentisch“ sein und das Wort wird so inflationär benutzt, dass keiner mehr genau weiß, was genau das eigentlich überhaupt bedeuten soll. ———— Was wäre dir zu privat, um darüber schreiben? ———— Alles, was ich noch nicht verarbeitet habe – wobei Schreiben für mich ein wichtiger Bestandteil dieses Verarbeitungsprozesses ist, das geht also Hand in Hand. Aber am Ende muss es sich abgeschlossen und in mir klar anfühlen, sonst verletze ich mich mit meiner Verletzlichkeit selbst. ———— Hast du gemerkt, dass du bei PMS anders schreibst? ———— Hell yes, Blutsschwester! Feministische Theorien besagen ja, dass PMS der Zustand ist, in dem man seinem authentischen Selbst am nächsten ist und einfach mal draufhaut, anstatt alles wie sonst einfach großzügig wegzulächeln. PMS ist die Menstruation der Seele, da sammelt sich über den Monat alles Mögliche an, was dann rausgeschrie(b)en werden will. Erst der Wortschwall, dann der Blutschwall.

„Lvstprinzip“ von Theresa Lachner ist über Blumenbar im Aufbau Verlag erschienen

———— Was war für dich das härteste Kapitel in dem ganzen Pro­ zess zwischen Idee und Lesung? ———— Ich könnte da jetzt eine Sache rauspicken, auf die ich mit einem überlegenen Lächeln zurückblicken kann, aber wir reden ja Klartext hier: Es ist alles nicht ohne. Filmleute sagen: „Der Schmerz geht, der Film bleibt.“ Ich beschließe, dass das beim Buch genau so ist.

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@tarabooth Manchmal mag man meinen, dass die Kommunikation rund um das Thema Menstruation längst den offenen Umgang à la free bleeding voraussetzt. Diese Blase lässt BLONDEs Lieblingskünstlerin Tara Booth im neuen Comic auf humorvolle Weise platzen. Mehr Inspo findet ihr hier: Tarabooth.club.

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