WINTER 2018
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST
SPEZIAL
K-BEAUTY
-Beauty
Die blühende Industrie und koreanische Ästhetik Freigeistigkeit und Schönheitssinn jenseits der Konventionen; Ästhetisches Bewusstsein von Frauen in alten Malereien; K-Beauty im Fokus der internationalen Beauty-Welt; K-Beauty: Ein ausführlicher Erlebnisbericht
ISSN 1975-0617
JAHRGANG 13, NR. 4
K
IMPRESSIONEN
Süß und warm auf den winterlichen Straßen Kim Hwa-young
Literaturkritiker, Mitglied der National Academy of Arts
D © NewsBank
er Verkäufer von gerösteten Süßkartoffeln, der zu dieser Jahreszeit immer am Ausgang der U-Bahn-Stationen erschienen war, ist dieses Jahr nicht zu sehen. Dabei dringt der kalte Winterwind doch schon unter den Kragen. Das Gesicht des Süßkartoffelverkäufers, des freundlichen Mannes in den Vierzigern, taucht immer wieder wie das Bild einer am kalt-glitzernden Himmel vorbeiziehenden Wildgans vor meinem geistigen Auge auf. Musste er seinen Saisonjob aufgeben, weil er selbst diese kleine Investition nicht wieder hereinbekommen konnte? Oder reichten seine Ersparnisse für ein besseres Geschäft? Der Anblick der Süßkartoffelverkäufer mit ihren Metallfass-Öfen auf Rädern, der sich jedes Jahr zu Winterbeginn auf den Straßen bietet, erfüllt unser Herz mit Melancholie und mit Wärme. Die Erinnerungen an unsere Kindheit, in der wir mit schweren Augenlidern gegen den Schlaf kämpfend auf die warme Süßkartoffeln wateten, die der spät von der Arbeit zurückkommende Vater zum Warmhalten unter seinem Mantel verstaut hatte, ist unverweigerlich mit dem Bild der Süßkartoffelverkäufer verbunden. Die ersten Süßkartoffelverkäufer erschienen um 1954 auf den Straßen, als der Koreakrieg gerade zu Ende gegangen war. Da zu der Zeit die Nahrungsmittelversorgung begrenzt war, förderte die Regierung den Anbau dieser als überlebensnotwendig geltenden „Rettungspflanze“, die zudem für die Herstellung von Ethylalkohol genutzt wurde. Als „Problemlöser“ für die überproduzierte Menge tauchten Süßkartoffelverkäufer auf den Straßen auf, deren Erscheinungsbild seitdem eng mit den Erinnerungen an die von Hunger geprägte Nachkriegszeit verbunden ist: Eine alte Militärmütze aus Fell auf dem Kopf, rösteten sie in ausrangierten Ölfässern Kartoffeln, die uns Kindern spät am Abend süß auf der Zunge vergingen. Die ursprünglich aus Lateinamerika stammende Süßkartoffel wurde nach der Eroberung durch die Spanier und Portugiesen im 16. Jh. in Europa, Afrika und Asien verbreitet. Nach Korea kam sie 1764 unter der Regentschaft von Joseon-König Yeongjo (reg. 1724-1776). Jo Eom, der als Mitglied einer diplomatischen Delegation die japanische Insel Tsushima besuchte, brachte von dort Süßkartoffelsamen mit. Seitdem wird die Süßkartoffel landesweit in Korea angebaut. Die Anbauflächengröße für Süßkartoffeln, die sich auch als Diätnahrung und gesundes Nahrungsmittel großer Beliebtheit erfreuen, entspricht zwar noch der in der Nachkriegszeit, aber die Angebotsmenge geht zurück, da es immer weniger Süßkartoffelbauern im Umfeld der Städte gibt und der Import verboten wurde. Zudem ließen die Verbreitung von speziellen Rösttöpfen, mit denen man zu Hause selbst Süßkartoffeln rösten kann, und der Verkauf gerösteter Süßkartoffeln in 24-Stunden-Läden die Preise steigen. Die Verbreitung konkurriender Snacks wie Tteokbokki (Reiskuchenwürste in scharfer Soße) oder Waffeln war ein weiterer Faktor, der die Verkaufszahlen der Süßkartoffelverkäufer unter die Schmerzensgrenze sinken ließen. Ehrlich gesagt, gehören sie mit 10.000 KW (ca. 8 Euro) für sechs Stück nicht mehr unbedingt zu den günstigten Straßensnacks. Ich wünsche mir jedoch, dass „mein“ Süßkartoffelverkäufer heute irgendwo Besitzer eines hell erleuchteten und warmen Ladens ist.
Von der Redaktion
Kultur für „Virales Glück” Lange bevor Meinungsbildner in aller Welt Soft Power als Mittel der internationalen Beziehungen zu propagieren begannen, erklärte ein koreanischer Unabhängigkeitskämpfer seinen Mitstreitern, dass er hoffe, sein Vaterland würde sich „die Kraft einer hohen Kultur“ aneignen. Kim Gu wünschte sich das, „da die Kraft der Kultur uns glücklich macht und das Glück auch anderen weitergegeben werden kann.“ Ob er wohl an die Verwirklichung dieses Wunsches glaubte, ist schwer zu sagen. Damals, Ende der 1940er Jahre, litt Korea im Nachfeld der Befreiung von der japanischen Kolonialherrschaft unter extremen ideologischen Wirren. Nur wenige seiner Zeitgenossen konnten es sich leisten, in dieser berühmten Bemerkung eines patriotischen Führers, der sein ganzes Leben der Unabhängigkeit des Landes gewidmet hatte, mehr als eine große Vision oder einen verzweifelten Appell zu sehen. Dem ist nicht mehr so. Heute sind viele Koreaner, erstaunt darüber, dass die Welt auf ihr Land als „kulturelles Epizentrum“ blickt. Die Koreawelle begann mit K-Drama (TV-Serien), weitete sich danach auf K-Pop und jetzt auch auf K-Beauty aus. Die vorliegende Ausgabe beleuchtet das Phänomen unter dem Titel „K-Beauty: Die blühende Industrie und koreanische Ästhetik“. Die SPEZIAL-Reihe gibt Einblick in Schönheitssinn und Traditionen, in denen K-Beauty wurzelt. An dieser Stelle möchte ich auch noch die Anstrengungen des Koreanischen Nationalmuseums würdigen, das anlässlich des 1.100sten Jubiläums der Gründung des Goryeo-Reichs eine Großausstellung organisiert hat. Sie umfasst wertvolle Artefakte aus vielen in- und ausländischen Sammlungen, die repräsentativ für Geschichte, Kunst und Kunsthandwerk des mittelalterlichen buddhistischen Königreichs sind. Da sich das Goryeo-Reich über die ganze koreanische Halbinsel erstreckte, sollten auch einige Relikte aus Nordkorea gezeigt werden, darunter auch die Statue von Goryeo-Gründer Taejo. Die Verhandlungen mit den betreffenden nordkoreanischen Stellen verliefen wohl nicht nach Plan, denn zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Grußwortes waren die Exponate noch nicht eingetroffen. Laut Museum stünden aber nach wie vor alle Türen offen.
VERLEGER Lee Sihyung REDAKTIONSDIREKTOR Kim Seong-in CHEFREDAKTEURIN Ahn In-kyoung REDAKTIONSBEIRAT Han Kyung-koo Benjamin Joinau Jung Duk-hyun Kim Hwa-young Kim Young-na Koh Mi-seok Charles La Shure Song Hye-jin Song Young-man Yoon Se-young COPY EDITOR Anneliese Stern-Ko KREATIVDIREKTOR Kim Sam LEKTORAT Ji Geun-hwa, Park Do-geun, Noh Yoon-young KUNSTDIREKTOR Kim Do-yoon DESIGNER Kim Eun-hye, Kim Nam-hyung, Yeob Lan-kyeong LAYOUT & DESIGN Kim’s Communication Associates 44 Yanghwa-ro 7-gil, Mapo-gu Seoul 04035, Korea www.gegd.co.kr Tel: 82-2-335-4741 Fax: 82-2-335-4743 ÜBERSETZER
Ahn In-kyoung Anneliese Stern-Ko Do Young-in Lie Yukyung Park Ji-hyoung
Preis pro Heft in Korea 6.000 Won Außerhalb Koreas US$9 Detailinformationen zu den Subskriptionspreisen finden Sie auf Seite 84. THE KOREA FOUNDATION BERLINER BÜRO c/o Botschaft der Republik Korea Stülerstraße 8-10, 10787 Berlin, Germany Tel: +49-(0)30-260-65-458 / Fax: +49-(0)30-260-65-52 E-mail: koreana@kf.or.kr
Ahn In-kyoung Chefredakteurin der deutschen Ausgabe
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST Winter 2018
GEDRUCKT WINTER 2018 Samsung Moonwha Printing Co. 10 Achasan-ro 11-gil, Seongdong-gu, Seoul 04796, Korea Tel: 82-2-468-0361/5 Viertejährlich publiziert von THE KOREA FOUNDATION 55 Sinjung-ro, Seogwipo-si, Jeju-do 63565, Korea http://www.koreana.or.kr
Bildnis einer schönen Frau (Detail) Shin Yun-bok Späte Joseon-Zeit Tinte und Farbe auf Seide, 114 × 45,5 cm.
© The Korea Foundation 2018 Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Publikation darf ohne vorherige Genehmigung der Korea Foundation in irgendeiner Form reproduziert werden. Die Meinungen der Autoren decken sich nicht notwendigerweise mit denen der Redaktionsmitglieder oder der Korea Foundation. Koreana ist als Vierteljahresmagazin beim Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus registriert (Reg. Nr. No. Ba-1033, August 8, 1987) und erscheint neben Deutsch auch auf Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Indonesisch, Japanisch Russisch und Spanisch.
© Sulwhasoo
SPEZIAL
K-Beauty: Die blühende Industrie und koreanische Ästhetik
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FOKUS
Rückblick auf das vergessene Königreich Goryeo
SPEZIAL 1
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SPEZIAL 3
Freigeistigkeit und Schönheitssinn jenseits der Konventionen
K-Beauty im Fokus der internationalen Beauty-Welt
Kim Seon-woo
Lim Seung-hyuk
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SPEZIAL 2
SPEZIAL 4
Ästhetisches Bewusstsein von Frauen in alten Malereien
K-Beauty: Ein ausführlicher Erlebnisbericht
Lee Tae-ho
Lee Hyo-won
52 UNTERWEGS
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Jindo: Reichtümer, Mut und Verzweiflung
Ingwer: Gewürz und Heilmittel zugleich
RUND UM ZUTATEN
Lee Chang-guy
Jeong Jae-hoon
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Jeong Myoung-hee
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HÜTER DES TRADITIONELLEN ERBES
40 Jahre auf dem Seil
GESCHICHTEN AUS ZWEI KOREAS
Die Stadt Pjöngjang von heute
Durch die Finsternis, einsam aber warm
Kim Hak-soon
Choi Jae-bong
Kang Shin-jae
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KUNSTKRITIK
Retrospektive Yun Hyong-keun: Abstrakte Landschaften des Schweigens und des Erhabenen Moon So-young
REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR
64 EIN GANZ NORMALER TAG Die wahre Freude des Taekwondo-Unterrichtens Kim Heung-sook
Gate 4 Ki Jun-young
SPEZIAL
-Beauty Die blühende Industrie und koreanische Ästhetik Spezial 1
Freigeistigkeit und Schönheitssinn jenseits der Konventionen Spezial 2
Ästhetisches Bewusstsein von Frauen in alten Malereien Spezial 3
K-Beauty im Fokus der internationalen Beauty-Welt Spezial 4
K-Beauty: Ein ausführlicher Erlebnisbericht
SPEZIAL 1
K-Beauty: Die blühende Industrie und koreanische Ästhetik
Freigeistigkeit und Schönheitssinn jenseits der Konventionen
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Eine Szene aus dem Musikvideo zu IDOL von BTS, der Nr. 1 unter den K-Pop-Gruppen. Das Video mischt traditionelle koreanische Motive wie Jadehase, Kieferbaum, Tiger, Maskentanz usw. mit kulturellen Elementen aus aller Welt.
Die Menschen, die auf diesem Boden leben, haben im Laufe der Jahrhunderte gelernt, sich mit Tanz, Gesang und Humor gegen Unterdrßckung zu wehren und eine innige Verbundenheit mit allem Leben in der Welt zu schaffen. Eine Welt, in der niemand und nichts ausgeschlossen wird und friedliche Koexistenz herrscht: Dieser Traum ist eine der Grundrichtungen des ästhetischen Sinns der Koreaner. Kim Seon-woo Dichter und Schriftsteller
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I
ch schrieb einmal: „Ich glaube, Gedichte sind Ausdruck des Willens, das Schöne festzuhalten.“ Da das Verständnis von Schönheit aber äußerst subjektiv ist, gibt es kein Richtig oder Falsch in Bezug auf Kreieren und Akzeptieren vom Schönen. Aus diesem Grund entzieht sich mir auch eine allgemein gültige Definition des „Schönheitssinns der Koreaner“. Doch über das „koreanische Etwas“, das mir als Dichter, der sich stets mit dem Schönem beschäftigt, besonders gefällt, kann ich einiges sagen. Es gibt z. B. Menschen, deren Anblick mich unwillkürlich „Schön!“ ausrufen ließ: Es waren die Mitglieder der Bangtan Boys, der besser als „BTS“ bekannten, populärsten koreanischen Boygroup. Seit ihrem Debüt 2013 evozieren sie bei mir ein bestimmtes Bild: das des Sibirischen Tigers, auch bekannt als „Koreanischer Tiger“ oder „Baekdusan-Tiger“. Am Anfang ihrer Karriere erinnerten mich die Jungs an Tigerjungen, die unbeschwert herumtollen. Mittlerweile sind sie zu souveränen Jungtigern geworden, die als Weltstars die Leiden ihrer Generationsgenossen in aller Welt lindern helfen. Die Performance der BTS, bei der diese Jungtiger mit ihren jeweils originären Talenten und Looks sich choreographisch fein abgestimmt wie ein einziger Großtiger bewegen, ist eine rhythmische Herausforderung, die einen schaudern lässt. Ich bezeichne ihren Auftritt oft als „die Schönheit der Wildnis“. Mir scheint, dass die Talente unserer Vorfahren als „Kuturgene“ über Generationen hinweg weitergegeben wurden und nun auf solche Art aufblühen.
Ästhetik des Wilden
Ursprung des „koreanischen Wilden“ ist die Wirklichkeit. Will sagen, Kunst und reales Leben sind nicht voneinander getrennt, vielmehr entsteht Schönheit in enger Verbindung mit dem realen Alltag, was sich z.B. darin ausdrückt, dass die Koreaner recht gut darin sind, bei jeder Gelegenheit
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und überall zu singen und zu tanzen. Das machen sie so gerne, dass sich eine eigene koreatypische „Noraebang-Kultur“ entwickelte (Noraebang: Karaoke-Raum, den man an jeder Straßenecke preisgünstig mieten kann). Das ausgeprägte Gespür der Koreaner für Singen und Tanzen und ihre Vorliebe für solche Unterhaltung lässt sich über 3.000 Jahre zurückverfolgen: Die Bangudae-Petroglyphen im Kreis Ulju-gun, die von unseren Vorfahren aus der Späten Neusteinzeit und der Bronzezeit stammen, zeigen ebenso tanzende Menschen wie die Grab-Wandmalereien aus der Goguryeo-Zeit (37 v. Chr.-668 n. Chr.). Und auch die vor dieser Zeit abgehaltenen Gemeinschaftsrituale zur Verehrung des Himmels waren Anlässe zum geselligen Miteinander: „Tag für Tag versammelten sich große Gruppen zum gemeinsamen Essen, Trinken und Singen, und da auch alle Wandersleute gerne sangen, verstummte der Gesang nie“, so eine alte Aufzeichnung. Zum Klang von Instrumenten zu singen und zu tanzen war einer der schönen Bräuche im Leben der Koreaner. Aussaat im Frühjahr, Feldarbeit im Sommer oder Ernte im Herbst: Alle Alltagsarbeiten wurden von Reiswein, Tanz und Gesang begleitet. Eine Bühne brauchten unsere Vorfahren dafür nicht. Felder, Marktplätze oder Vorderhöfe wurden zu Unterhaltungsbühnen. Daher entwickelten sich die Volkslieder, die gleichzeitig auch Arbeitslieder waren, von Region zu Region in vielfältiger Variation weiter. Das ist auch der Grund, warum es Hunderte, in Text und Melodie abgewandelte Variationen des Volksliedes Arirang, der inoffiziellen Nationalhymne Koreas, gibt. Unsere Vorfahren mit ihrem Faible für unkonventionelle und ungekünstelte Unterhaltung waren von Natur aus optimistisch und trösteten sich mit Tanz und Gesang über die großen und kleinen Widrigkeiten des Lebens hinweg. Sie verstanden den Willen des Himmels und fügten sich der Logik der 1 Natur, weshalb sie kaum melan© Leeum, Samsung Museum of Art
cholisch veranlagt waren und nicht über den Unvollkommenheiten und Tragödien des Lebens brüteten. Unmut wurde durch Humor und Satire Luft gemacht und jeder Augenblick genossen, sodass auch Schmerzhaftes bei Lachen, Singen und Tanzen verflog. Diese Fröhlichkeit und Euphorie gehören quasi zum „Nationalcharakter“. Kommt man einmal in Stimmung, wird gesungen und getanzt, egal, wo man gerade ist. Das befreit. Menschen, die sich so befreit haben, ergreifen die Hände anderer Menschen und solidarisieren sich mit ihnen. In unserer modernen Zeit erlebte ich diese typisch koreanische Euphorie bei den sog. Kerzenlicht-Demonstrationen. Die Fähigkeit, selbst den Kampf gegen die Staatsmacht in ein Fest zu verwandeln, gehört zu den einzigartigen Stärken der Koreaner. Die koreanische Geschichte wurde nicht durch einige wenige Helden geschrieben, sondern durch viele gewöhnliche Menschen. Wenn die Bürger von der herrschenden Schicht und der Politik hintergangen wurden, schlossen sie sich in kritischen Momenten stets zusammen. Ein Blick auf die Geschichte des 20. Jhs bestätigt das: Es waren namenlose Unabhängigkeitskämpfer, die sich während der japanischen Kolonialherrschaft von 1910 bis 1945 erhoben. Es waren Studenten, die am 19. April 1960 den Aufstand gegen die Militärdiktatur anführten. Und es waren die Bürger, die 1987 auf die Straße gingen und nach Demokratie riefen. Die Kerzenlicht-Demonstrationen im Winter 2016/17, die die ganze Welt in Erstaunen versetzten, entstanden nicht aus dem Nichts, sondern waren vielmehr Manifestationen des über Jahrhunderte geformten Geistes der Koreaner. Auch bei den Kerzenlicht-Demonstrationen blieb die Unterhaltung nicht außen vor. In der Fähigkeit der Koreaner, einen Ort des Widerstandes in einen Ort des Festes zu verwandeln, kommt ihre bewundernswerte, über die Zeitläufte hinweg kultivierte Lebenskraft zum Ausdruck.
ist größer als seine in tropischen Zonen lebenden Artgenossen wie der Bengalische Tiger, sein Fell ist zudem dichter und die Streifenzeichnung ausgeprägter. Diese Tigerart, deren enorme Stärke mit sanfter Eleganz einhergeht, und deren hochgradige Angespanntheit etwas ausgeprägt Lässiges hat, wird in unzähligen Kunstwerken dargestellt. Die Tiger in der koreanischen Volksmalerei strahlen Freiheit und Verschmitztheit aus und spiegeln damit die optimistische Natur der alten Koreaner wider. Es ist Vitalität pur. Die Tigerdarstellungen in der koreanischen Volksmalerei sind zwar bemerkenswert, aber unübertroffen ist das Tiger unter einem Kiefernbaum (Songha Maenghodo) des Hofmalers Kim Hongdo (1745–1806) aus der Joseon-Zeit. Die Darstellung ist in jeder Hinsicht meisterhaft, angefangen bei der exzellenten Harmonie zwischen Kiefernbaum und Tiger bis hin zur Gestaltung des Leere-Konzeptes. Das Yeobaek-Konzept des leeres Raums gibt Aufschluss über die Perspektive, aus der die Koreaner Natur und Welt betrachten. Die Leere gehört niemandem. Sie ist vielmehr ein „Horizont der Sinne“, der im Inneren jedes Betrachters neu gebildet wird. Wenn ich niedergeschlagen bin, betrachte ich Kims Tigerbild. Wenn ich mir den nach vorne schreitenden Tiger anschaue, die massive Vorderpfote ausgestreckt, den erhobenen Schwanz voll kräftiger Energie, verfliegt meine Trübsal im Nu. Der Tiger ist zwar ein gefährliches Tier, aber der Koreanische Tiger strahlt eher würdevolle Schönheit als bösartige Wildheit aus. Sein stolzer, selbstbewusster Geist wirkt keineswegs bedrohlich. Keine der traditionellen Malereien zeigt einen zähnefletschenden, angsteinflößenden Tiger. Der Charakter der
Pure Vitalität
Fasziniert von Flinkheit und Stärke des Koreanischen Tigers sammelte ich einst Tigerdarstellungen. Der Koreanische Tiger 1. Tiger unter einem Kiefernbaum von Kim Hong-do (1745-1806) und Kang Se-hwang (1713-1791). Späte Joseon-Zeit. Tusche und leichte Farben auf Papier. 90,4 x 43,8 cm. Der Koreanische Tiger mit seinem massiven Körper und schön gestreiftem Fell in einer hyperrealistischen Darstellung von Kim Hong-do, einem Maler, der dem Königlichen Amt für Kunst angehörte. Die Kiefer stammt von seinem Lehrer Kang Se-hwang. 2. Weißer Porzellantopf, Joseon-Zeit. Höhe: 43,8 cm, Durchmesser des Körpers: 44 cm. „Mondtopf“ ist die Bezeichnung für die großen weißen Porzellankrüge der Joseon-Zeit, die über 40cm hoch sind und einen vollen, runden Körper aufweisen. Obere und untere Hälfte werden separat gefertigt und dann aneinander gefügt. Nationalschatz Nr. 310.
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© National Palace Museum of Korea
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Die Heilige Glocke von König Seongdeok (Detail). 771. Höhe: 366 cm, Öffnung: Durchmesser: 227 cm. Diese berühmte koreanische Tempelglocke ist mit einem Reliefdesign geschmückt, das auf Lotusblüten knieende Apsara-Himmelswesen beim Darbringen einer Weihrauchopfergabe zeigt. © Ha Ji-kwon
alten Koreaner, die in einem Land mit einer außergewöhnlich hohen Tigerpopulation lebten, wurde auf den Tiger projiziert. Es ist eine sonderbare Harmonie der friedlichen Gegensätze: Der Tiger ist mächtig, stellt dies jedoch nicht zur Schau; er ist voller Energie, aber keineswegs grausam. Ich blicke in seine glitzernden Augen und streichle im Geiste seine mächtigen Pfoten. Das in Abertausenden von einzelnen Pinselstrichen dargestellte Fell wirkt täuschend echt. Es scheint, dass selbst Kim Hong-do, ein Künstlergenie, das jedes Objekt mit wenigen Pinselstrichen einzufangen vermochte, sich mit seiner Tigerdarstellung besondere Mühe gab und in einer askesegleichen Übung Tausende von haarfeinen Strichen aneinander reihte. Während
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ich meine Augen über jedes einzelne Haar streifen lasse, spüre ich, wie frische Energie in mir aufsteigt.
Radikale Ästhetik
Ebenso sehr wie die Koreanischen Tiger liebe ich die buddhistischen Tempel. An den landschaftlich reizvollsten Orten der einzelnen Regionen auf der koreanischen Halbinsel findet sich meist ein bedeutender Tempel, dessen Besuch unbedingt lohnt. Bei meinen Tempelbesuchen nehme ich stets an der Morgenandacht teil. Den Klang der Tempelglocke, der sich bei Tagesanbruch durch die Berge verbreitet, zu hören, ist wie auf den ursprünglichen „heiligen Klang“ zu treffen.
Die wohl repräsentativste koreanische Tempelglocke dürfte die Heilige Glocke von König Seongdeok sein, die im 8. Jh. während der Vereinigten Silla-Zeit (676-935) von seinem Sohn, König Gyeongdeok, zu Ehren seines Vaters in Auftrag gegeben wurde. Die Anfertigung dieser legendären, allgemein als „Emille-Glocke“ bekannten Glocke soll sagenhafte 34 Jahre gedauert haben. Sie ist berühmt für ihren tiefen und mysteriösen Nachhall, der sich selbst mithilfe modernster Technik bis heute nicht erklären lässt. Wenn die Tempelglocke in der Morgendämmerung und bei Sonnenuntergang zur Andacht ruft, wird ihr Klang zum Bittgebet, alle lebenden Wesen vom Schmerz zu befreien und ihnen Frieden zu schenken. Ihrer imposanten Größe entsprechend erzeugt die Glocke eine tiefe und weit tragende Resonanz. Gibt man sich mit geschlossenen Augen diesem Klang hin, spürt man mit jeder Faser des Körpers die Interkonnektivität des gesamten Universums. Öffnet man dann wieder die Augen, trifft man auf die Verkörperung des koreanischen Schönheitsideals. Am auffälligsten unter den strukturellen Besonderheiten der koreanischen Tempelglocken ist Yongnyu (Drachengriff), das hakenförmige Glied in Drachengestalt, das zum Aufhängen der Glocke dient. Bei chinesischen Tempelglocken, deren Geschichte weiter als die der koreanischen Tempelglocken zurückreicht, findet sich normalerweise ein symmetrisch angeordnetes Drachenpaar, während koreanische Glocken aus der Silla-Zeit gewöhnlich einen asymmetrischen Drachen als Aufhängevorrichtung besitzen. Während die chinesische Variante eher auf Stabilität und Funktionalität ausgerichtet ist, ist die koreanische Version sowohl ästhetisch ansprechend als auch funktional. Die Koreaner konnten einer rein statischen Symmetrie wenig abgewinnen. Ihr ästhetischer Sinn verlangte nach unkonventionellen Elementen. Der Drachenhaken Yongnyu, der vor lebendiger Kraft überzuquellen scheint, verleiht dem wellenartig ausströmenden Glockenklang gleichsam Form. Neben der Heiligen Glocke von König Seongdeok ist die Bronzene Glocke des Tempels Sangwon-sa, die ebenfalls auf das 8. Jh. datiert, ein weiteres Beispiel für Tempelglocken der Silla-Zeit. Beide Glocken weisen exquisite Apsara-Reliefe auf. Auch die Darstellung dieser fliegenden Himmelswesen ist dynamisch, unkonventionell und ebenfalls wieder asymmetrisch. Wie kann es sein, dass von einem kalten Metallobjekt die Wärme von Erde und Wind ausgeht? Blumen, Wolken, Wind und Flammen scheinen auf den beim Glockenschlag ausstrahlenden Wellen zu reiten und mein ganzes Ich für die empfindlichsten Sinneswahrnehmungen empfänglich zu machen.
Friedliche Koexistenz
Wenn über die koreanische Schönheit gesprochen wird, wer-
den häufig die Dal-Hangari (Mondtöpfe), die weißen Porzellantöpfe aus der Joseon-Zeit (1392–1910) als Beispiel genannt. Obwohl ich ein großer Bewunderer dieser Mondtöpfe bin, sehne ich mich doch manchmal nach einer „elaborierteren Ästhetik“ als die, die in der schlichten Eleganz dieses weißen Porzellans zu finden ist. Will ich meinen Durst nach absoluter Schönheit stillen, beschwöre ich die höchste Schönheit des Großen Goldbronzenen Räuchergefäßes von Baekje vor meinem geistigen Auge herauf. Als Räucherstäbchen-Liebhaber habe ich zahlreiche Räuchergefäß-Arten aus den verschiedensten Kulturen der Welt gesehen. Doch keins der Stücke ließ mein Herz so hoch schlagen wie das Baekje-Meisterwerk. Es ist eine perfekte Melodie und gleichzeitig ein Tanz. Ein Bonghwang (phönixartiger Wundervogel) mit einem magischen Chintamani-Wunschjuwel unter dem Kinn, sitzt mit im Wind wehendem Schwanz auf der Spitze eines Berges. Der runde Deckelteil des Gefäßes, auf dem ein grandioses „Fest geschwungener Linien“ gefeiert wird, stellt den Berg dar, auf dem die Unsterblichen leben. Berg und Wundervogel werden von einem Lotus gestützt, der wiederum von einem Drachen gehalten wird. Der Drache scheint mit einer Lotusblüte im Maul gen Himmel zu fliegen. Betrachten wir einmal die Details des Berges mit seinen Symbolen der idealen Welt etwas genauer: Unter dem Phönix befinden sich fünf Instrumente spielende Musiker. Wasserfälle und Flüsse schlängeln sich zwischen den Falten der einander überlappenden, in Relief geschnitzten Berggipfel hinab. Dazwischen sind 39 verschiedene Tierarten und 11 Unsterbliche zu sehen. Auf den Blättern des lotusförmigen Hauptteils tummeln sich 24 Tierfiguren und zwei Unsterbliche. Stellen Sie sich vor, wie der Rauch durch die kleinen Öffnungen zwischen den Berggipfeln und in der Brust des Wundervogels entweicht; wie er duftet, wenn er sich wie Nebel um den Berggipfel in dieser idealen Welt schlingt und einer Opfergabe gleich gen Himmel steigt. Das Utopia, nach dem sich die Koreaner sehnen, ist ein Land solch friedlicher Koexistenz aller Kreaturen der Welt. Die Menschen des Baekje-Reichs (18 v. Chr.-660 n. Chr.) sehnten sich also nach einer Welt, in der Mensch und Tier in Harmonie miteinander leben und der Mensch eins mit der Natur ist. Jedes einzelne Element des Räuchergefäßes ist von superber Schönheit. Wie schon an der drachenförmigen Aufhängung der Tempelglocke zu sehen, gaben sich unsere Vorfahren auch beim Fußteil des Räuchergefäßes nicht mit der rein tragenden Grundfunktion zufrieden, sondern verliehen selbst dem Fuß eine gleichsam melodisch-rhythmische Form. Ich bezeichne den Räuchergefäßfuß daher als „singenden Drachen des Windes“. Er ist nämlich sowohl Melodie als auch Drache, sowohl Tanz als auch Wind.
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SPEZIAL 2
K-Beauty: Die blühende Industrie und koreanische Ästhetik
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Ästhetisches Bewusstsein von Frauen in alten Malereien Auf den ersten Blick scheint „K-Beauty“ von den traditionellen koreanischen Wertvorstellungen oder Schönheitsnormen abzuweichen. Betrachtet man jedoch die junge Generation, die in die traditionelle Tracht Hanbok gekleidet durch die Königspaläste spaziert, lässt sich schlecht behaupten, dass sie völlig von der Tradition abgeschnitten sei. In diesem Kontext gewähren die Wandmalereien in den Königsgräbern des Goguryeo-Reichs (37 v. Chr.-668 n. Chr.) sowie die Genremalereien der späten Joseon-Zeit (13921910) einen guten Einblick in die traditionellen Schönheitsideale koreanischer Frauen. Lee Tae-ho Gastprofessor für Kunstgeschichte, Myongji
Mit freundlicher Genehmigung von Lee Tae-ho
University; Leiter des Forschungsinstituts für Landschaftsmalerei
Ausschnitt aus den Wandmalereien in Muyongchong, einem aus dem 5. Jh. stammenden Goguryeo-Grab in der Tonggou-Ebene, Provinz Jilin, China. Die beiden Frauen sind klein von Gestalt und haben ein rundes Kinn, was sie in ihrer ungekünstelten Art attraktiv erscheinen lässt.
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n den Wandmalereien der Goguryeo-Gräber aus dem 4.-6. Jh. sind viele Frauen aus unterschiedlichen Schichten zu sehen, darunter Königinnen und Adlige, Tänzerinnen, Musikerinnen und Dienerinnen. Abgesehen von der Königin und den Hofdamen in den Wandmalereien in Grab Nr. 3 im Grabfeld in Anak-gun, Provinz Hwanghaenam-do in Nordkorea, sind nur wenige korpulent. Die Frauen sind allgemein von kleiner und zierlicher Gestalt und haben ein rundes Kinn. Interessanterweise sind die Frauen der Oberschicht trotz ihrer achtungsgebietenden Haltung und prachtvollen Kleidung nicht übermäßig attraktiv. Die Maler von damals richteten ihre Aufmerksamkeit offensichtlich stärker auf die Darstellung von Frauen oder jungen Mädchen aus dem einfachen Volk. Sie nutzten diese auch als Motivvorlagen für die Darstellung des weiblichen Schönheitsideals der Zeit, wie es in Abbildungen der Apsaras oder der symbolischen Darstellung von Sonne und Mond zum Ausdruck kommt.
Miss Goguryeo
Die „Miss Goguryeo“ findet sich indes in der Wandmalerei von Muyongchong, dem sog. „Grab des Tanzes“ aus dem 5. Jh. in Tonggou, Provinz Jilin, im Nordosten Chinas: Es sind zwei Frauen, die aus der Küche treten, um Essen und Tee zu servieren. Die erste trägt einen Tabletttisch, die Frau dahinter ein Tablett. Die Oberbekleidung ist ein kittelartiges Gewand in Weiß bzw. Rot, gesprenkelt mit schwarzen Punkten. Darunter lugen weiße Faltenröcke und rote Hosen hervor, dazu zipfelartig
spitz zulaufende Schuhe, die an die traditionellen koreanischen Stoffsocken Beoseon erinnern. Sie sind also adrett gekleidet. Die Frauen sind klein von Gestalt und haben einen kräftigen Unterkörper, ihre rundlichen, flachen Gesichter wirken einfach und unbedarft. Ihre Frisuren – die eine trägt einen Nackenknoten, die andere einen hochgesteckten Chignon – verraten, dass diese eine gesunde Schönheit ausstrahlenden jungen Frauen auf die 20 zugehen bzw. in den 20ern sind. Als ich im Mai 2006 an einem innerkoreanischen Projekt zur gemeinsamen Erforschung von Wandmalereien in Goguryeo-Gräbern teilnahm, entdeckte ich in einer Wandmalerei des Grabes in Susan-ri in Pjöngjang eine frische GoguryeoMaid. Es ist eins der Dienstmädchen des Ehepaares, dem das Grab gehört. Die Malerei zeigt das Ehepaar samt Familie beim Zuschauen einer akrobatischen Vorführung, das Mädchen hält der Dame in der Mitte schützend einen Sonnenschirm über den Kopf. Auch wenn die Wandmalerei so stark beschädigt war, dass Details schwer zu erkennen sind, lässt sich doch sagen, dass das schmale, ovale Gesicht des Mädchens sich nicht besonders von dem der heutzutage als Schönheiten bezeichneten Frauen unterscheidet. Sie ist so schön wie die weiße Blüte eines Flaschenkürbisses, die in einer Mondnacht aufblüht. Die Darstellung des Mädchens lässt vermuten, dass die Menschen von Goguryeo ein solch zartes, feminines Aussehen als weibliches Schönheitsideal betrachteten. Hinter der Unerschrockenheit der Männer, die das nordostasiatische Großreich Goguryeo schufen, steht letztendlich immer eine Frau. Unter den vielen, für ihren starken Charak1. Dano-Tag von Shin Yun-bok (1758 -1814). Spätes 18. Jh., Tusche und Farbe auf Papier, 28,2 × 35,6 cm.
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© Kansong Art and Culture Foundation
Diese Genremalerei von Shin Yun-bok, einem Hofkünstler der Späten Joseon-Zeit, zeigt mit schnellen, fließenden Pinselstrichen gemalte Frauen, die sich am Dano-Tag (fünfter Tag des fünften Monats nach Lunarkalender) vergnügen. Nationalschatz Nr. 135.
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2. Ausschnitt aus den Wandmalereien des wahrscheinlich im späten 5. Jh. angelegten Grabs von Susan-ri im heutigen Pjöngjang. Die Dienerin, die einen Schirm für ihre Herrin hält, hat ein delikates, unschuldig wirkendes Gesicht.
ter bekannten Goguryeo-Frauen sind Yuhwa, die Mutter des Goguryeo-Gründers Jumong (reg. 37 v. Chr.-19 v. Chr.), und Jumongs Gemahlin Soseono zu nennen. Weiterhin Prinzessin Pyeonggang, die einen einfachen Bürger namens Ondal heiratete, sowie Yeon Gaesoyeong und Yeon Gaesojin, die jüngeren Schwestern von General Yeon Gaesomun, der die Invasoren aus Tang-China zurückschlug. Daher rührt die allgemeine Vorstellung, dass die Goguryeo-Frauen stark und zäh gewesen sein müssen, doch in den Wandmalereien werden sie in feinen und geschmeidigen Linien und Farbtönen als anmutige Wesen dargestellt.
D i e F r a u e n g e s t a l t e n i n d e n Wa n d m a l e r e i e n v o n Ssangyeongchong (Zwei-Säulen-Grab) in der Stadt Nampo und im Grab in Susan-ri, Pjöngjang – beide in der heutigen nordkoreanischen Provinz Pyeongannam-do gelegen und Ende des 5. , Anfang des 6. Jhs errichtet – sind im Vergleich zu den Malereien aus den Zeiten davor mit viel delikateren und weicheren Linien dargestellt. Außerdem sind sie verglichen mit den Frauen in den Wandmalereien in den Gräbern der Tonggou-Region stärker geschmückt und wirken eleganter, was auch in ihrer Kleidung zum Ausdruck kommt: Sie tragen einen A-Linien-Rock, der wie der kittelartige Überwurf eine nach unten hin ausschwingende Trapezform aufweist und schlichte Schönheit ausstrahlt. Die Bekleidung der Goguryeo-Zeit zeichnet sich durch bequeme Einfachheit aus. Die Kleidung von Frauen aus dem einfachen Volk ist zwar schlicht, strahlt aber die legere Anmut von Alltagskleidung aus. Kragen, Ärmelenden und Saum des boleroartigen Oberteils und kittelartigen Überwurfs sind mit sich farblich abhebenden schwarzen oder farbigen Borten versehen, um die Taille ist eine Schärpe geschlungen. Abgesehen von den Röcken adliger Damen, die mit breiten, mehrfarbigen Streifen geschmückt waren, sind die Frauenröcke meistens weiß und weit geschnitten mit feinen Falten, manchmal findet sich aber auch ein farbiger Besatz am Saum. Die Bekleidung in der Goguryeo-Zeit bestand für Männer und Frauen grundsätzlich aus Hose und Jeogori-Oberteil. Die Frauen trugen über der Hose meist noch einen gefalteten Rock und das Oberteil war lang genug, um das Gesäß zu bedecken. Der „Zweiteiler“ gilt in der Weltgeschichte der Bekleidung als die beste Lösung für Alltagskleidung und ist heutzutage der am weitesten verbreitete Modestil. Im Koreanischen wird Kleidung dieses Stils zwar aufgrund ihrer Herkunft aus dem Westen als „Yangbok“ („westliche Kleidung“), bezeichnet, aber die erste Darstellung des Zweiteilers in der Weltgeschichte findet sich in einer Gogureyo-Gabmalerei aus dem 4. Jh. Daher ließe sich behaupten, dass das Goguryeo-Reitervolk den Zweiteiler erfunden hat. Der Goguryeo-Zweiteiler ist eine Kombination aus brustho-
Mit freundlicher Genehmigung von Lee Tae-ho
Frauen in Zweiteilern
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hem Rock und Jeogori-Oberteil in jeweils anderen Farben. Die Frauen trugen weiße Röcke mit einem Jeogori in Weinrot, Rosa oder Dunkelviolett, eine kühne und zugleich elegante Farbkombination. Diese Zwei-Farben-Kombination könnte das Farbempfinden verfeinert und die Entwicklung von Färbe- und Webtechniken angetrieben haben. Bei den Wandmalereien von Ohoebun (Fünf-Helme-Gräber) Nr. 4 in der Tonggou-Ebene, die Darstellungen der Sonnen- und Mondgottheiten in Oberteilen mit flügelartigen Ärmeln sowie weiten Röcken zeigen, fällt auf, dass das rot-grüne Gewand der Sonnengottheit prachtvoller ist als das in einer gedämpfteren Kombination gehaltene braun-gelbe Gewand der Mondgottheit. Die Kombination aus Komplementärfarben wie Rot und Grün, die sich öfters in Wandmalereien der vier Symbole der Sternekonstellationen in der späten Goguryeo-Zeit findet, kann als Ausdruck des koreanischen Farbempfindens betrachtet werden. Die Kleidung in den Goguryeo-Grabmalereien zeigt den Prototyp des Hanbok, der in Form des in der späten Joseon-Zeit vervollkommneten Stils bis in die heutige Zeit tradiert wurde. Es ist jedoch schwer, den Wandel von der Goguryeo- bis zur
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Die Frauen in den Bildern von Shin Yun-bok waren wohl zur „neuen Generation“ gehörende Trendsetterinnen. Die Kombination aus indigofarbigem Rock und weißem Jeogori, die sie Anfang des 19. Jhs in Mode brachten, sind in ihrer Eleganz vergleichbar mit der Kleidung, die die Pariserinnen der Zeit trugen. Joseon-Zeit lückenlos zu verfolgen, da es nur wenige Relikte oder Darstellungen gibt, die Aufschluss darüber geben könnten, wie sich der Kleiderstil im dazwischen liegenden Zeitraum des Vereinten Silla-Reichs (37 v. Chr.-935 n. Chr.) und des GoryeoReichs (918-1392) gewandelt hat. Doch auch in der Joseon-Zeit trug man nach der Tradition von Goguryeo grundsätzlich einen Zweiteiler aus Rock und Jeogori in jeweils unterschiedlichen Farben. Der auffälligste Unterschied dürfte darin bestehen, dass in der späten Joseon-Zeit das Jeogori-Oberteil deutlich kürzer wurde. Die kühne Rot-Grün-Kombination war dabei meist feierlicheren Anlässen vorbehalten, während man für Alltagskleidung Indigoblau bevorzugte.
Instinktives Streben nach Schönheit
Die Genremalereien der späten Joseon-Zeit lassen sich in zwei Arten einteilen: Während die Genremalerei im 18. Jh. auf das Arbeitsleben der ländlichen Gemeinschaften fokussierte, rückte Anfang des 19. Jhs die Darstellung der städtischen Unterhaltungskultur in den Vordergrund. Die Bilder der ersten Richtung zeigen meist Frauen bei wirtschaftlichen Tätigkeiten oder bei der Hausarbeit, die der zweiten bei Ausflügen oder Spielen. Repräsentative Beispiele dafür sind jeweils Pungsok hwacheop (Genrebilder-Album) von Kim Hong-do (1745-1806) bzw. Miindo (Bildnis einer schönen Frau) und Pungsokdo hwacheop (Genrebilder-Album) von Shin Yun-bok (1758-?). Die Darstellungen geben so realitätsnah Aufschluss über Trends und Stile, dass sie als Kompendium der Mode gelten können. Insbesondere die Genrebilder aus der Zeit von König Sukjong (reg. 1674-1720) und König Sunjo (reg. 1800-1834) zeigen Frauen von Joseon, die ihrer persönlichen Vorstellung von Schönheit Ausdruck zu verleihen versuchen, was nicht mit dem stereotypen Bild der sittsamen, vom Patriarchat unterdrückten Frau übereinstimmt. Das ästhetische Bewusstsein dieser Frauen aus der späten Joseon-Zeit widerspricht dem von den neokonfuzianischen Gelehrten der Zeit vertretenen Normen- und Sittenkodex: Geschürzte, an der Taille hochgebundene Röcke, die einen Blick auf die weißen Unterrockhosen erlauben, lagen Welten entfernt vom Gebot der Züchtigkeit. Einige setzten sich über den auf der Standeszugehörigkeit basierenden Kleiderko-
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dex hinweg und ignorierten selbst die königliche Anweisung bezüglich des Gebrauchs dekorativer Haarteile. Andere Frauen gingen sogar soweit, mit hautengen JeogoriOberteilen die Linien ihres Oberkörpers zu betonen, während sie den Unterkörper mit einem bauschig geschichteten Rock bedeckten. Sie mochten also einen Stil, der sie obenherum schlank und untenherum füllig erscheinen ließ, was Assoziationen an Dal-Hangari, die reinweiße Mondtopf-Keramik aus der späten Joseon-Zeit, aufkommen lässt. Interessant ist, dass zur gleichen Zeit in Europa eng anliegende Oberteile und voluminöse Röcke im Trend waren. Im übrigen bevorzugten die Frauen der späten Joseon-Zeit für ihre Alltagskleidung Blau. Blau wurde in allen Schattierungen getragen, von hellen Auquamarintönen bis zum satten Indigoblau. Das findet sich bestätigt in Shin Yun-boks Genrebilder-Album. Eine Analyse der Frauenkleidung in den 30 Bildern zeigt, dass 52 der 70 Frauen (74%) in verschiedene Blautöne gekleidet sind. Die beliebte Kombination aus weißem Oberteil und indigoblauem Rock erinnert an Cheonghwa Baekja, weißes Porzellan mit kobaltblauem Dekor, das zu dieser Zeit populär war. Vielleicht rührt die Vorliebe für diese Farbkombination aus der Liebe zum klaren, blauen Herbsthimmel, über den weiße Wolken ziehen. Andere, wenn auch seltenere Farbkombinationen in den Bildern sind roter Rock mit gelbem Oberteil und indigoblauer Rock mit pinkem, gelbgrünem oder violettem Oberteil.
Originalität in Schlichtheit
Die adligen Joseon-Frauen schmückten ihr weißes Jeogori-Oberteil mit farbigen Stoffbesätzen, die sie am Kragen, an den Ärmeln oder am Seitensaum anbrachten. Diese Art von Jeogori nannte man „Samhoejang Jeogori“ (Jeogori mit Dreifach-Bordüre). Waren nur Kragen und Ärmel verziert, sprach man von „Banhoejang Jeogori“ (Halbbordüre-Jeogori); Jeogori ohne Besatz wurden „Min Jeogori“ genannt. Die erfrischende Harmonie von weißem Jeogori mit Besätzen in kalter Farbe zeigt, wie diese Frauen nach Originalität unter Wahrung der ästhetischen Schlichtheit strebten. Eine zusätzliche Note von Eeleganz verliehen Accessoires wie Norigae (Schmuckknotenanhänger),
© Kansong Art and Culture Foundation
Dwikkoji (Chignon-Ziernadel), Tteoljam (Haarsteckschmuck), Binyeo (Chignonnadel) und Schuhe. Da das Jeogori mit Dreifach-Bordüre Damen der Oberschicht vorbehalten war, erscheint es selten in Genremalereien. In Shin Yun-boks Bildband tragen es nur drei Frauen, die alle der Oberschicht angehören dürften. Die übrigen Frauen mit einem Halbbordüre-Jeogori oder einem einfachen Jeogori waren vermutlich Gisaeng (professionelle Unterhalterin) oder einfache Bürgerinnen. Shin Yun-boks Bildnis einer schönen Frau zeigt eine elegante Oberschicht-Dame der späten Joseon-Zeit, die als Verkörperung des Schönheitsideals der Vormoderne gelten kann. Sie wird zwar häufig für eine Gisaeng gehalten, ihr Samhoejang Jeogori lässt aber auf eine Adlige schließen. Das Haar dieser Frau, die noch in ihren 20ern sein dürfte, ist sauber nach hinten gekämmt und in einer dicken Flechte um den Kopf gesteckt, wobei ein dekoratives Haarteil von moderater Größe für mehr Volumen sorgt. Ihr weißes, mit blauroten Besätzen verziertes Jeogori, das sie zu ihrem Rock in hellem Indigoblau trägt, wirkt schlicht und prächtig zugleich. Die blaurote Stoffhaarschleife und das rote Band an der Seite des Jeogori betonen die Schönheit der Frau. Die Art, wie ihr leicht zur Seite gedrehter Fuß in der weißen Stoffsocke unter dem langen, bauschigen Rock hervorlugt, und der Ausdruck auf ihrem graziös gesenktem Gesicht haben etwas Kokettes an sich. Die Frauen in den Bildern von Shin Yun-bok waren wohl zur „neuen Generation“ gehörende Trendsetterinnen. Die Kombination aus indigofarbigem Rock und weißem Jeogori, die sie Anfang des 19. Jhs in Mode brachten, sind in ihrer Eleganz vergleichbar mit der Kleidung, die die Pariserinnen der Zeit trugen. Das darauf folgende Jahrhundert war eine schwierige Zeit für die Koreaner. Die „modern girls“ und die Frauen danach, die während der japanischen Kolonialherrschaft Anfang des 20. Jhs die westliche Kultur über Japan aufnahmen, hatten es schwer, einen eigenen Stil zu kreieren, da sie anderen nacheifern wollten bzw. mussten. Weitere 100 Jahre später haben die Nachkommen dieser Frauen den K-Beauty-Trend geschaffen und die Welt darauf aufmerksam gemacht. Die koreanischen Frauen des 21. Jhs sind vielleicht eine „neue Spezies“, die sich radikal von ihren Vorgängerinnen unterscheidet und fundamentale Umbrüche in der Kulturgeschichte des Landes bewirkt.
Bildnis einer schönen Frau von Shin Yun-bok. Spätes Joseon-Reich. Tinte und Farbe auf Seide. 114 × 45,5 cm. Dieses Gemälde, das eine Frau mit flirtendem Ausdruck auf ihrem leicht gesenkten Gesicht zeigt, offenbart den realistischen Ästhetiksinn des Malers. Zusammen mit ihrem Kleiderstil, der ihre Herkunft aus der Oberschicht andeutet, gilt sie als Verkörperung des traditionellen koreanischen Ideals weiblicher Schönheit. Schatz Nr. 1973.
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Natürliche Schönheit
präsentiert im Kosmetikmuseum im Herzen Seouls Das Kosmetikmuseum Coreana (Coreana Cosmetics Museum) im Seouler Stadtteil Gangnam-gu ist das einzige seiner Art in Korea. In diesem in der K-Pop-Brutstätte gelegenen Museum erfährt der Besucher mehr über Koreas lange Geschichte der Schönheitspflege und das Konzept der natürlichen Schönheit, auf das der aktuelle „K-Beauty-Boom“ zurückgeht. Lee Ji-sun Kuratorin, Coreana Cosmetics Museum Fotos Ahn Hong-beom
Die koreanische Kultur ist von einem Schönheitssinn geprägt, nach dem man sich der Natur nicht widersetzt, sondern mit ihr im Einklang zu sein strebt. Diese Besonderheit, die sich in Architektur, Kleidung und kulinarischen Traditionen widerspiegelt, prägt auch die Kosmetikkultur. Den menschlichen Figuren nach zu urteilen, die sich in alten Wandmalereien und auf anderen Relikten finden, hatte die koreanische Kosmetikkultur bereits im 1. Jh. v. Chr. ein ziemlich hohes Niveau erreicht. Im 10. Jh. der Goryeo-Zeit (918–1392), als exquisite Kosmetikbehälter und Bonzespiegel hergestellt wurden, gelangte auch die Kosmetikkultur zur Blüte. In der Joseon-Zeit (1392-1910), als das Konzept der natürlichen Schönheit aufkam, bemühte man sich mit natürlichen Kosmetika um ein schlicht-anmutiges Aussehen. So hat sich die koreanische Kosmetikkultur beständig weiterentwickelt und mit Hilfe moderner Technologien wurde die Wirkung der natürlichen Inhaltsstoffe traditioneller Kosmetika maximiert, um dem Wunsch der Menschen von heute, noch schöner auszusehen, zu entsprechen.
K-Pop und K-Beauty Das Kosmetikmuseum Coreana wurde 2003 auf Basis der Sammlung von Yu Sang-ok, Gründer und CEO von Coreana Cosmetics, eröffnet. Nach Treffen mit ausländischen Geschäftspartnern bedauerte Yu stets, dass die hochwertige koreanische Kosmetikkultur in der Welt nicht ausreichend bekannt war. Deshalb befasste er sich intensiv mit der traditionellen koreanischen Kultur und erweiterte nebenher seine Kollektion Schönheits-bezogener Artefakte. Mit dem Gebäudedesign beauftragte Yu den renommierten Öko-Architekten
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In vormodernen Zeiten verwendeten koreanische Frauen gemahlene Körnerfrüchte wie Mungobohnen, Sojabohnen und rote Bohnen zur Gesichtsreinigung, was auch im Dongui Bogam, der zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörenden Enzyklopädie der östlichen Medizin aus dem 17. Jh., beschrieben wird. Zu den am häufigsten verwendeten Grundstoffen für Gesichtspuder und farbiges Make-up gehören Reis, Wunderblumensamen, rote Lehmerde und Färberdistelblüten.
© Coreana Cosmetics Museum
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Chung Guyon (1945-2011). Der CEO einer Kosmetikfirma, der die Quelle der Schönheit in der Natur suchte, und der Architekt, der durch ökofreundliches Design Harmonie von Mensch und Natur anstrebte, beschlossen, einen Raum zu schaffen, der einem mitten in der Stadt gelegenen Garten ähnelt. Ihre Bemühungen trugen Früchte und heute kann sich das Gangnam-Viertel als dynamischer Kultur-Hub behaupten, der nicht nur K-Pop, sondern auch K-Beauty anführt. 1
Natürliche Inhaltsstoffe Beim Betreten des Museums fällt der Blick als Erstes auf Inhaltsstoffe, die Frauen in vormoderner Zeit für ihr Make-up verwendeten. Man würde erwarten, dass die Kosmetikbestandteile von damals anders als die von heute wären und ist entsprechend überrascht, Getreide und andere natürliche Alltags-Ingredienzien ausgestellt zu finden, die zudem auch im Dongui Bogam (Enzyklopädie der östlichen Medizin) des Hofarztes Heo Jun (1539-1615) Erwähnung finden. Dieses aus der Joseon-Zeit stammende Kompendium der östlichen Medizin, das auch zum UNESCO-Dokumentenerbe gehört, enthält neben detaillierten Arzneimittelrezepten gegen verschiedene Krankheiten auch relevante Informationen über Schönheitspflege wie z.B. Nährstoffversorgung, Hautaufhellung und Anti-Aging sowie zur Behandlung von Vergiftungen durch Gesichtspuder oder Hautprobleme wie Pusteln. Es überrascht, dass die Hautprobleme von früher nicht so viel anders als die von heute waren. Zu den Exponaten gehören Gesichtsreinigungsmittel aus gemahlenen Mungobohnen, Sojabohnen oder roten Bohnen sowie Puder aus fein gemahlenen Reiskörnern, Wunderblumensamen oder Lehm. Interessant ist, dass die Frauen von einst nicht irgendein Puder auftrugen, sondern bewusst nach natürlichen Rohstoffen forschten, die zu ihrem Teint passten. So stellten sie Farbpuder her, indem sie die jeweiligen Basisstoffe mit weißem Pulver mischten. Die Farbpalette reichte von einem leichten Pfirsichton bis Perlweiß. Zu sehen sind weiterhin Materialien für die Augenbrauen, die für die Frauen von einst ebenso wichtig waren wie abdeckende Puder oder aus Färberdistelblüten hergestelltes Rouge für Wangen und Lippen. Die Kosmetika werden nach alten Methoden gerührt, um dem Besucher ein besseres Verständnis für Herstellungsweise und Anwendung zu vermitteln.
1. Porzellantiegel-Kosmetikset mit eingelegtem Chrysanthemen-Design. Goryeo-Reich. Durchmesser: 11,4 cm (äußerer Tiegel), 3,6 cm (innere Tiegel). Der Deckel des äußeren Porzellantiegels ist mit Chrysanthemen-Dekor geschmückt. Die Mojahap-Tiegelchen im Inneren dienten der Aufbewahrung von Gesichtspuder, Rouge, Augenbrauenfarbe und anderen Kosmetikutensilien. 2. Perlmuttintarsien-Lackschatulle mit Spiegel. Joseon-Reich. Breite: 18,6 cm, Tiefe: 25,5 cm, Höhe: 15,6 cm. Die Schatulle ist an der Vorderseite mit Schildpatt-Dekor versehen, die Seitenteile weisen ein Landschaftsdesign auf. Der Deckel kann nach hinten geklappt werden, um den Spiegel abzustützen. An der Vorderseite befindet sich eine Schublade zum Verstauen von Makeup-Utensilien. 3. Spiegel mit BaoxianghuaDekor. Goryeo-Reich. Durchmesser: 18,9 cm. Der runde Kupferspiegel ist auf der Rückseite mit einem Baoxianghua-Dekor versehen. Dieser Dekor ist typisch für das Goryeo-Reich und findet sich nur selten in China oder Japan.
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Im 10. Jh. der Goryeo-Zeit (918–1392), als exquisite Kosmetikbehälter und Bonzespiegel hergestellt wurden, gelangte auch die Kosmetikkultur zur Blüte. Vielfältige Keramikgefäße Während Kosmetika hauptsächlich von Frauen verwendet wurden, waren Duftstoffe bei Männern und Frauen gleichermaßen beliebt. In der traditionellen koreanischen Gesellschaft wurden Duftstoffe im Alltagsleben allgemein zur Beseitigung von Körpergeruch, als Insektenschutz und zur körperlichen sowie geistigen Entspannung eingesetzt. Damit der Duft lange dezent erhalten blieb, trug man ihn auf Accessoires auf oder bewahrte Duftstoffbeutel im Schrank auf. Das Museum verfügt über einen gesonderten Bereich für traditionelle Duftstoffe, wo der Besucher verschiedene Duftnoten testen kann. Da die meisten der traditionellen Kosmetikprodukte vom Nutzer persönlich für den Eigenbedarf hergestellt wurden, konnten sie nur in kleinen Mengen produziert werden.
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Auch die Aufbewahrung war ein Problem, da Naturstoffe leicht verderben. Daher füllte man die Kosmetika in kleine Keramikbehälter. Anders als Metall ist Keramik atmungsaktiv, was Schlechtwerden verhindert. Das Museum präsentiert eine Vielfalt von Kosmetikbehältern aus unterschiedlichen Zeiten, darunter Tonwaren aus der Zeit des Vereinten Silla-Reiches (676-935), Seladon aus Goryeo bis hin zu Buncheong-Keramik (graublaue Keramik mit weißer Glasur) und Cheonghwa Baekja (weißes Porzellan mit kobaltblauem Dekor) aus dem Joseon-Reich. Die Behälter sind nicht nur in Farbe und Muster unterschiedlich, sondern auch in der Form. Gefäße wie Ölkrüge, Puderkrüge und -dosen sowie Puderteller geben Einblick in die Kosmetikkultur der Zeit, die dank der fortgeschrittenen Keramikherstellungstechniken florierte.
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Exponate und Mitmachprogramme Die Einführung der modernen westlichen Kultur brachte auch einen Wandel in Bezug auf die bis dahin in Keramikgefäßen aufbewahrten Naturkosmetika. Im Museum sind nach Perioden geordnet verschiedene Kosmetikartikel wie Parkabun (Parks Gesichtspuder), das erste moderne Kosmetikprodukt Koreas, ausgestellt, die einen Einblick in die moderne Kosmetikgeschichte Koreas geben. Die Dauerausstellungen des Museums zeigen Gegenstände für den persönlichen Alltagsgebrauch wie Kämme und Spiegel sowie Accessoires wie Binyeo (Chignon-Haarnadel) und Norigae (Schmuckknotenanhänger, die am Hanbok-Oberteil getragen werden). Da zudem noch die Kosmetikkulturen von China und Japan, mit denen Korea engen kulturellen Austausch pflegte, vorgestellt werden, erhält der Besucher einen vergleichenden Überblick über die verschiedenen Traditionen der Schönheitspflege in Nordostasien. Um die traditionelle koreanische Kosmetikkultur in der Welt vorzustellen, veranstaltet das Museum auch in anderen Ländern Ausstellungen. Gleichzeitig bietet es – für koreanische und auch für ausländische Besucher – diverse, auf verschiedene Altersgruppen abgestimmte Erlebnisprogramme wie Herstellung von traditionellen Kosmetikprodukten, olfaktorische Erlebnistour traditioneller Düfte und Herstellung von ganz persönlichen DIY-Kosmetikartikeln.
1. Norigae mit drei mit Edelsteinen geschmückten Quasten. Joseon-Reich. Länge: 38 cm. Der Schmuckknotenanhänger Norigae war ein Kleider-Accessoire, das in der Joseon-Zeit bei Edeldamen genauso beliebt war wie bei Frauen aus dem einfachen Volk. Am luxuriösten war ein Norigae mit drei Quasten, die mit drei unterschiedlichen Edelsteinen geschmückt waren. 2. Jade-Haarnadeln mit Durchbruch-Dekor. Joseon-Reich. Länge: (von oben) 24 cm, 37,4 cm, 25,2 cm, 20 cm. Binyeo wurden von Frauen zur Fixierung des Haarknotens verwendet. Diese Haarnadeln unterscheiden sich in Material und Design je nach sozialer Schicht, Anlass und Jahreszeit. Im Sommer waren v.a. Binyeo aus Jade beliebt.
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SPEZIAL 3
K-Beauty: Die blühende Industrie und koreanische Ästhetik
K-Beauty im Fokus der internationalen Beauty-Welt Die Koreawelle Hallyu, die mit TV-Serien begann, ist in Form von K-Beauty auf den Schönheitsmarkt übergeschwappt. Mit der zunehmenden Beliebtheit, der sich koreanische Hautpflege- und Make-up-Produkte auf dem Weltmarkt erfreuen, steht die heimische Kosmetikbranche nun an einem wichtigen Wendepunkt. Lim Seung-hyuk Chefredakteur der Digitalzeitschrift Beauty In Fotos Heo Dong-wuk
Zahlreiche „road shops“ und Flagship-Läden koreanischer Beauty-Marken säumen die Straßen von Myeong-dong im Herzen Seouls. Das Viertel gilt bei Touristen als eine der beliebtesten Einkaufsmeilen der Hauptstadt.
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ie Koreawelle Hallyu, die durch die koreanischen TV-Serien, die nach der Jahrtausendwende auch im Ausland Fans gewannen, ausgelöst wurde, verbreitet sich über China, Japan und Südostasien hinaus auf die ganze Welt. Dabei hat sie in Form von K-Pop auch die Musik erfasst und erobert derzeit als „K-Beauty“ die internationale Beauty-Welt. Der internationale Kosmetik-Riese L’Oréal übernahm im Mai 2018 für 400 Mrd. KW (ca. 313 Mio. €) 3CE, die im unteren und mittleren Preissegment angesiedelte Kosmetikmarke des koreanischen Online-Modeunternehmens Stylenanda Inc., um auf dem chinesischen Markt zu expandieren, wo 3CE unter den Farbkosmetikherstellern in der Markenwiedererkennung auf Platz 1 liegt. 2017 übernahm der niederländisch-britische Verbrauchsgüterkonzern Unilever für 3 Bio. KW (ca. 2,346 Mrd. €) AHC, die Flagship-Marke des koreanischen Kosmetikunternehmens Carver Korea. Bereits 2014 berichtete die New York Times in ihrem Artikel South Korea Exports Its Glow. dass die koreanischen Hautpflegeprodukte die bis dahin marktdominierenden europäischen und japanischen Produkte verdrängten.
ßen Kaufhäusern in New York, Paris, London oder Mailand zu haben sind. Auch die japanische Marke SK-II, die von der offensiven Marketingstrategie ihrer Muttergesellschaft, des amerikanischen Verbrauchsgüter-Riesen Procter & Gamble, gestützt wurde, erfreute sich weltweiter Popularität. Im Gegensatz dazu blieben den koreanischen Marken die Luxuskaufhäuser in Übersee verschlossen bzw. sie mussten aufgrund des nur mäßigen Erfolgs wieder abziehen. Da kam BB Cream auf, die den Weg für die Globalisierung von K-Beauty frei machte. Nicht nur die US-Ausgaben von Vogue und des Schönheitsmagazins Allure berichteten eingehend über das BB-Cream-Fieber. Auch in vielen anderen Magazinen war zu lesen, dass dieses aus Korea stammende Alles-in-Einem-Kosmetikprodukt für einen natürlich wirkenden Kaschiereffekt sorgt, den Teint heller erscheinen lässt und dazu auch noch Sonnenschutz gewährt. Der K-Beauty-Erfolg setzte sich mit neuen Produkten wie CC Cream („die nächste Generation“ der BB Cream) und Gesichtsmasken aller Art fort. Letztere wurden zu einem neuen Aushängeschild von K-Beauty und führten sogar zu dem leicht übertriebenen Gerücht, dass koreanische Frauen jeden Tag eine Gesichtsmaske auflegen. Der K-Beauty-Boom bewirkte sogar einen Strukturwandel in der koreanischen Kosmetikbranche. Laut dem MinisteriVeränderungswelle, ausgelöst durch BB um für Lebensmittel- und Arzneimittelsicherheit stieg die Zahl Cream Der Höhenflug von K-Beauty begann 2014, als BB Cream der Hersteller und Vertreiber kosmetischer Produkte von 3.884 (BB: Blemish Balm) zum Verkaufsschlager wurde. Die im Jahr 2013 auf 8.175 im Jahr 2016. 2017 betrug sie sogar ursprünglich der Nachbehandlung nach dermatologischen Ein10.080. Nach Angaben der koreanischen Zollverwaltung hat das griffen dienende Creme wurde zu einem Alltagspflegeprodukt Exportvolumen bei Kosmetikgütern 2017 im Vorjahresvergleich weiterentwickelt, das Foundation, Feuchtigkeitscreme und um ca. 18,5% zugelegt und die Rekordhöhe von 4,968 Mrd. Sonnenschutz in einem ist. Ihre Popularität katapultierte BB USD erreicht, wobei der Wachstumstrend auch 2018 weiterCream auf Platz 1 der Online-Exportprodukte und signalisierte hin anhielt. Das ist ein bemerkenswerter Erfolg, v.a. wenn man grünes Licht für das Wachstum der koreanischen bedenkt, dass 2017 die politischen Spannungen Kosmetikbranche. zwischen China und Korea, die durch die Bis dahin noch assoziierte man in Stationierung des US-RaketenabwehrEuropa und Amerika „asiatische systems Terminal High Altitude Beauty-Produkte“ mit den WeltArea Defense (THAAD) ausgeKoreanische Kosmetikexporte (2017) markt dominierenden japalöst wurden, zum Absatzeinnischen Kosmetikmarken bruch koreanischer Produkwie Shiseido, Kanebo te auf dem chinesischen und Kosé, die auf eine Markt geführt hatte. lange FirmengeschichNeben diesem starken te zurückblicken und Abschneiden ist zu auch in den groerwähnen, dass die
4.968 Mrd. US$ Die koreanischen Kosmetikexporte erreichten 2017 ein Rekordhoch und zeigten auch 2018 ein starkes Wachstum. Quelle Koreanische Zollverwaltung
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koreanische Kosmetikindustrie innovative Produktentwicklungsideen auf Basis von Technologie-Konvergenz gezielt vorantreibt. Die sog. „Cosmeceutical-Produkte“, die Pharmazie und Kosmetik vereinen, gelten als neuer Wachstumstreiber, und Produkte, die neben ihrem Teint-aufhellenden und Falten-vorbeugenden Effekt auch noch dermatologische Heilwirkung haben, sollen die nächsten Beauty-Schlager sein.
K-Beauty. Das wiederum ist zum Teil den koreanischen Verbrauchern zu verdanken, die in Bezug auf das Preis-Leistungsverhältnis empfindlich reagieren. Ihre hohen Standards lassen den Kosmetikherstellern letztendlich keine andere Wahl, als ständig nach überzeugender Qualität zu erschwinglichen Preisen zu streben.
Die Rolle der Beauty-Creators
Ideen und Technologien
Auch die sog. Beauty-Creators, die auf YouTube ihre BeauAusgelöst wurde der K-Beauty-Hype durch die Hallyu-Stars. ty-Tipps präsentieren, sind heimliche Protagonisten der 2014 wurden z.B. Lippenstift und Gesichtspuder, die die K-Beauty-Welle. Ihre Aktivitäten sind eng verzahnt mit den Schauspielerin Jun Ji-hyun (a.k.a. Gianna Jun) in der Hit-TVMarketingstrategien der heimischen Kosmetikhersteller. Statt Serie My Love from the Star trug, zum Renner und die Exportteure TV-Werbung in Auftrag zu geben, bevorzugen sie es, zahlen schossen nach oben. Auch die Kosmetikprodukte, die mit Beauty-Bloggern, die in der Online-Welt großen Einder Hallyu-Star Song Hye Kyo 2016 in ihrer Hit-Miniserie fluss haben, zu kollaborieren. Berühmte YouTuber mit einem Descendants of the Sun durch Produktplatzierung vorstellte, Auge für den globalen Markt versehen ihre Clips mit Untererfreuten sich anhaltender Beliebtheit auf dem Auslandsmarkt. titeln in Englisch, Chinesisch oder Thailändisch und tragen Darüber hinaus brachten K-Pop-Girlgroups wie Twice oder mit diesen maßgeschneiderten Contents zur Globalisierung Mamamoo viele Fans im Ausland dazu, ihre Make-Up-Konvon K-Beauty bei. zepte nachzuahmen. Einige Beauty-Creators haben Promi-Status. YouTube-Stars Doch der anhaltende K-Beauty-Boom ist nicht allein den Halwie Risabae, Pony Syndrome und Ssin sind dermaßen einflusslyu-Stars zuzuschreiben. Auch die Mitarbeiter der koreanischen reich, dass innerhalb von fünf Minuten nach dem Start ihrer Kosmetikbranche haben das Ihrige getan. Laut Beauty-ExperLive-Shows Produkte im Wert von bis zu 100 Mio. KW (ca. ten liegt die Stärke der koreanischen Kosmetikunternehmen 78.000 €) verkauft werden. Sie treten in Werbespots koreanidarin, Ideen und technologische Konzepte schnell umzusetzen. scher Kosmetikriesen wie AmorePacific und LG Household & Hinzu kommt die Vielfalt der Bestandteile. Die koreanischen Health Care auf und kollaborieren bei Marketing-Kampagnen. Kosmetikmarken bringen in rascher Folge Produkte mit neuen Beeinflusst von den Aktivitäten der koreanischen Beauty-Creaund manchmal verrückt anmutenden Inhaltsstoffen heraus. Zu tors stellen immer mehr ausländische YouTuber und Blogger nennen sind z.B. Gesichtsmasken auf Basis von Eselsmilch, die ihre Schminktechniken á la K-Beauty ins Netz. Es dürfte intein der Zusammensetzung Muttermilch ähneln soll, weiterhin ressant sein zu verfolgen, inwieweit und in welcher Form die auf Basis von Traditioneller Koreanischer Medizin entwickelBeauty-Creators künftig über ihr Ein-Personen-Medienformat te Hautpflegeprodukte und nährende Cremes mit hinaus zur K-Beauty-Kultur beitragen werden. Schneckenschleimgehalt. Ähnliches tut sich auch auf dem koreaniAber das ist nicht der einzige Grund schen Internetportal Naver, auf dem die für den steilen Anstieg des Marktals „Beau-Star“ bezeichneten Beauanteils koreanischer Beauty-Unty-Creators ihre Contents hochZahl der koreanischen ternehmen am internationalen laden. Zu sehen sind die Clips Kosmetikhersteller und -vertreiber Kosmetikmarkt. Die Kosauf den Portal-eigenen Sysmetik-Produktmanager temen wie Naver Blog und im Ausland nennen die Naver Post. Neben Lee herausragende Qualität Sarah, die es 2014 bei als eine der grundleden Miss-Korea-Wahgenden Stärken von len auf Platz 3 schaffte
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Der K-Beauty-Boom ist die treibende Kraft des raschen Wachstums der koreanischen Kosmetikindustrie. Quelle Ministerium für Lebensmittel- und Arzneimittelsicherheit
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und sich derzeit als Beauty-Creator großer Beliebtheit erfreut, tummeln sich 7.000 Contents-Produzenten und 900 professionelle Beauty-Creators auf der Naver-Plattform. Die Beauty-Creators, deren Aktivitätsbereich sich über YouTube hinaus immer mehr ausweitet, sind für viele Jugendliche Karrierevorbilder. Während früher im Beauty-Bereich beruflich nur Optionen wie Visagist, Kosmetiker oder Nageldesigner offen standen, steht der jetzigen Generation die umfassendere Tätigkeit des Beauty-Creators als vielversprechender Berufszweig offen. Entsprechend wurden an einigen Hochschulen diesbezügliche Abteilungen eingerichtet und private Beauty-Institute sowie Portalseiten bieten Ausbildungsprogramme an.
ist Vietnam ein lukrativer Markt, dessen Wert 2017 auf 250 Mrd. KW (ca. 195 Mio. €) gestiegen ist. Daher wollen auch die japanischen, amerikanischen und europäischen Unternehmen auf dem vietnamesischen Markt die Nase vorn haben. Die Big Player sind jedoch die koreanischen Firmen, die einen Marktanteil von sagenhaften 50% besitzen. Derzeit greift das K-Beauty-Fieber über Asien hinaus auf die USA und Europa über. In der ersten Jahreshälfte 2017 wurden Kosmetikprodukte im Wert von 270 Mio. USD (236 Mio. €) in die USA exportiert, was einen Anstieg von 43,3% im Vergleich zum gleichen Vorjahreszeitraum bedeutet. Darüber hinaus begrüßen globale Vertriebsketten die Einführung der koreanischen Beauty-Marken, sodass in vielen Kaufhäusern und Outlet-Stores in ganz Amerika koreanische Kosmetikprodukte zu Über Asien hinaus nach Europa Nachdem es sich über YouTube und soziale Netzwerke herfinden sind. umgesprochen hat, dass koreanische Beauty-Produkte es wert Laut einer Statistik des Korea Cosmetic Industry Institute von seien, die hohen Kosten und langen Wartezeiten des internatio2016 war der Auslandsumsatz koreanischer Kosmetika zu 70% nalen Versands in Kauf zu nehmen, bemühen sich die koreaniauf Asien konzentriert, wobei China einen Anteil von 39,1% schen Kosmetikhersteller noch stärker um den Sprung auf den hatte, gefolgt von Hongkong mit 24,7%, Japan mit 4,6% und Auslandsmarkt. K-Beauty ist derzeit der Renner in Japan, dem Taiwan mit 3,1%. Außerhalb Asiens nahmen die USA mit weltweit drittgrößten Beauty-Markt nach den USA und China. 9,1% den höchsten Umsatzanteil ein. Doch auch in Europa Laut der koreanischen Zollverwaltung betrug im ersten Quarwird der Erfolg der koreanischen Beauty-Produkte sichtbar. Vor tal des Jahres 2018 das Verkaufsvolumen des Online-Direktallem Produkte mit pflanzlichen Inhaltsstoffen wie Ginseng, vertriebs von Beauty-Produkten nach Japan ca. 47,8 Mrd. KW grünem Tee und Aloe sprechen Veganer-Kreise an. Darüber (37,3 Mio. €), ein Wachstum von 850% im Vergleich zum gleihinaus haben die K-Beauty-Produkte dank der großen Beliebtchen Zeitraum des Vorjahres. Auch in China hält der Boom heit von Hallyu-Stars wie BTS sogar den Sprung auf den trotz der infolge des THAAD-Disputs sinkenden Zahl chinelateinamerikanischen Markt geschafft. sischer Touristen immer noch an. Nach dem Jahresbericht von Der koreanische Beauty-Markt hat nicht nur quantitativ, sondern Tmall Global, Chinas größter e-Commerce-Plattform, auf der auch qualitativ ein beachtliches Wachstum erzielt. Viele internatiausländische Marken direkt an Konsumenten in China verkauonale Kosmetikmarken nutzen den koreanischen Markt daher als fen können, lagen die Absatzzahlen für koreanische Produkte Prüfstand und analysieren aufmerksam die Reaktion der korea2017 auf Platz 5. Besonders hoch war die Nachnischen Verbraucher auf neue Produkte. Wenn auch frage nach koreanischen Gesichtsmasken. in Zukunft weiterhin die kontinuierliche Mit 700 Mrd. KW (ca. 546 Mio. €) Entwicklung von Beauty-Industrie-reentsprach sie ungefähr der Hälfte levanten Technologien und Inhaltsdes gesamten Gesichtsmaskenstoffen sowie die Heranziehung Anteile am Welt-Kosmetikmarkt umsatzes des chinesischen von Beauty-Creators gefördert nach Ländern (2016) Marktes. und mit dem Einfluss der Der nächste WachstumsHallyu-Kultur wie K-Pop USA 19,4% markt, der als „post-Chikombiniert wird, wird China 12,0% na“-Markt gilt, ist VietK-Beauty seinen WachsJapan 9,0% nam. Da der Anteil der tumskurs auf dem ca. Brasilien 6,4% unter 40-Jährigen an 532 Mrd. Dollar starDeutschland 4,1% der Gesamtbevölkeken Kosmetik-WeltGB rung 70% ausmacht, markt weiterhin fort3,9% setzen können. Frankreich 3,4% Südkorea
3,0%
Korea liegt im weltweiten Ranking auf Platz 8 hinter Frankreich. Quelle Korea Health Industry Development Institute
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YouTube-Star
Ssin
Lee Hyo-won Asien-Korrespondentin, The Hollywood Reporter
die Attraktivität von K-Beauty
In der Welt der Beauty-Influencer ist Ssin als eine Art
dessen man sich auch Jahre später noch nicht zu schämen braucht. Am berühmtesten ist sie
Enfant terrible bekannt, aber die 28-Jährige wirkte
jedoch dafür, das scheinbar Unmögliche möglich zu machen und sich z.B. in männliche Stars
überraschend ruhig, ja sogar eine Spur lustlos, als ich
oder Kult-Comicfiguren zu verwandeln. „Für mich ist es sogar leichter, Männer oder Monster
sie im Seouler Stadtviertel Gangnam zu einem Inter-
zu verkörpern. Schön auszusehen ist viel schwieriger“, erklärt Ssin.
view traf. Später erfuhr ich, dass der YouTube-Star
Ssin, deren richtiger Name Park Su-hye ist, begann während des Kunststudiums ihre unglaubliche
erst am Tag davor von einer Geschäftsreise zurück-
„Transformationsfähigkeit“ auf YouTube zu posten. Make-up faszinierte sie nicht als Mittel zum
gekehrt und entsprechend müde war. Sie war in Los
Verschönern, sondern als Mittel des Ausdrucks der eigenen Persönlichkeit. „In der Mittelschulzeit
Angeles gewesen, wo sie ein Halloween Special auf-
begann ich, mit Schminksachen zu experimentieren. Ich schminkte mich, um wie die Figuren aus
genommen hatte. Halloween ist mittlerweile für junge
Cats oder der japanischen Horrorfilm-Serie Ju-on: The Grudge auszusehen“, erinnert sich Ssin.
Koreaner zu einer Gelegenheit geworden, sich zu kos-
Bald wurde das Hobby zum Vollzeitjob mit Kollaborationsprojekten mit koreanischen Kosme-
tümieren und in eine andere Identität zu schlüpfen.
tikmarken wie Too Cool for School, mit TV-Auftritten und Reisen rund um die Welt.
2017 veröffentlichte Ssin die gewagte Tutorial-Serie
Mit dem zunehmenden Einfluss des K-Pop machte Ssins frappierendes Talent, sich in einen Boy-
13 Days of Halloween, in der sie 13 Tage in Folge
group-Star umzuwandeln, sie zu einem der gefragtesten Beauty-Stars bei internationalen Events
ein neues Halloween-Kostüm und entsprechende
wie dem jährlichen K-Pop-Showcase in Südkalifornien oder Veranstaltungen der Koreawelle-Kon-
Schminkideen präsentierte. Die Palette reichte von
vention KCON. Ssin erzählt, dass v.a. in Südostasien die Teilnahme koreanischer Beauty-Influen-
einer schüchternen Katze mit Silberperücke, Glitzer-
cer an solchen Veranstaltungen ein Muss geworden sei: „So wie in Korea vor fünf Jahren, sind die
lidschatten und Glitzersteinchen im Gesicht bis hin
Beauty-Influencer in Südostasien mittlerweile zu einem gesellschaftlichen Phänomen geworden.
zu einem gruseligen, weiß geschminktem Clown in
K-Beauty begleitet dort praktisch jede Hallyu-Veranstaltung. Mein Terminkalender ist dement-
schwarzer Montur. Ssin ließ sich für ihre 1,59 Mio.
sprechend voller Auslandstermine.“
Abonnenten einiges einfallen.
Sie ist immer wieder aufs Neue von der Wirkungskraft von K-Beauty überrascht. „Auf den
Die Halloween-Serie zeigt beispielhaft, was Ssin von
Straßen in Paris wurde ich sogar von einigen Franzosen erkannt, was schon ein merkwürdiges
den zahlreichen Beauty-Gurus aus dem In- und Aus-
Gefühl war“, erinnert sie sich und fügt hinzu: „Heute kann man in den Filialen der französischen
land unterscheidet. Niemand versteht es besser, Ma-
Kosmetikette Sephora viele koreanische Produkte finden. Es sollte wirklich anerkannt werden,
ke-up-Tipps zu teilen, angefangen von der Auswahl
wie stark die koreanischen Niedrigpreis-Kosmetikmarken zum Boom von K-Beauty beigetra-
der besten Saison-Produkte der koreanischen Kos-
gen haben. Hohe Qualität, niedriger Preis, süßes Design: Wer könnte da Nein sagen?!“
metikmarken bis hin zum Styling für ein Passfoto,
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SPEZIAL 4
K-Beauty: Die blühende Industrie und koreanische Ästhetik
K-Beauty
Ein ausführlicher Erlebnisbericht Von luxuriösen Beauty-Salons im Stadtviertel Gangnam, dem teuersten Pflaster Seouls, bis hin zu den preisgünstigeren Kosmetikläden, die die Straßen gefragter Touristenviertel säumen: Der koreanischen Beauty-Markt brummt vor Dynamik und bedient jeden Geschmack, jede Vorliebe und auch jeden Geldbeutel. Lee Hyo-won, AsienKorrespondentin der US-Zeitschrift The Hollywood Reporter berichtet über ihre „Beauty-HotspotTour“. Lee Hyo-won Asien-Korrespondentin, The Hollywood Reporter Fotos Heo Dong-wuk
E
s ist ein typischer Nachmittag in Daehangno. Dieses Seouler Stadtviertel, in dem sowohl Universitäten als auch Theatergruppen und Tanz-Communities angesiedelt sind, gilt als eine der geschäftigsten Gegenden der Seouler Innenstadt. Eine lange Schlange steht vor dem zweistöckigen Kosmetikladen Etude House, einer südkoreanischen Kosmetikmarke, die mit ihrem Barbie-pinken Logo und dem von Puppenhäusern inspirierten Ladendesign junge Frauen in den 20ern anspricht. An unzähligen, in Bonbontönen gehaltenen Lippenstiften und Lidschattenpaletten vorbei gelangt man zur „Color Factory“, einem Studio, wo Berater den Besuchern helfen, die für sie vorteilhafteste „persönliche Farbe“ zu finden oder auch den optimalen Make-up-Ton, der ihre Züge am besten zur Geltung bringt. Denn Lavendel ist nicht gleich Lavendel: Der einen steht eine kühlere Lavendel-Note besser, der anderen eine wärmere, stärker ins Rosa gehende. Etude House ist aber nur eine von vielen koreanischen Marken, die im heutigen Instagram-Zeitalter, wo die Kunden ihre © ETUDE HOUSE
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Der Laden von Etude House in der Dubai Mall (Vereinigte Arabischen Emirate), eine der grĂśĂ&#x;ten Shopping Malls der Welt. Die bei koreanischen Teens und Twens beliebte Road-Shop-Marke hat ihre Bestseller-Produkte mit Blick auf die Besonderheiten der Haut der Einheimischen optimiert.
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Erfahrungen online austauschen und selbst Trends schaffen, darum bemüht sind, der Kundschaft ein besonders positives Service-Erlebnis zu vermitteln. Eine Beraterin der Color Factory lässt die Kundin vor einem hell beleuchteten Schminktisch Platz nehmen und erkundigt sich zunächst, ob sie eine Foundation aufgetragen habe, damit sie die Kamera-Vorrichtung von der Größe eines Smartphones, mit der der Farbton des Teints gescannt wird, entsprechend einstellen kann.
Der ganz persönliche Farbton
Mit dem K-Pop-Boom stieg 2016 das Exportvolumen der K-Beauty-Industrie auf umgerechnet über 2,8 Mio. Euro, was verglichen mit dem Vorjahr einer Wachstumsrate von 45,7% entspricht (Daten der KOTRA vom Sept. 2017). Damit wurde Korea zum weltweit fünftgrößten Kosmetik-Exportland. Laut Statista, dem deutschen Online-Portal für Statistik, hat Korea mit einem geschätzten Volumen von umgerechnet 13,781 Mrd. Euro den achtgrößten Markt für Kosmetik-, Körperpflege- und Hygiene-Produkte. Für Ende 2018 wird sogar ein Marktvolumen von 15,12 Mrd. Euro prognostiziert. 90% der neu gelaunchten Produkte sind Hautpflegeprodukte, die einen leuchtenden Teint versprechen. „Bei K-Beauty geht es in erster Linie um die Hautpflege, was sich an dem mehrstufigen Hautpflege-Programm, für das die Koreaner bekannt sind, erkennen lässt. Dabei werden mindes-
tens fünf verschiedene Toner-, Lotion- und Serum-Produkte verwendet“, erklärt Kim Chung-kyung, die als Visagistin der ersten Generation wohlbekannt ist und in den letzten 30 Jahren distinktive Looks für Top-Prominente wie die Schauspielerin Song Hye Kyo und K-Pop-Diva Lee Hyori schuf. Kim hat jüngst ihre eigene Vitamin-C-Serum-Produktlinie gelauncht, die dank der darin enthaltenen Teint-aufhellenden Substanzen in Korea bereits ein Erfolgsschlager ist. Sie betont: „Bei den Koreanern dreht sich alles um einen hellen, durchscheinenden Teint“. Dementsprechend fokussiert der Beratungsservice von Etude House darauf, den für die jeweilige Kundin optimalen Lippenstiftton zu finden, der das Gesicht, genauer gesagt, den Teint, makelloser erscheinen lässt. „Asiatische Haut lässt sich in zwei Farbtypen unterteilen: einen mit einem gelblichen und einen mit einem rötlichen Grundton“, erklärt Park Jung-ha, Beauty-Beraterin bei Etude House. Für das große Interesse am Farbton des Teints gibt es eine historische Erklärung. „In den Kulturen der ostasiatischen Länder wurde traditionell ein heller Teint geschätzt“, erläutert Lee Ji-seon, Kuratorin des Coréana Cosmetics Museum in Seoul. „Denn das war ein Statussymbol der Oberschicht. Korea war traditionell eine Agrargesellschaft, d.h. je niedriger die gesellschaftliche Stellung, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, dass man unter der Sonne arbeiten musste. Privilegiert zu sein bedeutete ent-
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sprechend, sich einen Großteil der Zeit im Inneren aufhalten zu können, weshalb ein heller Teint als Maßstab für Schönheit galt.“ Was den traditionellen koreanischen Schönheitsstandard von dem der ostasiatischen Nachbarländer unterscheidet, ist nach Lee die starke Betonung eines natürlichen Aussehens. „Die Japaner empfinden z.B. einen blassen Teint als schön, wie man am Make-up der Geishas sehen kann. Bei den Koreanern dreht sich jedoch alles um einen gesunden und natürlichen Teint“, meint die Expertin. Anders als die Japaner, die Materialien wie Steinpulver zum Weißen des Gesichts verwendeten, mischten die Vorfahren der Koreaner Gelberde und Reispulver, was mit dem heutigen Mischen diverser Make-up-Töne vergleichbar ist. Da Pfirsich- und Aprikosenkerne bekanntlich eine Haut aufhellende Wirkung haben, wurden sie in gemahlener Form für die Hautreinigung verwendet. Solch traditionelle Ästhetik-Standards sind bis heute erhalten und spiegeln sich in aktuellen Trends wider. BB Cream (Blemish Balm: abdeckender Balsam), die die Koreaner ursprünglich zur Abdeckung der von Lasereingriffen hinterlassenen Spuren benutzten, wurde von der helleren und transparenteren CC Cream (Color Correcting: Farbkorrektur) ersetzt. Derzeit erobert die noch leichtere, Hautton-korrigierende „Tone-up Cream“ den Markt. Frauen sind zwar nach wie vor die Hauptzielgruppe für Schönheitsprodukte, aber die Visagistin Kim Chung-kyung, die eine berühmte Make-up- und Friseursalon-Kette führt, stellt fest, dass immer mehr Männer – darunter auch die Väter von Braut oder Bräutigam – kein Problem damit haben, für das Hochzeitsfoto-Shooting BB Cream aufzutragen.
Glänzende Chok-Chok -Haut
Nach einem im Juli 2018 veröffentlichten Bericht der Bezirksverwaltung des Seouler Stadtviertels Gangnam-gu – weltberühmt geworden durch den Song Gangnam Style des K-PopStars Psy und bekannt für seine hippen Boutiquen, Kliniken für Schönheitschirurgie sowie Nobelrestaurants – sollen 2016 und 2017 über 70.000 Medizintouristen Gangnam besucht haben. Mit 59,2% führen die Bereiche Hautpflege und Plastische Chirurgie die Medizintourismusbranche an, gefolgt von der Traditi1. Lee Hyo-won, Asienkorrespondentin für The Hollywood Reporter, erhält im Sullhwasoo Flagship-Laden im Seouler Nobelviertel Cheongdam-dong die Premium-Massage. Zum Programm gehören Hautprodukte auf Ginseng-Basis und Jade-Massagesteine zur Beförderung der hauteigenen Regenerierungskraft. 2. Lee Hyo-won nimmt den Make-up-Service eines Kosmetiksalons in der Garosugil-Straße im Seouler Viertel Gangnam in Anspruch. Früher machten hauptsächlich Stars davon Gebrauch, aber mit der Zunahme preisgünstigerer Kettenläden hat der Service bei der Durchschnittskundschaft an Beliebtheit gewonnen.
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onellen Koreanischen Medizin (TKM) mit 9,4%. Es überrascht daher kaum, dass eins der beliebtesten Ziele der Kosmetiktouristen der Sulwhasoo SPA ist, ein in Goldtönen gehaltenes, mit Kristallleuchtern aufwändig dekoriertes LuxusSpa, das Hautpflege und TKM verbindet. Sulwhasoo, eine der repräsentativsten Kosmetikmarken Koreas, erfreut sich im Inund Ausland großer Beliebtheit. Schlüssel des Erfolgs sind dabei Pflegeprodukte mit seit Jahrhunderten bewährten Heilmittelsubstanzen wie Ginseng-Serum, Rotkiefer-Augencreme, Rotkiefer-Kiefernpilz-Antifaltenserum und Kamelien-Haaröl. Der Sulwhasoo SPA Flagship Store liegt nah am Dosan Park, in dessen Umgebung sich Luxusboutiquen wie Hèrmes befinden. Neben Luxusmassagen mit Sulwhasoo-Produkten locken kunstvoll zubereitete traditionelle Snacks und Kräutertees, serviert in einem separaten, stilvoll beleuchteten Raum, die Kundschaft aus dem In- und Ausland an; nicht zu vergessen die exklusiven, nur im Spa erhältlichen Sulwhasoo-Produkte wie Kräuterseife. Um in den Genuss der Intense Ginseng Journey, des Signature-Programms von Sulwhasoo, zu kommen, muss man trotz des vergleichsweise hohen Preises von 250.000 KW (ca. 195 €, davon ca. 30 € Anzahlung) mit durchschnittlich zwei Wochen Wartezeit rechnen. Bedenkt man, dass aufgrund der Sättigung des Beauty- und Kosmetikmarkts selbst bei den gefragtesten Dermatologen und Luxus-Massagestudios nicht unbedingt eine Reservierung notwendig ist, sind die Wartezeiten im Sulwhasoo SPA schon außergewöhnlich lang. Laut Sulwhasoo besteht die Hälfte der Kundschaft aus ausländischen Touristen, die meisten kommen aus China. Das ist wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass 2017 40% aller Gangnam-Touristen Chinesen waren. Angesichts der Tatsache, dass in den letzten Jahren die Zahl der chinesischen Touristen aufgrund der geopolitischen Spannungen zwischen Seoul und Beijing wegen der Stationie-
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rung des US-Raketenabwehrsystems Terminal High Altitude Area Defense (THAAD) drastisch gesunken ist, ist diese hohe Besucherzahl durchaus bemerkenswert. Die Spa-Besucher werden in eine dezent beleuchtete, mit antiken Holzmöbeln und diversen Vintage-Möbeln ausgestatte Galerie geführt. Eine elegant gekleidete Beraterin bittet sie, Platz zu nehmen und einen langen Fragebogen über ihre täglichen Hautpflege-Gewohnheiten, etwaige Probleme wie Trockenheit, Poren, Falten, etc. auszufüllen. Wer eine Körpermassage wünscht, sollte zudem Gesundheitsprobleme, die gegebenenfalls zu berücksichtigen sind, angeben. Zur 90-minütigen Intense Ginseng Journey gehört ein kurzes Fußbad, Aromatherapie, Gesichtsbehandlung mithilfe des weißen, C-förmigen Jade-Massagesteins, sowie Nacken- und Kopfmassage. Wählt man das Spa-Package, das die Nutzung von Umkleideraum, Dusche, Fußbad und Bett sowie Kräuterbad-Anwendungen umfasst, wird die Behandlung in einem separaten Raum mit Badewanne durchgeführt. Die Wirkung der Saponine, der Hauptkomponenten des Ginseng, die von der Wundheilung bis hin zu Anti-Aging reicht, wurde durch diverse wissenschaftliche Studien nachgewiesen. Kuratorin Lee Ji-seon erwähnt in diesem Zusammenhang das Dongui Bogam (Enyzklopädie der östlichen Medizin), ein von dem königlichen Hofarzt Heo Jun verfasstes, 1613 veröffentlichtes 23-bändiges Werk, das bis heute in der traditionellen Medizin und Küche als wichtiges Nachschlagwerk gilt:
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„Ginseng ist die Pflanze, die im Dongui Bogam am häufigsten erwähnt wird. Früher war Ginseng so wertvoll, dass man nicht wagte, ihn für kosmetische Zwecke zu verwenden. Es überrascht nicht, dass diese Pflanze, deren gesundheitlicher Nutzen seit alters her hochgelobt wurde, sich zu einem beliebten Inhaltsstoff für koreanische Hautpflegeprodukte entwickelt hat.“
Beauty Care mit Ginseng
Die Obsession der Koreaner in Bezug auf Gesichts- und Hautpflege überschattet oft den Modebereich, obwohl Korea in Sachen Fashion als Powerhouse in Asien gilt. „Zahlreiche Stars tragen hochwertige Markenkleidung, die jedoch für den Normalverbraucher nicht immer erschwinglich ist. Hochwertige Kosmetikprodukte oder schicke Haarfrisuren gehen hingegen weniger ins Geld. Dafür braucht man sich nur die YouTube-Tipps anzusehen“, erklärt Shin Hye Ryeon, die für das Styling des koreastämmigen Stars Steven Yeun und des koreanischen Schauspielers Park Hae Jin verantwortlich war. „Und 1. Der Flagship-Laden von Sullhwasoo mit seinem luxuriösen Design des chinesischen Architekten-Duos Neri & Hu nutzt gedämpftes Laternenlicht als Marken-Aushängeschild. Der Shop bietet seinen Kunden nicht nur ein exklusives Spa-Erlebnis, sondern auch verschiedene kulturelle Events und Ausstellungen. 2. Massagegeräte für das Spa-Programm von Sullhwasoo. Die Geräte werden jeweils für unterschiedliche Körperteile eingesetzt und unterscheiden sich in der Wirkung.
ein Chanel-Lippenstift ist immerhin wesentlich günstiger als ein Chanel-Geldbeutel.“ Während der Make-up-Service eines Beauty Salons wie der der Visagistin Kim Chung-kyung früher nur für besondere Anlässe oder von Prominenten in Anspruch genommen wurde, ist Beauty-Service heute dank verschiedener Ketten wie Style Bar X einfach und preisgünstig erhältlich. In den zwei Filialen im Südviertel Gangnam bietet Style Bar X einen 30-Minuten-Service für Make-up, Haar- oder Augenbrauen-Styling bzw. alle drei in einem innerhalb von eineinhalb Stunden. Auch Makeup-Kurse gehören zum Angebot. Ich ließ die Vollbehandlung für 85.000 KW (ca. 66 €) machen, und zwar ohne die Option Shampoo Refresh (Haare waschen), dafür mit der Option Special Up-Do (Haare hochstecken). Der Make-upService beginnt mit einigen Fragen der Visagistin zum bevorzugten Stil, zum alltäglichen Make-up und etwaigen Allergien. Die Kundinnen kommen oft für eine einmalige Make-up-Stunde oder buchen einen fünfstündigen Kurs. „Auch immer mehr ausländische Touristen wollen die Schminktechniken lernen. Das Interesse an Gesichtspflege und Make-up ist dank des Einflusses der Hallyu-Stars eindeutig am Wachsen“, sagt eine Visagistin mit Blick auf die koreanischen Schauspieler und Sänger, die die Koreawelle durch TV-Serien, Popmusik und Filme anführen.
Makelloses Styling für jeden Anlass und Geldbeutel
Kunden aus dem Viertel kommen zur Style Bar X, um sich die Augenbrauen zupfen und formen zu lassen (12.000 KW, ca. 9 €), oder sie lassen sich für besondere Anlässe wie Hochzeitseinladungen, Passfotoaufnahmen, Vorstellungsgespräche oder das erste Date schminken und das Haar stylen. „Ich kann mich immer noch daran erinnern, wie ich mich vor 11 Jahren für mein Vorstellungsgespräch professionell stylen ließ“, erzählt eine 34-jährige, für eine führende koreanische Fluggesellschaft arbeitende Flugbegleiterin. Sie fügt hinzu: „Ich hatte das Gefühl, so gut wie möglich aussehen zu müssen. Es ist ja oft zu hören, dass der erste Eindruck entscheidend ist.“ Bis vor einiger Zeit noch war ein Passfoto auf Bewerbungsunterlagen ein Muss, doch diese Praxis ist seit 2015 gesetzlich verboten. Darüber hinaus wurde das Streben nach Schönheit in Korea unterschwellig zu einer Art „demokratischem Recht“, was sich auch zahlenmäßig belegen zu lassen scheint. Die allgegenwärtigen Drogerieketten wie Olive Young, Watsons und Boots, deren Regale mit relativ günstigen Produkten gefüllt sind, wachsen so ununterbrochen, dass sich das Marktvolumen bereits auf 1,79 Bio. KW (ca. 1,14 Mrd. €) beläuft. Marken wie Etude House, zu deren Zielgruppen eher jüngere Menschen gehören, konkurrieren mit günstigeren Erlebnis-Ser-
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vice-Angeboten. Im Innisfree Flagship Store in Myeong-dong, jenem Viertel der Seouler Innenstadt, das die größte Zahl ausländischer Touristen anlockt, kann der Kunde sein Gepäck kostenlos aufbewahren lassen und den Beauty-Beratungsservice nutzen. Geräte in Smartphone-Größe bestimmen das „Hautalter“, indem sie Porengröße und Falten messen sowie Spannkraft, Sonnenschäden, Feuchtigkeitsgehalt usw. erfassen. Zudem kann der Besucher durch das Virtual-Reality-Erlebnis erfahren, dass die Innisfree-Produkte mit natürlichen Stoffen von der Vulkaninsel Jeju-do hergestellt werden. Diese sog. „Road-Shop-Marken“ (von Englisch „roadside shop“: Läden am Straßenrand) bieten ihre Produkte zu wettbewerbsfähigen Preisen an. So kostet z.B. ein Hautpflege-Set mit den Grundprodukten Gesichtswasser, Serum und Creme nur 50.000 KW (ca. 39 Euro) und damit ein Zehntel dessen, was Sulwhasoo für diese drei Produkte verlangt (500.000 KW: ca. 390 €). Nadeera Dawlagala, eine in New York lebende Allgemeinchirurgin und angehende Fachärztin für Plastische Chirurgie, die 2017 an einer Konferenz in Seoul teilnahm, berichtet: „Mir gefällt die breite Palette an erschwinglichen Kosmetikprodukten und kosmetischen Eingriffen aller Art, zu denen Menschen aller Einkommensklassen Zugang haben. In Amerika können sich nur die besser Verdienenden Schönheitsoperationen, die neuesten und besten Hautpflegeprodukte oder Spitzenbehandlungen leisten.“ Gwendolyn Rainer, eine 35-jährige Amerikanerin, die vor zwei Jahren zum ersten Mal aus geschäftlichen Gründen in Korea war, schloss ihren Aufenthalt in Seoul damit ab, diverse Road-Shop-Produkte, darunter auch Schneckenschleim-Masken, zu kaufen. „Ich musste im Koffer extra Platz frei lassen, da Freunde und Kollegen mich gebeten hatten, bestimme Kosmetikprodukte aus Korea mitzubringen“, erzählt sie. „Aber natürlich habe ich auch einiges für mich gekauft.“
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FOKUS
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Rückblick auf das
vergessene Königreich Goryeo „GORYEO: The Glory of Korea (Goryeo: Die Glorie Koreas) im Koreanischen Nationalmuseum ist die erste Großausstellung, die einen umfassenden Rückblick bietet auf die Kunst von Goryeo, des vereinigten Königreichs, das fast fünf Jahrhunderte lang (918-1392) die koreanische Halbinsel beherrschte. Die Sonderausstellung, die noch bis zum 3. März 2019 läuft, präsentiert rund 450 bedeutende Exponate, die jeweils von 11 Institutionen im Ausland sowie 45 koreanischen Institutionen zur Verfügung gestellt wurden. Jeong Myoung-hee Kuratorin, National Museum of Korea
S
chon seit seiner Gründung legte das Königreich Goryeo Wert auf Pluralismus: Es pflegte pluralistische diplomatische Beziehungen mit seinen Nachbarländern und setzte sich für Offenheit, Toleranz und Integration ein, was sich zum Beispiel durch seine Anstellung von Nicht-Koreanern als hochrangige Hofbeamte zeigte. Der Name „Korea“ geht auf den Namen dieses Königreichs zurück und steht für „das Land, in dem die Bürger von Goryeo leben“ bzw. „das Land der Goryeo-Menschen“, was zeigt, dass die GoryeoZeit die Ära war, in der sich die Identität der Koreaner ausbildete. Doch die fast 500-jährige Geschichte von Goryeo ist noch weitgehend unter einem Schleier verborgen. Eine Großteil der Südkoreaner vermag sich heute kaum noch an genaue Ortsbezeichnungen von Goryeo oder seine historischen Stätten erinnern. Das geht auf die unglückliche, von japanischer KoloniBronzestatue von Taejo Wang Geon. 10.–11 Jh. Bronze. Höhe: 138,3 cm. Diese Statue, die 1992 in Hyolleung, einer Grabanlage innerhalb der historischen Stätten der alten Goryeo-Hauptstadt Gaeseong (Nordkorea) ausgegraben wurde, ist die einzige noch existierende Königsstatue in Korea. Bei ihrer Entdeckung war die Seidenrobe bis auf den Jadegürtel völlig zerfallen. © Korean Central History Museum
alherrschaft, Koreakrieg und Teilung gezeichnete Geschichte des Landes zurück. In der kollektiven Erinnerung ist nur noch eine vage Vorstellung von Goryeo erhalten, da seine Hauptstadt Gaegyeong (das heutige Gaeseong, auch Kaesong) sowie die meisten seiner politisch, religiös, kulturell und wirtschaftlich bedeutenden Stätten in Nordkorea liegen und damit unzugänglich sind. 919, ein Jahr nach der Reichsgründung, ließ König Taejo (Geburtsname: Wang Geon, reg. 918-943) auf der südlichen Seite des Berges Songak-san den Palast „Manwoldae“ (wörtl. Vollmond-Terrasse) errichten, der bis zu seiner Zerstörung während der Invasion der Roten Turbane 1361 Hauptresidenz der Könige von Goryeo war. Ein Foto, das die japanische Regierung 1918 im Rahmen ihrer Erfassung historischer Stätten des Joseon-Reichs (1392-1910) aufnahm, zeigt die zu einer Ruine verkommene Palastanlage. In dem Jahr, in dem die Aufnahme gemacht wurde, jährte sich die Gründung des GoryeoReichs zum tausendsten Mal, doch unter der japanischen Kolonialherrschaft konnte dieses Jubiläum nicht gefeiert werden. Das 1.100 Gründungsjubiläum im Jahr 2018 ist für die Koreaner daher von umso größerer Bedeutung. Um dieses Jubiläum zu feiern und die Geschichte von Goryeo
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neu zu beleuchten, fanden 2018 landesweit verschiedene Ausstellungen und wissenschaftliche Veranstaltungen statt. Das Juwel darunter dürfte die am 4. Dezember im Koreanischen Nationalmuseum eröffnete Sonderausstellung sein, für die eine beträchtliche Anzahl von bedeutenden Goryeo-Relikten aus aller Welt – darunter den USA, Großbritannien, Italien und Japan – sowie aus den beiden Koreas zusammengestellt wurden.
Der König und sein Mentor
Es ist zu hoffen, dass es auf der diesmaligen Sonderausstellung in Seoul zu einer „Begegnung“ von Goryeo-König Taejo und Großmeister Huirang kommen kann. Es wäre das erste Wiedersehen des Königs aus dem Norden und seines Mentors aus dem Süden nach fast elf Jahrhunderten. Die Bronzene Statue von Taejo Wang Geon, die in Hyeolleung, der Grabanlage für den König und seine Hauptgemahlin, Königin Sinhye, in Gaeseong ausgegraben wurde, ist die einzige in der koreanischen Geschichte erhaltene Statue eines Königs. Diese 138,3 cm hohe Bronzeskulptur wird im Historischen Museum in Pjöngjang aufbewahrt. Die als Ausdruck der Bitte um das Wohlergehen des Landes gefertigte Statue war während der Goryeo-Zeit in einem buddhistischen Tempel untergebracht, wo sie mit Opferritualen verehrt wurde. Bei der späteren Grablegung trug sie ihre aus Seidenrobe und Jadegürtel bestehende Kleidung, aber bei der Ausgrabung im Jahr 1992 waren nur noch die nackte Figur und der Gürtel erhalten geblieben. Das Grab Hyeolleung ist Teil der Historischen Stätten in Gaeseong , die zum UNESCO-Welterbe gehören. Die vor 930 angefertigte Trockenlack-Holzstatue von Huirang Daesa, die im Tempel Haein-sa im Kreis Hapcheon-gun, Provinz Gyeongsangnam-do aufbewahrt wird, dürfte in Korea die einzig erhaltene Statue eines buddhistischen Mönchs sein, die nach dem Porträt eines Mönchs, der tatsächlich einmal gelebt hat, gefertigt wurde. Das für ihre entsprechend realistische Darstellung der menschlichen Züge bekannte Statue wird zum ersten Mal nach ihrer Einschreinung der allgemeinen Öffentlichkeit vorgestellt. Diese wertvollen Relikte sind auch angesichts der besonderen Beziehungen zwischen den beiden Persönlichkeiten bedeutsam:
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© Haeinsa Seongbo Museum
1. Trockenlack-Holzstatue von Huirang Daesa. 10. Jh. Trockenlack auf Holz. Höhe: 82cm. Das Standbild von Großmeister Huirang (889 - 966), des Patriarchen des Tempels Haein-sa, ist die einzige noch erhaltene Statue eines buddhistischen Mönchs, die nach dem Porträt eines Mönchs, der tatsächlich einmal gelebt hat, gefertigt wurde. Schatz Nr. 999. 2. Druckblöcke der Avatamsaka Sutra: Ausgabe der ShouchangÄra. 1098. Holz. 24 × 69.6 cm. Dieser Druckstock ist der älteste erhaltene Druckstock, von dem das genaue Datum der Herstellung in Korea bekannt ist. Er gehört zur Sammlung antiker Holzdruckstöcke, die im Tempel Hae in-sa aufbewahrt werden.
Goryeo verwarf die von den Vorgängerreichen geschaffenen kulturellen Traditionen nicht, sondern integrierte sie mit einer pluralistischen Geisteshaltung in seine eigene Kultur, wobei es durch einen lebhaften Austausch mit den Nachbarländern eine ästhetisch ansprechende, kreative Kultur zur Blüte brachte. 36 KOREANA Winter 2018
Großmeister Huirang, der Wang Geons geistige Stütze war, stand dem König zur Seite, als dieser im Zeitalter der Drei Spätreiche (901-936) politisch in die Enge getrieben wurde, und diente dem König nach der Gründung Goryeos als Mentor. Die Statue von Gründerkönig Taejo Wang Geon, dem politischen Symbol Goryeos, und die von Meister Huirang, Repräsentant der geistigen Werte Goryeos, wurden noch niemals zusammen ausgestellt. In der Hoffnung auf die Möglichkeit, beide Schätze doch noch gemeinsam präsentieren zu können, hält das Nationalmuseum einen Ausstellungsplatz für König Wan Geon frei.
Metalllettern und TripitakaHolzdruckstöcke
Eine weitere Attraktion dieser Ausstellung sind die Druckstöcke der Tripitaka Koreana, die zum ersten Mal außerhalb des Tempel Haein-sa, wo sie aufbewahrt werden, zu sehen sind. Die ersten Metalllettern der Welt wurden in Goryeo erfunden, was die außerordentliche Geschichte des Druckes belegt. So wie Beten und Abschreiben der Bibel zu den alltäglichen Aufgaben der Mönche im mittelalterlichen Europa gehörten, so war es auch für die buddhistischen Mönche von Goryeo äußerst wichtig, die Lehren Buddhas mit der Hand abzuschreiben. Der Übergang von dieser langen Tradition des handschriftlichen Kopierens auf das Druckverfahren kam einem grundlegenden Paradigmenwandel in der Weltgeschichte gleich. Sowohl im Osten als auch im Westen blühte die Druckkultur in den Tempeln bzw. Klöstern auf. Die Gutenberg-Bibel ist ein Symbol der Revolution, die der Buchdruck in der Kulturgeschichte des Westens bewirkte. In vergleichbarer Weise war die Tripitaka Koreana, die Quintessenz der heiligen Schriften des Buddhismus, ein innovatives Druckwerk, das Weisheit und Wissen Asi-
ens der damaligen Zeit kompilierte. Von Chinas Tripitaka Kaibao zang, die unter dem ersten Song-Kaiser Taizu (reg. 960-976) von 971 bis 983 zur Bestätigung der Legitimität des Kaiserhauses geschnitzt wurde, existieren heute nur noch wenige Druckfragmente. Das GoryeoReich ließ indes den buddhistischen Kanon insgesamt dreimal im Rahmen staatlicher Projekte veröffentlichen. Die ersten Druckstöcke, die ursprüngliche Tripitaka Koreana, waren nach Kaibao zang das zweite Druckstock-Set des buddhistischen Kanons in der Weltgeschichte. Dieses umfangreiche Werk wurde 1011 in einer Zeit der nationalen Krise geschaffen, als die Goyryeo-Hauptstadt Gaegyeong in die Hände der khitanischen Invasoren fiel. Der Goryeo-Kanon inspirierte die Khitan später zur Fertigung einer eigenen Khitan Tripitaka. Nachdem das erste Druckstock-Set von Goryeo 1232 während der Mongolen-Invasion den Flammen zum Opfer gefallen war, ließ Goryeo auf Basis des Kaibao-Sets, des Khitan-Sets sowie des ersten Goryeo-Sets neue Druckstöcke anfertigen. Dieser neue Kanon, die heutige Tripitaka Koreana, umfasst 80.000 Druckstöcke, in deren Vorder- und Rückseite insgesamt rund 160.000 Seiten buddhistische Sutren eingraviert sind. Daher auch die koreanische Bezeichnung „Palman Daejanggyeong“: „Achzigtausend-Tripitaka“. Die Tripitaka Koreana, die seit über 600 Jahren im Tempel Haein-sa aufbewahrt wird, ist heute das am vollständigsten erhaltene Druckstock-Set des buddhistischen Kanons, in dem die buddhistischen Schriften Ostasiens kompiliert sind. Die Konkurrenz um den Besitz der Tripitaka im mittelalterlichen Ostasien lässt sich durchaus mit dem heutigen Wettrennen um den Besitz von Atomwaffen vergleichen. Für das GoryeoReich war die Tripitaka ein Megaprojekt, für das der Staat alle Kräfte aufbieten musste. Der Goryeo-Hof ließ die Schriften in 2
© Ha Ji-kwon
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1. Bodhisattva Ksitigarbha. 14. Jh., Tinte und Farbe auf Seide. 104,3 × 55,6 cm. Das Gemälde zeigt Ksitigarbha, Bodhisattva des Mitgefühls, der die Verdammten aus der Hölle retten soll. Mit der imposanten Gestalt des über diversen Figuren thronenden Hauptbuddhas folgt es in der Komposition dem Standardaufbau buddhistischer Gemälde aus der Goryeo-Zeit. Schatz Nr. 784. 2. Vergoldete Silberkanne und Schale. 12. Jh. Vergoldetes Silber. Höhe (gesamt): 34,3 cm; Durchmesser: 9,5 cm (Kannenbasis), 18,8 cm (Kannenmündung), 14,5 cm (Schalenbasis). Die exquisite Kanne, deren Deckel aufwändig mit Lotusblüten und einem Phönix dekoriert ist, und die dazu passende Schale demonstrieren das kunsthandwerkliche Niveau des Goryeo-Reichs. Die Stücke zeigen, dass Seladon und Metallwaren aus Goryeo sich in Form und Dekor stark ähneln. 3. Seladon-Räuchergefäß mit geometrischem Durchbruch-Design. 12. Jh. Höhe: 15,3 cm, Basis: 11,5 cm. Dieses Räuchergefäß, ein Meisterwerk der Goryeo-Keramik vor der Entwicklung der Einlegetechnik, besteht aus drei Teilen: Bruchdekor-Kopfstück, Körper und Basis. Die kunstvolle Ausführung des Dekors wird durch die wohlproportionierte Gesamtform unterstrichen. Nationalschatz Nr. 95.
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© Museum of Fine Arts Boston
© Leeum, Samsumg Museum of Art
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großen Mengen drucken und an alle Tempel des Landes verteilen, wodurch er seine Autorität stärken und das Volk vereinen konnte. Durch Weitergabe von Druckexemplaren an die Nachbarländer konnte Goryeo zudem seine kulturelle Überlegenheit demonstrieren und auf der diplomatischen Bühne die Führerschaft übernehmen. Die Beantragung der Tripitaka-Drucke der Nachbarländer, deren Bemühungen um ihren Erhalt und das Verfahren bis zum Empfang, wie es in den historischen Aufzeichnungen nachzulesen ist, lassen erkennen, wie groß der Einfluss war, über den Goryeo dank der Tripitaka auf der politischen Großbühne der Zeit verfügte.
Inklusion und Integration
Die dreimonatige Ausstellung umfasst drei Themen: Teil 1 „Die internationale Stadt Gaegyeong und die königliche Kunstsammlung“ ist dem regen Austausch über das Meer und den verschiedenen Lokalprodukten von Goryeo gewidmet. Die Hauptstadt Gaegyeong war eine internationale, von vielen Ausländern frequentierte Stadt. 1123, während der Herrschaft von König Injong (reg. 1122-1146), kam eine 200-Mann-starke, von Song-Kaiser Huizong (reg. 1100-1126) gesandte chinesische Delegation an. Zu dieser Delgation gehörte auch der konfuzianische Gelehrte Xu Jing (1091-1153), der seinen einmonatigen Aufenthalt in Goryeo in Xuanhe fengshi Gaoli Tujing (Illustrierte Aufzeichnungen der chinesischen Gesandtschaft nach Korea während der Regierungszeit von Xuanhe) beschrieb. Er soll seine ausführliche, mit Skizzen illustrierte Dokumentation der Kultur, die er in Gaegyeong vorfand, dem Kaiser überreicht haben. Die Illustrationen gingen jedoch verloren, als das Nördliche Song-Reich einige Jahre später von der Jin-Dynastie (1125-1234) zerstört wurde, sodass nur noch die schriftlichen Aufzeichnungen erhalten sind. Die Ausstellung ermöglicht dem Besucher also eine Zeitreise nach Gaegyeong, dem Zentrum von Goryeo, das heutzutage nicht mehr zugänglich ist. „Tempelkunst“, Teil 2 der Ausstellung, präsentiert Werke aus buddhistischen Tempeln, die neben dem Königshof Hauptauftraggeber von Kunstwerken waren. Der Buddhismus war nicht nur Religion und Ideologie von Goryeo, sondern auch Mittelpunkt von Leben und Geist. Die kulturellen Errungenschaften von Goryeo gelangten auf Grundlage des Buddhismus zur Blüte. Keinem Königreich vor oder nach Goryeo gelang es, Geist und Werte des Buddhismus besser zu verstehen und zur Entfaltung zu bringen.
Teil 3 der Ausstellung ist betitelt mit „Schönheit von Goryeo, Kunst von Goryeo“. Das Goryeo-Reich hatte seine eigene, originäre Weltanschauung, unterhielt jedoch nicht nur zu Song-China, sondern auch zu der von den Khitan gegründeten Liao-Dynastie (916-1125) im Norden sowie zur Jin-Dynastie der Jurchen mehr als 200 Jahre lang diplomatische Beziehungen und pflegte den Austausch. In der späten Goryeo-Zeit herrschte in China das mongolische Yuan-Kaiserhaus (1279-1368), das ein in der Weltgeschichte bis dahin beispielloses 3 © National Museum of Korea Weltreich geschaffen hatte. Die Verhältnisse rund um Goryeo veränderten sich ständig und unzählige kleine und große Kriege brachen aus. Ironischerweise dienten die Routen der kriegerischen Armeen aber auch als Pfade des kulturellen Austauschs. Als Folge davon wurden Goryeos hervorragende Kunst- und Kunsthandwerksprodukte gerade in diesen unruhigen Zeiten geschaffen und weit und breit durch aktiven Austausch und Übernahme von Techniken sowie Integration heterogener Elemente in Umlauf gebracht.
Wiederentdeckung unveränderlicher Werte
Die in der historischen Literatur zu findenden Aufzeichnungen über diesen Austausch haben zwar eher fragmentarischen Charakter, aber die bis heute erhaltenen Kunstwerke belegen auf vielfältige Weise Goryeos rege Interaktionen mit den verschiedenen Reichen in China und Japan. Die diesmalige Sonderausstellung ist also auch insofern von großer Bedeutung, als dass sie anhand der Exponate Licht auf die kulturellen Errungenschaften von Goryeo, die im Rahmen seiner Beziehungen zu den Ländern Nordostasiens zustande kamen, wirft. Goryeo verwarf die von den Vorgängerreichen geschaffenen kulturellen Traditionen nicht, sondern integrierte sie mit einer pluralistischen Geisteshaltung in seine eigene Kultur, wobei es durch einen lebhaften Austausch mit den Nachbarländern eine ästhetisch ansprechende, kreative Kultur zur Blüte brachte. Die Künstler und Kunsthandwerker von Goryeo fingen Mentalität und Emotionen des Menschen ein und brachten sie mittels Farben, Materialien und Techniken in ihren Werken zum Ausdruck. Die so entstandenen Kunstwerke überwältigen den Betrachter manchmal mit ihrer kraftvollen Intensität, manchmal mit ihrer delikaten Eleganz. Diese Ausstellung lässt den Besucher das in Vergessenheit geratene Goryeo-Reich und die Zeitlosigkeit seiner künstlerischen Werte entdecken.
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HÜTER DES TRADITIONELLEN ERBES
40 Jahre auf dem Seil Meister Kwon Won-tae (geb. 1967) lässt das Publikum amüsiert lachen und entsetzt aufschreien, während er ‒ nur mit einem Faltfächer in der Hand die Balance haltend ‒ auf einem 3cm dünnen Nylonseil in der Luft läuft und in die Luft springt. Kwon betont, dass der traditionelle koreanische Seiltanz keine reine Zirkusakrobatik ist, sondern eine auf Interaktion mit dem Publikum basierende Form der volkstümlichen darstellenden Kunst. Kang Shin-jae Freiberuflicher Autor Fotos Ahn Hong-beom
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Während einer im Spätseptember im Palast Deoksu-gung in Seoul präsentierten Abendvorstellung demonstriert Seiltanz-Meister Kwon Won-tae Geojung Dolgi: die Fertigkeit, aus der Sitzposition hochzuspringen, sich um 180 Grad in der Luft zu drehen und sich wieder aufs Seil zu setzen.
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s war nicht leicht, Kwon, der 40 Jahre seines Lebens in der Luft verbracht hat, über das Seil zum Reden zu bringen. Auf meine in seinen Ohren manchmal wohl irrelevant klingenden Fragen antwortete er mit Gegenfragen, wobei seine Stimme immer deutlich nach oben ging. Die komplizierte Gefühlswelt des Seiltänzers zu entziffern war so schwierig wie ein Balanceakt auf dem Seil. „Was würden Sie machen, wenn Sie einen vereisten Berg hochklettern würden? Da wären Sie doch auch überaus vorsichtig, um nicht auszurutschen und den Hang hinunterzurollen. Daher nannte man Seiltänzer früher auch „Eoreumsani“ (Eisberg-Kletterer),“ erklärter.
Wie das Erklimmen eines Eisbergs
Aber seine unverkrampften Bewegungen auf dem drei Meter über der Erde gespannten Seil von acht, neun Meter Länge machen die in der Bezeichnung „Eisberg-Kletterer“ implizierete Gefahr vergessen. Mal läuft er, mal springt er, mal lässt er sich im Reitsitz auf dem Seil nieder, um sich dann in die Luft zu schwingen, zu drehen und wieder auf das Seil zu setzen. Während der gesamten Vorführung präsentiert er gewagte Stunts, die dem Publikum Schauder über den Rücken jagen, wobei es unter dem Seil, seiner Bühne, keine Sicherung gibt. „Mein Auftritt dauert im Schnitt 30-40 Minuten. Der traditionelle koreanische Seiltanz eignet sich nicht für eine ein- bis zweistündige Aufführung, da der Solotänzer das Publikum gleichzeitig mit Wortplänkeleien und Witzen unterhalten muss. Deshalb würde ich sagen, dass 30-40 Minuten die Grenze ist.“ Kwons Jultagi (Seiltanz) war ursprünglich Bestandteil von Namsadang Nori, der traditionellen volkstümlichen Wanderbühnen-Vorführungen der Joseon-Zeit (1392-1910), die von rein männlichen Truppen gegeben wurden. Heutzutage sind jedoch bei den verschiedenen Festivals im ganzen Land Einzelvorführungen üblich. Während die Zirkusartisten anderer Länder bemüht sind, optisch spektakuläre akrobatische Akte auf dem Hochseil zu inszenieren, ist der Namsadang-Seiltänzer ein Possenreißer, der Akrobatik mit amüsanten Geschichten verbindet. Das rührt daher, dass der koreanische Seiltanz ursprünglich eine volkstümliche Zerstreuung für das einfache Volk war, das in seinem Leben sonst nur harte Arbeit kannte. „Was die Figuren und Späße beim Seiltanz angeht, folge ich den überlieferten Mustern. Ich variiere sie allerdings etwas je nach Region, Ort, aktuellen gesellschaftlichen Themen und Reaktionen des Publikums“, erklärt Kwon. „Die Anzahl der Figuren ist nicht so wichtig, da ich je nach Situation immer mal wieder improvisiere.“
Die Bühne
Das Seil ist Kwons ganze Bühne und die einzige Herausforde-
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rung, die es zu überwinden gilt. Ich stellte Kwon einige Fragen dazu: Welche Art von Seil verwendet er? Worin unterscheidet es sich von einem Zirkusseil? Wie hat es sich angefühlt, bei dem 2004 in Tampa Bay (Florida) veranstalteten Seiltanz-Wettbewerb das 50m lange Seil in der Rekordzeit von 19,33 Sekunden zu überqueren und damit auf Platz 1 zu landen? Wie war es mit dem 1km langen Seil, das 2007 anlässlich der Hochseil-Weltmeisterschaft in Seoul über den Han-Fluss gespannt wurde, und das er im Wettkampf mit Hochseilartisten aus aller Welt in der Rekordzeit von 17 Minuten und 6 Sekunden überquerte? „Bei solchen Events werden Drahtseile verwendet, die stark, straff und schwankungsfrei sind. Solche Seile sind 3cm dick und halten eine Zugkraft von 35 Tonnen aus, d.h. sie brechen erst bei diesem Gewicht. Der Vorführende nutzt diese Kraft aus. Beim koreanischen Seiltanz werden weiche Nylonseile verwendet, deren Besonderheit in ihrer Biegsamkeit und Abfederkraft besteht. Umso schwieriger ist es natürlich, darauf das Gleichgewicht zu halten. Es ist vergleichbar mit dem Laufen auf hartem Boden bzw. auf Sand, der so weich ist, dass die Füße einsinken.“ Die Elastizität sei je nach Nylonseil unterschiedlich, die diesbezügliche Entscheidung bleibe dem Seiltänzer überlassen. Auf meine Frage, ob er manchmal Seile anderer Elastizität verwende, runzelt Kwon die Stirn und reibt sich mit beiden Händen übers Gesicht: „Das Seil ist ein empfindliches Ding. Das Leben eines Menschen hängt ja daran. Deshalb wechselt ein Seiltänzer das Seil nicht so einfach.“
Mit neun aufs Seil
Ich schaute mir den Videoclip seiner Vorführung noch einmal an. Hatte ich davor nur seine Bewegungen gesehen, so fielen mir nun auch die Kurven auf, die das schwankende Seil beschrieb. Das waren also die Bewegungen eines Menschen, der sich vom Boden befreit hat, und die des Seils, das seine Last auffängt. Kwon schritt auf dem Seil, schlug plötzlich seinen Fächer auf und zog damit Kurven durch die Luft. Für die Zuschauer mochte der Fächer Kwons Bewegungen mehr den Geschmack schöner Unterhaltung verleihen, für Kwon war er ein Mittel, die Balance zu halten. Der Seiltänzer, dessen einziger Fußhalt bei seinem Lauf durch die Luft das Seil ist, muss den Wind unbedingt besiegen, und der Fächer ist sein einzige Instrument dafür. „Wenn Sie versuchen, mit einem Fächer den Wind zu bewegen, werden sie das Gewicht spüren. Dank dieses Gewichts kann man die Balance halten. Aber das ist nicht alles. Wenn man den Fächer gegen starken Wind hält, wirkt er wie ein Fallschirm. Das Balancieren lässt sich einfach nicht mit Worten erklären.“ Was ist wohl das Allerschwierigste beim Seiltanz? Was könn-
te den Seiltänzer unweigerlich zum Stürzen bringen? Auf die Fragen hin rieb Kwon sich wieder mit beiden Händen übers Gesicht. „Das Training auf dem Seil ist dem Wachstumsprozess gleichzusetzen. Während der Körper wächst und das Gehirn reifer wird, entwickeln sich, ohne dass man es merkt, auch die eigenen Fertigkeiten“, antwortet Kwon. „Man kann also nicht einfach behaupten, dass man ein bestimmtes Niveau überschritten oder etwas gemeistert habe. Mit jeder Vorführung wird man ein Stück reifer und gewinnt an sicherer Perfektion. So ist das beim Seiltanz.“ Im Laufe des Interviews verließ Kwons Seiltanz allmählich die Ebene der reinen Akrobatik und warf Licht auf sein Leben, Denken und Fühlen. Seine Eltern, die selbst Wanderdarsteller waren, machten aus den Neunjährigen kurzerhand einen Wanderbühnenartisten. Er wehrte sich nicht gegen den ihm aufgezwungenen Lebensweg. Seit Kindesbeinen an war sein Leben unzertrennlich mit dem Seiltanz verbunden und während er zum Seiltänzer heranwuchs, wuchs auch die Person namens Kwon Won-tae heran. Sein Leben war ein einziger und langer Lernprozess, in dem Leben gleich Üben war und umgekehrt. Wie die „Zeit des auf dem Seil Aufwachsens“ wohl in Erinnerung geblieben sein mag? Kann diese Erinnerung in zeitliche Phasen eingeteilt werden? Auf diese Frage nach der Skalierung der Leistungsfähigkeit reagierte Kwon mit einer gewissen Abneigung. „Wenn ich das unbedingt in dieser Begrifflichkeit formulieren muss... Nun, nach etwa zehn Jahren war ich voller Tatendrang. Und furchtlos. Aber ohne das nötige Gespür. Ich war einfach zu beschäftigt damit, dem Trainingsschemata zu folgen,“ erinnert er sich. „Erst 20 Jahre später hatte ich das Gespür entwickelt und konnte die Vorführung auf meinen jeweiligen physischen Zustand abstimmen. Danach wurde es für mich selbstverständlich, aufs Seil zu steigen und je nach körperlicher Verfassung spontan zu entscheiden, welche Techniken ich vorführen würde. Ich habe jetzt zwar schon 40 Jahre Erfahrung, aber meine Fertigkeiten sind immer noch nicht perfekt. Bei feuchtem Wetter fühlt sich das Seil und auch mein Körper immer noch schwer an. Daran kann ich nichts ändern. In diesem Sinne ist der Seiltanz vergleichbar mit Extremsport, bei dem man auf sich in ständigem Fluss befindende Bedingungen reagieren muss.“ Nachdem er bislang eher trocken auf meine Fragen geantwortet hatte, reagierte Kwon auf meine Frage nach der Höhe des Seils plötzlich leidenschaftlich erregt. Dabei hatte ich lediglich die Seilhöhe von drei Metern bestätigen wollen. „Die Höhe ist nicht das Entscheidende. Zwischen einer auf dem Boden befestigten Kontruktion von drei Meter Höhe und einem auf gleicher Höhe gespannten Seil besteht ein erhebli-
Kwon, der bereits seit über 40 Jahren auf dem Seil tanzt, erklärt, dass traditioneller koreanischer Seiltanz mehr als nur Seilakrobatik ist. Es ist eine Darstellende Kunst, die Interaktion mit dem Publikum durch Wortplänkeleien und Späße beinhaltet.
cher Unterschied. Je höher das Seil, desto höher das Risiko und damit auch die Angst. Es lohnt sich nicht, ein größeres Risiko einzugehen. Der traditionelle koreanische Seiltanz ist kein Hochseil-Stunt, der in brenzliger Höhe über einer Schlucht aufgeführt wird, sondern eher eine Vorführung von Kunststücken auf dem Seil, bei der man Augenkontakt zu den Zuschauern hält und sich mit ihnen unterhält,“ sagt Kwon. Auch wenn man Stäbchen ein paar Tage lang nicht benutze, vergäße man nicht, wie das geht. Dasselbe gelte für Seil und Seiltänzer. Heutzutage tritt Kwon aus Angst vor Verletzungen bei der Probe ohne Vorbereitung auf. Während der Vorstellung hat er sich zwar hin und wieder verletzt, aber den Gedanken
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daran verdrängt er. Denn bei der Vorführung könne ihn dann die Angst auf dem Seil in ganz anderer Form und Stärke heimsuchen. Für ihn bedeutet Seiltanzen daher, sich durch Einstellung und Verhalten über die Angst hinwegzusetzen. Auf meine Frage, ob das nicht erhebliches mentales Training erfordere, kam die unerwartete Antwort: „Ich denke nicht so viel darüber nach. Ich sage mir nur: Das ist dein Job, und er ist gefährlich, also sei vorsichtig! Ich versuche generell, achtsam zu sein. So töte ich z.B. keine lebenden Kreaturen, v.a. keine geflügelten Tiere, die ich weder verletze, noch esse. Denn ich bin ja auch immer hoch in der Luft...“
Leben: ein Tanz auf dem Seil
Konnte er Angst und Furcht nicht unter Kontrolle halten, weil sie von Natur aus kommen und gehen, wie es ihnen beliebt? Angesichst dieser unbeherrschbaren Emotionen bleibt ihm nur, Distanz zu halten, wobei er eher symbolische Maßnahmen trifft, um Unglück abzuwehren. Doch bei allem, das er selbst kontrollieren kann, kennt er kein Wenn und Aber: „Das Seil spanne ich natürlich selbst. Beim Aufstellen der Stützen prüfe ich stets, ob der Boden die Last tragen kann. Entsprechend der geschätzten Zugkraft befestige ich dann das Seil. Ist das Seil nicht richtig befestigt, also wenn es z.B. zu steif und straff ist, ist die Krafteinwirkung auf meinen Körper ernorm. Ich bin der einzige, der die für mich gewohnte und optimale Elastizität des Seils kennt. Daher spanne ich es eigenhändig.“ Ein Seiltänzer, der die Verteilung der physikalischen Kraft auf dem Seil auf seine eigene Weise erläutern kann. Es kam daher nicht unerwartet, als er sagte, dass er einen Beruf im natur- oder ingenieurwissenschaftlichen Bereich gelernt hätte, wenn er eine Wahl gehabt hätte. Er gehe gerne mit Maschinen um und könne einfache Reparaturen mit selbst gebastelten Teilen durchführen. Vielleicht hätte er heute mehr Erfolg im Leben, wenn er in dem Bereich gearbeitet hätte. Meine Frage, ob dieser ihm verwehrte Lebensweg ein unerfüllter Traum wäre, tat er mit der Antwort ab, dass er nie davon geträumt habe. „Wenn man sich nicht um das tägliche Brot sorgen muss, ist Seiltanz ein ausgezeichneter Job“, sagt Kwon. „Da ich ihn von der Pike auf erlernt habe, konnte ich ins Ausland reisen und werde respektvoll mit ‘Meister Kwon’ angesprochen. Mein Name steht auch im Guinnes-Buch der Rekorde, und zwar für 12 Geojung dolgi in 30 Sekunden (aus der sitzenden Position hochspringen und sich um 180 Grad in der Luft drehen, bevor
Kwon bei einer Vorführung auf dem Rasen vor dem Nationalmuseum für Zeitgenössische koreanische Geschichte am Gwanghwamun-Platz in der Seouler Stadtmitte. Der Fächer in der Hand ist das sein einziges Werkzeug, mit dem er den Windwiderstand kontrolliert und die Balance hält.
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man sich wieder aufs Seil setzt). Das sollte doch reichen für ein glückliches Leben, oder?“ Aber das ist nicht alles. Kwon trägt auch den Titel „Meister für Namsadang Nori“, das als Wichtiges Nationales Immaterielles Kulturgut Koreas gilt und auch in der UNESCO-Liste als Immaterielles Kulturerbe eingetragen ist. Für Kwon ist das Leben ein Seil (Jul): „Woran halten wir uns bei der Geburt fest? Richtig, an der Nabelschnur (Taet-jul). Das Neugeborene wird mit Schnüren (Jul) in Tücher gewickelt. Und manchmal muss man im Leben an den richtigen Drähten (Jul) ziehen, nicht wahr? Auf dem Hochseil des Lebens sollte man mit nach vorne gerichtetem Blick geradeaus gehen, um nicht auf Irrwege zu geraten. Der Wind kann einen zum
Auf dem Hochseil des Lebens sollte man mit nach vorne gerichtetem Blick geradeaus gehen, um nicht auf Irrwege zu geraten. Der Wind kann einen zum Schwanken bringen, dann heißt es Balance wahren und weiter geradeaus gehen.
Schwanken bringen, dann heißt es Balance wahren und weiter geradeaus gehen. Und wo endet man schließlich? Man wird mit Hanfleinenstreifen (Sam-jul) ins Totengewand eingeschlagen und zu Erde. Das Leben beginnt und endet mit einem Seil.“ Endlich ein Lächeln auf dem Gesicht fragte Kwon, wo es denn im Leben etwas gebe, das nichts mit dem Seil zu tun habe. An welcher Stelle des Seils namens Leben er wohl gerade stehen mag? Mit welcher Leichtigkeit und welch großer Freude er wohl auf diesem Seil gesprungen und getanzt hat? Der heutige Tag mit all den fundamentalen Fragen, die der Seiltänzer aufgeworfen hat, wird genau wie das Seil, auf dem er tanzt, noch lange in mir nachschwingen.
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KUNSTKRITIK
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Retrospektive Yun Hyong-keun
Abstrakte Landschaften des Schweigens und des Erhabenen Die Retrospektive von Yun Hyong-keun (1928-2007), des Meisters der koreanischen monochromen Malerei „Dansaekhwa“, fand vom 4. August bis zum 16. Dezember 2018 im Nationalmuseum für Moderne und Zeitgenössische Kunst (MMCA) in Seoul statt. Die Ausstellung präsentierte neben einer Vielzahl von Yuns Werken, die laut Kritiker „die traditionelle koreanische Ästhetik in die Sprache der modernen Malerei übersetzt“ haben, auch umfangreiche Materialien, die einen Einblick in das Privatleben des Künstlers gewährten. Moon So-young Kulturredakteurin, Korea JoongAng Daily
Gebrannte Umbra. 1980. Öl auf Leinen. 18,6 × 228,3 cm. Yun Hyong-keun malte dieses monochrome Werk, nachdem er vom Gwangju-Aufstand für Demokratie am 18. Mai 1980 erfahren hatte. Es ist eine Darstellung von „Menschen, die sich gegen die Tyrannei auflehnen, sich aneinander lehnen, bluten und auf die Straße fallen.“ Das Bild wurde in dieser Ausstellung zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert. © National Museum of Modern and Contemporary Art
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enn ich als Kind mit meinen Eltern Kunstmuseen besuchte, fand ich die ambigen abstrakten Gemälde, die lediglich aus einer oder zwei unbunten Farben bestanden, am langweiligsten. In der Hoffnung auf Aufklärung warf ich einen Blick auf die Titel-Schildchen, doch dort stand meist „Ohne Titel“ oder „Werk Nr. X“, was mich über meine Enttäuschung hinaus auch noch in Wut versetzte. Später erfuhr ich, dass diese „Dansaekhwa“ genannten Bilder zu einer Mainstream-Bewegung der modernen koreanischen Kunst gehörten, nämlich zur monochromen Bewegung, die in den letzten Jahren international Anerkennung erlangt hat. Das einzige Bild, das mir damals gefiel, gehörte zur Serie Umbra-Blau von Yun Hyong-keun. Es sah aus wie ein Abbild der schwarzen Silhouette von Klippen, die in der Abenddämmerung nach Westen oder in der Morgendämmerung nach Osten gewandt im schwachen Licht emporragen. Sonderbarerweise erschien es mir wie ein Tusche-Landschaftsgemälde, gleichzeitig aber auch wie ein abstraktes Gemälde im westlichen Stil. Diese tiefgrauen Klippen schienen viele Geschichten in sich zu bergen. Die Leere, gefüllt mit dem letzten oder ersten Licht des Tages, schien sich über die Klippen hinaus zu erstrecken und bis zur Unendlichkeit und Ewigkeit zu reichen. Wenn ich mir das Bild so anschaute, wurde ich von Ehrfurcht gepackt
und mein Herz schien sich zu weiten. Rückblickend gesehen mag das das Gefühl der Erhabenheit gewesen sein, das der britische Philosoph Edmund Burke (1729-1797) folgendermaßen beschrieb: „Das Unendliche erfüllt die Seele mit derjenigen Art angenehmen Schreckens, welche die eigene Wirkung und das sicherste Merkmal des Erhabenen ist.“
Tuscheschwarz: tiefgründig, groß und fern
Die Retrospektive Yun Hyong-keun im MMCA weckte alte Kindheitserinnerungen in mir. Durch das Gespräch mit Kuratorin Kim In-hye, die die Ausstellung organisierte, lernte ich einiges hinzu: So sei die Hintergrundfarbe von Abend- und Morgendämmerung die ursprüngliche Farbe der nicht mit Gesso grundierten Leinwand. Der Künstler betrachtete diese Farben an sich schon als perfekt. Dass Yun seit etwa 1973 nur noch aus Umbra und Blau gemischtes Meok (traditionelle koreanische schwarze Tusche) verwendete, sei darauf zurückzuführen, dass er Umbra als Farbe der Erde und Blau als Farbe des Himmels betrachtete und so Himmel und Erde zum Ausdruck bringen wollte. Ich erfuhr auch, dass sich die Farben auf seinen Werken so natürlich wie bei einer Tuschemalerei ausbreiteten, weil das Pigment aus der Umbra-Blau-Mischung stark mit Terpentinöl und Leinöl verdünnt wurde.
Dieses Foto wurde 1974, im Todesjahr von Yun Hyong-keuns Lehrer und Schwiegervater Kim Whanki, in Yuns Atelier in Sinchon aufgenommen. Seine neues Werk Umber-Blau und Kims Wo und als was werden wir uns wohl wieder treffen? hängen Seite an Seite.
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In einem Tagebucheintrag vom Januar 1977 schrieb Yun: „Die These meiner Bilder ist ,Tor des Himmels und der Erde‘. Blau ist die Farbe des Himmels, Umbra die der Erde. Daher ,Himmel und Erde‘, das Tor dient als Komposition“. Durch das Tor öffnen sich Himmel und Erde. Ob das der Moment der Erschaffung der Welt ist? Es ist nicht so, dass Himmel und Erde schon geteilt waren und sich einzeln öffnen, sondern sie waren in Einem gemischt und diese Mischung teilt sich in zwei Teile auf. Durch die Öffnung dringt Licht hindurch, was einen tiefen und mysteriösen Eindruck vermittelt. Im Übrigen: Der Hintergrund ist keine einfache Leere, sondern Licht, glaube ich. Laut der Kunsthistorikerin Kim Hyeon-suk ist das Tuscheschwarz von Yun Manifestation von „Hyeon (玄)“, einem Zeichen, das in der alten ostasiatischen Philosophie auf das Universum referiert. „Hyeon“ bedeutet „tiefgründig, groß, fern“ und steht auch für Schwarz mit einem rötlichen Ton.
Viele werden beim Anblick von Rothkos Bildern von Emotionen überwältigt und vergießen Tränen. Yuns Werke, die abstrakt sind und gleichzeitig Landschaften darstellen, sind eine Quelle des Schmerzes und der Freude, die meinen Geist zur formlosen Unendlichkeit geleitet hat.
Über den Lehrer hinaus
Sehr scharfsinnig und passend formuliert! Obwohl die Werke beider Künstler kosmisch sind, beschwört Kims blaue Punktmalerei ein harmonisches, von Lyrizität durchdrungenes Weltall herauf, während Yuns Werke harsch wirken und an Chaos, den Urzustand der Welt, als Himmel und Erde noch miteinander vermischt waren, erinnern. Auch hinsichtlich des Farbtons scheinen Kims Werke in den Himmel zu ragen und dort hinund herzuschweben, während Yuns Bilder stets fest auf dem Boden und der Erde ruhen. In den Aufzeichnungen zu seiner Solo-Ausstellung in der Galerie Ueda in Tokio 1990 schrieb Yun: „Da alles auf der Erde wieder zur Erde wird, ist letztendlich nur eine Frage der Zeit. Wenn ich daran denke, dass das auch für mich und meine Werke gilt, erscheint mir alles trivial.“
Es gibt aber noch andere Gründe, warum Yun nur Umbra-Blau verwendete. Er war Schüler und Schwiegersohn von Meister Kim Whanki (1913-1974) dem er sein ganzes Leben lang Respekt erwies. Doch bemühte er sich auch, Kims Einfluss zu entkommen und eine eigenständige Kunstwelt aufzubauen. Kim Whanki, der der ersten Generation der koreanischen abstrakten Malerei angehört, ließ sich nicht nur von der westlichen abstrakten Malerei inspirieren, sondern auch von der koreanischen Literati-Malerei und dem traditionellem Kunsthandwerk. Er brachte in seinen Werken z.B. ostasiatische Motive wie Berge, Wolken, Mond, Dal-Hangari (Mondtopf: reinweiße, kugelige Porzellantöpfe) und Pflaumenblüten halb figurativ bzw. halb abstrakt zum Ausdruck. Als er sich 1963 in New York niederließ, wandte er sich völlig der abstrakten Malerei zu und perfektionierte auf großen Leinwänden seine Punktmalerei, die an sternenbesetzte Galaxien erinnert. Yuns Frühwerk lässt definitiv Kim Whankis Einfluss erkennen, v.a. seine Zeichnungen in Kims charakteristischem Blauton. Im Oktober 1974 machte Yun eine symbolhaltige Fotoaufnahme: Er hängte sein neues Werk Umbra-Blau und Kims wohlbekanntes Wo und als was werden wir uns wohl wieder treffen? nebeneinander auf und stellte sich mit entschlossener Miene davor in die Mitte. Gerade diese Aufnahme ist laut Kuratorin Kim ein „ehrgeiziges Statement seines Starts bei Kim Whanki und seiner Trennung von ihm“. Über seine Serie Umbra-Blau schrieb Yun 1977 in seinem Tagebuch: „Ich male einen einsilbigen Ruf bar jedes Drumherum, ziehe einen an jeder Seite der Leinwand wie dicke Stangen.“ Trotz seines ungebrochenen Respekts vor Kim Whanki äußerte Yun, dass „seine Bilder viel Drumherum enthalten und im Himmel schweben“.
Politische Verfolgung
Dass Yuns Füße immer an den Boden gefesselt blieben, hängt mit seiner persönlichen Geschichte zusammen. Die schwarze Farbe in seinen Werken ist nicht nur eine Mischung aus den Farben von Himmel und Erde, es ist auch die Farbe verbrannter Bäume, die in dieser Erde Wurzeln geschlagen haben, die Farbe der vor Gram verbrannten Herzen der Menschen, die – gefesselt an die Absurditäten dieser Erde – nie gen Himmel fliegen konnten. In seinem Tagebuch schrieb Yun im Juli 1990: „Ich habe einmal die Farbe eines verbrannten Dachsparrens gesehen. Das Schwarz ist noch schwärzer als die Farbe verrotteter Pflanzen und Bäume. Vielleicht nimmt das verbrannte Herz eines Menschen die Farbe dieses verbrannten Dachsparrens an.“ Was hatte er wohl durchmachen müssen? 1950, während des Koreakriegs, wurde Yun als Kommunist verdächtigt und konnte nur knapp der Exekution entkommen. Es folgten mehrere Inhaftierungen aus politischen Gründen. Seine letzte Festnah-
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Umbra-Blau. 1976–1977. Öl auf Baumwolle. 162,3 × 130,6 cm. Yun Hyong-keun schuf dieses Gemälde, nachdem er seinen Lehrerberuf aufgeben musste und sich nur noch der Kunst widmete. Zu der Zeit arbeitete Yun hauptsächlich an dem Thema „Tor des Himmels und der Erde“.
me brachte den Wendepunkt in seiner Kunstwelt: 1973 machte Yun in der Sookmyung Mädchen-Oberschule, wo er damals bereits über zehn Jahre unterrichtet hatte, auf die Zulassung einer unqualifizierten Schülerin aufmerksam, woraufhin er absurderweise wegen Verstoßes gegen das Antikommunismus-Gesetz ins Gefängnis kam. Die besagte Schülerin war nämlich die Tochter einer wohlhabenden Familie, die dem Leiter des Zentralen Nachrichtendienstes Geld zukommen ließ. Yun wurde beschuldigt, dass sein Hut „dem von Lenin ähnelt“. Dabei hatte Yun nur der Hut gefallen, den Kim Whanki auf einem Foto, das er ihm aus New York geschickt hatte, trug. Yun nähte ihn auf der Nähmaschine nach, nicht ahnend, dass dieser Hut ihn einmal zu einem „Roten“ machen würde. Er wurde zwar einen Monat später aus der Haft entlassen, musste aber zuvor seine Kündigung unterzeichnen. „Mit meiner Entlassung aus dem Seodaemun-Gefängnis 1973 veränderte sich, angetrieben von der Wut, mein Malstil komplett. Davor hatte ich noch Farben verwendet, aber ab da waren mir Farben und alles Prachtvolle zuwider. Meine Bilder wurden
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schwarz. Ich fluchte und spie Gift“, sagte Yun später in einem Interview. Betrachtet man Yuns Werke aus der Serie Umbra-Blau ohne dieses Hintergrundwissen, lassen sich seine Gedanken nur schwer erraten. Seine Bilder sind voller Schreie, und doch stumm: „einsilbige Rufe bar jedes Drumherum“. Die diesmalige Retrospektive zeigt ein weiteres, außergewöhnliches Werk, das mit Yuns Geschichte zusammenhängt: Gebrannte Umbra (Burnt Umber), gemalt im Juni 1980. Die tuscheschwarzen Pinselstriche in den Serien Umbra-Blau und Umbra verlaufen stets senkrecht und erinnern an Rechtecke. Doch in diesem Werk verlaufen die breiten Pinselstriche schief, als würden sie übereinander stolpern, während unzählige dünne Farbfäden daran heruntertropfen. Sie erinnern an Menschen, die auf der Straße blutend zusammenbrechen. Yun malte das Bild, als er von der brutalen Niederschlagung des Gwangju-Aufstands für Demokratie (1980) erfuhr. Wütend darüber, dass sich die politische Verfolgung, die er selbst erfahren hatte, wiederholte, soll er dieses Werk auf der
Zeichnung. 1972. Öl auf Papier, 49 × 33 cm. Eins von Yun Hyongkeuns Frühwerken, bei denen er mit Farbverwässerung und Aufstreichen auf Papier experimentierte. Bis dahin verwendete er noch helle Farben, die später in seinen Werken ganz verschwanden.
Stelle hervorgebracht haben. Die Vertreter der monochromen Malerei der 1970er und 80er Jahre wurden oft für ihr Desinteresse an den politischen und gesellschaftlichen Realitäten der Zeit kritisiert. Yun ist von dieser Kritik ausgenommen. Das MMCA erwarb Gebrannte Umbra 2017 von Yuns Familie. Es ist das erste Mal, dass es der Öffentlichkeit vorgestellt wird.
Zur formlosen Unendlichkeit
Aber nicht in allen von Yuns Werken spuckt die Farbe schwarz nur Wut und Groll aus. In seinem Tagebuch schrieb er: „Der Baum trotzt der bitteren Kälte bei Wind und Regen, Frost und Schnee, bewahrt seine Lebenskraft, bewahrt seinen Platz und schweigt still.“ Er sah, wie diese Bäume starben und wieder zur Erde zurückkehrten, wovon er mehrmals erzählte. Yuns Farbfelder gefüllt mit der schwarzen Farbe der Umbra-Blau-Mischung, die an die wieder zur Erde gewordenen Bäume erinnert, stehen für das Schweigen und gleichzeitig für das Durchhalten, für das Leben und den Tod. Wie der Kunstkritiker Lee Yil (1932-1997) sagte, stellen sie „eine ursprüngliche Existenz
von undefinierbarer Form“ dar. Der Kunstkritiker Oh Kwang-su bezeichnete Yuns Gemälde als „abstrakte Landschaften“, die „überaus einfach und doch äußerst üppig“ sind und „die Natur, nicht als die gemalte, sondern als die hier und jetzt seiende“ darstellen. Im gleichen Kontext beschrieb auch der amerikanische Kunstkritiker Robert Rosenblum (1927-2006) die Werke des abstrakten Expressionisten Mark Rothko: Wie Caspar David Friedrichs frühromantische Landschaften des 19. Jhs, so versetze auch Rothkos Farbfeldmalerei den Betrachter in erhabene Landschaften. Anders als Friedrich stelle Rothko jedoch keine natürlichen Landschaften dar, vielmehr würden seine Farbfelder an sich zu einer erhabenen Landschaft, die den Geist des Betrachters zur „formlosen Unendlichkeit“ führt. Viele werden beim Anblick von Rothkos Bildern von Emotionen überwältigt und vergießen Tränen. Yuns Werke, die abstrakt sind und gleichzeitig Landschaften darstellen, sind eine Quelle des Schmerzes und der Freude, die meinen Geist zur formlosen Unendlichkeit geleitet haben.
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UNTERWEGS
Jin-do
Reichtümer, Mut und Verzweiflung
Jin-do, die vor der Südwestspitze der koreanischen Halbinsel gelegene drittgrößte Insel des Landes, ist von Hunderten kleineren und größeren Inseln umgeben. Da sie auf der Seeroute zwischen China und Japan liegt, war sie schon früh ein Ort regen Austauschs, aber auch ein Schauplatz historischer Konflikte und ein Eiland des Exils. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich eine einzigartige Kultur. Lee Chang-guy Dichter und Literaturkritiker Fotos Ahn Hong-beom
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Die Insel Jin-do vom Berg Cheomchal-san aus gesehen. Niedrige Berge schĂźtzen die goldenen Felder vor den Seewinden. Jenseits des Meeres ist der Kreis Haenam-gun auf der koreanischen Halbinsel zu sehen.
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A
m 9. September 1816 bestieg Basil Hall (17881844), Kapitän des britischen Kriegsschiffes Lyra, den höchsten Punkt der Insel Sangjo-do vor der Küste von Jin-do. Er schaute auf ein Archipel aus mehr als 100 Inseln hinunter und rief „Welch herrlicher Anblick!“. Heute erinnert Basil Hall Park in der Nähe des Dorisan-Observatoriums an den Besuch des britischen Kapitäns. Wer in Sebang Nakjo an der Südwestküste ankommt und das Observatorium noch vor Einbruch der Abenddämmerung erreicht, wird Halls Beschreibung zu schätzen wissen. Der spektakuläre Anblick, der sich von hier bietet, ist berühmt. Besucher, denen das Glück hold ist, blicken auf eine Unzahl von Inselchen, die links von der untergehenden, die Wolken rosa färbenden Sonne das Meer wie schwarze Vögel sprenkeln. Diese kleinen Inseln bilden den Jodo-Archipel, der einst Basil Hall und seiner Mannschaft den Atem verschlug. Der Schiffskommandant gehörte einer britischen Gesandtschaft zur Verstärkung des Handels mit China an. Während seiner China-Mission erhielt er den Auftrag, die Westküste von Joseon, dem heutigen Korea, zu erkunden. Die Einzelheiten seiner Reise beschrieb er in dem 1818 veröffentlichten Buch Entdeckungsreise an die Westküste von Corea und der großen Lutschu-Insel, durch das die Welt darüber informiert wurde, dass die Insel Jin-do per Schiff erreichbar ist. Dies geschah ein halbes Jahrhundert vor der offiziellen Öffnung der koreanischen Häfen für Japan und danach für die westlichen Mächte. Es heißt, dass Großbritannien später den Joseon-Hof darum ersucht habe, Jin-do und den Jodo-Archipel zu verpachten. Die Einheimischen von Jin-do glauben, dass ihre Insel sich als Standort eines britischen Vertragshafens ähnlich wie Hongkong zu einem geschäftigen internationalen Umschlaghafen entwickelt hätte. Zwar war es Jin-do nicht vergönnt, zu einem bedeutenden Handelsdrehkreuz zu werden, aber die Insel entwickelte sich zu einem Schmelztiegel, in dem sich Fremdes und Einheimisches verbanden und aufblühten. Jin-dos Lage machte die Insel aber auch berühmt und berüchtigt als Ort des Blutvergießens und der Verzweiflung. Jin-dos Status als einer der Hauptschauplätze historischer Ereignisse widerspricht gewissermaßen seiner Lage am untersten Ende der koreanischen Halbinsel.
Kultur der Bewahrung und des Zustroms
Jin-do erstreckt sich über rund 360 km², was rund 60% der Gesamtgröße von Seoul entspricht. Von Seoul aus braucht man fast vier Stunden: 2½ Stunden mit dem KTX (Koreas Hochgeschwindigkeitszug, der mit 300 km/h fährt) bis zum Hafen Mokpo in der Provinz Jeollanam-do und dann noch einmal eine Stunde mit dem Auto. Jin-do ist mit dem Festland durch eine rund 500m lange Schrägseilbrücke verbunden.
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Im Meer vor Jin-do treffen die kalten, südwärts fließenden Meeresströmungen des Ostmeers auf die warmen, nordwärts fließenden Strömungen aus den äquatorialen Regionen. Der zusätzliche Einfluss der beschleunigten Gezeiten in den Gewässern um Jin-do erhöht die Fließgeschwindigkeit weiter. Die schnellen Strömungen beförderten einst ununterbrochen Prozessionen von Gesandten zwischen China und Japan sowie Kolonnen von Frachtschiffen, und zwar nicht nur von der Südund Westküste Koreas, sondern auch von Gaegyeong (heute Gaeseong in Nordkorea), der alten Hauptstadt des GoryeoReichs im Norden, und Hanyang (das heutige Seoul) im Süden. Zu den lokalen Spezialitäten von Jin-do gehören Blaukrabben, Gelbfische, Sardellen, Seeohren und kleine Kraken sowie verschiedene Arten von Meerespflanzen wie Seetang, getrockneter Meerlattich und Kombu-Seetang von guter Qualität. All diese Produkte sind Geschenke der kalten und warmen Meeresströmungen, die um die Insel herum zusammenfließen. Beim Herumwandern vergisst man leicht, dass Jin-do eine Insel ist. Sie ist an drei Seiten von Bergen umgeben und man trifft häufig auf typische Agrarlandschaften. Im Gegensatz zu anderen Inseln sind die landwirtschaftlichen Nutzflächen weitläufig, und hier und da sind Wassereservoire zu sehen. All dies ist Ergebnis von vor langer Zeit durchgeführten Landgewinnungsprojekten, in deren Zuge Hügel abgetragen und das Wattenmeer aufgeschüttet wurde. Daher wurde die Insel einst „Okju“ genannt, was soviel bedeutet wie „ein Ort, der fruchtbar ist, obwohl er eine Insel ist“. Die Landwirtschaft hat Jin-do zum größten Saatgutlieferanten des Landes gemacht, aber Hauptanbauprodukt ist Reis. Ein Teil der jährlichen Reisernte ernährte einst die Bewohner der Insel Jeju-do, die zwar flächenmäßig vier mal größer als Jin-do, aber ungeeignet für den Reisanbau ist. Daher heißt es seit alter Zeit auf Jin-do: „Eine gute Jahresernte hält einen drei Jahre über Wasser“. In solch einer bukolischen Umgebung waren Singen und Tanzen etwas Selbstverständliches für die Insulaner. Kommt man in ein Dorf, hört man auch heute noch die Frauen die lieblichen, langsamen Weisen des Volksliedes Yukjabaegi singen. Die fröhlichen Lieder, die im Sommer bei der Feldarbeit gesungen werden, weisen eine große Bandbreite unterschiedlicher Melodien und Rhythmen auf, wobei sich die Arbeitslieder auf den Reisfeldern von denen der Trockenanbau-Felder unterschieden. Unter dem Erntevollmond im achten Monat nach Lunarkalender schlüpfen die Frauen und Mädchen des Dorfes in neue Kleider, tanzen einander an den Händen haltend den alten Kreistanz Ganggangsullae und singen die endlosen Verse des Volkslieds Jindo Arirang. Die Männer führen Nongak auf, die flotte traditionelle Bauernmusik mit Tanz und Riten, die auch in die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes auf-
Sebang Nakjo auf Jin-do liegt am südlichsten Zipfel der koreanischen Halbinsel. Die 154 Inselchen, die sich bei Sonnenuntergang in schwarze Silhouetten verwandeln, sorgen für ein abendliches Farbspektakel.
genommen wurde. Es ist nicht überraschend, dass die Insel mit ihren nur 30.000 Einwohnern auch ein eigenes Ensemble für die traditionelle Musik Gugak hat, dessen Truppen jeweils Instrumentalmusik, Vokalmusik bzw. Tanz aufführen. Die Insel verfügt zudem über einen beeindruckenden modernen Konzertsaal und eine Bildungsanstalt, die der klassischen Gugak-Musik gewidmet ist und zum Jindo National Gugak Center gehört.
Der nachhaltige Beitrag der Verbannten
Neben reichlichen Ernten und Gesang birgt die Geschichte der Insel Jin-do aber auch reichlich Trauer und Leid. Die große Entfernung zur Hauptstadt machte die Insel zu einem idealen Ort der Verbannung für konfuzianische Gelehrte, die aus politischen oder ideologischen Gründen am Königshof in Ungnade gefallen waren. Für sie war die Insel ein sehr weit entfernter Ort, an dem sie verrotteten und in Vergessenheit gerieten. Aber die Ausgestoßenen des Hofes wurden zum Segen für Jin-do. Während der drei bis zwanzig Jahre, die die vom Hof verbann-
ten Gelehrten im Exil auf Jin-do verbrachten, mischten sie sich unter die Einheimischen, stellten ihnen die Kultur der verschiedenen Regionen vor und vermittelten Geist und Werte der Zeit an die talentierten Köpfe der Insel. Daher wurde die Kultur von Jin-do diversifizierter und reicher als die der meisten anderen Regionen des Landes. Zum Beispiel ist Jin-do heutzutage als Zentrum der Literati-Malerei der Südlichen Schule anerkannt, sodass es 2018 auch die erste Jeonnam International Sumuk Biennale veranstaltete (Sumuk: koreanische Tuschemalerei). Dieses Ereignis ist zwei Ureinwohnern von Jin-do zu verdanken, nämlich Heo Ryeon (1809-1892) und Heo Baek-ryeon (1891-1977), die zu den bedeutendsten Vertretern der Südlichen Schule zählen. Beide wurden von Verbannten, die aus der Hauptstadt ein profundes Kunstwissen mitbrachten unterrichtet und unterstützt. Vor demselben Hintergrund entwickelte sich eine lokale Kultur der Herstellung alkoholischer Getränke. Dazu gehört z.B. Hongju (wörtlich „roter Branntwein“), ein Reisschnaps, der während der Destillation mit getrockneten Jicho-Wurzeln (Steinsamenwur-
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zel) angereichert wird, sodass er sich rot färbt, oder Tee, der mit den jungen Trieben von Teepflanzen, die überall in den Bergen und Feldern der Insel wachsen, hergestellt wird. Aber wie es sich oft in der Geschichte bestätigt findet, bedeuten solch vorteilhafte Bedingungen nicht immer nur Gutes.
Sambyeolcho und die Schlacht von Myeongnyang
Während der Joseon-Zeit (1392-1910) war der kürzeste Weg nach Jin-do der Seeweg von der Rechten Flottenbasis in Haenam zur Nokjin-Fährstelle. Die starken Strömungen rund um die Insel ließen den gemeinen Mann jedoch die längere Strecke von einem Kilometer benutzen, die vom Okdong-Hafen zum Byeokpa-Hafen führt. Jenseits des Hügels am Byeokpa-Hafen befindet sich die historische Festungsstätte Yongjang Sanseong. Es war das Hauptquartier der Sambyeolcho, drei Elite-Kampfeinheiten, die sich der pro-mongolischen Goryeo-Regierung bis zum Schluss widersetzten und von einem „neuen Goryeo-Reich“ träumten. Jin-do war für die Sambyeolcho ein idealer Ort für die Verteidigung. Die Sambyeolcho, die am 19. August 1270 in Jin-do einmarschierten, bauten die Burgstadt Yongjang zu einer regelrechten militärischen Festungsanlage aus, in deren Mittelpunkt
der Tempel Yongjang-sa lag, der größte buddhistische Tempel von Jin-do. Sie verwendeten „Goryeo“ als offiziellen Reichsnamen, setzten ihren eigenen König auf den Thron und errichteten eine fast exakte Nachbildung des Manwoldae-Palastes, des offiziellen Goryeo-Königspalastes in der Hauptstadt Gaegyeong. Die Bevölkerung von Jin-do unterstützte die Ziele der Sambyeolcho und leistete Hilfe. Auch sie wollten sich von den Mongolen befreien, die mehr koreanisches Territorium unter ihre Herrschaft gebracht hatten als alle anderen Invasoren davor. Jedoch hielt der Widerstand nicht lange an. Im Mai 1271, weniger als ein Jahr später, fiel die Yongjang-Bergfestung in die Hände der vereinten Goryeo-Mongolen-Streitkräfte. Wie mochten sich die Menschen von Jin-do wohl gefühlt haben, als ihre Inselheimat sich so schnell in ein höllisches Schlachtfeld verwandelte? Ein Ort auf der Insel gibt Hinweise darauf. Bis zum heutigen Tag veranstalten die Inselbewohner am ersten Vollmondtag des Jahres in einem Bae Jung-Son, dem Kommandanten der Sambyeolcho, gewidmeten Schrein im Dorf Gulpo-ri Gedenkriten. An dieser Stelle erinnern die Historiker gerne daran, dass die Mitglieder der Sambyeolcho ihre Ausweispapiere, aus denen ihre gesellschaftliche Stellung ersichtlich war, verbrannten, bevor sie sich zur Insel Jin-do aufmachten. In der
Sehenswürdigkeiten auf Jin-do 1
Nokjin-Strandpark
Seoul
Friedhof für die Kriegstoten der 2 japanischen Invasion Jeongyu Jaeran
3 YongjangBergfestung
408km Ulim Sanbang (Bergstudio der Wolken und Wälder)
Jin-do
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Namdo Garnisonsfestung
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Sochi Gedenkhalle
streng hierarchischen Gesellschaft von Goryeo widersetzten sich die Sambyeolcho der bestehenden Ordnung und träumten von einer neuen Gesellschaft, in deren Mittelpunkt das Volk stand. Nachdem der Krieg mit der Niederlage der Sambyeolcho zu Ende gegangen war, verschleppten die Mongolen rund 10.000 Einheimische als Kriegsgefangene und richteten ein Pferdegestüt auf Jin-do ein. Das verleiht der These Glaubwürdigkeit, dass der geliebte koreanische Jindo-Hund, der 1938 offiziell zum Naturdenkmal erklärt wurde, ein Nachkomme eines damals von den Mongolen ins Land gebrachten Schäferhundes und einer einheimischen Hunderasse ist. Der Byeokpa-Hafen in Jin-do stand erst 300 Jahre später wieder im Rampenlicht, und zwar während der zweiten japanischen Invasion (1597-1598), auch als „Jeongyu Jaeran“ bekannt. Admiral Yi Sun-sin, der im Zuge politischer Fraktionskämpfe Verleumdungen zum Opfer gefallen und degradiert worden war, wurde wieder als Oberbefehlshaber der Marine eingesetzt, um die japanische Flotte aufzuhalten, die zur Unterstützung der Invasionstruppen von Toyotomi Hideyoshi geschickt worden war. Yi konnte jedoch nur zwölf Kriegsschiffe aufbringen, da die koreanische Flotte während seiner Inhaftierung in einer Reihe von Schlachten gegen die Japaner stark
dezimiert worden war. Yi führte seine zwölf Schiffe zur Byeokpa-Fährstelle und hielt Hunderte von japanischen Kriegsschiffen in der engen Uldolmok-Passage (auch als Myeongnyang-Meeresstraße bekannt) zwischen den Häfen Nokjin und Byeokpa fest. Am 26. Oktober 1597 nutzte Yi die schnellen Gezeitenströmungen und Strudel der an ihrer engsten Stelle nur rund 200 Meter breiten Meerenge aus. Die Gezeitenströmungen, die ein Navigieren in der engen Passage extrem erschwerten, neutralisierten die zahlenmäßige Überlegenheit der japanischen Flotte. Sie verlor Dutzende von Schiffen und zog sich schließlich geschlagen zurück. Von vielen wird Yis erstaunlicher Sieg als brillante Militärstrategie erinnert, durch die sich eine weit unterlegene Streitmacht durchsetzen konnte. Dieser Sieg war jedoch nicht allein den durchtrainierten Soldaten zu verdanken, sondern zum großen Teil auch den Einheimischen von Jin-do, die Yis Anweisungen folgend auf beiden Seiten der Meeresstraße Posten bezoNamdojin Seong, die Südliche Garnisonsfestung, wurde im 13. Jh. erbaut, als die Sambyeolcho-Elitetruppen von Goryeo die Küstenregion gegen die mongolischen Invasoren verteidigten. Im nachfolgenden Joseon-Reich wurde die Festung als Marinestützpunkt zur Abwehr japanischer Invasoren genutzt.
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gen hatten und die Japaner mit einem Bombardement von Schlachtrufen, Steinen und Pfeilen verwirrten. Als Admiral Yi sich an die Westküste begab, um seine Streitkräfte neu zu organisieren, nahmen die Japaner an den Einheimischen von Jin-do grausame Rache für die erlittene Schmach. Yi, der 23 Tage später auf die Insel kam, fand nur noch totale Zerstörung vor. In seinem Kriegstagebuch Nanjung Ilgi schreibt er, dass kein einziges Haus mehr stand, keine einzige Menschenseele mehr übrig war und überall lautlose Stille herrschte. Die Folgen für Jin-do waren schrecklich, aber die Schmach der Niederlage, die die Japaner in der Schlacht von Myeongnyang hinnehmen mussten, brachte die entscheidende Wende zugunsten von Joseon und das Ende des sieben Jahre langen Krieges. Heute stehen Statuen von Admiral Yi in Nokjin und auf dem Gwanghwamun-Platz im Herzen der Hauptstadt Seoul.
Zwei Friedhöfe
Am Straßenrand am Fuße des Berges in der Gegend des Dorfes Dopyeon-ri, die zwischen den Schlachtfeldern von Uldolmok und dem Byeokpa-Hafen liegt, gibt es einen Friedhof mit etwa 230 Gräbern. Der offizielle Name lautet „Friedhof für die Gefallenen von Jeongyu Jaeran“. Hier liegen die Soldaten der Joseon-Armee, die in der Schlacht von Myeongnyang ums Leben kamen, und die einfachen Leute, an denen sich die Japaner rächten. Bis auf zehn sind alles Gräber von unbekannten Toten. Alle Gräber sind nach Norden in Richtung des in der Haupstadt residierenden Königs ausgerichtet. Folgt man der Richtung Meer verlaufenden Bergstraße rund neun Kilometer, kommt man zu einer flachen Erhebung namens Waedeok-san. Hier befanden sich einst rund 100 Gräber, und zwar Gräber von japanischen Soldaten, die in der 1
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Schlacht von Myeongnyang unter dem Kommando des Kriegsherrn Kurushima Michifusa gekämpft hatten. Als die Leichen dieser Gefallenen an die Küste gespült wurden, bargen die Dorfbewohner sie und begruben sie auf dem sonnigen Hügel in Richtung Süden, der nach Japan blickt. Im Zuge von Landgewinnungsprojekten und Straßenbau wurden viele der Grabstätten beschädigt, heute sind nur noch 50 davon übrig. Im August 2006, als die Existenz dieses Friedhofs in Japan bekannt wurde, kamen die Nachfahren der Toten und eine Gruppe von Studenten nach Jin-do und besuchten die Stätte unterstützt von den Dorfbewohnern. Eine Lokalzeitung in Hiroshima, die darüber berichtete, bezeichnete den Friedhof als heiligen Ort und drückte den Bewohnern von Jin-do ihre Dankbarkeit aus. Aus Sicht 2 der Inselbewohner war ihr Mitgefühl aber nichts Besonderes, da die Aussöhnung zwischen den Lebenden und den Toten ein Gebot alter Traditionen ist. Dies spiegelt sich auch im Ssitgim-Gut wider, einem schamanischen Begräbnisritual von Jin-do, das abgehalten wird, um die Verstorbenen von allem Groll zu befreien und ihre Seelen zu reinigen, damit sie Frieden finden können.
Aussöhnung zwischen Lebenden und Toten
Im Kontext der westlichen Religionen würde das Wort „Ssitgim“ in etwa der Taufe entsprechen. Tatsächlich sind die religiösen Prinzipien hinter diesen beiden Zeremonien nicht völlig verschieden. Das „Seelenreinigungsritual“ von Jin-do wird aber je nach Ort und Ursache des Todes anders bezeichnet und auch Procedere und Narrativ der einzelnen Riten sind entsprechend unterschiedlich. Soll z.B. die Seele eines Ertrunkenen gerettet werden, wird das Ritual Geonjigi (aus dem Wasser heben) Ssitgim-Gut abgehalten. Soll die Seele eines Menschen, der weit weg von zu Hause einen einsamen Tod gefunden hat, getröstet werden, wird der Honmaji (Treffen mit der Seele) Ssitgim-Gut durchgeführt. Außerdem unterscheidet sich dieses religiöse Ritual von Jin-do von den schamanischen 1. Frauen schütteln im Seomang-Hafen Gelbfische aus den Netzen. Um die Fische frisch zu halten, müssen sie möglichst schnell eingefroren werden. Während der Gelbfisch-Fangsaison schließen sich die Dorfbewohner daher zusammen, was ein grandioses Bild gemeinschaftlicher Anstrengungen bietet. 2. Im Zentrum der Buddha-Dreiergruppe im Tempel Yongjang-sa befindet sich ein zwei Meter hoher Medizinbuddha. Der Unterkörper des auf einem Lotuspodest sitzenden Buddha ist vergleichsweise hoch und ausladend, was typisch für buddhistische Darstellungen aus der Goryeo-Zeit ist.
Riten anderer Regionen durch seine künstlerischen Elemente. Mit seinem einfachen aber zugleich verlockendem „Tanz für die Götter“ und dem in Form von Gesang und verschiedenen schamanistischen Komponenten vermittelten Narrativ ist der Jin-do Ssitgim-Gut mehr als nur ein religiöses Ritual. Es ist vom Staat als Wichtiges Immaterielles Kulturgut Koreas anerkannt. In den Tiefen des Verlangens nach Versöhnung zwischen den Lebenden und den Toten lauern auch schmerzhafte Erinnerungen an die Vergangenheit. Die Menschen von Jin-do kennen aus eigener Erfahrung die Fußfesseln der Geschichte, die sich durch Ereignisse wie den Donghak-Bauernaufstand von 18941995 und den Koreakrieg von 1950-1953 ergeben haben. Für diese Menschen, die immer wieder Zeugen von ungerechten Massakern an den Bewohnern der Insel waren, war der tragischen Untergang der Fähre Sewol in den Gewässern vor Jin-do im Jahr 2014, der zum Tod von 250 Schülern und 54 Lehrern, Besatzungsmitgliedern und anderen führte, umso herzzerreißender und trauriger. Alle Tode haben etwas Persönliches und zugleich Öffentliches. Der französische Anthropologe und Ethnologe Claude LéviStrauss schrieb in seinem Buch Traurige Tropen: „Die Vorstellung, die sich eine Gesellschaft von den Beziehungen zwischen Lebenden und Toten macht, reduziert sich letztlich auf das Bemühen, die realen Beziehungen, die zwischen den Lebenden bestehen, auf der Ebene des religiösen Denkens zu verbergen, zu beschönigen oder zu rechtfertigen.“ – Zitiert nach Natur und Kultur bei Claude Lévi-Strauss von Anton Fischer (2003, S. 38). Vielleicht war dies der Grund dafür, dass die Insel Jin-do nicht anders konnte, als ihre originäre Kultur der Heilung zu bewahren.
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GESCHICHTEN AUS ZWEI KOREAS
Die Stadt Pjöngjang von heute In seinem jüngsten Buch Die Zeit in Pjöngjang fließt mit der Zeit in Seoul , präsentiert der in den USA lebende freiberufliche Journalist Jin Chun-kyu eine atypische Sicht auf Nordkorea, die auf seinen Gesprächen mit Hunderten von Nordkoreanern und aufschlussreichem Fotomaterial basiert. Jin, der sich selbst als „der herumstreifende, aus Pjöngjang berichtende Korrespondent“ bezeichnet, widmet sich der kulturellen Vereinigung der geteilten Nation. Kim Hak-soon Journalist, Gastprofessor, Fakultät für Medien und Kommunikation, Korea University Fotos Ha Ji-kwon
© Jin Chun-kyu
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estliche Medien beschreiben Nordkorea oft als „abgeschottetes Land“. In der Nordkorea-Frage hat sich durch die jüngsten Denuklearisierungsverhandlungen zwar eine neue Sachlage ergeben, aber wegen der strengen Kontrollen und Besuchsbeschränkungen ist es immer noch schwierig, sich ein klares Bild von der nordkoreanischen Gesellschaft zu machen. Deshalb wird allgemein angenommen, dass die internationalen Sanktionen die Wirtschaft beeinträchtigen und das Leben der Menschen erschweren. Die Zeit in Pjöngjang fließt mit der Zeit in Seoul, das Anfang 2018 vom Verlag Takers in Seoul veröffentlicht wurde, widerspricht diesem Klischee. Das von dem freiberuflich tätigen, in den USA ansässigen Journalisten Jin Chun-kyu verfasste Buch enthüllt eine bislang unbekannte Seite des „heutigen Pjöngjang“. Jin, der Nordkorea von Oktober 2017 bis Juli 2018 viermal besuchte und sich insgesamt 40 Tage dort aufhielt, hat seine Begegnungen mit etwa 250 Nordkoreanern zusammengefasst. Das mit aufschlussreichen Fotos illustrierte Buch zeigt, wie sehr sich Nordkorea in den letzten Jahren verändert hat. Es sorgte u.a. auch deshalb für Furore, weil es eins der drei Bücher war, die der südkoreanische Präsident Moon Jae-in in seinem Sommerurlaub las. Bis vor kurzem noch war es aufgrund der eingefrorenen innerkoreanischen Beziehungen für südkoreanische Journalisten unmöglich, Nordkorea zu besuchen. Als freiberuflicher Journalist und Green-Card-Inhaber konnte Jin jedoch eine vertrauensvolle Beziehung zu den nordkoreanischen Behörden aufbauen, was ihm ermöglichte, sich relativ frei zu bewegen und in Pjöngjang, Wonsan, dem Masikryong-Skiresort, im Myohyang-Gebirge sowie der Hafenstadt Nampo Fotos von Land und Leuten zu machen.
Autos und Handys
Nicht umsonst bezeichnet sich Jin als „herumstreifender Korrespondent, der aus Pjöngjang berichtet“. 1988 schloss er sich der in dem Jahr gegründeten The Hankyoreh an, einer liberal gesinnten, unabhängigen Zeitung, gegründet von Journalisten, die von der Militärdiktatur aus politischen Gründen entlassen worden waren. In dem Jahr berichtete er vor Ort über ein Treffen der Waffenstillstandskommission im Waffenstillstandsdorf Panmunjeom. Anschließend besuchte er den Norden, um über die hochrangigen innerkoreanischen Gespräche im Jahr 1992 und das erste innerkoreanischen Gipfeltreffen im Jahr 2000 zu berichten. Beim letzteren fortografierte er als ausgewählter Blick vom Juche Tower auf die Changjon-Straße in West-Pjöngjang. Die von Wohnhochhäusern gesäumte Straße wurde 2012 gebaut.
Journalist den südkoreanischen Präsidenten Kim Dae-jung und den nordkoreanischen Führer Kim Jong-il dabei, wie sie nach der Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung vom 15. Juni 2000 lächelnd die Hände hochhoben. 2001 emigrierte Jin in die USA. Als er sechzehn Jahre später erneut Nordkorea besuchte, verblüfften ihn als stärkste Veränderungen die Zunahme der Zahl der Autos und die weite Verbreitung von Mobiltelefonen. Rund zehn Taxis warteten vor dem Restaurant Okryu-gwan, das für seine Pjöngjang-Naengmyeon (kalte Buchweizennudeln) bekannt ist, auf Kundschaft. Im Gegensatz zu der Annahme, dass nur Ausländer und hochrangige Beamte Taxis nähmen, waren es v.a. ganz normale Bürger, die sich chauffieren ließen. Wo einst auf den ruhigen Straßen Trillerpfeifen und Handzeichen der Verkehrspolizisten ausreichten, waren jetzt Ampeln zur Notwendigkeit geworden. So ein Verkehrsaufkommen war früher „unvorstellbar“, sagt Jin. „Ich habe gehört, dass allein in Pjöngjang mehr als 6.000 Taxis unterwegs sind und es dort fünf, sechs Taxiunternehmen gibt.“ Ein Taxifahrer erzählte ihm, dass Taxis hauptsächlich von Leuten genommen würden, die in Stadtteile ohne U-Bahn- oder Busnetzanbindung wollten. Immer mehr Menschen, die keinen eigenen Wagen haben, führen mit dem Taxi, und in den Hauptverkehrszeiten soll es sogar zu leichten Staus kommen. Eine weitere große Überraschung war, dass bis zu fünf Millionen Nordkoreaner Mobiltelefone verwendeten, auch wenn Informationen und Bewegungsfreiheit nach wie vor der Kontrolle unterliegen. Fußgänger, die im Zentrum von Pjöngjang mit dem Handy telefonierten oder Fotos machten, waren längst kein ungewöhnlicher Anblick mehr. Eine weitere, alle Erwartungen übertreffende Offenbarung war für Jin die Verfügbarkeit des Internets. Auf dem Sunan International Airport in Pjöngjang ging er davon aus, dass der WLAN-Anschluss ein Service für internationale Flugpassagiere sei. Später stellte er jedoch fest, dass er auch in seinem Hotel in Pjöngjang ungehinderten Internetzugang hatte. Zunächst war das für ihn aber noch so unvorstellbar, dass er annahm, dass sich nicht jeder frei einloggen könne. „Ich konnte die gesuchten Daten sofort im Internet finden und jederzeit E-Mails mit meinen Bekannten in den USA und Südkorea austauschen“, sagt Jin. Auf seine Mails aus Pjöngjang reagierten die Empfänger in Seoul mit skeptischem Staunen und fragten nach, ob er die E-Mail denn auch wirklich aus dem Norden geschickt habe. Eines Tages schickte er aus beruflichen Gründen eine dringende Mail nach Seoul und wartete auf Antwort, aber es kam keine. Später erfuhr er, dass der Empfänger bezweifelte, dass die E-Mail wirklich aus Pjöngjang stammte und befürchtete, dass er beschattet werden könnte. Auch sein Buch Die Zeit in
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„Die Außenwelt, einschließlich den USA, glaubt, dass Nordkorea bald einknicken wird, wenn weitere Wirtschaftssanktionen verhängt werden. Aber wenn ich mir das heutige Nordkorea ansehe, denke ich, dass das eine Fehleinschätzung ist.“ Pjöngjang fließt mit der Zeit in Seoul brachte Jin während seines Pjöngjang-Aufenthalts zu Ende, wobei er sich mit dem Verlag in Seoul per E-Mail austauschte.
Reportagearbeit auf Vertrauensbasis
Bei seinen Streifzügen durch die Pjöngjanger Innenstadt in diesem und vergangenem Jahr entdeckte Jin neue Hochhausbauten, die viel prächtiger als bislang gewohnt aussahen. Die Changjeon-Straße ist so großartig, dass sie sogar von Ausländern als „Pjönghatten“ (Pjöngjang+Manhattan) oder „Klein Dubai“ bezeichnet wird. In der „Mirae-Straße der Wissenschaft (Mirae: Zukunft)“, wo viele Wissenschaftler leben, drängten sich ein luxuriöses Kaufhaus und so viele Wohnhochhäuser aneinander, dass man glauben konnte, in einem kapitalistischen Land zu sein. Der Gebäudekomplex im Neubauviertel Ryomyong, ein ehrgeiziges Vorzeigeprojekt des nordkoreanischen Führers Kim Jong-un, wurde von den TV-Kameraleuten erfasst, die die Fahrzeugkolonne von Präsident Moon Jae-in während seines Pjöngjang-Besuchs begleiteten.
Laut Jin soll es in Pjöngjang an die sechs Pizzaläden geben, die für die allgemeine Bevölkerung und nicht für ausländische Touristen gedacht sind. 2008 wurde das erste italienische Restaurant in Chukjon-dong im Stadtbezirk Mangyongdae eröffnet. Bei Jins erstem Besuch war das rund 990m² große Restaurant vollgepackt mit Kunden, die ihre Pizza oder Spaghetti genossen. Raritätscharakter haben die Aufnahmen, die Jin vom Inneren der Wohnungen durchschnittlicher nordkoreanischer Bürger machen konnte. Ein nordkoreanischer Reiseführer erzählte ihm, dass er der erste Außenstehende sei, der die Wohnungen von Pjöngjanger Normalbürgern von innen zu sehen bekommen habe. Er besuchte die Ryomyong-Straße, eine Gegend, in der sich Wohnhochhäuser aneinander drängen. Diejenigen, die bereits vor dem Neubau der Anlage dort gelebt hatten, wurden bei der Vergabe der Wohnungen in der 2017 fertiggestellten Anlage bevorzugt. Die meisten der Bewohner sollen in der Nähe arbeiten. Die Wohnungen, die Jin besuchte, waren mit Betten, Gasherd,
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1. Eine lange Taxischlange holt Besucher des Pyongyang Grand Theater nach der Vorstellung ab. Laut Jin Chun-kyu, einem in den USA lebenden freiberuflichen Journalisten, gibt es über 6.000 Taxis in der Pjöngjanger Innenstadt.
© Jin Chun-kyu
2. Jin Chun-kyu mit seinem Buch Die Zeit in Pjöngjang fließt mit der Zeit in Seoul, einer Sammlung seiner Impressionen von Nordkorea, das er von Oktober 2017 bis Juli 2018 vier Mal besuchte.
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Kühlschrank und elektrischen Reiskochern ausgestattet und ähnelten den Wohnungen von südkoreanischen Mittelschichtbürgern. Die Einwohner waren zwar über Jins Besuch informiert worden, aber er hatte nicht den Eindruck, dass die Apartmeuts mit Gegenständen, die den Besitzern nicht gehörten, aufgehübscht worden wären oder dass man sie extra dekoriert hätte. In Nordkorea wird die Wohnungsgröße nicht wie im Süden in Pyeong (1 Pyeong: 3,3 m²) angegeben, sondern richtet sich nach der Zimmerzahl. Daher gibt es Zwei-, Drei- oder Vierzimmerwohnungen. Bei der Wohnungsvergabe entscheiden nicht sozialer Status und Position, sondern die Zahl der zu unterhaltenden Familienmitglieder. Die Monatsmiete für eine Wohnung in der Ryomyong-Straße beträgt pro Familie 240 Won (rd. 2.700 südkoreanische Won; 2,10 €). Das ist mehr ein symbolischer als ein realistischer Mietpreis, meint Jin. Die Nordkoreaner kennen zwar keine Wassergebühren, müssen aber Stromgebühren zahlen, womit zum Elektrizitätssparen angehalten wird. Während seines letzten Besuchs wurde Jin zwar von einem Reiseführer begleitet, aber es gab kaum Einschränkungen. „Ich konnte mich frei mit den Pjöngjangern unterhalten und Interviews machen. Außerdem wurden meine Fotos und Videos in keinster Weise zensiert“, sagt er. Die nordkoreanischen Behörden forderten ihn lediglich auf, die Statuen von Staatsgründer Kim Il-sung und dem früheren Führer Kim Jong-il in voller Höhe zu fotografieren sowie keine Fotos von Bauarbeitern und alten Menschen in zerlumpten Kleidern zu machen.
Bemühungen um kulturelle Vereinigung
Die meisten der bislang veröffentlichen Bücher und Fotos über Nordkorea stammen von nicht-koreanischen Journalisten. Wegen der Sprachbarriere konnten sie sich dem Norden und seiner Bevölkerung nur als Beobachter nähern. Jin, für den es keine Verständigungsprobleme gab, wollte sich unter die Menschen mischen und nicht nur deren Aussehen festhalten, sondern auch über ihr Fühlen und Denken berichten. „Die Außenwelt, einschließlich den USA, glaubt, dass Nordkorea bald einknicken wird, wenn weitere Wirtschaftssanktionen verhängt werden. Aber wenn ich mir das heutige Nordkorea ansehe, denke ich, dass das eine Fehleinschätzung ist“, sagt Jin. Entgegen der allgemeinen Annahme Außenstehender, dass die Pjöngjanger nur ihre Grundbedürfnisse erfüllen, führen sie ein weitaus abwechslungsreicheres Leben als Konsumenten. „Selbst im Oktober 2017, als sich der Konflikt zwischen Pjöngjang und Washington im Zuge der Atomwaffentests verschärfte, gingen die Pjöngjanger ganz normal ihren Alltagsgeschäften nach, statt sich auf einen Krieg vorzubereiten“, erklärt Jin. Er empfindet das besondere Pflichtgefühl, als „Grenzgänger“ den Norden ohne Vorurteile zu sehen und über ihn zu berich-
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ten. Mit Vorsicht meint er: „Einige kritisieren, dass es problematisch sei, anhand von einigen nur auf Pjöngjang zutreffenden Aspekten ein revisionistisches Bild von ganz Nordkorea zu malen: Wäre es nicht ratsam, es einfach wie den Unterschied zwischen Seoul und den südkoreanischen Provinzregionen zu akzeptieren?“ Während er schon seit Langem davon träumt, als fester Korrespondent aus Pjöngjang zu berichten, beschäftigt sich Jin derzeit mit der Gründung von „Tongil-TV (Vereinigungs-TV)“, eines Kabelsenders, der 2019 in Betrieb gehen soll. Tongil-TV soll Sendungen in den Bereichen Geschichte, Essen und Naturdokus produzieren, die sich sowohl Südkoreaner als auch Nordkoreaner unbesorgt anschauen können, und auch nordkoreanische Produktionen sollen nach der Klärung des Copyrights ausgestrahlt werden. „Die Wiederherstellung der Homogenität durch Austausch vielfältiger Kulturcontents wird die kulturelle Vereinigung beschleunigen“, sagt Jin, der dem Vorbereitungskomitee für Tongil-TV vorsteht.
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EIN GANZ NORMALER TAG
Die wahre Freude des
Taekwondo-Unterrichtens Der koreanische Nationalsport Taekwondo zielt auf die Kultivierung eines gesunden Körpers und eines aufrichtigen und starken Geistes ab. Shim Jae-wan, Mitglied des Koreanischen Taekwondo-Verbandes und Gründer von Yonse Jeonghun Taekwondo, bringt Kindern diesen Kampfsport nun schon seit 32 Jahren mit einer ausgeprägten pädagogischen Verantwortung bei. Kim Heung-sook Dichterin Fotos Ahn Hong-beom
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m 30. Mai 2018 traten koreanische Taekwondo-Sportler von World Taekwondo bei der Generalaudienz von Papst Franziskus auf dem Petersplatz auf. Zum Schluss entrollte das Demonstrationsteam ein Banner mit der Aufschrift „La pace è più preziosa del trionfo“ (Frieden ist wertvoller als Triumph). Das Event betonte, wie das Ziel von Taekwondo, i.e. Frieden finden ohne zu kämpfen, durch Trainieren von Körper und Geist erreicht werden kann. Taekwondo, das sich aus einer Kombination traditioneller koreanischer Kampfkünste entwickelte und nach dem Koreakrieg weite Verbreitung fand, galt in den 1970er Jahren als Nationalsport des Landes. Die offizielle Anerkennung erfolgte jedoch erst am 30. März 2018, als die südkoreanische Nationalversammlung ein entsprechendes Änderungsgesetz verabschiedete. Weitaus früher, nämlich schon im Jahr 2000, wurde Taekwondo bei den Olympischen Spielen 2000 in Sydney als offizielle Wettkampfsportart aufgenommen. Es erfreut sich heute einer weltweit beständig wachsenden Anhängerschaft. World Taekwondo, der internationale Taekwondo-Verband mit Hauptsitz in Seoul, hat derzeit 209 Mitgliedsländer. In Korea selbst sieht die Lage jedoch etwas anders aus. Während des Taekwondo-Booms in den 1970er Jahren stieg die Zahl der Taekwondo-Studios (auf Koreanisch: Dojang) zwar an, aber die „Kindergartnisierung“ im Zuge der Bemühungen rivalisierender Studios, die Anmeldezahlen zu erhöhen, scheint Taekwondo in die beiden Lager „Freizeitsport“ und „Leistungssport“ gespalVor dem eigentlichen Training führt Taekwondo-Meister Shim Jaewan die Schüler in die Meditation ein. Der Kampfsport Taekwondo kräftigt den Körper und kultiviert eine auf Selbstbeherrschung ausgerichtete Geisteshaltung.
ten zu haben. „In vielen anderen Ländern lernen die Menschen Taekwondo, um gesund zu bleiben, aber in Korea werden eher die technischen Fähigkeiten betont. In den USA ist die Zahl der Schüler zehnmal höher als in Korea, ein Dojang hat rund 500 Schüler, in einigen Fällen sogar bis zu 2.000. Im Ausland ist es üblich, dass ein Vater nach Feierabend gemeinsam mit der Familie trainiert, aber in Korea arbeiten die Menschen so lange, dass das für Büroangestellte meist utopisch ist.“ – so Shim Jae-wan, der in der Guui-Wohngegend im Seouler Stadtbezirk Gwangjin-gu ein eigenes Taekwondo-Studio betreibt. Auch wenn die Zahl der Schüler im Gegensatz zu Übersee in Korea langsam abnimmt, ist Shims 1986 eröffnetes Studio immer noch von praller Energie erfüllt.
Geist der Kampfkunst
„Die Zahl der Schüler pro Studio soll landesweit im Schnitt bei 50 bis 70 liegen, aber in unserem Studio sind es 270 bis 280. In einigen der Klassen der benachbarten Grundschule besuchen 50 bis 70% der Schüler mein Studio“, sagt Shim. Unter den rund 14.000 Taekwondo-Studios in ganz Korea ist eine so hohe Anmelderate selten. „Da Taekwondo zu einer sportlichen Aktivität für Kinder wurde, konzentrierten sich immer mehr Dojang darauf, die Kinder Spaß haben zu lassen und Spiele wie Einbeinkampf oder Ausweichball zu spielen“, sagt Shim. „Für jüngere Kinder ist das Taekwondo-Training anstrengend, weshalb man ihr Interesse mit Spaß und Spielen zu wecken versucht. Aber in solchen Studios bleibt nach einem Jahr nur noch rund die Hälfte der Kinder übrig. Denn Kinder verlieren schnell das Interesse, wenn das Training nur noch aus Spaß und Spiel besteht.“ Shim überlegte zwar auch einmal, spielbasierte Trainingsmethoden auszupro-
bieren. Als Taekwondo-Meister sah er sich jedoch in der Verantwortung, am ursprünglichen Geist der Kampfkunst festzuhalten und setzte seine Karten weiterhin auf authentisches Training. Als Resultat trainieren die meisten Kinder in seinem Studio fünf bis sechs Jahre. Wenn sie dann im Laufe des Trainings von einem Rang zum nächsten aufsteigen, entdecken sie die wahre Freude der Kampfkunst. Die Grundstruktur von Taekwondo ist auf der ganzen Welt gleich. Die Schüler legen Gürtel-Prüfungen ab, um von Geup 10 auf Geup 1 (Geup, auch Kup: Schülergrad) zu kommen und sich dann die Dan, die neun Meistergrade, hochzukämpfen. Da der Dan-Grad aber erst nach vollendetem 15. Lebensjahr verliehen werden kann, erhalten diejenigen, die die Qualifikation für die Dan-Prüfung vorweisen können, aber noch nicht 15 Jahre alt sind, den Junior-Titel „Poom“. Die Farben der Gürtel, die um den Taekwondo-Anzug getragen werden, entsprechen normalerweise den Rängen, es bestehen jedoch keinen strengen Regeln. Meist tragen Anfänger einen weißen Gürtel, der schwarze Gürtel ist Taekwondoka im Dan-Rang vorbehalten. Gelbe oder rote Gürtel, wie sie manchmal von Kindern getragen werden, geben keine exakte Rangstufe an, sondern werden je nach Studio vergeben, um die jungen Schüler zum Durchhalten zu ermutigen.
Kreative Trainingsmethoden
Shim Jae-wan, ein Taekwondo-Meister (Sabeom) von Dan-Rang 6, wurde 1962 als jüngstes von sieben Kindern in einem kleinen Dorf in der Provinz Chungcheongbuk-do geboren. Als er sechs, sieben Jahre alt war, eröffnete in einem Nachbardorf ein Taekwondo-Studio. Er war neugierig, hatte aber kein Geld für den Unterricht. Als der Leiter des Studios davon erfuhr, ließ er ihn kostenlos am Training
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© Shim Jae-wan
teilnehmen, sodass Shim Taekwondo für sich entdecken konnte. Als er nach Abschluss der Mittelschule nach Seoul zog, um dort eine Oberschule zu besuchen, setzte er sein Taekwondo-Training fort. Da die finanzielle Lage seiner Familie ihm kein Studium erlaubte, entschied er sich, mit Taekwondo seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Nach Abschluss der Oberschule begann er sofort, als Lehrer in einem Taekwondo-Studio zu arbeiten, und nach der Heirat mietete er einen Raum, um sein eigenes kleines Studio zu eröffnen. Nach 30 Jahren in diesem angemieteten Studio erwarb Shim 2016 größere Räumlichkeiten im Untergeschoss eines neuen Gebäudes. Da er systematischer lernen wollte, studierte er Taekwondo am Institute of Continuing Education der Yonsei University und wurde einer der ersten Absolventen dieser Einrichtung für lebenslanges Lernen. Später schrieb er
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sich in Kursen der Taekwondo-Abteilung der Graduate School of Physical Education der Kyung Hee University ein, um seiner Leidenschaft fürs Lernen weiter zu frönen. So verbesserte sich nicht nur sein theoretisches Fundament, sondern auch seine Planungsfähigkeit, was in seinem Studio voll zur Geltung kommt. In den meisten Studios sind normalerweise etwa 90% aller Schüler männlich, aber in Shims Studio sind rund 40% weiblich, was einem von ihm entwickelten, auf die speziellen Fähigkeiten weiblicher Schüler zugeschnittenen Spezialprogramm zu verdanken ist. Meistens sind Mädchen weitaus besser als Jungs, wenn es um das Ausführen hoher Tritte geht, bei denen nur ein Bein gerade nach oben schießt. Das brachte Shim dazu, ein Programm zu entwickeln, das er „High-Kick-Reise“ nennt. Reiseziele können die Seouler Stadtmitte sein, aber manchmal auch die USA,
Schülerinnen von Taekwondo-Meister Shim demonstrieren ihre High-Kick-Fertigkeiten auf dem Gwanghwamun-Platz in der Seouler Innenstadt. Shim entwickelte „High-Kick-Holidays“ um insbesondere den Kampfgeist von Schulmädchen zu fördern und schöne Erinnerungen sammeln zu lassen.
Vietnam usw. Die Schülerinnen geben vor beeindruckenden Landschaftskulissen oder einzigartiger Szenerie Kostproben ihres Könnens, die von Shim fürs Posting im Internet in Form von Fotos oder Videos festgehalten werden. Shim lernte sogar extra, wie man Bildmaterial produziert und bearbeitet, und meint, „das Hochladen der Videos auf die Internetseite meines Studios oder auf YouTube ist mein größtes Glück.“ Er erklärt weiter: „Ich wollte den Kindern wertvolle Erinnerungen an ihre Kindheit schenken. Besonders für die Mädchen wünsche ich mir, dass sie später einmal, wenn sie Mütter geworden
sind, die Videos, die ich ihnen geschenkt habe, ihren Kindern zeigen und dadurch ermutigt werden können.“ Seine Planungsfähigkeit kommt aber auch noch als Präsident des Korea Taekwondo Tool Training Center zum Ausdruck, für das er mit Begeisterung Geräte-basierte Techniken entwickelt. „Das Geräte-basierte Training wurde zwar von einem anderen Meister erfunden, fand aber keine weite Verbreitung“, sagt Shim. „Ich habe es in mehrere Stufen unterteilt und integriere es ins Training. Bislang wurde das Taekwondo-Training vom Meister persönlich durchgeführt, aber wenn man Geräte einsetzt, können die Schüler einige Dinge auch selbstständig üben. Ein Beispiel: Wenn früher ein Kind den Spagat nicht voll schaffte, musste der Trainer eigenhändig Druck ausüben, um die Muskeln mit Gewalt zu dehnen. Aber wenn die Kinder heute konsequent mit einem Gerät trainieren, können sie alles selbst machen. Zuerst treten sie niedrig platzierte Dominosteine mit dem Fuß um und versuchen sich dann an immer höher platzierten Dominosteinen, bis eine optimale Muskeldehnung erreicht ist.“
Ein letzter Traum
Shim wacht jeden Morgen um 8:30 Uhr auf und ist gegen 11:00 Uhr in seinem Studio, wo er in seinen Taekwondo-Anzug schlüpft und dann mit den anderen Lehrern zusammen das Studio fürs Training herrichtet. Gegen 11:30 Uhr essen alle gemeinsam, danach kümmert Shim sich um das Trainingsprogramm, während die anderen Trainer mit den beiden 12-Sitzer-Minibussen des Studios losfahren, um die Kinder von der Schule abzuholen. Die Kinder treffen zwischen 12:30 und 14:00 Uhr ein, ziehen sich um und beginnen mit dem Training. Shims Arbeitstag endet erst zwischen 22:00 und 23:00 Uhr, nachdem alle Schüler nach Hause gebracht sind und das Studio aufgeräumt ist, aber endgül-
tig Schluss ist auch dann noch nicht: „Wenn ich nach Hause komme und nach Duschen und Abendessen die Fotos der Schüler auf die Internetseite des Studios oder YouTube hochgeladen habe, ist es meist schon zwischen halb eins und zwei in der Frühe, bis ich endlich ins Bett komme. Da ich mich mittlerweile an diesen Tagesablauf gewöhnt habe, bin ich aber nicht besonders erschöpft“, sagt er. „Und wenn ich mich mal etwas erschlagen fühle, ruhe ich mich zu Hause aus und schaue mir Fotos von den Kindern an, die ihre Tritttechniken üben. Dabei laden sich meine Energiereserven von selbst wieder auf.“ Auf den ersten Blick mag es scheinen, als drehe sich Shims Alltagsleben nur um Taekwondo, aber für ihn sieht jeder Tag neu und besonders aus. „Als ich mein eigenes Studio aufmachte, hatte ich drei Träume: eine eigene Wohnung zu kaufen, mein Traumauto zu kaufen und ein eigenes Studio in Räumlichkeiten, die mir gehören, aufzumachen. Nun sind all diese Träume wahr geworden“, sagt Shim. Jetzt, in seinen späten Fünfzigern, hat er nur noch ein Ziel im Leben: Bis zum Alter von 70 Jahren möchte er Kindern helfen, zusammen mit Taekwondo gut aufzuwachsen. Jedoch enttäuscht oftmals die Realität seine Hoffnungen. „Die Kinder von heute scheinen in geistiger Hinsicht viel schwächer zu sein als früher“, meint er. „Es gibt auch viele Mütter, die die Kinder übermäßig umsorgen. Und es gibt so viele Kinder, die ohne Geschwister aufwachsen, sodass ihnen jeder Sinn für Kompromisse, für Rücksichtnahme auf andere und jeglicher Gemeinschaftssinn abgeht und sie sich bei der kleinsten Provokation sofort streiten. Wenn sie nicht hungrig sind, werfen sie ihr Essen lieber in den Müll, anstatt es anderen anzubieten. Es wird ihnen immer alles gegeben, daher wissen sie nicht, wie man etwas mit anderen teilt. Vom Körperbau her werden sie
immer größer und schwerer, aber es fehlt ihnen an Kraft und Ausdauer. Auch sind Knochendichte und Muskelkraft stark zurückgegangen.“ Der Anblick solcher Kinder drückt Shim zwar das Herz ab, aber gerade deshalb denkt er, dass „die Rolle von Taekwondo im Leben der Kinder immer wichtiger wird“. Das Erste, was neuen Schülern beigebracht wird, ist ein korrekt-höflicher Sprachgebrauch und Meditation, i.e. grundlegende Übungen in Charakterbildung. Shim betreut die Kinder zwar stets wie ein liebenswerter Großvater, aber duldet nicht, dass einer seiner Schüler einen schwächeren oder jüngeren Kameraden schikaniert.
Sowohl Körper als auch Geist trainieren
„Es nützt nichts, wenn das Training nur den Körper stark macht. Beim Taekwondo-Training geht es nicht nur darum, den Körper zu stärken, sondern auch Achtsamkeit zu kultivieren, um die Körperkraft zu kontrollieren. Wenn man lernt, wie man seinen Körper einsetzt, muss man noch stärker auf sein Verhalten achten, und wenn man sich körperlich stärker als andere gemacht hat, dann muss man ihnen helfen und darf ihnen nicht schaden“, sagt Shim. Eine seiner Strafen für das Bullying eines Jüngeren ist, den schwarzen Gürtel des Missetäters durch einen weißen Gürtel zu ersetzen. Da weiße Gürtel nur von Anfängern getragen werden, wird dem Übeltäter damit signalisiert, „verändere deine Herzens- und Geisteseinstellung und beginne von vorne“. Im Laufe des Tages füllt sich das leere Studio mit lebhaften Kindern in Taekwondo-Anzügen. Umgeben von so viel jugendlicher Energie leuchtet das Gesicht von Meister Shim auf, und ich glaube, jetzt wird deutlich, was es heißt, zu sagen „Frieden ist wertvoller als Triumph“.
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RUND UM ZUTATEN
Ingwer
Gew端rz und Heilmittel zugleich
Ingwer wird nicht nur als Gew端rz f端r Kimchi und andere koreanische Gerichte gebraucht, sondern wegen seiner medizinisch wirksamen Eigenschaften auch als Tee oder Snack genossen. In Europa war Ingwer einst ein sehr kostbares Gew端rz, weshalb es weniger dem kulinarischen Genuss als der Unterstreichung des gesellschaftlichen Status diente. Jeong Jae-hoon Drogist und Gastronomiekritiker
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hnlich wie Haute Couture, so unterliegen auch Zutaten Modetrends. Das aus der römischen Antike stammende Kochbuch Apicius: De Re Coquinaria (Über die Kochkunst) gilt als das erste Kochbuch des Westens. Die meisten Rezepte, die in der Ausgabe aus dem 4. Jh. vorgestellt werden, enthalten Gewürze, die aus Indien und dem Fernen Osten importiert wurden, wobei Pfeffer besonders häufig erwähnt wird, nämlich in fast 80% der Rezepte. Im Mittelalter nahm die Beliebtheit von Pfeffer jedoch ab und Ingwer trat an seine Stelle. Ingwer war im Mittelalter eine wichtige Zutat, die den Festtafeln des französischen Adels Autorität verlieh. In Le Viandier de Taillevent (Das Kochbuch des Taillevent), dem im 14. Jh. veröffentlichten ersten französischen Kochbuch, steht Ingwer in der Liste der Gewürze an erster Stelle, und auch der Koch Chiquart Amizco, der im 15. Jh. Rezepte aus verschiedenen europäischen Ländern niederschrieb, erwähnt in der Liste der für die Vorbereitung eines königlichen Hofbanketts notwendigen Gewürze Ingwer an allererster Stelle.
Seltenes und kostbares Gewürz
Es gibt Behauptungen, dass Ingwer früher in Europa deshalb populär war, weil er den schlechten Geschmack von gepökeltem Fleisch und verdorbenen Zutaten überdecken kann und Fleisch länger frisch halten hilft. Tatsächlich lassen sich mit Ingwer unangenehme Gerüche wie Fischgeruch mildern. Um Speisen aber wirksam von unangenehmen Gerüchen zu befreien, müssen saure Substanzen wie Zitronensaft oder Essig verwendet werden, die chemische Reaktionen auslösen, die die flüchtigen Geruchsstoffe in nicht-flüchtige Substanzen umwandeln. Oder die jeweilige geruchsintensive Substanz muss physikalisch absorbiert werden, wie es z.B. bei der Herstellung von Sojasoße durch die Verwendung von Holzkohle geschieht. 2016 experimentierten chinesische Wissenschaftler mit Ingwer und Graskarpfen, einer Süßwasser-Karpfenart, und fanden heraus, dass mit Ingwer keine chemische oder physikalische Wirkung erzeugt werden kann, durch die sich die den Fischgeruch verursachende Substanz direkt entfernen oder reduzieren ließe. Der starke Ingwergeruch unterdrücke lediglich andere Gerüche. Die Vermutung, dass Ingwer im mittelalterlichen Europa breite Verwendung fand, um Speisen von unangenehmen Gerüchen zu befreien, ist daher nicht stichhaltig. Denn für die Wohlhabenden war es damals kein Problem, an frisches Fleisch und frischen Fisch zu kommen. Die Adligen konnten das Fleisch des Wildes, das sie erlegt hatten, oder des Viehs, das sie hatten schlachten lassen, noch am selben Tag frisch zubereiten lassen. In dem Buch Le Ménagier de Paris (Der Pariser Haushalt) aus dem 14. Jh. wird sogar empfohlen, aromatisierende Gewürze wie Ingwer, wenn möglich, erst zum Schluss hinzuzugeben, was der Vermutung widerspricht, dass Ingwer der Frischhaltung von Nahrungsmitteln diente. Gewürze wie Ingwer waren einst sehr begehrt in Europa, da sie als rare Kostbarkeiten aus dem „Paradies der Erde im Osten“ galten. Die Europäer des Mittelalters glaubten an den Mythos, dass Gewürze wie Ingwer und Zimt „von Fischern mit Netzen gefangen werden, wenn sie aus dem Paradies der Erde über den Nil flussabwärts fließen“. Daher ist es nur verständlich, dass wohlhabenden Bürgern mehr noch als Adligen daran gelegen war, Gewürze zu verwenden, die ihre gesellschaftliche Stellung unterstrichen. So wie heutzutage in exklusiven Restaurants Gerichte mit Trüffeln hochge-
schätzt werden, war Ingwer in der Vergangenheit für Europäer eine seltene und kostbare Gewürzzutat.
Ingwer als Heilpflanze
Für die Koreaner, die Ingwer – auf Koreanisch „Saenggang“ – genauso häufig wie Knoblauch bei der Kimchi-Herstellung verwenden, mag es seltsam erscheinen, dass Ingwer einst als Gewürz aus dem Paradies betrachtet wurde. Aber in der Vergangenheit war Ingwer auch in Korea eine wertvolle Zutat. Niemand weiß genau, wann Ingwer, der aus Südostasien stammt, nach Korea kam, aber die älteste diesbezügliche schriftliche Aufzeichnung stammt aus dem Jahr 1018, dem 9. Regierungsjahr von König Hyeonjong (reg. 1010-1031) der Goryeo-Dynastie (918-1392). König Hyeonjong befahl, an die Familien der im Krieg gegen die Khitanen gefallenen Soldaten als Trostgabe Tee, Ingwer und Hanfleinenstoff auszuteilen. Daher kann man davon ausgehen, dass Ingwer damals ähnlich kostbar wie Tee oder Hanfleinen gewesen sein muss, die zu der Zeit Seltenheitswert hatten. Auch während der Joseon-Zeit (1392-1910) blieb Ingwer sehr teuer. Da in den Lun Yu (Analekten des Konfuzius) steht, dass der große Philosoph zu jeder Mahlzeit Ingwer genoss, wird angenommen, dass Ingwer in einem konfuzianischen Staat wie Joseon umso mehr geschätzt wurde. Dass Ingwer in vielen Teilen der Welt hochgeschätzt wurde, geht jedoch mehr
Ingwer, im Mittelater eins der wertvollsten Gewürze für die Europäer, wurde in Korea lange vor seiner Verwendung als Gewürz als Heilmittel genutzt.
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auf seine Verwendung als Heilmittel denn als Nahrungsmittel zurück. Da der Verzehr von Ingwer eine magenwärmende Wirkung hat, nahm man an, dass er verdauungsfördernd sei. Für die Koreaner, die nach Rezepten aus den Kochbüchern Sangayorok (Unverzichtbares in einem Haushalt in den Bergen, 15. Jh.) und Suunjapbang (Auswahl von Rezepten für edle Speisen, 16. Jh.), zubereiteten Saenggang Jeonggwa (kandierten Ingwer) aßen, oder für die Briten und Deutschen, die sich im Mittelalter Ingwerbrot schmecken ließen, war Ingwer leckere süße Knabberei und Heilmittel zugleich. Diejenigen, die sich als Kind verwundert fragten, was die Erwachsenen an dem würzig-scharfen Ingwerbrot mochten, würden zustimmend nicken. Ingwer ist eben Gewürz- und Heilmittel zugleich. Ingwer-Gebäck, Ingwer-Tee und Ginger Ale wirken bei Übelkeit. Zwar ist noch nicht genau bekannt, wie Ingwer die Symptome lindern hilft, aber man nimmt an, dass das Gingerol, der in Ingwer enthaltene Scharfstoff, eine Rolle spielt. Wenn Ingwer trocknet, werden die Gingerole zu Shogaolen abgebaut, die bis zu drei mal schärfer als Gingerole sind. Daher schmeckt getrockneter Ingwer entsprechend schärfer. Diese Bestandteile stimulieren die Magenschleimhaut, was durch eine Erweiterung der Blutgefäße ein Wärmegefühl auslöst, die Verdauungsorgane besser funktionieren lässt, was Übelkeit verringern hilft. Traditionell heißt es, dass schwangere Frauen keinen Ingwer essen sollten, aber dafür fehlen bislang Forschungsbelege. Vielmehr soll Ingwer gegen Schwangerschaftsübelkeit helfen. Seit alten Zeiten glaubte man, dass Ingwer die Körpertemperatur erhöhen würde, doch die von einem japanischen Forscherteam 2015 durchgeführten Untersuchungen zeigen, dass Ingwer eine nur minimale Wirkung auf die Körpertemperatur hat, was übrigens auch für andere scharfe Gewürzfrüchte wie Chili gilt. Gerichte mit Ingwer, Knoblauch und Chili können hitze- und schweißtreibend sein, die Körpertemperatur erhöht sich aber in Wirklichkeit nicht.
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1. Die Koreaner haben eine traditionelle Vorliebe für Ingwer-Snacks wie Saenggang Jeonggwa (mit Honig oder Getreidesirup kandierter Ingwer)t (oben), und Pyeongang (in Wasser und Zucker geköchelte Ingwerscheiben besprenkelt mit gemahlenen Pinienkernen). 2. Obwohl die Körpertemperatur-erhöhende Wirkung von Ingwer nicht wissenschaftlich nachgewiesen ist, glauben die Koreaner daran, dass heißer Ingwertee Erkältungen abwehren hilft und bei kaltem Wetter wärmt.
© Institute of Korean Royal Cuisine
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Beim Genuss scharfer Speisen reagiert der Körper jedoch ähnlich wie bei einem Anstieg der Körpertemperatur. Das heißt, man schwitzt, als hätte man Fieber. Der Verzehr von Ingwer erhöht die Körpertemperatur nicht mehr als der Verzehr anderer Nahrungsmittel, aber an kalten Tagen sehnen sich viele Menschen nach einer heißen Tasse Ingwertee. Allein schon das Spüren der Wärme macht sie glücklich.
Veränderung gesellschaftlicher Vorlieben
Ingwer enthält viele Aromastoffe, die an Holz, Zitrone und Pfefferminze erinnern. Der Duft von Zitrone und Ingwer harmoniert besonders gut, weshalb man daraus gern Tee zubereitet, der mit Honig gesüßt getrunken wird. Neben seiner scharfen Geschmacksnote hat Ingwer aber auch ein süßliches Aroma, sodass er häufig zur Erhöhung des Geschmacks von Desserts Verwendung findet. In den südostasiatischen Ländern, die ihre aromatischen Gewürze weltweit verbreiten, sind Ingwer und die verwandte, als „Thai-Ingwer“ bekannte Galangalwurzel seit jeher unverzichtbare Zutaten. In der westlichen Küche beschränkt sich die Verwendung von Ingwer heutzutage jedoch, wie oben erwähnt, auf Desserts und Getränke. Das liegt daran, dass Pfeffer und Ingwer mittlerweile gewöhnliche, in großen Mengen gehandelte Gewürze sind und nicht länger von der Oberschicht begehrte Statusindikatoren. Andererseits führte der Einfluss der im 18. Jh. in Frankreich begründeten Nouvelle Cuisine dazu, dass in Adel und Großbürgertum die Bewahrung des Eigengeschmacks der Zutaten als Ausdruck wahrer Kultiviertheit verstanden wurde. Entsprechend sparsam war man bei Hauptgerichten mit geschmacksstarken Gewürzen und unterschied zwischen süßem und delikatem Geschmack. Daraus entwickelte sich die Tradition, nach salzigen und herzhaften Hauptgerichten ein süßes Dessert zu servieren. Dahinter stand jedoch nur eine gesellschaftliche und kulturelle Veränderung und kein ehernes Gesetz der Gastronomie. In einigen Regionen Europas, in denen asiatische Gewürze erst relativ spät eingeführt wurden, ist übrigens die Tradition des starken Würzens 2 nach wie vor erhalten. Es gibt Klagen, dass der starke Geschmack von Ingwer, Chili und Knoblauch den natürlichen Geschmack der Zutaten der asiatischen Küche, einschließlich der koreanischen und chinesischen Küche, überdecke. Dahinter steht jedoch eine eher eingeschränkte Sichtweise, die aus der Voreingenommenheit der modernen kulinarischen Traditionen des Westens rührt. So wie der übermäßige Gebrauch von Gewürzen im mittelalterlichen Europa eher der Demonstration des gesellschaftlichen Status als der Verbesserung des Geschmacks der Gerichte diente, so ist der heutzutage sparsamere Umgang damit nicht das Ergebnis einer Änderung der Geschmacksvorlieben an sich, sondern das Resultat eines gesellschaftlichen Bedürfnisses. Anstatt asiatische Gerichte nach westlichen Kriterien zu beurteilen, sollte man lieber die von unterschiedlichen Kulturen kreierten unterschiedlichen Geschmacksrichtungen genießen. Ein wahrhafter Gourmet genießt ein gutes Gericht, ob es nun Ingwer enthält oder nicht. Liegt die Würze des Lebens nicht gerade in der Vielfalt?
Der Verzehr von Ingwer erhöht die Körpertemperatur nicht mehr als der Verzehr anderer Nahrungsmittel, aber an kalten Tagen sehnen sich viele Menschen nach einer heißen Tasse Ingwertee. Allein schon das Spüren der Wärme macht sie glücklich.
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REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR
REZENSION
Durch die Finsternis, einsam aber warm Die Figuren in den Werken von Ki Jun-young fragen oft „Ist das denn wirklich alles im Leben?“ Sie versuchen etwas Neues, etwas noch Unentdecktes zu finden. Vielleicht stellt sich auch die Autorin selbst diese Frage. Choi Jae-bong Reporter, The Hankyoreh
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i Jun-young debütierte 2009 mit der Auszeichnung durch den Nachwuchsschriftstellerpreis des Munhakdongne-Verlags für ihre Erzählung Jenni. 2012 veröffentlichte sie den Roman Wild Punch und dann die Erzählbände Liebesgeschichte (2013) und Seltsame Leidenschaft (2016), was schon für ihren Schreibfleiß spricht. Ihre Erzählwerke werden oft als „filmisch“ bezeichnet. Das lässt sich wohl auch darauf zurückführen, dass sie an der Korea National University of Arts Film studierte. In Jenni, ihrem Debütwerk, werden Szenen aus dem Leben der gleichnamigen Protagonistin und der Erzählerin ICH nämlich so dargestellt, als handele es sich um FilmCuts. Die Brüche und doch gleichzeitig auch Kontinuität aufweisende Form und der sprachliche Stil erwecken beim Leser stark den Eindruck, einen aus sensibler Hand stammenden Film zu sehen. Auf diese enge Relation zwischen Stil und Thema der Erzählung wies auch die Preisverleiher-Jury hin: „Es ist gerade die Weltsicht der Autorin, die als treibende Kraft der Erzählung fungiert.“ Der Stil der Erzählung ist sehr ruhig, man könnte sogar sagen, unbeschwert, und das, obwohl die Protagonistin Jenni sich in einem äußert instabilen und unglücklichen Umfeld gefangen sieht. Zwar mag Jennis Charakter eine gewisse Rolle spielen, aber es liegt zum Teil auch am Sprachstil der Autorin, dass Jennis Unglück und Leiden nicht als unüberwindbar, sondern als durchaus lösbar erscheinen. Jennis Anfälle, die zu Beginn der Erzählung von einer gleichsam poetischen Aura umgeben zu sein scheinen, werden am Schluss zusammen mit den betreffenden Umständen in schauderhaften Details beschrieben, wobei dieser Effekt wohl auch der originären „Distanzierungsstrategie“ der Autorin zu verdanken ist. In Bezug auf die Erzählung B-Kamera, die neben Jenni in ihrem ersten Erzählband
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Liebesgeschichte enthalten ist, merkt begegnen.“ Ki an, dass sie bei Dreharbeiten auf die „Menschen, die da, wo das Ende zu Idee gekommen sei, das Aufnahmeprosein scheint, mit einer neuen Situaticedere vor Ort zu einer Doku zu veraron konfrontiert werden, oder selbst die beiten. Für die Erzählung Cinema ist sie Richtung ändern und einen unbekannnach einem Grobentwurf der Figuren ten Weg einschlagen, oder den einen einen ganzen Tag lang mit der KameOrt verlassen, um an einen anderen, ra durch die Straßen des Seouler Einweit entfernten Ort ziehen zu wollen kaufsviertels Myeong-dong herumgescheinen, oder bereits schon einmal laufen. Beide Erzählungen haben also gezogen sind. Momente, in denen diese auf gewisse Weise mit Filmarbeit oder Menschen die gewohnte Zeitachse Filmgrammatik zu tun. umbiegen und so den Alltag zu einem Wild Punch, Kis einziger Roman, weist sonderbaren Erlebnis machen [...]“ ebenfalls filmische Eigenschaften auf. Die Situation, in der sich Jae-ok, die Eine Narration, die ohne leserfreundlich 16-jährige Hauptfigur und Erzählekausale Beziehungen anzugeben, konrin von Gate 4, befindet, und die Enttextuelle Übergänge überspringt, senscheidungen, die sie trifft, entsprechen sibel formulierte Äußerungen, die die den oben zitierten Worten der Autorin. „Ich entschied mich Figuren wie beim Pingpongspiel austauNach dem plötzlichen Tod des Stiefvaschließlich fürs schen, und der schnelle Szenenwechsel ters beginnt das heikle Zusammenleben erinnerten an die orginäre Filmästhetik von Jae-ok, ihrer 38-jährigen Mutter Weitermachen und – wenn des Regisseurs Hong Sangs-su, so die und dem 27-jährigen Stiefbruder. Um Kritiker. Kis schrifstellerisches Könschon, denn schon – dafür, das Maß voll zu machen, macht sich nen und gelassene Souveränität, ohne die Mutter mit einem kurzem Brief an meinen Lesern an tieferen die Kinder auf und davon. Der Ausgroße Ereignisse oder kritische Situationen nur mit kleinen Begebenheiten und druck „wie ein frisch verheiratetes und dunkleren Stellen zu Zufallsszenen aus dem Alltag Neugier Paar“ ist zweifelsohne ironisch und und Vorstellung der Leser zu stimuliezynisch gemeint. begegnen.“ ren, lässt das Werk nicht wie ein ErstEs ist nur natürlich, dass Jae-ok in einer lingsroman erscheinen. solchen Situation verängstigt ist und dass der Leser ihre Angst Als Schrifstellerin ist Ki Jun-young etwas später als die meisteilt. Der Reiz dieser Erzählung liegt jedoch darin, dass sich die ten gestartet. Geboren 1972, war sie beim Debüt schon in ihren Beziehung zwischen Jae-ok und ihrem Stiefbruder in eine unerspäten Dreißigern. Es liegt wohl auch daran, dass ihre Werke wartete Richtung entwickelt. Unvermutet entstehen zwischen keine novizenhafte Unreife oder Ungeschicktheit verraten, ihnen Vertrauen und Herzlichkeit. Bildliche Beschreibungen sondern einen durch langes Üben entstandenen, eigenwilliwie „ähnelten wir einem Geschwisterpaar, das noch nicht gebogen Stil und Aufbau aufweisen und souveräne Kontrolle über ren war“ sprechen für das unerwartet vertraut-herzliche Verhältdas Erzählen behalten. Als ob sie ihren verspäteten Start wettnis zwischen den beiden. machen wollte, erhielt sie Preise der angesehensten Verlage Als die Mutter sich davonmacht und der Stiefbruder sich meist Koreas wie den Changbi-Romanpreis und den Munhandongdraußen herumtreibt, um sich kleine und große Wunden zuzune-Jungautorenpreis, womit sie festen Fuß in Literaturkreisen ziehen, protestiert Jae-ok: „Ihr habt mir meinen Platz wegfasste. genommen. Ich bin diejenige, die elend krank ist und von zu Dennoch gesteht Ki im Nachwort des Erzählbandes Seltsame Hause abhauen könnte. Ihr geht alle zu weit!“ Dass Jae-ok aus Leidenschaft, dass sie sich gefragt habe, ob sie weiter schreiben einem Impuls heraus mit einem Mann in seinen Vierzigern, den sollte. Gate 4, die vierte Erzählung des Bandes, entstand in diesie zufällig auf einer Bank auf der Straße trifft, schläft, ist als ser Zeit des Herumgrübelns. Sie sagt: „Als ich an dieser ErzähAusdruck des Protests und des Kampfes ums Erwachsenwerlung saß, beschäftigte mich die Frage, ob ich das Schreiben den zu verstehen. Fünf Jahre später: Jae-ok, die nach China reiaufgeben oder doch weitermachen sollte. Ich entschied mich sen will, ist auf dem Flughafen. Der Aufbruch von Jae-ok, die schließlich fürs Weitermachen und – wenn schon, denn schon die einsame und doch warme Finsternis hinter sich gelassen – dafür, meinen Lesern an tieferen und dunkleren Stellen zu hat, wirkt auf den Leser wie die Schlussszene eines Films.
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