h e rbst 2012
Koreanische Kultur und Kunst
Spezial
Immaterielle Kulturg체ter
sum m er 2012 2012 Jvo h erbst ahl. rg26 an gn o 7,. 2N r. 3
Paradigmenwechsel: Schutz der kulturellen Diversit채t
ISSN 1975-0617
Jahrgang 7, Nr. 3
Paradigmenwechsel: Schutz der kulturellen Diversit채t
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Koreanische Kultur und Kunst Herbst 2012 IMPRESSUM Herausgeber The Korea Foundation 2558 Nambusunhwan-ro, Seocho-gu, Seoul 137-863, Korea
Zur Feier von Buddhas Geburtstag sind die Japanischen Schnurbäume vor der Haupthalle des Tempels Jogye-sa in der Seouler Innenstadt mit Laternen geschmückt. Das LotuslaternenFestival (Yeondeunghoe), dessen Tradition seit der Silla-Zeit über tausend Jahre lang weitergegeben wurde, wurde vor kurzem zum Wichtigen Immateriellen Kulturgut Nr. 122 bestimmt. ©Choi Hang-young
Die Immateriellen Kulturgüter: Herzstücke der koreanischen Kultur Im Jahr 1987 wurde die Zeitschrift für koreanische Kultur und Kunst Koreana zuerst in Englisch herausgegeben, um dann im Laufe der Zeit in weiteren Sprachen mit weiteren Regionen der Welt in Kontakt zu treten. Im Herbst 2012 wurde nun die 100. englischsprachige Ausgabe herausgebracht, was ein kleines Jubiläum für Koreana markiert. Aus diesem Anlass werden die als besonders wertvoll und forschungswürdig anerkannten und staatlich registrierten Kulturben, die Wichtigen Immateriellen Kulturgüter, vorgestellt. Sie stellen die Herzstücke der koreanischen Kultur aus allen Kunst- und Lebensbereichen wie Musik, Bildende Kunst, Theater, Tanz, Kunsthandwerk, Glaubensleben etc. aus alten Zeiten dar. Im Prozess der Modernisierung und Industralisierung, den Korea in komprimierter Form innerhalb kürzester Zeit durchlaufen hat, wurde diesen Kulturschätzen oft nicht die gebührende Achtung und Aufmerksamkeit entgegengebracht. Nach der rasanten Ent-
wicklung des Landes findet jedoch seit einigen Jahren eine Rückbesinnung auf die Immateriellen Kulturgüter als Wurzeln der Kultur und des Geistes Koreas statt, die durch ihre Anerkennung als Kulturerbe der Menschheit an Momentum gewonnen hat. Vor diesem Hintergrund begegnet man den Immateriellen Kulturgütern heute mit neuem Bewusstsein und Interesse und pflegt sie entsprechend. Das Redaktionsteam der deutschen Ausgabe von Koreana freut sich, den Lesern die Immaterielle Kultur ausführlicher vorzustellen zu dürfen. Es wird sich auch weiterhin darum bemühen, den Lesern aus dem deutschsprachigen Raum Koreas Kultur und Kunst - der Vergangenheit und der Gegenwart - in gepflegtem Deutsch näherzubringen und so als Brücke der kulturellen Begegnung zu dienen. Ahn In-kyoung Chefredakteurin der deutschen Ausgabe
Spezial Immaterielle Kulturgüter des 21. Jahrhunderts
04 12 16 22 30
Spezial 1
7
Ein Blick auf Meister ihrer Kunst
Park Hyun-sook
Spezial 2
Paradigmenwechsel: Schutz der kulturellen Diversität Spezial 3
Von „lokal“ zu „global“: Weltkulturerbe-Registrierung erhöht kulturelles Bewusstsein
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Spezial 5
Kulinarische Traditionen: Was sollte bewahrt werden und wie?
36 42 48
60
Song Hye-jin
Spezial 4 Träger des Immateriellen Kulturgutes restaurieren das Sungnye-mun, Nationalschatz Nr. 1 Lee Kwang-pyo
36
52
Han Kyung-koo
Ye Jong-suk
FOKUS
Die Expo 2012 in Yeosu
Yang Sun-hee
KUNSTKRITIK
Hanok: ein Entwicklungsprofil
Song In-ho
Verliebt in Korea
„Existentielle Brücke“ zwischen Korea und der Welt
AUF DER WELTBÜHNE
Charles La Shure
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Haegue Yang – Über Genres und Grenzen hinweg
Koh Mi-seok
NEUERSCHEINUNG Yoon Bit-na, Kim Sung-chul, Ki Hey-kyung Ein Kinderbuch für Jung und Alt
O kurze, która opus´ciła podwórze Koreanisch lernen beim Kochen
Korean Home Cooking – 45 beliebte koreanische Alltagsgerichte 54
Ausstellungskataloge im digitalen Zeitalter
23 Künstler des Jahres: 1995-2010
62 64 66 70
BLICK AUS DER FERNE
Das Land der Schnell-Lerner
Christoph Neidhart
EntertAINMENT
My Partner: Nur Reality-Dating-Show oder Doku?
Hwang Jin-mee
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LIFESTYLE
Erholungswälder für den gestressten Städter
Ryu Jeong-yul
REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR
Rezension: Ein Bäckersohn aus einer Landkleinstadt, der Schriftsteller wurde Die New York Bakery Kim Yeon-su
K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 12
Uh Soo-woong
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Spezial 1
Ein Blick auf Meister ihrer Kunst
Was die Meister weiterführen, sind nicht nur ihre Techniken. Sie vermitteln auch eine wahre Berufs- und Lebenshaltung, die sie von ihren eigenen Meistern gelernt haben.
Park Hyun-sook Freiberufliche Schriftstellerin | Fotos: Suh Heun-gang
Noh Jin-nam Weberin seit ihrer Heirat mit 20
N
oh Jin-nam, Trägerin des Wichtigen Immateriellen Kulturgutes Nr. 28, der Baumwollstoffweberei Saetgol-nai von Naju, stammt aus dem Dorf Saetgol in Naju, das seit alters her für seine handgewebten, qualitativ hochwertigen Baumwollstoffe berühmt ist. Einst widmeten sich alle Frauen des Dorfes der Weberei. Als Noh Jin-nam mit 20 nach Naju heiratete, lernte sie daher von ihrer Schwiegermutter Kim Man-ae die Kunst des Webens. Seitdem webt sie nun bereits sechzig Jahre lang mit dem Webstuhl, den sie von ihrer Schwiegermutter geerbt hat. Noh hat tiefen Respekt vor ihrer Schwiegermutter, die zur Trägerin des Immateriellen Kulturgutes Nr. 28 designiert wurde. Diese Würdigung verdankte sie laut Noh zwar auch ihrer Kunstfertigkeit im Weben, hinzu kam aber ihr goldenes Herz: 1965, als aufgrund der industriellen Massenproduktion von synthetischen Textilien handgewebte Baumwollstoffe selten geworden waren, betrieben nur noch drei Haushalte im Dorf die traditionelle Weberei. In dem Jahr kam Dr. Seok Ju-Seon, die sich mit der Erforschung traditioneller Kleidung befasste, nach Saetgol und suchte als Erstes Kim Man-ae auf. Als Dr. Seok einige von Kims handgewebten Stoffen kaufen wollte, bestand diese darauf, sie ihr zu schenken: Es gebe keinen Markt für handgewebte Baumwollstoffe mehr, Dr. Seok solle die Stoffe einfach mitnehmen und nur fleißig für ihre Forschungen nutzen. Meisterin Noh lächelt übers ganze Gesicht, als sie sich an dieses kleine Wortgefecht erinnert. In den beiden anderen Haushalten, in denen Dr. Seok nachfragte, verlangte man einen exorbitanten Preis, bzw. schlug ihr die Tür vor der Nase zu mit der Bemerkung, man wolle nicht mehr an die Schinderei des Webens erinnert werden. Dr. Seok suchte Kim Man-ae in den folgenden Jahren noch mehrmals auf. 1969 wurde Kim auf Basis von Dr. Seoks Forschungen zur Trägerin des Immateriellen Kulturgutes Nr. 28 bestimmt.
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Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t
Seol Seok-cheol Ein Schreiner, der Bäume pflanzt
S
eol Seok-cheol (87), Träger des Wichtigen Immateriellen Kulturgutes Nr. 55, der traditionellen Holzmöbelherstellung, fertigt seit siebzig Jahren Möbelstücke. Sein Haus im Dorf Yeongcheon-ri (Kreis Jangseong-gun, Provinz Jeollabuk-do) ist ein Gebäude der besonderen Art: Im Erdgeschoss sind Wohnbereich und Ausstellungsraum untergebracht; im ersten Stock befinden sich die Arbeitsräume seiner drei Söhne, die seine Arbeit fortsetzen; der zweite Stock ist das Holzlager, das Kim seine „Schatzkammer“ nennt. Besucher haben somit die seltene Gelegenheit, verschiedene Holzarten sowie deren Verarbeitung zu Möbelstücken zu sehen und auch noch die Endprodukte bewundern zu können. Das Holzlager ist Seols Augapfel. Dort trocknen schon seit Jahrzehnten Hölzer, die er aus allen Orten mit hochwertigem Baumbestand besorgt hat: tausend Jahre alte Zelkoven, mehrere hundert Jahre alte Gingkobäume, Paulownien und Persimonenbäume. Kim erklärt, dass alte Hölzer über solch lange Zeit getrocknet werden müssen, damit sie eine schöne Maserung annehmen und sich nicht verziehen. Seit rund einem Dutzend Jahren pflanzt der Meister selbst Bäume. In seinem Heimatdorf Chuam-ri zieht er 800 Paulownien groß. Im Lager streichelt er über fein gemasertes Ginkgoholz und erzählt: „Ich hoffe, dass meine Bäumchen gut wachsen, damit sie in den Händen der Tischler von morgen ein neues Leben erhalten. Wenn die Möbel dann an die richtigen Besitzer kommen und als Familienerbstücke geschätzt werden, sind alle meine Wünsche erfüllt!“ Laut erklingt sein herzhaftes Lachen.
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Kim Jong-dae Kompassherstellung nach den Prinzipien des Universums
„W
er könnte sich den Gesetzen des Universums widersetzen?“, fragt Kim Jong-dae, der sich als Träger des Wichtigen Immateriellen Kulturgutes Nr. 110 bereits sechzig Jahre lang der Herstellung des traditionellen geomantischen Kompasses Yundo widmet. Mit sanftem Lächeln betrachtet er einen in feinster Handarbeit präzise gefertigten 24-CheungYundo und erklärt, dass die konzentrischen Kreise nicht nur die Himmelsrichtungen anzeigen, sondern auch weitere Gesetzmäßigkeiten der Natur wie die verschiedenen Zyklen der 4,5 Milliarden Jahre alten Erde oder das Prinzip des Wasserkreislaufes in sich bergen. Kim übernahm den traditionsreichen Familienbetrieb in der dritten Generation und folgte damit den Worten seines Onkels: „Diese Arbeit ist es wert, dass man sich ihr sein ganzes Leben widmet. Setze sie fort, selbst wenn sie dir nicht viel Geld einbringt.“ Sein ältester Sohn wird die Familientradition weiterführen. Der Meister sagt, er spüre die freudige Glückseligkeit, das Universum in seinen Armen zu umschließen, wenn er in mühevoller Detailarbeit die konzentrischen Kreise exakt auf den Yundo gezeichnet und 4.000 chinesische Schriftzeichen für z.B. Yin und Yang, die Fünf Elemente, die Acht Trigramme sowie die Himmelsstämme und die Erdzweige eingraviert hat, und den fertigen Kompass dann in den Händen hält: „Die tiefen Prinzipien des Universums und der Welt, die in diesem Kompass verborgen sind, sind erstaunlich. Es ist nicht so, dass ich irgendwelche geheimnisvollen Methoden oder Wege kenne. Ich versuche nur, den richtigen Weg zu gehen. Schnelle Abkürzungen gibt es nicht. Wenn es kein Weg ist, sollte man ihn nicht gehen.“
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Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t
Chung Bong-sup Mit Herz und Geduld geschaffene Ornamente
„W
as ist gut? Ein hartes Leben zu führen oder ein bequemes ohne Herausforderungen?“ Die 70-jährige Knotenkünstlerin Jeong Bong-sup, Träger des Wichtigen Immateriellen Kulturgutes Nr. 22, der traditionellen Schmuckknotenkunst Maedeupjang, folgte in die Fußstapfen ihrer Eltern und gibt das Traditionskunsthandwerk jetzt an ihre drei Töchter weiter. Für Maedeup-Knotenornamente werden zunächst feine, verschiedenfarbige Seidengarne verzwirnt und zu mehr als drei Schnüren geflochten, aus denen man dann verschiedene Arten von Ornamentalknoten knüpft, die in Quasten auslaufen. Beginnt man einmal eine Knüpfarbeit, muss sie in einem Zuge zu Ende gebracht werden, auch wenn das bedeutet, die ganze Nacht durchzuarbeiten und taub gewordene Arme oder aufgerissene, blutige Fingerkuppen zu ignorieren. Um eine Quaste aus einem einzigen Garn herzustellen, faltet man das Garn in der Mitte und verzwirnt jeweils zwei Strähnen in gleicher Länge miteinander. Dieser Vorgang wird mehrere hundert Mal wiederholt, ohne das Garn abzuschneiden. Dabei darf kein einziger Fehler unterlaufen. Für einen kleinen Knoten mit einem Durchmesser von 2cm muss der Arbeitsschritt des Faltens und Verzwirnens insgesamt ca. 260 Mal wiederholt werden. Um ein Norigae, einen Schmuckknotenanhänger mit Quasten, herzustellen, braucht man ganze zehn Tage. Meisterin Jeong widmet sich dieser anstrengenden Aufgabe bereits seit über fünfzig Jahren.
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Kim Il-mahn Durch Leib und Seele dringender Percussion-Quintett-Rhythmus
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as rhythmische Dong-Dong, Bum-Bum und Klitsch-Klatsch, das frühmorgens am Eingang zur Werkstatt von Kim Il-man im Dorf Ipo (Yeoju, Provinz Gyeonggi-do) zu hören war, bleibt unvergesslich. Der Anblick, der sich beim Öffnen der Tür bot, war herzerwärmend: In einer Zeit, in der traditionelle Töpferscheiben mit Fußantrieb elektronischen Töpferscheiben weichen, drehten sich hier sogar fünf traditionelle Töpferscheiben mit Schwung, jede mit einem 110-Liter-Krug auf ihrem Scheibenkopf. Die fünf Onggi-Meister, die gut durchgeknetete, meterwurstartige Tonstränge Schicht für Schicht auf die Töpferscheiben legten, und — während sie die Scheiben kraftvoll mit dem Fuß drehten — die Außenwände der Onggi-Krüge mit einem Holzschlägel bearbeiteten, erzeugten die schwungvollfrischen Rhythmen eines Percussion-Quintetts. Die Schläge des Vaters hatten einen tiefen Klang, der lange nachhallte, die der Söhne waren prägnant-diszipliniert und die des Enkelsohnes flossen über vor Energie. Der 70-jährige Meister Kim Il-man, Träger des Wichtigen Immateriellen Kulturgutes Nr. 96, der Onggi-Herstellung, seine drei Söhne und der älteste Enkel töpfern nur mit guter Tonerde und brennen die Gefäße fünf Tage lang in traditionellen Brennöfen, die ausschließlich mit Rotkieferrinde aus der Gangneung-Region an der Ostküste gefeuert werden. An dieser traditionellen Brennmethode, bei der rund 50% Ausschuss in Kauf genommen werden muss, hält die Familie seit acht Generationen fest. Der Onggi-Meister ließ seine beiden Söhne den Schulbesuch nach der sechsjährigen Grundschule abbrechen, weil ein Onggi-Töpfer mit zu viel im Kopf ungeschickt mit den Händen werde. Die Söhne haben das dem Vater aber nie vorgeworfen, sondern sie bezeugen ihm unverändert Respekt.
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Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t
Song Ju-an Ein Najeonchilgi-Meister in der Erinnerung seines Sohnes
„M
ein Vater war sehr geschickt in der Herstellung von Lackarbeiten mit Perlmuttintarsien (Najeonchilgi). In meiner Heimatstadt Tongyeong, einst eine Hochburg des Najeonchilgi-Kunsthandwerks, entschieden sich die meisten erfahrenen Kunsthandwerker ihre eigenen Betriebe zu eröffnen und Lackkünstler einzustellen. Aber meinem Vater machte es nichts aus, für jemand anderen zu arbeiten. Als ich aus der Zeitung erfuhr, dass einer der Jüngeren zum Träger des Wichtigen Immateriellen Kulturgutes ernannt worden war, regte ich mich sehr auf: ,Wie soll die Welt von dir erfahren, wenn du dich nur in deiner Werkstatt verkriechst?‘ Mein Vater antwortete darauf: ‚Ein Meister weiß nicht, wie er Produkte verkauft. Er weiß nur, wie er sie herstellt!’ Als heißblütiger junger Spund konnte ich ihn damals nicht ganz verstehen. Aber wenn ich mich heute mit meinen 73 Jahren an seine Worte zurückerinnere, kann ich ihm nur zustimmen. Wenn ein Meister damit beginnt, die Materialkosten für Holz, Lackierung, Perlmuttintarsien und Metallornamente zu berechnen, kann er sich nicht mehr richtig auf seine Arbeit konzentrieren. ,Wenn das Stück nur soundso viel kosten soll, dann reicht dafür soundso viel Mühe.‘ Beginnt ein Meister wie ein Händler zu denken, verliert er seine innere Ruhe“, sagt Song Bang-ung. Dank der Bemühungen des Sohnes, Leben und Werk seines Vaters bekannt zu machen, wurde Song Ju-an im Alter von 78 Jahren zum Träger des Wichtigen Immateriellen Kulturgutes Nr. 54 (Perlmuttintarsien) ernannt. In jungen Jahren wollte Song Bang-ung eigentlich Dichter werden und stellte seine illustrierten Gedichte sogar aus. Nun aber setzt er als Najeon-Meister, Träger des Wichtigen Immateriellen Kulturgutes Nr.10, der Permuttintarsien-Lackkunst, die Arbeit seines Vaters fort. K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 12
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© Joo Byoung-soo
Kim Dae-gyun Ein Seiltänzer fürchtet niemals den Wind
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ervös beobachten die Zuschauer den Seiltänzer, der leichtfüßig auf einem drei Meter über dem Erdboden gespannten Seil balanciert. Ein plötzlich aufkommender Wind bringt ihn gefährlich ins Schwanken. Mit dem Fächer in einer Hand konzentriert er sich darauf, das Gleichgewicht zu halten. Bei jedem Windstoß macht er witzige Bemerkungen: „Ah, dieser Wind macht meine Pupillen vor Schwindel wie Roulettekugeln rollen!“ Der Seiltänzer ist Kim Dae-gyn, Träger des Wichtigen Immateriellen Kulturgutes Nr. 58, des traditionellen Seiltanzes, der mit ungefähr neun Jahren zum ersten Mal auf dem Seil stand und auch heute noch, im Alter von 45, auf dem Seil seine Kunststücke vorführt. Der traditionelle koreanische Seiltanz ist eine Vorführkunst, bei der mehrere Darbietungen kombiniert werden: 43 Seilkunststücke, die von den Kommentaren eines Possenreißers untermalt werden, sowie Musik von einem Begleitensemble aus Piri (Koreanische Bambus-Oboe), Daegeum (Große Bambusquerflöte), Haegum (zweisaitige koreanische Röhrenspießgeige), Janggu (Eieruhrtrommel) und Buk (Fasstrommel). Wichtige Aspekte dieser nervenkitzelnden Vorführung sind Kommunikation und Interaktion zwischen Künstler und Publikum. Seiltänzer Kim erzählt, dass er am glücklichsten ist, wenn das Publikum voll bei der Sache ist und auf seine Kunststücke reagiert. „Weigert sich ein Seiltänzer, aufs Seil zu steigen, nur weil es windig ist? Im Herzen eines Seiltänzers, der bei ungünstigem Wetter aufs Seil steigt, steckt der Gedanke: ,Schaut her! Ich tanze in diesem Wind auf dem Seil! Wo gibt es ein Leben, in dem nie der Wind weht? Lasst uns nie das Seil namens Hoffnung loslassen.‘ So wird der Seiltanz zu einer Bühne des Austausches von Gedanken und Einsichten“. Kim grüßte die neuen Zuschauer auf dem Vorführplatz und stieg erneut aufs Seil.
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Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t
© Lee Kyu-chel
Yi Jong-sun Alle Sorgen der Welt vom Strohschiff davongetragen
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nfang Februar dieses Jahres lag die ganze Insel Wi-do im Landkreis Buan-gun, Provinz Jeollabuk-do, unter einer 30cm hohen Schneedecke vergraben. Ein älterer Tänzer führte ungeachtet der besorgten Stimmen der jungen Leute, ob man überhaupt den schneebedeckten Berg hinaufsteigen könne, munter tanzend die Spieltruppe zum Dorfschrein auf dem Gipfel an. Es war Ttibaet-Tänzer Yi Jong-sun, Träger des Wichtigen Immateriellen Kulturgutes Nr. 82-3, des Ttibaennori (Strohschiff-Ritual) der Insel Wi-do. Geboren und aufgewachsen im Dorf Dae-ri, Landgemeinde Wi-do, ist der ehemalige Kapitän eines Anschovisfangschiffes sehr stolz auf seine Heimat und deren Ttibaet-Ritual. „Wir machen ein Strohschiff und setzen es zusammen mit einer Vogelscheuche aufs Meer. Das Boot trägt dann alles Unheil ins Meer hinaus. Ist das nicht ein fantastischer Gedanke? Wir halten ein Opferritual für die Götter des Himmels und der Erde ab, das unsere Herzen reinigt und uns glücklich macht!“, erzählt er. Das einmal pro Jahr stattfindende Ttibaet-Ritual ist eine schamanistische Gut-Zeremonie, bei der sich alle Dorfbewohner versammeln, alte Zwiste beilegen und sich versöhnen. Gemeinsam beten sie für das Wohlergehen des Dorfes und einen reichen Fischfang im nächsten Jahr. Yi war voller Freude bei der Sache. Unglaublich war dabei, dass dieser alte Herr Ende 70, der beim Tanzen durch die Luft zu fliegen schien, sich einige Zeit davor bei einem Sturz eine Rippe gebrochen hatte und ihm nach einer Beinoperation ein Knorpel in einem Knie fehlt. Trotzdem führte er unermüdlich das Ttibaet-Ritual, das vom frühen Morgen bis in den späten Nachmittag dauerte, an. Auf die Frage, ob er nicht müde sei, verriet er lächelnd sein Geheimnis: „Ich vergesse alle Sorgen der Welt in der ekstatischen Freude des Rituals! Daher empfinde ich auch keine Schmerzen!“
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Spezial 2
Paradigmenwechsel: Schutz der kulturellen Diversität Heutzutage treiben verschiedene Länder der Welt über die Landesgrenzen hinausgehende, gemeinsame Bemühungen zum Schutz des immateriellen Kulturerbes voran. Korea wurde sich während seines komprimierten Modernisierungsprozesses relativ schnell bewusst, wie kritisch es um die Weitergabe seiner immateriellen Kulturgüter bestellt war, und unternahm entsprechende Anstrengungen zu ihrem Schutz. Daher kann es aufgrund seiner besonderen Erfahrungen in diesem Bereich einen wichtigen Beitrag auf internationaler Ebene leisten.
Han Kyung-koo Kulturanthropologe, Professor am College of Liberal Studies, Seoul National University | Fotos: Suh Heun-gang
Immaterielle Kulturgüter des 21. Jahrhunderts
K
orea ist stolz auf seine Bemühungen um den Schutz des immateriellen Kulturerbes. Trotz Chaos und Verwüstung, das japanische Kolonialherrschaft (1910-1945), Koreakrieg (1950-1953), die Studentenrevolution vom 19. April 1960 und der von Park Chung-hee angeführte Militärputsch vom 16. Mai 1961 über das Land brachten, setzte die Regierung im Januar 1962 das Gesetz zum Schutz des nationalen Kulturerbes in Kraft. Damit brachte Korea als weltweit zweites Land systematische Maßnahmen zum Schutz des immateriellen Kulturerbes auf den Weg. Es gab zwar auch Probleme, aber es ist nicht auszudenken, wie viele immaterielle Kulturgüter im Zuge des anschließenden rapiden Wirtschaftswachstums und der drastischen Urbanisierung ohne diese gesetzlichen Maßnahmen verloren gegangen wären. Aufgrund dieser Erfahrung schlug Korea 1993 dem ExekutivKomitee der UNESCO die Einrichtung des Programms „Träger des Immateriellen Kulturerbes“ vor. Durch die Annahme dieses Programms konnte das Land entscheidend dazu beitragen, die Bemühungen der UNESCO um den Erhalt des immateriellen Kulturerbes einen Schritt voranzubringen.
Vorreiter beim Schutz des immateriellen Kulturerbes Korea trat 2005 als 11. Land dem Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes bei, das 2003 von der UNESCO angenommen worden war. 2011 richtete es – nach der Autorisierung des Vorhabens durch die UNESCO im Jahr 2009 – das Internationale Informations- und Netzwerkzentrum für Immaterielles Kulturerbe in der asiatisch-pazifischen Region (International Information and Networking Centre for Intangible Cultural Heritage in the Asia-Pacific Region (ICHCAP)) ein. Zurzeit sind insgesamt 14 koreanische Kulturgüter in der UNESCOListe des immateriellen Kulturerbes registriert, darunter auch eins, die Falknerei, das für mehrere Länder gemeinsam aufgenommen wurde.
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Die Teilnehmer des Internationalen Forums über das gemeinsame immaterielle Kulturerbe in Ostasien, das im November 2009 unter der gemeinsamen Leitung der koreanischen UNESCOKommission und der Stadt Gangneung stattfand, hoben durch die sog. Gangneung–Empfehlung die Bedeutung und Wichtigkeit der gemeinsamen Aufnahme von immateriellen Kulturgütern in die UNESCO-Liste hervor und drängten darauf, dass Korea zusammen mit der UNESCO eine Vorreiterrolle bei der Mobilisierung der dafür notwendigen internationalen Unterstützung und Kooperation spielen sollte. Auf dieser Konferenz wurde der Trend gesetzt, der Aufnahme mehrerer Herkunftsländer vor der einzelner Herkunftsländer den Vorzug zu geben und der Liste der besonders gefährdeten immateriellen Kulturerben Vorrang einzuräumen.
UNESCO-Programme zum immateriellen Kulturerbe Das UNESCO-Programm zum Schutz des immateriellen Kulturerbes ist ein essentielles Projekt, um das Bewusstsein und die Haltung der internationalen Gemeinschaft gegenüber der Kultur und dem Kulturerbe grundsätzlich verändern zu helfen. Darüber hinaus leistet es einen wertvollen Beitrag zur Bewahrung der kulturellen Diversität und Kultivierung eines entsprechenden Bewusstseins, was die Verankerung des Friedens auf der Welt immens befördern kann. Umgekehrt sorgen Vorurteile und mangelndes Kulturverständnis, engstirniger Nationalismus und übermäßige Konkurrenz um nationales Prestige unter den Ländern für große Missverständnisse und Kontroversen, was bedauerlicherweise zuweilen sogar zu Spannungen und Konflikten führt. Das UNESCO-Konzept „Immaterielles Kulturerbe“ ist insofern bedeutungsvoll, als dass Kultur im breitem Sinne anthropologisch definiert wurde. Durch die Einführung dieses Konzeptes wurde die Wichtigkeit des nicht-westlichen kulturellen Erbes, das bis dahin vergleichsweise wenig geschätzt worden war, Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t
erkannt. Darüber hinaus wurde das Bewusstsein vertieft, dass die Essenz der Kultur mehr in kulturellen Aktivitäten und symbolischen Handlungen als in kulturellen Produkten zu finden ist. Es ist auch beachtenswert, dass das UNESCO-Konzept deutlich macht, dass die Träger des immateriellen Kulturerbes nicht die einzelnen Staaten sind, sondern Individuen, Gruppen und Gemeinschaften. Die Tatsache, dass durch den Begriff „Immaterielles Kulturerbe“ der kulturelle Status der nicht-westlichen Länder erhöht wurde, ist von großer Bedeutung. Es ist wahr, dass im Zuge der Expansion des Westens die westliche Kultur gegenüber den nicht-westlichen Kulturen lange Zeit für rationaler, wertvoller und überlegener gehalten wurde, während die nicht-westlichen Kulturen umgekehrt als irrational und minderwertig betrachtet wurden. Vor diesem Hintergrund wurde sogar das Welterbeprogramm, das als eines „der erfolgreichsten Projekte der UNESCO“ bewertet wird, wegen seiner Fokussierung auf den Westen und die „Elitekultur“ kritisiert. Denn mehr als die Hälfte der vielen historischen Bauwerke, die nach dem Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt von 1972 zu Kulturerben ernannt wurden, befinden sich in Europa, wobei das Übereinkommen als Kriterium für „Kulturerbe“ die „herausragende universelle Bedeutung“ betonte. Folglich wurde die Vorstellung gestärkt, dass Länder mit vielen in die Welterbeliste aufgenommenen Bauwerken „zivilisierte Nationen“ und die ohne solche architektonischen Meisterwerke „minderwertige Nationen“ seien. Es ist nicht zu leugnen, dass bei diesen Ländern ohne solch „herausragende“ historische Stätten sogar Deprivationsgefühle ausgelöst wurden. Man kann es nur als ironisch bezeichnen, dass selbst das UNESCO–Welterbeprogramm bei dieser „fortgesetzten kulturellen Diskriminierung“ eine Rolle spielte. Mit dem Fortschreiten von Industrialisierung und Urbanisierung verloren nicht-westliche Kulturen an Bestand oder verschwanden, aber die Diskriminierung K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 12
© Kim Young-gwang
Die Falknerei ist das erste immaterielle Kulturerbe, das aufgrund eines Gesuchs von mehreren Ländern in die UNESCOKulturerbeliste aufgenommen wurde. Durch den Eintrag in die Repräsentative Liste des Immateriellen Kulturerbes im Jahr 2010 wurde die Falknerei als gemeinsames Kulturerbe von 11 Staaten - darunter Korea, die Vereinigten Arabischen Emirate, Belgien, Frankreich und der Mongolei - anerkannt. Oben: Park Yong-sun, ein koreanischer Träger des Immateriellen Kulturgutes der Falknerei, demonstriert die Falkenjagd. Unten: eine junge Falknerin zeigt bei der Locarno Falconry Exhibition , die am 3. Sept. 2011 im schweizerischen Locarno stattfand, wie ein Ägyptischer Geier abgerichtet wird.
betraf nicht nur Kulturen aus nicht-westlichen Ländern: Es gab auch eine einseitige Präferenz der modernen gegenüber der traditionellen Kultur, der Männerkultur gegenüber der Frauenkultur, der Elitekultur gegenüber der Volkskultur und der materiellen gegenüber der immateriellen Kultur. Die UNESCO, die diese Probleme erkannte, verabschiedete 1989 auf ihrer Generalkonferenz die Empfehlung zur Wahrung des kulturellen Erbes in Volkskunst und Brauchtum , die die Bewahrung der Tradition und des Volkstums betonte. Darüber hinaus forderte der UNESCO-Generaldirektor auf Grundlage des 1993 von Korea unterbreiteten Vorschlags auf der Sitzung des Exekutiv-Komitees die Mitgliedsländer dazu auf, das Programm „Träger des Immateriellen Kulturerbes“ einzurichten. Dies ist in der Hinsicht bedeutsam, als dass dadurch die Bemühungen Koreas um den Schutz des immateriellen Kulturerbes anerkannt wurden. Zwar wurden die von Korea auf den Weg gebrachten Gesetze und Institutionen zum Schutz seines Kulturerbes nach dem japanischen Vorbild geschaffen, aber der von Korea vorgeschlagene Begriff „Ingan munhwajae“, wörtlich „Lebende menschliche Schätze (Living human treasures)“ (in KOREANA normalerweise verwendete Übersetzung: Träger des Immateriellen Kulturerbes) umfasst im Gegensatz zum stärker national orientierten japanischen Begriff „Lebende Nationalschätze (Living nationale treasures)“, auch ethnische Minderheiten, Religionen, Regionen usw., so dass er inter-
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Spiel auf dem Yanggeum, einem gehämmerten koreanischen Hackbrett. Diese Art von Saiteninstrument besteht aus einem rechteckigen Holzkörper mit Metallsaiten, die mit Schlägeln angeschlagen werden. Das Hackbrett kam im Mittelalter in Europa auf und fand seinen Weg in viele Länder der Welt. In Korea wurde es in der zweiten Hälfte der Joseon-Zeit eingeführt und entwickelte sich rasch zu einem festen Bestandteil traditioneller Instrumental-Ensembles.
national verwendet werden kann. Danach wurden im Jahr 1998 Regulierungen für die Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit angenommen und auf der 32. UNESCO-Generalkonferenz wurde das Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes nach heißen Debatten unter den Mitgliedsländern verabschiedet. Dieses Übereinkommen ist zweifelsohne ein bedeutender Schritt vorwärts in puncto Schutz des immateriellen Kulturerbes. Es geht aber nach wie vor davon aus, dass jedes überlieferte Kulturgut einer bestimmten Gemeinschaft gehört und unterminiert damit den Gedanken des gemeinsamen Besitzes eines Kulturerbes, was auch zu Reibereien zwischen einzelnen Ländern führen kann.
Lebendiges immaterielles Kulturerbe Eines der größten Missverständnisse in Bezug auf das immaterielle Kulturerbe besteht in der Auffassung, dass es längst Verstaubtes von gestern sei. Ein weiterer Irrglaube ist, dass es heutzutage nicht mehr genossen, praktiziert bzw. verwendet werde, sprich, dass es ausgestorben sei. Aber das immaterielle Kulturerbe ist eine traditionelle und gleichzeitig lebendige Kultur. Darüber hinaus denken manche, dass Archetypen des immateriellen Kulturerbes existierten und diese in ihrer ursprünglichen Form konserviert werden
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sollten, um nicht verunstaltet zu werden und in Vergessenheit zu geraten. Auch das ist eine irrige Vorstellung. Das immaterielle Kulturerbe ist eine traditionelle und gleichzeitig lebendige Kultur. Es umfasst eine Vielfalt an Wissen, Techniken, darstellenden Künsten und kulturellen Ausdrucksformen, die durch Interaktion einer Gemeinschaft oder Gruppe mit ihrer Umgebung, der Natur und der Geschichte ständig neu geschaffen werden. Im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung dringen Kapitalismus und Kommerzialismus in unser Leben ein, wodurch viele traditionelle Praktiken verloren gehen, aber „kreative Vielfalt“ ist ein unentbehrlicher Aspekt unseres Lebens. Auf viele alte Kulturgüter, die in Korea während der raschen Industriealisierung ignoriert oder vernachlässigt wurden, richtet sich heute wieder große Aufmerksamkeit: Sie werden entweder mit Spitzentechnologien oder neuem Wissen kombiniert oder sie tauchen angepasst an die Änderungen im Lebensstil im neuen Gewand wieder auf. Und auch das, was wir als Archetyp betrachten, ist in Wirklichkeit eine zu einem bestimmten Zeitpunkt geschaffene, hochperfektionierte Form oder Methode, d.h. das immaterielle Kulturerbe unterliegt je nach den Gegebenheiten ständigen Veränderungen. Grundsätzlich ist nichts gegen die Nutzung des immateriellen Kulturerbes als Tourismusressource und kommerzielles Produkt einzuwenden. Zu warnen ist jedoch vor einer übermäßigen Kommerzialisierung, die den Grundcharakter des Kulturerbes verzerrt. Ein Festklammern an reinen Archetypen kann wiederum die Kreativität unterdrücken und damit eine zeitgemäße Adaptierung verhindern, was das immaterielle Kulturerbe zu einer Art Fossil machen Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t
internationalen Gemeinschaft betrachtet werden sollte. Darüber hinaus gibt es Impulse, sich Gedanken zu machen über die Beziehungen zwischen Individuen, gemeinschaftlichen Gruppen und Staat und darüber hinaus über die Beziehungen zwischen Staat und Staat im Nationalstaatengeflecht. Obwohl die UNESCO 2003 durch die Verabschiedung des Übereinkommens zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes das Konzept des „gemeinsamen immateriellen Kulturerbes“ durch die gleichzeitige Aufnahme mehrerer Nationen in die UNESCO-Liste akzeptierte, wird es in Wirklichkeit immer noch als Ausnahme betrachtet, dass ein Kulturerbe in mehreren Ländern gleichzeitig existiert. Denn die Annahme, dass ein bestimmtes Kulturerbe nur Über die Landesgrenzen hinaus einem Land oder nur einer Gemeinschaft gehört, ist tief verwurzelt Das UNESCO-Programm des immateriellen Kulturerbes trug zwar und allgemein verbreitet. enorm dazu bei, die am Westen orientierte Perspektive zu korrigieAngesichts dieser Gegebenheiten sollte sich Korea, das selbst Konren und den Schutz der kulturellen Vielfalt sowie das Verständnis flikte um die Aufnahme des Gangneung-Danoje-Festivals erlebt zwischen den Kulturen zu fördern, aber es traten auch neue Probhat, besonders dafür einsetzen, in Bezug auf die theoretische Funleme auf: Einige Länder betrachteten nämlich die Aufnahme in die dierung des Konzepts des gemeinsamen immateriellen KulturListe des immateriellen Kulturerbes als Mittel zur Erhöhung ihres erbes sowie eine gemeinsame, multinationale Aufnahme in die Status auf der Weltbühne. Es kam dazu, dass einige Länder mit entUNESCO-Liste jede notwendige Unterstützung bereitzustellen sprechendem Potential ständig Kulturgüter auf die Liste des immaund die Kooperation zu befördern. Die Gangneung–Empfehlungen teriellen Kulturerbes setzten, oder es flammten aus Nationalstolz, Vorurteilen und Missverständnissen Streitereien um Ursprung heben als Erstes hervor, dass das gemeinsame Teilen des immaund Besitz von bestimmten immateriellen Kulturgütern auf, wie es teriellen Kulturerbes durch mehrere Gemeinschaften gerade sein z.B. der Fall beim koreanischen Gangneung-Danoje-Festival war, wesentliches Merkmal ausmacht, weshalb das Teilen desselben auf das China Anspruch erhob. Es kam also auch vor, dass das mit anderen Gemeinschaften oder Völkern eher üblich als selten UNESCO-Programm zum Schutz des immateriellen Kulturerbes ist. Außerdem soll die gemeinsame Aufnahme die künftige Richzu Feindseligkeiten und Spannungen zwischen den Völkern führte, tung darstellen und eine zentrale Rolle im Listungsprozedere statt den Frieden zu befestigen. des immateriellen Kulturerbes spielen. Abschließend unterstreichen die Empfehlungen, dass sich Regierungen und NGOs verstärkt Eines der größten Missverständnisse in Bezug auf das immaterielle Kultur- um die Entdeckung und Erforschung des immateriellen Kulturerbe besteht in der Auffassung, dass es sich nur um längst Verstaubtes von erbes – und hier vor allem die des über die Grenzen der einzelnen gestern handele. Ein weiterer Irrglaube ist, dass es heutzutage nicht mehr Staaten hinausreichenden immateriellen Kulturerbes – bemühen genossen, praktiziert bzw. verwendet werde, sprich, dass es ausgestorben sowie Kriterien, Richtlinien und Prozedere für eine gemeinsame sei. Aber das immaterielle Kulturerbe ist eine traditionelle und gleichzeitig Aufnahme entwickeln sollen. lebendige Kultur. Im Laufe seiner Geschichte hat Korea regen kulturellen Austausch mit anderen Ländern unterhalten und trotzdem die ihm wesenseigene Identität bewahrt, wobei es Diese unerfreuliche Situation erfordert ein Erkennen der Wichim Zuge der Schaffung einer modernen Nation unter Kolonialherrtigkeit eines über die Landesgrenzen hinausgehenden, d.h. eines schaft und Krieg zu leiden hatte. Der komprimierte Prozess der „gemeinsamen“ immateriellen Kulturerbes, und eine ReflexiIndustrialisierung und Modernisierung des Landes wiederum war on über das Kulturerbe als Ganzes. Das Konzept „Gemeinsames Anlass, über Sofortschutz, Erhalt und Nutzung des immateriellen Immaterielles Kulturerbe“ ist insofern äußerst bedeutsam, als Kulturerbes nachzudenken und zu diskutieren. Daher kann Korea dass es dazu aufruft, auf Basis der Diskussion über Universalität aufgrund seiner besonderen Erfahrungen in diesem Bereich einen und Besonderheit der Kultur eingehend darüber nachzudenken, wichtigen Beitrag auf internationaler Ebene leisten. wie Kultur in der aus Nationalstaaten bestehenden, modernen könnte. Daher sind in Bezug auf den Erhalt des immateriellen Erbes Überlegungen und kritische Erwägungen darüber, was bewahrt werden sollte, vonnöten. Es bedarf zwar einer exakten und detaillierten Dokumentation heutiger Formen und Praktiken und einer oiginalgetreuen Rekonstruierung vergangener Versionen, aber auch über eine moderne Adaption des immateriellen Kulturerbes, bei der verschiedene Faktoren wie z.B. demographischer Wandel oder heute vorhandene Material-Ressourcen berücksichtigt werden müssen, sollte nachgedacht werden.
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Von „lokal“ zu „global“: Weltkulturerbe-Registrierung erhöht kulturelles Bewusstsein Durch die Eintragung in die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes der Welt wird für die vom Verschwinden bedrohten Traditionen der einzelnen Länder des Globus eine Art Soforthilfe geleistet. Welche Wirkung hatte dieses Rettungsprogramm in Korea? Song Hye-jin Professorin, Sookmyung Women's University | Fotos: Ahn Hong-beom, Suh Heun-gang
Immaterielle Kulturgüter des 21. Jahrhunderts
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och vor zehn Jahren hätte ich mir nicht vorstellen können, dass ich diese Musik einmal so häufig auf der Bühne spielen würde wie heute. Damals gab es nur ein oder zwei Vorführungen im Rahmen der regulären Königlichen Ahnenrituale, dann fünf oder sechs anlässlich großer staatlicher Veranstaltungen, zu denen wichtige Gäste aus dem Ausland eingeladen waren, oder besondere Konzerte des Nationalen Zentrums für traditionelle koreanische Musik (National Gugak Center) – das war es dann auch schon. Derzeit ist mein Terminkalender voll – eine Situation, die für mich früher unvorstellbar war.“ Mit „diese Musik“ ist das Wichtige Immaterielle Kulturgut Nr. 1 Jongmyo-Jeryeak gemeint, die Musik für die königlichen Ahnenrituale am Königsschrein Jongmyo, und der Kommentar stammt von Choe Chung-ung (geb. 1941), einem der Altmeister dieses Musikgenres. Choe Chung-ung beendete 1977 seine Ausbildung in der Jongmyo-Jeryeak-Musik und wurde 1984 Kandidat für die Auszeichnung als Träger des betreffenden Immateriellen Kulturguts. Seitdem hat er als Spieler des Kerninstrumentes des Jongmyo-Jeryeak, des Pyeonjong (Glockenspiel), über 30 Jahre lang für den Erhalt und die Weitergabe dieser traditionellen Musikgattung eine entscheidende Rolle gespielt. Darüber hinaus wurde er Ende der 1990er Jahre, als alle Träger des Immateriellen Kulturgutes Jongmyo-Jeryeak der älteren Generation verschieden waren, als älteste Koryphäe mit dem umfangreichsten Wissen über JongmyoJeryeak zum Präsidenten der Gesellschaft zur Erhaltung dieser Ritualmusik. In Choes mit beredter Mimik vorgetragenen Erinnerungen wird zusammenfassend dargestellt, welche Entwicklung das koreanische Kulturerbe Jongmyo-Jeryeak seit seiner Registrierung in der UNESCO-Liste „Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit“ (2001) erlebte; (die Liste wurde 2008 der „Repräsenativen Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit“ einverleibt). Die Registrierung als Immaterielles Kulturerbe brachte frischen Wind und Wandel in die Welt der traditionellen Kunst und ihrer Vertreter. Durch das von der koreanischen Regierung 1964 ins Leben gerufene System zu Schutz und Verwaltung der immateriellen Kulturgüter des Landes wurden zwar Wert und Bedeutung vieler immaterieller Kulturgüter betont, aber die Aufnahme des Jongmyo-Jeryeak in die UNESCO-Liste im Jahr 2001 entfachte ein in dieser Art nie da gewesenes Interesse für die traditionellen Künste – und das nicht nur bei den Trägern der Kunstgattung, sondern auch beim koreanischen Publikum. Danach konnten sich verschiedene vorführende koreanische Künste das Prädikat „von Welt“ erwerben, woran deutlich zu erkennen ist, dass die jeweiligen Meister aktiver geworden sind.
Belebung der Aufführungsaktivitäten Jongmyo-Jeryeak bezeichnet das Repertoire an Instrumentalmusik,
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Choe Chung-ung, ein Pyeonjong-Spieler der Jongmyo-Jeryeak , hat entscheidend zu Erhaltung und Weitergabe dieser kรถniglichen Ritualmusik beigetragen.
Die Träger des Titels „Immaterielles Kulturgut“, die bislang ihre Verpflichtung alleine in der herausfordernden Monumentalaufgabe der Wahrung und Weitergabe der Tradition gesehen haben, verfolgen nun einen umfassenderen Ansatz mit der Überlegung, welche Aspekte ihrer jeweiligen Kunsttradition weltweite Aufmerksamkeit gewinnen könnten, welche Besonderheiten diese Kunst besitzt und wie die ihr immanenten Werte bekannter zu machen sind.
Gesängen und Tänzen, das bei den Ahnenverehrungszeremonien für die Könige und Königinnen des Joseon-Reichs (1392-1910) am königlichen Schrein Jongmyo, wo die Ahnentafeln aufbewahrt werden, abgehalten wird. Es war im Rahmen der traditionellen Musikgattungen ein Genre, zu dem das allgemeine Publikum nur schwer Zugang fand, und entsprechend unbeliebt. Der historische und künstlerische Wert von Jongmyo-Jeryeak wurde zwar bereits früh erkannt, so dass das Jongmyo-Jeryeak schon 1964 zum Wichtigen Immateriellen Kulturgut Nr. 1 erklärt wurde. Da es sich aber um eine Musik für königliche Ahnenrituale handelte, gab es für den Normalbürger nur selten eine Gelegenheit, sie im Alltag zu genießen. Jongmyo-Jeryeak war daher eine schwer verständliche Kunstwelt, deren geheimnisvolle Schönheit nur die wenigen kannten, die einen besonderen Sinn und Empfänglichkeit dafür besaßen. Aber mit der Eintragung in die UNESCO-Liste begann sich das in verschiedenster Hinsicht zu ändern. Vor allem wurde etwas möglich, was man bis dahin nie versucht hatte, nämlich, die bis zu dem Zeitpunkt exklusiv gehaltene Ritualmusik auf eine öffentliche Bühne zu bringen. Natürlich waren am Anfang die Bewahrer der Jongmyo-Ritualmusik stark dagegen, aber mit der Begründung, dass sie nun zum Immateriellen Kulturerbe der Welt gehöre, konnte man diese Künstler schließlich doch auf die Bühne locken. Im
Jahr 2003 wurde in der großen Konzerthalle des National Gugak Center unter dem Titel Jongmyo-Jeryeak: der Klang der Ewigkeit der historische Versuch gewagt, die traditionelle Ahnenritualmusik auf einer öffentlichen Bühne zu präsentieren. Die Veranstaltung wurde als „Essenz der traditionellen vorführenden Künste Koreas“ gelobt und etablierte sich als Performancestil der neuen und besonderen Art. Als groß angelegte Ritualmusikkonzerte erfolgreich die Aufmerksamkeit auf sich zogen, versuchte man sich mit Aufführungen der unterschiedlichsten Art, so dass die Träger der Immateriellen Kulturerben immer beschäftigter wurden. In diesem Kontext veranstaltete die Stiftung der traditionellen vorführenden Künste (Korean Traditional Performing Arts Foundation) 2007 das Konzert Neuentdeckung der koreanischen Musik. Dieses als Erlebnisveranstaltung konzipierte Konzert, das durch auch für Laien verständliche Erklärungen ergänzt wurde, trug dazu bei, die als UNESCO-Welterbe registrierte Ritualmusik dem allgemeinen Publikum zugänglich zu machen. Als von Veranstalterseite die Aufforderung kam, über die Vorführung der traditionellen Musikwerke hinaus auch kurze Solodarbietungen zu geben, um dem Publikum ein Gefühl für den typischen Klang der einzelnen Instrumente zu vermitteln, und gemeinsam Lieder zum Mitsingen einzuüben, beschwerten sich die Künstler, warum sie „über das Musizieren hinaus auch noch so etwas machen sollten“. Aber schon bald zeigten sie sich einsichtig, dass man das Verständnis für die traditionellen Künste in der Allgemeinheit verbreiten müsse und unterstützten den neuen Ansatz durch engagierte Kooperation. So stiegen die Jongmyo-Jeryeak -Vorführungen enorm in der Zuschauergunst. Am Jongmyo-Königsschrein, der bis dahin nur für die regulären Ahnenrituale als Veranstaltungsort genutzt werden durfte, wurden regelmäßige Vorführungen eingerichtet, so dass sich der Schrein zu einem Muss für Kulturerlebnistouren etablierte. Darüber hinaus steigt auch die Popularität traditioneller Zeremonien mit religiösem Hintergrund; so sind z.B. das buddhistische Ritual Yeongsanjae und die schamanistischen Exorzismusriten
1. Die virtuose Sängerin An Suk-seon bei einer Pansori-Dabietung. 2. Das buddhistische Ritual Yeongsanjae (Riten am Geier-Gipfel), aufgeführt im Tempel Bongwon-sa in Seoul. 1
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(Gut) des Danoje -Festivals in Gangneung, die zum Standard-Repertoire des immateriellen Kulturerbes gehören, sehr beliebt. Entsprechend gewöhnen sich die Träger der einzelnen Immateriellen Kulturgüter daran, dass ihre Vorführungen jetzt häufiger gefragt sind.
Die neuen Wege der Gagok -Künstler Das bedeutet aber nicht, dass alle als UNESCO-Welterbe registrierten traditionellen vorführenden Künste eine neue Blütezeit erleben. Zu nennen ist z.B. die traditionelle Vokalmusik Gagok (lyrische Liedzyklen mit Orchesterbegleitung), deren Weitergabe sich als schwierig gestaltet. Obwohl Gagok-Aufführungen seit der Eintragung in die UNESCO Liste (2010) häufiger geworden sind, hat dieses Musikgenre immer noch einen schweren Stand. Deshalb zerbricht sich Kim Yeong-gi, Trägerin des Immateriellen Kulturgutes Gagok, darüber den Kopf, wie Gagok denselben Grad an allgemeiner Beliebtheit erreichen könnte, den z.B. Jongmyo-Jeryeak , Pansori (Epischer Sologesang), Jultagi (traditioneller Seiltanz) oder das Danoje-Festival in Gangneung genießen. „Ich möchte wissen, welche anderen Arten der Vokalmusik, die als K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 12
immaterielles Kulturerbe der Menschheit registriert sind, sich in einer ähnlichen Situation wie Gagok befinden. Es gibt doch auch in anderen Ländern Traditionen des Kunstgesangs. Wenn wir uns ansehen, wie solche Gattungen bis heute überliefert und weitergepflegt werden konnten, könnte uns das vielleicht dabei helfen, Gagok neue Impulse zu verleihen.“ Diese Worte lassen einen wichtigen Wandel im Inneren von Kim Yeong-gi erkennen. Bislang hatte sie ihre Verpflichtung alleine in der herausfordernden Monumentalaufgabe der Wahrung und Weitergabe der Tradition gesehen, aber jetzt hat sie eingesehen, dass bei der Suche nach neuen Wegen zur Überlieferung Gagok aus der Perspektive eines Immateriellen Kulturerbes der Welt betrachtet werden sollte. Anders formuliert, überlegt sie jetzt, welche Aspekte dieser traditionellen koreanischen Vokalmusikgattung weltweite Aufmerksamkeit gewinnen könnten, welche distinktiven Charakteristika Gagok besitzt und wie man die ihr immanenten Werte bekannt machen könnte. Ich bin gespannt und werde weiterhin verfolgen, welch positiven Wirkungen dieses Umdenken in Bezug auf die Weitergabe von Gagok haben wird. Die Anerkennung der immateriellen Kulturgüter Koreas als Welt-
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1. Seiltanz im Pavillon Gyeonghoeru im Palast Gyeongbok-gung. 2. Die Sängerin Yi Ja-ram ist als kreative Pansori-Künstlerin auf den Bühnen im In- und Ausland aktiv.
kulturerbe hat denjenigen, die bisher mit großer Mühe und unter schwierigen Voraussetzungen die Traditionen bewahrt haben, neues Selbstbewusstsein verliehen. Die meisten Künstler, die ich getroffen habe, weisen auf ihren Visitenkarten, Lebensläufen, Veranstaltungsprospekten etc. auf die Tatsache hin, dass ihr jeweiliges Kunstgenre in die UNESCO-Liste aufgenommen wurde, woran deutlich das verstärkte Selbstverständnis zu spüren ist, größeres Interesse für die Weitergabe ihrer Kunst an die kommenden Generationen einzufordern. Am Abend des 29. März gab es für die Teilnehmer des 2012 Seoul Nuklearsicherheitsgipfels im Pavillon Gyeonghoeru, der sich im Gyeongbok-gung, dem Hauptpalast der Joseon-Zeit befindet, eine Kulturveranstaltung. Dabei präsentierte ein Meister des traditionellen koreanischen Seiltanzes Jultagi seine Kunststücke auf dem Seil und wandte sich anschließend mit folgenden Worten an die Gäste: „Wie glücklich Sie sich schätzen dürfen, mit der heutigen Vorführung nicht nur ein Immaterielles Kulturgut Koreas zu erleben, sondern ein Immaterielles Kulturgut der ganzen Welt.“ Das Publikum honorierte den Stolz des Künstlers mit fröhlichem Applaus. Pansori : Tradition mit Kreativität weitergeben Junge Künstler sind zudem bemüht, die traditionellen Künste Koreas kreativ neu zu interpretieren. Es gibt nicht wenige Künstler, die, nachdem sie die traditionellen Techniken von der Pike auf gelernt haben, auf dieser Basis neue Wege der Kreativität beschreiten. Auch im Bereich Pansori (traditioneller epischer Sologesang) sind solche Entwicklungen zu beobachten. Die Sängerin Yi Ja-ram hat bereits mit fünf Jahren begonnen, Pansori zu lernen, und wurde schon früh als vielversprechender kommender Stern am Pansori -Himmel bezeichnet. Als sie noch Traditionelle Musik an der Seoul National University studierte, stellte sie den GuinnessK o r e a n a ı H e r b s t 2 0 12
Rekord auf, als weltweit jüngste Sängerin das längste Pansori Stück (8 Stunden) aufgeführt zu haben. Derzeit ist sie jedoch erfolgreich darin, neue Pansori-Versionen zu schaffen, mit denen sie das internationale Publikum leichter erreichen kann. „Pansori ist so wunderbar, dass man nicht immer nur die Stücke aus der Zeit vor dem 20. Jahrhundert bringen kann.“ Yi Ja-ram hat z.B. statt traditioneller Pansori-Werke wie Chunhyangga Bertolt Brechts Theaterstück Der gute Mensch von Sezuan im Pansori-Stil bearbeitet und aufgeführt. Dabei hat sie die Grundbesetzung eines traditionellen Pansori -Stückes aus einem Solisten, der von einem Fasstrommel-Spieler begleitet wird, um einige Schauspieler und Musiker erweitert und so eine Form der darstellenden Kunst auf die Bühne gebracht, die bunte Vielfalt bietet und das Publikum anspricht. Das, was Yi Ja-ram sang, war zwar Der gute Mensch von Sezuan, aber das, was das Publikum hörte, war eindeutig Pansori. Mit ihrem leidenschaftlichen Gesangsstil und der theatralischen Ästhetik traditioneller Art voller spannender Satire, Gleichnisse und Humor hat sie eine neue Zukunft für das Pansori erschlossen. Seit der Erstaufführung von Der gute Mensch von Sezuan im Jahr 2007 wurde das Fusion-Werk in vielen Theatern des ganzen Landes auf die Bühne gebracht und erweckte als Eröffnungsstück der PAMS 2009 (Performing Arts Market in Seoul) , auf der Veranstaltungsorganisatoren aus aller Welt zusammenkommen, auch das Interesse der europäischen Festival-Planer. 2011 brachte Yi Ja-ram mit Mutter Courage und ihre Kinder ein weiteres Brecht-Stück als Pansori -Adaption auf die Bühne, das den Erfolg von Der gute Mensch von Sezuan bei Weitem übertraf. Die Aufführung wird auch im Jahr 2012 auf zahlreichen Bühnen im In- und Ausland präsentiert. Die stets nach Diversität suchenden Event-Planer hoffen darauf, dass aus den Reihen der traditionellen darstellenden Künste auch weiterhin kreative Künstler wie Yi Jaram hervorgehen.
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© LG Art Center
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Träger des Immateriellen Kulturgutes restaurieren das Sungnye-mun, Nationalschatz Nr. 1 Die laufende Restaurierung des Tores Sungnye-mun ist ein Großprojekt, bei dem Träger des Immateriellen Kulturerbes aus verschiedenen Bereichen zusammenarbeiten. Das heißt, es kommen traditionelle Techniken und Handwerksmeistergeist zusammen, was nur möglich ist, weil eine lange Tradition der diesbezüglichen Überlieferung besteht. Lee Kwang-pyo Journalist, Leiter der Abteilung für Managementstrategie von Channel A | Fotos: Suh Heun-gang
Immaterielle Kulturgüter des 21. Jahrhunderts
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lammen, die aus dem Ofen lodern, lassen das Eisen rot erglühen. Auf dem Amboss wird das Eisen mit einem Hammer in Form geschlagen und anschließend zum Abkühlen in kaltes Wasser getaucht. Der Klang von Metall auf Metall erfüllt die Luft, von Zeit zu Zeit strecken die Männer beim Schmieden ihre Rücken und wischen sich den Schweiß von der Stirn. Mitten im Herzen des modernen Seoul ist eine Schmiedeszene zu sehen, die schon längst aus dem Alltag verschwunden war! Ein Steinmetz bearbeitet mit Hammer und Meißel einen Stein. Zwischen seinen beiden Händen fliegen weiße Splitter in alle Richtungen, während der riesige rohe Granitblock langsam seine endgültige Form annimmt. Die Steine werden dann einer auf den anderen gestapelt und mit dem Meißel nachbearbeitet. Der Klang von Metall auf Stein hallt klar und frisch zwischen den umliegenden Stadtgebäuden hindurch. So werden die Steine der Festungsmauer aufgeschichtet, während auf dem Dach des majestätischen Holzgebäudes daneben eine Reihe Ziegel nach der anderen verlegt wird und elegante Linien wie die Rippen eines Faltfächers bilden. Auf dem Holzpavillon bieten die fünffarbigen Dancheong-Dekors einen schönen Anblick. Dies ist die Szene an der Stelle, wo das Tor Sungnye-mun, Nationalschatz Nr. 1, restauriert wird. Am Sonntag, dem 10. Februar 2008, dem letzten Tag der Neujahrsfeiertage nach Lunarkalender, war das Sungnye-mun einer Brandstiftung zum Opfer gefallen, wobei der doppelstöckige Holzpavillon über dem Steinsockel niederbrannte. Zurzeit laufen die Restaurierungsarbeiten, die nach diesem tragischen Vorfall dem Sungnye-mun seine ursprüngliche imposante Gestalt zurückgeben sollen, auf Hochtouren. Nach vorbereitenden Arbeiten wie Säuberung der Brandstelle, Schadenserfassung, Ausgrabungsarbeiten und Entwurf des Holzaufbaus konnte dann im Februar 2010 mit der eigentlichen Restaurierung des Tors begonnen werden. Die einzelnen Schritte umfassen der Reihe nach: Zerlegung und Inspektion der Pavillonteile, Überprüfung der Möglichkeit ihrer Wiederverwendung, Restaurierung der Festungsmauer, Wiederaufbau des Pavillons, Decken des Daches, Anbringen des dekorativen Farbanstrichs Dancheong und Aufhängen der Schrifttafel. Im Dezember 2012 soll die Restaurierung abgeschlossen sein. Alle Restaurierungsschritte werden auf strikt traditionelle Art und Weise durchgeführt. Dachziegel und Eisenteile werden mit traditionellen Methoden hergestellt und bei der Holz- und Steinbearbeitung kommen keine elektrobetriebenen, sondern nur traditionelle Werkzeuge zum Einsatz: Fürs Fällen der Bäume werden statt Elektrosägen Äxte und Längsschnittsägen verwendet und das Holz wird mit Hobel und einer großen Dechsel in Form gebracht. Zudem wurde auf der Baustelle eine Schmiede eingerichtet und die Behörde für Kulturerbeverwaltung (Cultural Heritage Administration) beauftragte das Stahlunternehmen POSCO damit, Stahlbrammen von derselben Metallzusammensetzung wie in der Joseon-Zeit (1392-1910) zu fertigen. Aus diesen Stahlbrammen wurden dann in der Schmiede Eisenteile und Werkzeuge geschlagen. An der Restaurierung nehmen die jeweiligen Meister ihres Fachs, die mit dem Titel Wichtiges Immaterielles
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Zimmermannmeister Shin Eung-soo leitet die Restauration des Holzpavillons des Sungnye-mun.
1. Zimmermannmeister Shin Eung-soo überprüft jeden geleisteten Arbeitsschritt genauestens. Das Holz wurde nicht mit Elektrogeräten, sondern mit traditionellem Handwerkszeug zugeschnitten und geschnitzt. 2. Die Steinmauern werden unter Leitung von Steinmetz Yi Jae-sun restauriert.
Kulturgut (WIK) ausgezeichnet sind, teil: Zimmermannmeister Shin Eungsoo (70; WIK Nr. 74), Dancheong-Meister Hong Chang-won (57; WIK Nr. 48), Steinmetzmeister Yi Jae-sun (56) und Yi Eui-sang (70) (jeweils WIK Nr. 120 für den Bereich der Steinskulptur und Steinstruktur), Dachdeckermeister Lee Keun-bok (62; WIK Nr. 121) und Dachziegelmeister Han Hyeong-jun (83; WIK Nr. 91).
Holzbeschaffung durch den Zimmermannmeister In der traditionellen koreanischen Architektur ist der Zimmermannmeister für alle Bereiche im Zusammenhang mit der Konstruktion des hölzernen Grundgerüsts verantwortlich. Das beginnt bei der eigenhändigen Wahl der geeignetesten Bäume, dem Fällen und hinreichendem Trocknen. Dann bearbeitet er das Holz je nach Nutzungszweck, stellt Säulen auf 1 und legt Querbalken, so dass ein stabiles Grundgerüst entsteht. Zimmermannmeister Shin Eung-soo ist ein Handwerker, der als bester seines Faches breite Anerkennung genießt. Seit 1962, als er an der Restaurierung des Sungnye-mun teilnahm, hat er sich unermüdlich dem Zimmermannshandwerk gewidmet. Bei der Restaurierung des Sungnye-mun legte Meister Shin oberste Priorität auf die Beschaffung von geeigneten Holz guter Qualität, denn für große traditionelle Bauwerke ist das Holz von ausschlaggebender Bedeutung. Er sagt: „Bei der Arbeit mit dem Holz denke ich an die Geschichte.“ Ein optimaler Baum sollte von starkem Holz sowie gerade gewachsen sein, und der Stamm sollte einen Durchmesser von mehr als einem Meter haben. Solche Bäume zu finden, ist jedoch nicht leicht. Am idealsten sind die 200 bis 300 Jahre alten Rotkiefern, die im Gebirge Taebaek-san zwischen Yangyang, Provinz Gangwon-do, und Uljin, Provinz Gyeongsangbuk-do, wachsen. Bei der Restaurierung des Holzpavillons wurden Rotkiefern aus den Wäldern von Samcheok in der Provinz Gangwon-do sowie von Bürgern gespendete Bäume eingesetzt. Wiederaufbau der Festungsmauer Während die hölzerne Grundkonstruktion errichtet wurde, wurde gleichzeitig ein Teil der alten Festungsmauer der Hauptstadt wiederhergestellt. Im Rahmen der Restaurationsarbeiten werden diesmal auf beiden Seiten des Tors (53m östlich, 16m westlich) auch Teile der einstigen Stadtmauer, die 1907 von den japanischen Imperialisten zerstört wurde, wiederaufgebaut. Dadurch will man verdeutlichen, dass das Sungnye-mun kein allein stehendes Tor, sondern in der Joseon-Zeit das Haupttor der Festungsstadt Hanyang (alter Name Seouls) war. Nur so ist die Bedeutung der Existenz des Tors voll zu erfassen. Für die Steinmauer ist der Steinmetz verantwortlich. Der erste Arbeitsschritt bestand in der Auswahl der Steine. Dabei war zu beachten, dass nur Steine in Frage kamen, die in Aussehen und Beschaffenheit den Granitsteinen, aus denen die alte Festungsmauer der Joseon-Zeit bestand, ähnelten. Steinmetzmeister Yi Eui-sang fand diese Granitsteine in der Stadt Pocheon, Provinz Gyeonggi-do. Die im Steinbruch besorgten Quader wurden zunächst auf die richtige Größe zugeschnitten. Dabei wurden auch hier statt moderner Elektro-Schneidwerkzeuge traditionelle Methoden eingesetzt: Der Steinmetzmeister bohrte ein Loch in die Oberfläche, in das er einen Keil hineintrieb, um die Granitblöcke zu spalten.
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Der Brand, der das Sungnye-mun zerstörte, war eine äußerst beschämende und bedauernswerte Angelegenheit. Aber dank zahlreicher Handwerker unserer Zeit, die sich ohne große Worte mit Hingabe ihrer Arbeit widmen, gehen am Ort der Katastrophe Restaurierung und Überlieferung des traditionellen Kulturerbes reibungslos voran.
1. Das traditionelle Werkzeug muss häufig in der vor Ort eingerichteten Schmiede geschärft werden. 2. 3. Dachdeckermeister Lee Keun-bok ist dafür zuständig, 22.000 Ziegel auf dem Dach des Sungnye-mun zu verlegen. 4. Jeder einzelne Ziegel wurde handgearbeitet und in einem traditionell gefeuerten Brennofen gebrannt.
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Danach glättete er mit einem traditionellen Meißel, der aus der Schmiede vor Ort kam, die Außenseiten. Bei Transport und Aufschichtung der bearbeiteten Steine wurden ebenfalls traditionelle Verfahren angewendet. Seit Mitte der 1970er Jahre haben koreanische Steinmetze moderne Werkzeuge verwendet, und zwar auch beim Bearbeiten und Polieren von Steinen, die für die Restaurierung traditioneller Bauwerke gedacht waren. Aber nicht dieses Mal. Moderne Meißel zur Steinspaltung verfügen über mit Industriediamanten belegte Schneidflächen, die entsprechend scharf, stabil und fest sind. Hingegen stumpfen traditionelle Meißel leicht ab, weshalb zwei oder mehr Arbeiter in der Schmiede auf Abruf stehen, um die Meißel nachzuschärfen. Aus solchen Gründen beanspruchte die Arbeit in traditioneller Art und Weise zweimal so viel Zeit und Energie. Aber die Steinmetze waren gerne dazu bereit, diese Anstrengungen auf sich zu nehmen. Steinmetzmeister Yi Eui-sang meint: „Weil moderne Werkzeuge scharf und robust sind, werden Oberflächen und Kanten zwar glatt, aber scharf verarbeitet. Traditionelle Werkzeuge schaffen eine sanftere Oberflächenstruktur, d.h. sie verleihen eine menschlichere, warme Note. Das erfordert zwar viel Mühe und Zeit, aber genau so muss es gemacht werden.“
Dachziegelherstellung und Dachdecken Nach der Errichtung des Holzaufbaus wurde das Dach mit Ziegeln gedeckt. Für den ersten Schritt, die Ziegelherstellung, war Dachziegelmeister Han Hyeong-jun verantwortlich. Meister Han stellte im Oktober 2011 in der Koreanischen Nationaluniversität für Kulturerbe (Korea National University of Cultural Heritage) in Buyeo, Provinz Chungcheongnam-do, drei traditionelle Brennöfen aus der Joseon-Zeit wieder her und brannte dort die Ziegel. Obwohl er schon über 70 Jahre lang Dachziegel brennt, war die Sungnyemun-Restaurierung für ihn von besonderer Bedeutung. Beim Anzünden des Feuers im Brennofen sagt er: „Ich dachte, dass die Regierung maschinell massengefertigte Dachziegel einsetzen würde. Es freut mich ungemein, dass ich für das Projekt traditionelle Dachziegel herstellen darf.“ Dabei traten ihm die Tränen der Freude in die Augen. Die Brennöfen für traditionelle Dachziegel verschwanden in der Zeit der japanischen Kolonialherrschaft (1910-1945). Die Dachziegel, die beim Brand des Sungnye-mun zerstört wurden, waren Fabrikprodukte. Traditionelle Dachziegel weisen verglichen mit maschinell hergestellten Dachziegeln feinere Poren und eine niedrigere Dichte auf, weshalb ihnen Temperaturveränderungen weniger anhaben können. Darüber hinaus sind sie um 20 bis 30 Prozent leichter, was sie für traditionelle Holzbauwerke noch geeigneter macht. Traditionelle Dachziegel werden Stück für Stück von Hand geformt und drei Tage lang in einem Ofen gebrannt. Maschinell gefertige Ziegel haben eine übermäßig dunkle, künstlich wirkende Farbe, weil die Oberfläche beim Brennen im Gasofen versengt wird. Traditionelle Ziegel weisen hingegen ein sanftes Silbergrau auf, da sich im Holzfeuer die Farbe auf natürliche Weise entwickeln kann. Ende Juni 2012 wurde unter Leitung von Dachdeckermeister Lee Keun-bok das Dach des Tors mit 22.000 traditionell gefertigten Dachziegeln gedeckt. Auf den Dachstuhl des doppelstöckigen Pavillons wurden Holzbretter, die als Stützkonstruktion dienen, gelegt, darauf kamen dann Lehmmörtel und zum Schluss 3
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1. Dancheong-Meister Hong Chang-won bringt die dekorativen Malereien auf dem Holz des Sungnye-mun an. 2. Das Tor Sungnye-mun vor dem Brand von 2008. 3. Die neue Schrifttafel des Sungnye-mun.
die Ziegel. Lehmmörtel, der Ätzkalk enthält, verhindert das Einsickern von Regenwasser und hält Termiten ab. Lee sagt: „Zement überdauert 100 Jahre, während Ätzkalk 1.000 Jahre lang beständig bleibt.“ Das Dach entlang, vom Hauptfirst bis zur Traufe, stiegen die Dachdecker ständig auf und ab und verlegten sorgfältig Ziegel um Ziegel. Dabei gilt es einen weiteren Faktor zu bedenken: Erdbeben. „Bei einem Erdbeben sollten die Dachziegel nicht abfallen. Daher werden sie mit Eisennägeln und Kupferdrähten an den Stützhölzern befestigt“, erklärt Lee weiter. Nachdem das Dach mit den konkaven, weiblichen Ziegeln gedeckt war, wurden die Rillen dazwischen mit einem Lehmschlammgemisch gefüllt, auf das dann die konvexen männlichen Ziegel kamen.
Dekoratives Dancheong Auch die Dancheong-Arbeiten wurden bereits in Angriff genommen. Unter „Dancheong“ versteht man das Dekorieren der Holzoberfläche von Wänden, Säulen und Decken mit Bildern oder Mustern in Blau, Rot, Gelb, Weiß und Schwarz, den traditionellen Grundfarben Koreas. Dan cheong erfüllt nicht nur den praktischen Zweck des Holzschutzes, sondern verleiht dem Bauwerk auch einen würdigen und prachtvollen Ausdruck. Ein Team aus Dancheong-Handwerkern, das von Dancheong-Meister Hong Chang-won geleitet wird, ist jetzt dabei, das Innere des Holzpavillons mit farbigen Blumen und Mustern zu schmücken, wobei Innenund Außendekor gegen Oktober abgeschlossen sein sollen. Die Tatsache, dass die Dancheong-Arbeit in Gang gebracht wurde, bedeutet, dass sich die Restaurierung des Sungnye-mun in der Endphase befindet. Kunsthandwerksmeister Hong ist seit 43 Jahren im Dancheong-Bereich aktiv. Er hat an den DancheongArbeiten von verschiedenen Palastgebäuden wie dem Geunjeong-jeon im Palast Gyeongbok-gung, dem Myeongjeong-jeon im Changgyeong-gung und dem Junghwa-jeong im Deoksu-gung teilgenommen und auch viele bedeutende buddhistische Tempel des Landes schmücken helfen. „Unter den traditionallen farbigen Dekors, die sich in Korea, China und Japan finden, ist der Dancheong-Dekor Koreas am schönsten“, meint Hong voller Selbstbewusstsein. Denn die Dancheong-Farben sind frischer und prachtvoller und die Muster feiner und vielfältiger als beim Danqing in China oder beim Dansei in Japan. Hong achtet streng darauf, nur Dancheong-Muster im Stile der frühen Joseon-Zeit, als das Sungnye-mun errichtet wurde, zu schaffen. Blickt man auf die Geschichte des Dancheong zurück, lässt sich feststellen, dass die Farben in der Goguryeo-Zeit (37 v.Chr.-668 n.Chr.) und in der Goryeo-Zeit (918-1392) besonders prachtvoll waren und tiefe Rottöne aufwiesen. Hingegen spiegelt sich im Dancheong der nachfolgenden Joseon-Zeit in den ersten Jahrhunderten die Kultur des Konfuzianismus, die Bescheidenheit betonte, wider, so dass Rottöne seltener wurden, während Grüntöne häufiger zu finden waren. Damals wurde auf zurückhaltende Pracht gesetzt. Aber nach der japanischen Imjinwaeran-Invasion (1592-1598) Mitte der Joseon-Zeit erlebte Rot eine Renaissance und Ende der Joseon-Zeit waren die Dancheong-Dekors wieder von farbenfroher Prächtigkeit. 1988, als die Dancheong des Sungnye-mun das letzte Mal vor dem Brand erneuert wurden, hatte man die Muster des früheren Joseon-Stils und die Farben des mittleren und späteren Joseon-Stils angewendet. Meister Hong will bei der diesmaligen Restaurierung sparsam mit Rot umgehen und dafür Grüntöne betonen. Daher wird das Sungnye-mun im neuen Gewand eine schlicht-elegante Ausstrahlung haben. Der Brand, der das Sungnye-mun zerstörte, war eine äußerst beschämende und bedauernswerte Angelegenheit. Aber dank zahlreicher Handwerker unserer Zeit, die sich ohne große Worte mit Hingabe ihrer Arbeit widmen, gehen am Ort der Katastrophe Restaurierung und Überlieferung des traditionellen Kulturerbes reibungslos voran. Darin liegt die wahre Bedeutung der Restaurierung des Sungnye-mun. K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 12
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Spezial 5
Kulinarische Traditionen: Was sollte bewahrt werden und wie? Welche Traditionen gilt es wie zu bewahren und wie sollten sie weitergegeben werden? Was die K端che anbelangt, ist diese Frage besonders heikel. Ye Jong-suk Professor f端r Marketing, Hanyang University, Food-Kolumnist
Immaterielle Kulturg端ter des 21. Jahrhunderts 息 Institute of Korean Royal Cuisine
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raditionen wandeln sich ständig. Gerade bei kulinarischen Traditionen, die sensibel auf wirtschaftliche Bedingungen, darunter insbesondere auf Veränderungen im Nahrungsmittelangebot, reagieren, vollzieht sich dieser Wandel besonders schnell. Korea war aufgrund seiner strategisch bedeutenden Halbinsel-Lage am östlichen Rand des asiatischen Festlandes beständig Invasionen von außen ausgesetzt, was dazu führte, dass Essgewohnheiten und Gerichte, die das Überleben sicherten, sich schneller als anderswo änderten und neue, den jeweiligen zeitlichen Gegebenheiten angepasste Traditionen geschaffen wurden.
Fleischkonsum in der Geschichte Koreas Wie sich die kulinarischen Traditionen Koreas verändert haben, lässt sich leicht am Beispiel des Fleischkonsums erkennen. Historikern zufolge stammen die heutigen Koreaner von Nomadenvölkern ab, die friedlich in den weiten Steppen Eurasiens umherzogen. Ein Teil von ihnen, der den mongolischen Tungusenvölkern zuzurechnen ist, zog immer weiter nach Osten, wo sie in den nordchinesischen Huabei-Ebenen die Landwirtschaft erlernten. Von dort drangen sie dann in die südliche Mandschurei vor, wo sie schließlich das Dongyi-Volk bildeten, zu dem als ein Hauptzweig auch der Maek-Stamm, die Vorfahren der heutigen Koreaner, gehörte. Anders als bei den nordchinesischen Völkern, deren Lebensweise weitgehend landwirtschaftlich geprägt war, waren die Maek stärker auf Tiere angewiesen, weshalb sie auch Kenntnisse in der Fleischverarbeitung entwickelt haben dürften. Die Maekjeok-Fleischspieße aus jener Zeit gelten als Vorläufer von Bulgogi, des gegrillten Rindfleisches, das die Koreaner heute so gerne essen. Doch mit der Etablierung der Landwirtschaft und dem Einzug des Buddhismus auf der koreanischen Halbinsel ließen die Menschen allmählich die Essgewohnheiten der Nomaden hinter sich, so dass der Fleischverzehr zurückging. Mit der Übernahme des Buddhismus in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts zur Zeit der drei Königreiche (57 v.Chr.-668 n.Chr.) wurde der Verzehr von Fleisch sogar offiziell verboten, was einen Niedergang der Fleischzubereitungsfertigkeiten zur Folge hatte. Die Wiederbelebung der Tradition des Fleischverzehrs geschah erst unter dem Einfluss der Mongolen, die Ende der Goryeo-Zeit (918-1392) in Korea eindrangen. Die Mongolen, die über Korea in Japan einfallen wollten, forderten Fleischvieh, das aber aufgrund des geringen Rinderbestands der Zeit nicht in der gewünschten Stückzahl aufzutreiben war. Daher richteten sie auf der Insel Jeju-do Rinderzuchthöfe ein, so dass auch die Menschen von Goryeo, denen der Fleischverzehr verboten gewesen war, schließlich wieder Gelegenheit bekamen, Rindfleisch zu essen. Danach wurde Rindfleisch ein immer beliebterer Bestandteil der koreanischen Küche. Während der Joseon-Zeit (1392-1910) wurde das Schlachten von Rindern mehrmals per Regierungserlass untersagt und ein Amt zur Kontrolle des Verbots eingerichtet. Man hielt sich jedoch kaum an die Regulierungen und im Volk machte sich eine ausgeprägte Vorliebe für Rindfleisch breit. Die hohe Wertschätzung von Rindfleisch führte zu der Erscheinung, dass Schweinefleisch gemieden wurde. In den alten Schriften des 19. Jahrhunderts finden sich viele Einträge, in denen Schweinefleisch als ungesund dargestellt wird, und Ärzte der traditionellen koreanischen Medizin rieten beim Verschreiben von Heiltränken allgemein vom Schweinefleischverzehr ab. Doch auch wenn der Schweinefleischgenuss lange Zeit tabuisiert wurde, hat sich in der Gegenwart diesbezüglich ein radikaler Sinneswandel vollzogen. In den 1970er Jahren führte die starke Propagandierung der Schweinezucht von seiten der koreanischen Regierung zu einem exponentiellen Wachstum des Schweinefleisch-Angebots, so dass sich der Schweinefleischkonsum der Koreaner nach der Millenniumswende im Vergleich zu 30 Jahren davor um das Zehnfache erhöhte. Im Zuge dieser Entwicklung erschien auch Samgyeobsal als neues Gericht auf den Speisekarten. Dieser „Dreilagige gegrillte Schweinebauch“ gehört heute unter den Koreanern zu den Hitgerichten.
2 1. Reproduktion einer Mahlzeit für einen Joseon-König. 2. Gujeolpan, eine Platte mit neun Delikatessen. Ein in Sektionen unterteiltes Lack-Tablett enthält verschiedene zubereitete Gemüse und Fleisch, die in die dünnen Weizenpfannküchlein in der Mitte eingerollt gegessen werden.
Die Entwicklung von Kimchi Auf diese Weise kam es widerholt zu Veränderungen auf dem koreanischen Esstisch. Es gibt aber auch viele Gerichte mit einer langen Tradition, bei denen sich nur die Zutaten immer wieder änderten. Das ist K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 12
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1. Sinseollo, der Hot Pot für den König, auch bekannt als Yeolgujatang: „Eintopf, der dem Mund schmeichelt“. 2. Clan-Ältere, die sich für ein Ahnenritual im Hause der Stammfamilie in Gyeongju versammelt haben, bei der Mahlzeit.
zum Beispiel der Fall bei Kimchi, das unter den Weltbürgern wohl als die repräsentativste Speise Koreas gilt. Die Ursprünge des Kimchi lassen sich bis vor die Zeit der drei Königreiche, also bis ins vorchristliche Jahrhundert, zurückverfolgen. Es gibt mehr als 200 verschiedene Sorten von Kimchi. Allerdings reicht die Geschichte von Baechu-Kimchi (mit Chilipulver eingelegter scharfer Chinakohl-Kimchi), der jedem heutzutage als erstes beim Stichwort „Kimchi“ einfällt, nur etwas über 100 Jahre zurück. Zur Zeit der drei Königreiche bestand Kimchi ledig1 lich aus in Salz eingelegtem Rettich, Auberginen oder Lauch. Im Vereinigten SillaReich (668-935) und im nachfolgenden Goryeo-Reich erweiterte sich dann die Bandbreite der eingelegten Gemüsesorten auf z.B. Gurken, Wasserfenchel und Bambussprossen. Mit Beginn des 18. Jahrhunderts begann man damit, Chilipulver und Jeotgal (fermentierte Fische und Meeresprodukte) hinzuzufügen, was – zusammen mit der Einführung von Chinakohl Ende des 19. Jahrhunderts – die regelrechte Entwicklung des Kimchi in der heutigen Form auf den Weg brachte.
Table d'hôte koreanischen Stils Die kulinarischen Traditionen können sich demnach manchmal erstaunlich schnell ändern. Es gibt aber auch Traditionen, die in authentischer Form bewahrt werden sollten, über die aber viel zu wenig bekannt ist. Die ältesten heute noch erhaltenen Kochbücher stammen aus der späten Joseon-Zeit. Was noch an Aufzeichnungen zur Hofküche bewahrt geblieben ist, beschränkt sich auch nur auf die Zeit nach 1800. Und selbst in dieser vergleichsweise kurzen Zeit haben sich die koreanischen Gerichte ständig verändert. Allein im Falle des repräsentativen Hofküchengerichts Yeolguja-tang (eine Art Hot Pot, auch als Sinseollo bekannt) weichen sämtliche Aufzeichnungen, die von ungefähr 1795 bis 1895 datieren, in Bezug auf die Zutatenzusammensetzung mehr oder weniger voneinander ab. Die koreanische Palastküche, die heute als Immaterielles Kulturerbe gilt, umfasst nur die Hofküche, die nach dem Zusammenbruch des Joseon-Reiches ans gemeine Volk weitergegeben wurde, und ist damit auf einen bestimmten Zeitabschnitt beschränkt. Auch Hanjeongsik, die Table d'hôte koreanischen Stils, die heute allgemein als typisch koreanisch gilt, unterscheidet sich stark von der Tafel, die früher in einem Adelshaushalt gedeckt zu werden pflegte. Ursprünglich war es Sitte, dass für jede Person ein eigener Tabletttisch gedeckt wurde. Mit dem Ende des Joseon-Reiches zu Beginn des 20. Jahrhunderts kamen jedoch in der Hauptstadt immer mehr auf die Palastküche spezialisierte Restaurants auf, die große Tafeln für mehrere Personen mit zahlreichen Speisen deckten. Unter dem Einfluss des Westens bieten viele Restaurants zurzeit auch MehrgängeMenüs mit einer großen Auswahl an verschiedenen Gerichten an. Eine beträchtliche Zahl von Zutaten, die neuerdings oft auf dem Esstisch zu finden sind, war vor einer Generation noch unbekannt: Brokkoli, Sellerie, Paprika usw. sind gute Beispiele dafür. Budae Jjigae (scharfes „Armee-Ragout“ mit Würstchen, Dosenfleisch und Gemüsen, früher aus US-Armee-Beständen) oder L.A.-Galbi (gegrillte Rinderrippen aus US-Rindfleisch) waren ebenfalls bei den Älteren früher unbekannt. Die Globalisierung der koreanischen Küche ist neuerdings zu einem wichtigen Thema im Gastronomiebereich geworden. Doch die „Globalisierung“ eines regionstypischen Gerichts kann nicht ohne „Lokalisierung“, also eine gewisse Anpassung an die Geschmacksvorlieben im jeweiligen Ausland, erfolgreich sein, was aber wiederum zu einer Verzerrung authentischer Traditionen führt. Die Koreaner haben den Lehrspruch „Schätze das Alte, um Neues zu lernen“ stets als wertvolle Maxime angesehen. Doch welche Tradition soll auf welche Weise verstanden und bewahrt werden und was soll weitergegeben werden? Fragen, die nicht leicht zu beantworten sind.
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Die koreanische Palastküche, die heute als Immaterielles Kulturerbe gilt, umfasst nur die Hofküche, die nach dem Ende des Joseon-Reiches ans gemeine Volk weitergegeben wurde, und ist damit auf einen bestimmten Zeitabschnitt beschränkt. Auch Hanjeongsik, die Table d'hôte koreanischen Stils, die heute allgemein als typisch koreanisch gilt, unterscheidet sich stark von der Tafel, die früher in einem Adelshaushalt gedeckt zu werden pflegte.
2 © Lee Dong-chun
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July 2012 East Asia Builds Its Talent Arsenal
April 2012 Reading The Cards in Northeast Asian Debt
January 2012 Asian IT at a Crossroads: Where is it headed?
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October 2011 Aging Asia & the Silver Industry
July 2011 Building Bridges for Future Growth
April 2011 China Rising and the Future of Northeast Asia
January 2011 Tensions Rise, Unification Hopes Remain
October 2010 The Emergence of G20 and Korea’s Role
FOKUS
Die Expo 2012 in Yeosu Zum zweiten Mal seit 1993, als die Expo in Daejeon stattfand, konnte sich Korea als Gastland der Weltausstellung präsentieren. Auf der Yeosu Expo 2012, die vom 12. Mai bis 12. August in Yeosu in der Provinz Jeollanam-do stattfand, stellten 106 Länder ihre Visionen einer umweltfreundlichen Zukunft für die Meeresindustrie vor. Yang Sun-hee Leitartikel-Verfasserin, Tageszeitung The JoongAng Ilbo
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icht jeder Koreaner kennt die Stadt Yeosu oder hat ihr schon einmal einen Besuch abgestattet. Die für koreanische Verhältnisse vergleichsweise kleine Küstenstadt mit ihren um die 300.000 Einwohnern liegt auf einer schmetterlingsförmigen Halbinsel an der südlichsten Spitze des Landes. Dabei kann Yeosu auf einige Besonderheiten verweisen. Schließlich schlug der große Admiral Yi Sun-sin während des als „Imjin-Waeran“ bekannten Invasionskrieges (1592-1598), der größten militärischen Auseinandersetzung der Joseon-Zeit (1392-1910), hier sein Lager auf und brachte den unter Toyotomi Hideyoshi einfallenden japanischen Streitkräften entscheidende Niederlagen bei. Als Zeugen dieser Zeit erhalten sind bis heute die Docks, wo die gefürchteten eisenbewehrten Schildkrötenschiffe Admiral Yis repariert wurden, und das Jinnamgwan, wo das damalige Marineoberkommando untergebracht war. Die Küsten im Süden Koreas mit ihren ausgeprägten Riasformationen und den unzähligen vorgelagerten Inseln sind berühmt für ihre natürliche Schönheit. Yeosu rückt dabei unter den Koreanern immer stärker in den Fokus des Interesses, nachdem auf der nahe gelegenen Insel Geumo-do, die den Joseon-Königen einst als Hirschgehege diente und daher für das gemeine Volk gesperrt war, ein Wanderweg eingerichtet wurde. Der Byeoranggil (Klippenweg) trägt seinen Namen nicht von ungefähr, führt er doch 8 km an steil abfallenden Klippen entlang rund um die Insel und ist ebenso schön wie schwindelerregend. Seitdem sich herumgesprochen hat, dass der Byeoranggil das einzigartige, nirgendwo sonst zu findende Erlebnis bietet, die Steilklippen entlang zu laufen, während sich vor den Augen des Wanderers die spektakuläre Landschaft des Dadohae-Meeresnationalparks (Dadohae: Meer der vielen Inseln) auftut und ihm die frische Meeresbrise unentwegt um die Nase weht, wurde Geumo-do immer bekannter.
Expo auf dem Meer Doch die größte Aufmerksamkeit konnte die Stadt Yeosu als Gastgeber der Expo (12.5.-12 .8.2012) auf sich ziehen. Seit der ersten Weltausstellung in London 1851, bei der die Dampfmaschine vorgestellt wurde, war es bis dahin niemals vorgekommen, dass eine so vergleichsweise kleine Stadt dieses bedeutende Event ausrichtet: Es konnte also auch ein neues Stück Expo-Geschichte geschrieben werden. Von besonderer Bedeutung ist zudem die Wahl des Slogans „Der lebendige Ozean und die Küsten“. Für gewöhnlich sind Weltausstellungen Veranstaltungen, auf denen die Teilnehmerländer ihre neuesten technischen Errungenschaften vorstellen und damit Die Digitale Galerie, ein überdimensionales LED-Display, das die Decke der Hauptpassage des Internationalen Pavillons der Yeosu Expo bildet, präsentiert verschiedene Geschichten übers Meer.
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ihre Stärke demonstrieren. Doch die Botschaft von Yeosu lautete anders: Es sei wichtig, das Meer, das 70% der Erdoberfläche ausmacht, als Umwelt des Menschen zu sehen, das auf die Küsten angewiesene Leben der Küstenbewohner besser zu kennen und nach Möglichkeiten der Koexistenz mit der Natur zu suchen. Die Ozeane sind Kommunikationswege zwischen den Zivilisationen, Lebensräume des Menschen und als solche Ressourcen der Menschheit, die es zu bewahren gilt. Zu einem Zeitpunkt, zu dem sich Erderwärmung und Meeresverschmutzung als internationale Probleme herauskristallisiert haben, war es das Thema dieser Expo, sich Gedanken über das das Meer und in diesem Zusammenhang über das Leben der Menschen zu machen. Auch die Wahl des Standortes verdient besonderes Augenmerk: Ausstellungshallen und Pavillons wurden quasi auf dem Wasser errichtet. Zweieinhalb Jahre dauerte es, um rund um den neuen Hafen von Yeosu eine 250.000m² große Landfläche aufzuschütten und Pavillons aufzubauen. Das Ausstellungsgelände entsprach gerade einmal einem Viertel des Areals der Shanghai Expo
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1. Sky Tower, zwei aufgegebene Silos aus Zement, wurden zu einem Wahrzeichen der Yeosu Expo. 2. Auf dem Kuppel-Bildschirm im Korea Pavillon 2 sind fantastische 3D-Aufnahmen zu sehen.
von 2010. Dafür war von jedem Punkt aus das blaue Meer zu sehen. Zusammen mit den nah und fern verstreuten großen und kleinen Inseln schien es eine direkte Verlängerung des Expo-Geländes darzustellen. An den Anlegestellen gingen Rundfahrtschiffe vor Anker, Forschungsschiffe aus aller Herren Länder liefen ein und Fähren brachten Touristen von den verschiedenen Inseln direkt zum Expo-Gelände. Rechnet man Nebeneinrichtungen wie Unterkünfte für MitarKorean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t
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beiter, Parkplätze in der Umgebung usw. hinzu, ergibt sich eine Gesamtfläche von 2,71 Mio. m2, was mehr als dem 10-Fachen der eigentlichen Ausstellungsfläche entspricht. Gäste, die mit dem koreanischen Hochgeschwindigkeitszug KTX anreisten, gelangten vom Bahnhof Yeosu direkt zum Eingangstor der Expo, wo sie von den beiden zylinderförmigen Türmen einer gewaltigen Orgel, dem Sky Tower, begrüßt wurden. Ursprünglich hatten die runden Silos im nahen Hafen als Zementlager gedient, bevor sie in eine Orgel und eine Wasserentsalzungsanlage umfunktioniert wurden. Jede Stunde einmal erklangen während der Expo die tiefen, an ein Nebelhorn erinnernden Töne des Orgelspiels. Bei rechtzeitiger Anmeldung durften die Besucher sogar selbst einmal in die Tasten greifen und konnten im Anschluss einen Becher entsalztes Meerwasser aus der gleich daneben befindlichen Frischwasseranlage probieren. Nach Passieren des Eingangstores war sofort mit einem Blick zu sehen, wie gut die Expo-Gebäude mit dem Meer harmonierten. So war die Passage zu K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 12
den internationalen Pavillons mit einem 218m langem LED-Bildschirm überdacht, auf dem computeranimierte Wale und Fische ihre Bahnen zogen, so dass der Besucher das Gefühl hatte, das Meer nicht nur vor sich, sondern auch über sich zu haben. Auf einer künstlich angelegten Insel, die die Umrisse eines Wales nachzeichnete, lag der Themenpavillon. Auf einer schwimmenden Bühne im Bereich des Big-O fanden jeden Tag Multimedia-Shows und Kulturvorführungen statt. Den Bühnenvorhang bildete Meereswasser, die Filme wurden auf eine Wasserleinwand projiziert und für die Spezialeffekte wurde Wasser versprüht. Alles, wofür das Meer als Lebensraum des Menschen steht, ließ sich auf dem Expo-Gelände wiederfinden: Wege der Kommunikation, Kultur, Erholung und Spaß.
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1. Der DSME Marine Robot Pavilion präsentiert den Roboter-Fisch „Firo“ beim Herumschwimmen im Aquarium. 2. Der Norwegische Pavillon nimmt die Besucher mit auf eine virtuelle Reise ins Land der Wikinger.
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Das Organisationskomitee legte die Yeosu-Erklärung , in der sich der Geist der diesmaligen Expo widerspiegelt, vor: Es ist ein Aufruf an die Welt, gemeinsame Anstrengungen zu unternehmen, um die Meere vor Verschmutzung und Überfischung zu schützen.
106 Teilnehmerländer Insgesamt nahmen 106 Länder aus aller Welt an der Weltausstellung teil. Während der Expo hatte dabei jeden Tag ein anderes Land die Möglichkeit, sich auf seinem „Nationentag“ durch Kulturveranstaltungen zu präsentieren und einen Ort des Austausches mit den Bewohnern des Globalen Dorfes zu schaffen. Die Botschaft aller Pavillons war unmissverständlich: „Koexistenz von Mensch und Ozean, Wertschätzung und Schutz der Umwelt“. Der koreanische Pavillon bestand aus zwei Ausstellungsräumen: Im ersten hingen an drei Wandseiten riesige Bildschirme, im zweiten befand sich ein gewaltiges Kuppelkino. Raum 1 versinnbildlichte, dass Korea an drei Seiten vom Meer umgeben ist, und war den Küsten des Landes mit ihren Bewohnern gewidmet. In Raum 2 wurden die maritimen Industrien Koreas wie z.B. die Meerwasserentsalzungs-Industrie präsentiert und Möglichkeiten der Nutzung des Meeres als Exportweg oder Energiequelle vorgestellt. Der US-amerikanische Pavillon übermittelte digital die Botschaft, dass der Mensch gerade einmal 5% des Meeres kennt und deshalb die Zukunft der Erde im Verstehen und Erforschen der Meere liegt. Der russische Pavillon hob die Entwicklung der arktischen Regionen wie etwa die Erforschung des Arktischen Ozeans hervor, wohingegen der Pavillon der Vereinten Arabischen Emirate viel Lob für den Warnhinweis auf die wachsende Gefahr von Plastikmüll, der die Meere verschmutzt, erntete. Die Präsentation der verschiedenen Themen geschah auf sehr unterschiedliche Weise: Mal dienten digitale Bewegtbilder oder Megadisplays der Übermittlung von Botschaften, mal wurde die Message geschickt in Shows oder Performances verpackt. Besonders großer Beliebtheit erfreute sich der Eisraum
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des Pavillons für Klima und Umwelt, der einen kleinen Geschmack von arktischer Kälte vermittelte. Für all diejenigen, die die eisigen Temperaturen zu geräuschvollem Zähneklappern brachten, standen PavillonBedienstete in Eisbärkostümen bereit, um wärmende Umarmungen zu spenden. Nichtsdestotrotz trugen die Besucher Frostkronen, wenn sie den Raum verließen. Im Pavillon für Maritime Industrie und Technologie wurde durch eine außergewöhnliche Darbietung, die Show-, Theater- und Video-Elemente in sich vereinte, erklärt, wie aus Meeresalgen Plastik oder Kleidung hergestellt werden kann. Auch die ausländischen Medien zeigten sich stark an der Expo in Yeosu interessiert: In der französischen Tageszeitung Le Monde fand sich am 16. Mai ein Artikel mit der Überschrift Südkoreas Juwel - die Provinz Jeollanam-do , der neben der Weltausstellung erstmals die Naturschönheiten der südlichen Regionen Koreas vorstellte. Der amerikanische Sender CNN wählte die Yeosu-Expo zu einem der Orte des Jahres 2012, die man unbedingt besuchen sollte.
Erwartungen und Ergebnisse Die Expo scheint jedoch kein kommerzieller Erfolg gewesen zu sein. Die Gründe dafür liegen zum einen Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t
teilweise in der geographischen Entfernung von der Hauptstadtmetropole Seoul. Zum anderen hatte das Organisationskomitee es versäumt, nachdem es viel Energie in den Aufbau der Anlagen gesteckt hatte, mit genau so großem Eifer die Werbetrommel für die Expo zu rühren. Nach Ablauf der Hälfte der Expo-Zeit hatte sich die Durchschnittsbesucherzahl auf 50.000 Personen pro Tag eingependelt. Für den gesamten Zeitraum der Veranstaltung war man eigentlich von mehr als 10 Millionen Besuchern ausgegangen, was nicht einmal ansatzweise erreicht werden konnte. Auch die Zahl der Touristen aus dem benachbarten China fiel weitaus geringer aus als ursprünglich angenommen. Ein enttäuschendes Ergebnis, wenn man bedenkt, dass die gewaltige Summe von 12 Billionen Won (rd. 8,4 Mrd. Euro) in dieses Projekt investiert wurde. Davon flossen jedoch nahezu 10 Billionen Won in den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur des südlichen Teils Koreas: Beispielsweise verkürzte sich durch den Bau der 8,5 km langen Yi-Sun-sin-Brücke zwischen den durch eine Bucht getrennten Städten Yeosu und Gwangyang, wo das POSCO-Stahlwerk angesiedelt ist, die Fahrtzeit auf nur 10 Minuten. Das Expo-Projekt schuf zudem 79.000 Arbeitsplätze und es wird erwartet, dass landesweit ein Produktionsanreizeffekt im Umfang von 12 Billionen Won (rd. 8,4 Mrd. Euro) und ein Mehrwert von 5,7 Billionen Won (rd. 4 Mrd. Euro) generiert werden können. Für die Dauer der Expo stellte die Stadt Yeosu Parkplätze im näheren Umfeld zur Verfügung, um Verkehrsbehinderungen zu minimalisieren. Um Unbequemlichkeiten auf dem Weg vom Parkplatz zum Expo-Gelände oder zum Sightsee-
ing in die Innenstadt zu vermeiden, war die Nutzung aller öffentlichen Busse kostenlos. Dies verursachte in der Stadtkasse zwar Ausgaben von 11,5 Milliarden Won (rd. 8 Mio. Euro), schuf dafür aber auch ein angenehmes Umfeld ohne Verkehrschaos. „Diese Weltausstellung hat uns das Selbstvertrauen gegeben, dass es auch einer Stadt von der Größe Yeosus möglich ist, eine internationale Großveranstaltung auszurichten. Es war eine gute Gelegenheit, den Namen unserer Stadt hinaus in die Welt zu tragen und bekannt zu machen,“ – so Kim Chung-seok, der Bürgermeister von Yeosu. Als besonders beachtenswerte Erfolge können wohl die Yeosu-Erklärung , in der sich der Geist der Expo widerspiegelt, und das Yeosu-Projekt gelten. Die Yeosu-Erklärung ist ein Aufruf an die Welt, gemeinsame Anstrengungen zu unternehmen, um die Meere vor Verschmutzung und Überfischung zu schützen. Im Rahmen des Yeosu-Projekt s sollen meeresbezogene Forschungen in weniger entwickelten Ländern gefördert werden, die das Organisationskomitee mit einer Spende von 10 Milliarden Won (rd. 7 Mio. Euro) aus Expo-Einnahmen zu unterstützen plant.
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KUNSTKRITIK
Hanok:
ein Entwicklungsprofil Das auf Architektur und Keramik spezialisierte Clayarch Gimhae Museum veranstaltete anlässlich seines 6. Gründungsjubiläums die Ausstellung Zeitgenössische Hanok (Contemporary Hanok; 24.
März- 26. Aug.) , die die Ergebnisse der Auseinandersetzung verschiedener Architekten mit den Transformations- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten der koreanischen traditionellen Häuser Hanok präsentierte. Song In-ho Professor, University of Seoul, Direktor des Institute of Seoul Studies I Fotos: Clayarch Gimhae Museum
1. Total Dimension - Tower, eine Installation mit HanokDach-Motiven, von Baek Seung-ho 2. Das Modell des Hauptgebäudes des Seodaemun Hanok von Cho Jung-goo wurde in der Eingangshalle ausgestellt. 1
U
m die Exponate der Ausstellung Zeitgenössische Hanok besser würdigen zu können, seien vorab Wert und Ästhetik der Hanok in vier Kategorien unterteilt erläutert. Diese Erklärungen sollen helfen, die unternommenen Transformations- und Weiterentwicklungsversuche in der Hanok-Architektur besser zu verstehen.
Charakteristika aus architekturhistorischer Sicht Erstens: Hanok sind Bauwerke, bei denen Struktur und Kontur harmonisch übereinstimmen. Da viel Erde (Lehm) als Material verwendet wird und die Schnittseiten der tragenden Holzbauteile vergleichsweise großflächig sind, strahlen die traditionellen Hanok Kraft und Weitläufigkeit aus. Das hölzerne Grundgerüst umfasst mehrere Gan (間) (ca. 1,8 m2). Die Anordnung der Gan-Einheiten entscheidet über die Struktur des Innenraums eines Hanok und auch die Form des Dachs wird durch die Struktur des Holz-Grundgerüstes bestimmt. Das traditionelle tragende Holzgerüst bildet
sozusagen die Grundform eines Hanok. Ein Hanok ist damit ein Bau, für den man Holzsäulen aufstellt, Querbalken zieht, die beiden Komponenten mit dekorativen Stützkonstruktionen verbindend verstärkt, und darauf die Querriegel und die Sparren des Dachstuhls anbringt. Zweitens: Hanok sind organische Bauten, die aus Ondol-Raum (Ondol: traditionelle koreanische Fußbodenheizung), Küche und Hof bestehen. Der Ondol-Raum kontrastiert dabei mit dem MaruRaum, der Holzdiele: Während die Deckenbalken des OndolRaums verkleidet und Schiebetüren und Wände mit Hanji (korean. Papier aus Maulbeerbaumrinde) bekleidet sind, so dass ein intimer, nach innen gerichteter Raum entsteht, ist der Maru ein offener, nach außen gerichteter Raum, der an einer Seite auf den Hof hinausgeht und bei dem hölzerne Grundkonstruktion und Lehmwände bar jeder Be- oder Verkleidung belassen werden. Diese so grundverschiedenen Räume bestimmen den Lebensstil ihrer
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1. Innenraum der Ausstellungshalle mit dem Thema Hanok in der kritischen Entwicklung. 2. Steel Skeleton Gongpo von Kim Jong-heon. „Gongpo“ sind die hölzernen Stützen am Ende der Säulen, die den Dachstuhl tragen helfen. 3. Ein Modell von Lagung , einem Hanok-Hotel von Cho Jung-goo
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Bewohner, die auf dem Boden lesen, essen und schlafen und auf das erhöhte Türsims gelehnt die sich vor ihnen auftuende Szenerie betrachten. Der Küchenbereich mit der Feuerstelle liegt niedriger als der eigentliche Wohnbereich und unter dem Küchendach befindet sich eine Dachstube. All diese Räumlichkeiten sind organisch um einen zentralen Innenhof angelegt. Drittens: Hanok sind „grüne“ Bauten aus Naturmaterialien. Neben Holz für die Grundkonstruktion verwendet man nämlich noch weitere natürliche Materialien wie Erde, Steine, Papier und Metall, die alle ihren spezifischen Eigenschaften gerecht genutzt werden. Je nach Rolle und Funktion werden sie entweder unbearbeitet mit ihrer rauen Naturoberfläche verwendet, oder aber nach feiner Bearbeitung. Die distinktiven Merkmale der Oberflächenbeschaffenheit lassen sich mit den Fingerspitzen ertasten. Viertens: Hanok sind Werke von Meistern der Handwerkskunst. Die Grundform dieser traditionellen Häuser ist zwar vorgegeben, bei ihrer konkreten Ausgestaltung hat man aber völlig freie Hand. Auf Basis der grundlegenden Struktur wird ein Hanok durch die Zusammenarbeit von Handwerksmeistern verschiedener Bereiche wie z.B. Tischler, Steinmetze oder Dachdecker geschaffen. Ein Hanok kann quasi mit einem überdimensionalen Holzmöbelstück verglichen werden.
Hintergrund der Ausstellung Seit Anfang des 21. Jahrhunderts erleben die Hanok in Bezug auf die oben genannten vier Aspekte - Struktur, Räume, Materialien und Handwerkstechniken - Entwicklungen und Experimente. Beispielsweise wird für das Dach kaum mehr Erde verwendet, sondern es wird eine Trockendachbaumethode eingesetzt, die in punc-
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to Wärmeisolierung und Wasserdichte überlegener ist. Außerdem hat der Innenraum durch die Einführung von Heißwasser-Bodenheiz- und Raumklimaregulierungssystemen an Funktionalität und Komfort gewonnen. Unter Wahrung der Vorteile des Hanok als umweltfreundliches Wohnhaus versucht man, neue Baumaterialien wie Fertigholzbauteile und Scheibenglas zu verwenden. Um die Baukosten auf ein vernünftiges Niveau zu senken, wird die Arbeit der Handwerksmeister durch Einsatz maschinell vorgefertigter Holzteile unterstützt. Auf diese Weise entstanden kreative, von einzelnen Architekten designte Hanok-Versionen, aber auch Hanok-Siedlungen, die unter Federführung öffentlicher Stellen nach traditionellem Vorbild geplant und realisiert wurden. So ist z.B. ein staatliches Forschungs- und Entwicklungsprojekt für die Innovation der Hanok und die Senkung der Baukosten im Gange, das vom Ministerium für Land, Transport und maritime Angelegenheiten unterstützt wird. Das Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus treibt ebenfalls verschiedene Hanok-Förderprojekte voran. 2008 wurde vom National Trust of Korea die erste Hanok-Ausstellung im Ausland veranstaltet und 2011 wurde der vom National Hanok Center gestiftete erste Hanok-Architekturpreis verliehen. 2012 lief der erste Hanok-Fotowettbewerb. Die Ausstellung Zeitgenössische Hanok steht ebenfalls im Kontext dieser Bestrebungen zur innovativen Weiterentwicklung der
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Hanok. Sie wurde von dem auf Architektur- und Keramik spezialisierten Clayarch Gimhae Museum als Sonderausstellung für die erste Jahreshälfte 2012 abgehalten und zeigte die Werke von vier repräsentativen Architekten für moderne städtische Hanok sowie Arbeiten von Installationskünstlern und Fotografen. Diese Ausstellung verdient Aufmerksamkeit, da sie - wie der Titel schon verrät – darauf abzielte, Hanok nicht als historische Bauwerke zu betrachten, sondern sie aus neuer Perspektive als von zeitgenössischen Architekten geschaffene kreative Werke zu beleuchten. Bei den Exponaten handelte es sich daher auch nicht um traditionelle Hanok, sondern um kreative Neuinterpretationen. Auf Basis traditioneller Hanok-Grundrisse haben die Architekten unter genauer Interpretation von Programm und zur Verfügung stehender Fläche den Raum kreativ gestaltet und die Konturen abgestimmt. Hanok sind, wie bereits erwähnt, Konstruktionen, bei denen wesentlich stärker als bei anderen Bauten Flächen und Querschnitte bzw. Flächen und Außenseite miteinander verbunden sind. Wenn z.B. die Breite eines Zimmers von 8 Ja (1 Ja = etwa 30 cm) auf 12 Ja erweitert wird, ändern sich dadurch entsprechend auch der Durchmessser der Säulen und die Struktur des Decken-
aufbaus und dadurch letztendlich auch die Fläche-Höhe-Proportionen. Bei Hanok mit zwei- (ㄱ Form) oder dreiseitigem (ㄷ Form) Grundriss muss darüber hinaus auch die Struktur an den Ecken berücksichtigt werden. Die Hanok-Modelle, Bilder, Fotos, Installationen usw., die zu sehen waren, boten den Besuchern die Gelegenheit, diese organische Struktur der Hanok nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zu erleben bzw. genau zu betrachten.
Highlights der Ausstellung Das Namsan Hanok ist ein traditionelles, an einem Hügel gelegenes Teehaus. Achitekt Kim Jong-hun erklärt dazu: „Es ist meine eigene räumliche Neuinterpretation eines Hanok mit seiner dualen Struktur aus Geschlossenheit und Offenheit.“ Steigt man die Treppen hoch, die den Hügel hinauf zum Haus führen, sind als Hintergrund die Kammlinie und die grünen Bäume des Berges Namsan zu sehen. Die Fassade dieses Hanok harmoniert sehr schön mit den natürlichen topographischen Gegebenheiten. Das L-Hanok von Architekt Hwang Doo-jin ist ein typisches städtisches Hanok, wie sie sich im Seouler Hanok-Viertel Bukchon finden. Das Wohnhaus ist zwar eher klein, es gibt aber einen Vorder-
Beim Betreten der Ausstellungshalle erhielt man einen vollen Blick auf das Seodaemun Hanok von Cho Jung-goo, ein Werk, das bei der 12. Internationalen Architektur-Biennale in Venedig (2010) präsentiert wurde. Die Besucher konnten die Innenräume des Hanok in Augenschein nehmen oder sich auf die erhöhte Veranda setzen und die Fotografie-Serie Hanok in Gyeongnam (2012) von Yoon Joon-hwan betrachten, die an den Wänden der Ausstellungshalle hingen.
1. Ein Modell des Hauptgebäudes des Seodaemun Hanok von Cho Jung-goo. 2. Ein Modell von Mumuheon von Hwang Doo-jin.
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hof und einen von drei Seiten von Gebäuden umschlossenen Innenhof. Der große Stolz dieses Hauses, das über eine äußerst praktische Raumaufteilung verfügt, ist das Studier- und Lesezimmer im Untergeschoss. Unter Ausnutzung der unterschiedlichen Höhenlage von Innenhof und der Haupthalle mit Holzfußboden hat man im Studierzimmer schmale, hohe Fenster angebracht, und so trotz des Standard-Grundrisses einen dynamischen Raum geschaffen. Anhand des „Modul-Hanok“ der Architektin Kim Yong-mi, das als Modell in voller Größe ausgestellt wurde, konnten die Besucher das Raum-Arrangement eines Hanok real nachempfinden. Alle Elemente des Hanok wie Höhe und Dicke der Säulen, die Abstände zwischen den Säulen, die Breite der Dachbalkenstützen und aller Balken, die Größe der Fenster und die Bekleidung der Schiebetüren werden anhand der grundlegenden Module entschieden. Solch ein Hanok-Modulsystem gibt die Grundprinzipien für die Ästhetik eines Hanok vor und kann Basis für ein rationalisierendes Produktionssystem sein. Das Lagung in Gyeongju, das erste Hanok-Hotel in Korea, besteht aus verschiedenen Hanok-Strukturen mit Höfen. Dazu gehören z.B. das zweistöckige Verwaltungsgebäude mit ㅁ-Form, ein zentraler Innenhof, Korridore, weitläufige Hofanlagen sowie HanokeinK o r e a n a ı H e r b s t 2 0 12
heiten in ㄷ-Form mit einem Hof und heißem Bad im Freien. Der Architekt, der Charakter und Formen der einzelnen Höfe untereinander abstimmte und daran ausgerichtet einen an eine kleine Stadt erinnernden Hotelkomplex aus mehreren Hanok gestaltete, ist Cho Jung-goo. Auf der Ausstellung waren Modelle und Aufnahmen von verschiedenen Werken Chos wie das Lagung und das Seodaemun Hanok zu sehen. Die Ausstellung belegte, dass originäre Besonderheit und Schönheit eines Hanok durch seine Form des Vertikalschnitts entschieden wird. Anhand der Unterschiede im Vertikalschnitt konnten die Ausstellungsbesucher das Niveau von Kreativität und Entwicklung der modernen Hanok bestätigen. Neben den Hanok war auch eine Installation von Baek Seung-ho zu sehen, bei der die Hanok-Dächer als Motive genutzt wurden, sowie die Fotografien, die Yoon Joon-hwan von den noch in der Provinz Gyeongsangnam-do existierenden Hanok gemacht hat. Diese Stücke rundeten für den Besucher den vielseitigen Blick, den diese Ausstellung in die Hanok-Welt bot, ab. Alles in allem ließ die Ausstellung die Besucher Wert und Schönheit der Hanok wiedererkennen, die sie in den modernen Wohnungen, in denen sie leben, aufgegeben oder vergessen hatten.
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Verliebt in Korea
„Existentielle Brücke“
zwischen Korea und der Welt Professor Alok Kumar Roy kam im März 1980 zum ersten Mal nach Korea, um als Regierungsstipendiat Internationale Politikwissenschaft und Diplomatie an der Seoul National University zu studieren. Im Januar dieses Jahres wurde er zu einer Art Berühmhtheit, als die Medien ihn als den 100.000sten Ausländer, der die koreanische Staatsbürgerschaft angenommen hat, ins Rampenlicht der Berichterstattung stellten. Charles La Shure Professor, Graduate School of Interpretation and Translation, Hankuk University of Foreign Studies I Fotos: Ahn Hong-beom
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rofessor Alok Kumar Roy bittet uns in sein Büro an der Pusan University of Foreign Studies, wo er die letzten 23 Jahre gelehrt hat. Er unterrichtet über zeitgenössische Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien Indiens, aber sein Interesse an allem Koreanischen ist an den zahlreichen koreanischsprachigen Büchern abzulesen, die in seinen Regalen stehen. Professor Roys Geschichte beginnt vor über 30 Jahren, als er in dem turbulenten Frühling des Jahres 1980 seine ersten Tage in Korea verbrachte.
Meine „Galapagos-Inseln“ Auf die Frage, was ihn nach Korea gebracht habe, gibt Professor Roy die originell-ungewöhnliche Antwort: „Korea ist quasi meine Galapagos-Inseln. Es ist ein guter Ort für Vergleiche und ein guter Ort zum Beobachten von Entwicklungsprozessen in ihrer Evolution. Nirgendwo sonst kann man Zeuge von so viel Wandel innerhalb so kurzer Zeit werden. Ich habe es nie bereut, hierher gekommen zu sein.“ 1980 war das Jahr, als die Bürger von Gwangju sich gegen die Militärdiktatur des Landes erhoben, ein Ereignis, das später als „Demokratiebewegung von Gwangju“ bekannt wurde. Die damalige Regierung unter Präsident Chun Doo-hwan, einem ehemaligen General, mobilisierte die Truppen, um den Aufstand niederzuschlagen, aber die Risse im System waren schon zu sehen. Die Demokratiebewegung führte die ganzen 1980er Jahre hindurch zu weiteren Protesten und kulminierte schließlich in einer demokratisch gewählten Regierung. Aber zu der Zeit, als der junge indische Student Alok Roy in Korea ankam und sein Studium aufnahm, war Demokratie nur eine ferne Hoffnung. „Ich vergleiche die Situation von 1980 immer mit den letzten Stadien einer Schwangerschaft: Eine Frau erwartet ein Kind. Sie weiß nicht, was für ein Kind es sein wird, aber die Geburt lässt sich nicht verschieben. In all dieser Unsicherheit liegt eine versteckte Erwartung, eine versteckte Hoffnung, dass das Morgen besser als das Heute sein wird. Davon bin ich damals Zeuge geworden“, berichtet Roy. Er spricht ausführlich über diese verborgenen Hoffnungen und Erwartungen. Er berichtet, dass im Laufe der Zeit die Demonstrationen immer auffälliger wurden und die Proteste daher im Jahr 1980 Flashmob-artigen Charakter annahmen, d.h. die Studenten versammelten sich blitzartig und demonstrierten höchstens etwa fünf Minuten. Normalerweise war alles, bevor es überhaupt zu einer Niederschlagung kommen konnte, innerhalb von ein, zwei Minuten vorbei. In der Zeit, als die Militärdiktatur auf ihrem Höhepunkt war, konnte sich die Hoffnung nur im Verborgenen halten. „Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Panzer gesehen“, erinnert sich Roy zurück. „Vor dem Haupttor der Seoul National University standen zwei gepanzerte Fahrzeuge, auf dem Sportplatz standen zwei Hubschrauber, und auch vor dem Hintereingang gab es Panzerwagen.“ Die Olympischen Sommerspiele 1988 brachten dann eine entscheidende Wende für Korea, da das Land sich der Außenwelt gegenK o r e a n a ı H e r b s t 2 0 12
über zu öffnen begann. Die Welle der Demokratie war nicht mehr einzudämmen. Letztendlich überflutete sie das ganze Land, aber nicht wie eine sich an den Klippen brechende Sturmbrandung, sondern wie sanft und unaufhaltsam den Sandstrand hochspülende Flutwellen. 1992 wählte das koreanische Volk zum ersten Mal nach dreißig Jahren einen zivilen Präsidenten. Als Student der Internationalen Politikwissenschaften war Roy erstaunt darüber, wie friedlich der Wandel zur Demokratie letztendlich verlaufen war: „Ich hätte nie geglaubt, dass ein politischer Übergang so glatt vonstatten gehen könnte!“ Heute, zwei Jahrzehnte später, ist Professor Roy endlich ein Bürger des Landes, in dem er länger als an irgendeinem anderen Ort der Welt gelebt hat. Die Entscheidung hat lange auf sich warten lassen und war sicherlich keine einfache, aber nicht unbedingt aus Gründen, die man vielleicht zunächst dahinter vermuten mag. „Es ist weniger eine Frage der Treue“, erklärt er, „denn Treue an sich kann nicht geteilt werden, sie kann nur hinzugefügt werden. Es geht nicht darum, ob ich 100% Koreaner und 0% Inder bin, oder 50% Koreaner und 50% Inder. Ich kann 100% Koreaner und 100% Inder sein, auch wenn ich die Nationalität gewechselt habe.“ Es ging viel mehr darum, wie Roy seine Fähigkeiten am besten nutzen und einsetzen konnte, sowohl für sich selbst, als auch für Korea. Er beschreibt seine Beziehung zu Korea und Indien mit zwei indischen Konzepten: Kharmabhumi und Janmabhumi. „Kharmabhumi ist, wo man seine Stelle hat, wo man arbeitet. Daneben gibt es Janmabhumi, wo man geboren ist. Ja, du bist dort geboren, du bist dort aufgewachsen, aber hier ist der Ort, an dem du tätig bist.“ Er kam zu dem Entschluss, um seiner Arbeit willen Bürger der Republik Korea zu werden und damit seinem Kharma zu folgen. Natürlich ist es eine Sache, koreanischer Staatsbürger zu werden, und eine völlig andere Sache, ganz und gar Koreaner zu werden. Professor Roy ist sich dieses Unterschiedes nur zu bewusst. Koreaner zu sein hat für ihn damit zu tun, wie er sich in seinen Beziehungen zu anderen Koreanern versteht und wie diese Beziehungen aussehen. „Spreche ich dieselbe Sprache, die sie sprechen? Spreche ich auf derselben Wellenlänge, auf der sie sprechen? Das war eine Herausforderung für mich. Bevor ich Koreaner wurde, wollte ich mir selbst beweisen, dass ich ein noch besserer Koreaner werden könnte. Aber die Gesellschaft hat wie immer ihre Beschränkungen. Auch wenn ich die koreanische Staatsbürgerschaft besitze, bedeutet das nicht, dass ich gleich wie andere Koreaner bin.“
Lehren aus Indiens Multikulturalismus Professor Roy führt die in Korea starke Unterscheidung zwischen „Koreaner“ und „Ausländer“ auf die Besonderheiten der koreanischen Geschichte zurück. „Die Geschichte Koreas ist sehr linear“, erklärt er, „und das Problem jeder Kultur mit einer solch linearen Geschichte ist, dass sie sehr von Konkurrenz und gleichzeitig von Ethnozentrismus geprägt ist. Für jemanden, der einen nicht kennt, ist man daher ein Ausländer. Das war für mich eine schockierende
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Erfahrung, denn in Indien, woher ich komme, sagt niemand, dass man anders sei, auch wenn man anders aussieht. Und selbst wenn einem gesagt wird, dass man anders sei, wird man nicht zu hören bekommen, dass man ‚nicht gleich‘ sei. In Korea, ist man nicht nur anders, man ist auch nicht gleich. Das ergibt sich ganz natürlich. Wegen der linearen Geschichte, die Korea hat, ist Stolz ein sehr wichtiges Konzept. Wo es Stolz gibt, gibt es zwangsläufig auch Vorurteile. Und manchmal sind diese Vorurteile deutlicher zu sehen als der Stolz.“ Bedenkt man diese Linearität der Geschichte, dann kommt es nicht überraschend, dass der Weg hin zum Multikulturalismus in Korea vielleicht nicht so eben ist, wie viele gehofft haben. Professor Roy winkt ab. „Alleine schon dieses Wort – ich mag es nicht. Es ist nicht Multikulturalismus, es ist Koreanisierung einer anderen Kultur, jedenfalls bislang. Aber es ändert sich langsam. Bedenkt man das latente Potential der koreanischen Gesellschaft, sich in kurzer Zeit zu verändern, dann kann es sich schneller als in anderen Gesellschaften ändern, vielleicht sogar schneller als in Japan.“ Da Multikulturalismus so ein wichtiges Konzept im Korea von heute ist, ist es auch wichtig, es richtig zu definieren. Professor Roy hat lange darüber nachgedacht und definiert es auf zweierlei Weise. Zum einen in Sinne von Raum: „Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass ich meinen Namen nicht geändert habe“, sagt er. Die meisten koreanischen Namen sind kurz, Vor- und Familienname zusammen bestehen normalerweise nur aus drei Silbeneinheiten. Aber Professor Roys voller Name entspricht in koreanischer Transliteration sieben Silbeneinheiten – mit den Leerstellen zwischen den einzelnen Namensbestandteilen sogar neun – und passt damit nicht in den auf den meisten koreanischen Formularen standardmäßig vorgegebenen Raum für den Namen. Auf seinen Gehaltsabrechnungen wird er als „Roy“ geführt, seine Krankenkasse läuft jedoch auf „Kumar“. „Es ist eins meiner Hauptanliegen, dass die koreanische Gesellschaft anderen mehr Raum zugestehen sollte.“ Statt sich selbst zu ändern und in den koreanischen Raum zu zwängen, hofft er, dass Korea soweit kommt, ihm den Raum, den er braucht, zuzugestehen. Multikulturalismus kann auch im Sinne von Zeit definiert werden. Für Professor Roy ist Multikulturalismus futuristisch und nach vorne gerichtet. „Wenn ich hier in Korea lebe, oder wenn jemand in Amerika lebt, dann deshalb, weil er glaubt, dass es dort eine Zukunft gibt, und nicht deshalb, weil es dort eine Vergangenheit gibt.“ Für ihn bewegt sich die Welt – und ganz besonders die Bildung – in ein Zeitalter, in dem Schüler lernen, um sich auf eine Zukunft vorzubereiten, die sie vielleicht ans andere Ende der Welt bringt. „Warum sollten wir rückwärts gehen? Wenn wir sagen, dass jemand multikulturell ist, dann sollten wir anerkennen, dass
er ‚multi-kulturell‘ ist und ihn nicht wieder ‚uni-kulturell‘ machen wollen. Der Fokus sollte nicht auf der Koreanisierung der multikulturellen Familien liegen, sondern auf der Globalisierung der koreanischen Gesellschaft, so dass Raum für jeden einzelnen bleibt. Und wenn es Konflikte zwischen den beiden Räumen gibt, sollten sie bereinigt werden, so dass es nicht zu Kollisionen kommt.“ Professor Roy glaubt, dass sein kultureller Hintergrund ihm ein originäres Verständnis des Konzeptes des Multikulturalismus ermöglicht. Seiner Aussage nach ist den Indern der Gedanke der Diversität in Fleisch und Blut übergegangen. „Diversität ist in unserer DNS festgeschrieben“, fügt er lächelnd hinzu. Der Multikulturalismus in Indien geht Tausende von Jahren zurück auf die Zeit von Ashoka dem Großen (304–232 v.Chr.). Ashoka war zunächst ein Eroberer, der darauf aus war, ein eigenes Reich zu begründen. Bei der Besichtigung eines Schlachtfeldes sah er, wie viel Tod und Zerstörung er angerichtet hatte, und beschloss, sich fortan dem Frieden statt dem Krieg zu widmen. Das Symbol, dass Ashoka für den Frieden wählte, war eine Steinsäule mit vier Löwen am oberen Ende: Frieden sollte Stärke besitzen, aber die Stärke darf nicht monopolisiert werden. Das ist der Schlüssel, betont Professor Roy. „Wir sollten zwar wie Löwen leben, aber wir sollten zusammen leben. Das ist das indische Konzept von Frieden in der Gesellschaft. Es ist sehr alt, aber manchmal, denke ich, brauchen wir dieses Konzept, damit wir andere Menschen als andere Löwen akzeptieren können, ohne ihnen das Herz zu zerreißen. Was ist es letztendlich, das den Menschen ausmacht? Der Mensch lebt von seinem Stolz. Und diesen Stolz sollten wir nicht verletzen.“ Wie in den 1980er Jahren, so sieht sich auch heute wieder Korea mit Wandel konfrontiert. Professor Roy führt als Beispiel die Frage der internationalen Ehen an. „Bis vor einiger Zeit noch glaubte man, dass internationale Ehen nur das Problem der anderen sei. Aber jetzt könnte schon mein Schwiegersohn oder meine Schwiegertochter Ausländer sein.“ Sobald aus einem abstrakten Problem ein konkretes wird, ist Wandel nicht mehr aufzuhalten. „Es wird dann zu deinem Problem. Und genau das geschieht in Korea.“
Übersetzung von Rabindranath Tagore Professor Roy gibt sich nicht damit zufrieden, den Wandel in seiner
1. Professor Alok Kumar Roy bei der Bewertung von Referaten seiner Studenten. 2. Professor Roy beim Gespräch mit Studenten in seinem Büro. Er rät ihnen, ihr Studium auch mit Blick auf eine Zukunft in einem anderen Teil der Welt anzugehen.
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Professor Roy macht nicht nur die indische Kultur in Korea bekannt, er bemüht sich umgekehrt auch, die koreanische Kultur in Indien vorzustellen, so z.B. durch die Übersetzung von Choi In-hoons Roman Der Platz ins Hindi. „Das Buch gibt in Indien einen Vorgeschmack auf koreanische Literatur“, sagt er.
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Umgebung einfach nur zu beobachten: Er strebt vielmehr danach, selbst Teil dieses Wandels zu sein. Eine seiner Methoden ist dabei, als kulturelle Brücke zwischen Korea und Indien zu fungieren. In der Arbeit für seinen M.A.-Abschluss über Koreanisch als Fremdsprache hat er sich mit der koreanischen Übersetzung des Werkes des berühmten indischen Denkers Rabindranath Tagore (18611941) beschäftigt, des ersten nicht-Europäers, der mit dem Nobelpreis für Literatur (1913) ausgezeichnet wurde. Roy hat zudem Artikel über Tagore in der Hoffnung verfasst, einige Missverständnisse in Bezug auf Tagore aufzuklären und spielt mit dem Gedanken, dessen Schriften in Zukunft selber ins Koreanische zu übersetzen. „Die koreanischen Übersetzungen von Tagore stammen meist aus dem Englischen, kein einziges Werk wurde bislang aus der bengalischen Originalsprache ins Koreanische übertragen. Ich, als Bengale, bringe vielleicht bessere Voraussetzungen dafür mit.“ Aber Professor Roy macht nicht nur die indische Kultur in Korea bekannt, er bemüht sich umgekehrt auch, die koreanische Kultur in Indien vorzustellen, so z.B. durch die Übersetzung von Choi In-hoons Roman Der Platz (Gwangjang, 1960) ins Hindi. „Das Buch gibt in Indien einen Vorgeschmack auf koreanische Literatur“, sagt er. „Ich mag den Roman, weil er von der koreanischen Gesellschaft der Zeit erzählt. Alles – die ideologischen Auseinandersetzungen, die persönlichen Konflikte – ist enthalten. Am meisten aber mag ich Chois Sprache. Sie ist sehr poetisch. “ Der Roman stieß in Indien auf positive Resonanz. „Die Leute mochten den Roman, weil K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 12
wir in Indien mit den selben, auf Spaltung basierenden Problemen zu kämpfen haben. So existiert eine Spaltung von Menschen im Namen der Religion, auch wenn mehr Muslims in Indien als in Pakistan leben. Viele Schriftsteller, mit denen ich mich unterhalten haben, sagten, dass sie den Roman mögen, weil er einfühlsam sei; einfühlsam im Sinne von sensibilisierend, zum Denken anregend.“ Trotz alledem ist Professor Roy der Meinung, dass sein wichtigster, überdauernder Beitrag zu Korea nicht in dem besteht, was er vollbringt, sondern in dem, was er darstellt. „ Was ich tue, hat zweifelsohne schon eine gewisse Bedeutung, aber noch wichtiger ist, wer ich bin. Von Beruf bin ich ein Lehrer, aber auch ein Lernender. Die Leute fragen mich, ob ich etwas für die koreanisch-indischen Wirtschaftsbeziehungen tue. Aber das ist nicht meine Aufgabe. Das ist die Aufgabe der Geschäftsleute. Wird es eine Zusammenarbeit in Sachen Atom zwischen Korea und Indien geben? Darüber entscheiden die politisch Verantwortlichen. Ich selbst kann auf meine eigene Art und Weise einen Beitrag leisten. Ich möchte mehr eine Art existentielle Brücke als eine Autobahnbrücke sein.“ Das könnte so etwas Einfaches sein wie mehr Raum für einen längeren Namen auf einem Vordruck der Bankformulare. Vielleicht wird Korea schon bald – in jedem Sinne des Wortes – mehr Raum für andere haben. Bis es soweit ist, wird Professor Alok Kumar die Grenzen ein Stück weiter nach außen zu rücken versuchen, um Raum für sich zu schaffen und Multikulturalismus im wahrsten Sinne des Wortes auf den Weg zu bringen.
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AUF DER WELTBÜHNE
Haegue Yang
Über Genres und Grenzen hinweg
Nach der Biennale in Venedig 2009 war Haegue Yang (41) bei der dOCUMENTA 2012 in Kassel wieder mit Installationen vertreten, die Kühnheit und Feingefühl in sich vereinen, und hat sich damit zu einer festen Größe in der internationalen Szene für moderne Kunst etabliert. Koh Mi-seok Fachjournalistin für Kunst & Design, Tageszeitung Dong-a Ilbo
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Die Künstlerin Haegue Yang und ihr jüngstes Werk Approaching: Choreography Engineered in Never-Past Tense, das im Hauptbahnhof von Kassel installiert war.
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n einem vor langer Zeit stillgelegten Güterterminal des Kasseler Hauptbahnhofs hängen von einem Dach-Provisorium zwei Meter breite, dunkle Jalousien herab. In fortwährender Wiederholung öffnen und schließen sie sich über den leeren, trostlos wirkenden Gleisen und durchbrechen dabei die Stille mit einem scharf-surrenden Geräusch. Bei jedem Hochziehen der Jalousien, die nach geheimen Choreographie-Anweisungen zu tanzen scheinen, taucht für einen Moment der gegenüberliegende Bahnsteig auf, um dann wieder aus dem Blickfeld zu verschwinden. Die 45 Meter lange Installation wirkt bedrohlich und angsteinflößend wie eine Maschinenkreatur aus einem Science-Fiction-Film. Denn die Jalousien, die sich wie bei einer Militärparade oder den sog. Card Sections von Massenchoreografie-Aufführungen perfekt aufeinander abgestimmt bewegen, erwecken unwillkürlich Assoziationen zu den totalitären Regimen im 20. Jahrhundert. Bei dieser Installation mit dem Titel Approaching: Choreography Engineered in Never-Past Tense, die vom 9. Juni bis 16. September auf der dOCUMENTA 2012 in Kassel zu sehen war, handelt es sich um das jüngste Werk der südkoreanischen Künstlerin Haegue Yang. Zum ersten Mal stellte sich Yang dabei der technischen Herausforderung einer sich bewegenden Installationskunst, bei der Motoren in die Jalousien installiert wurden und eine selbst entwickelte Software zum Einsatz kam.
Die Jalousien-Choreografie „Als ich das erste Mal zum Kasseler Hauptbahnhof kam, zog mich die mächtige Energie dieses Ortes in ihren Bann. Auf Basis des Glaubens an ein Utopia der Industrie ist die moderne Gesellschaft nach dem Motto „immer mehr, immer schneller, immer besser“ den Weg der Industralisierung gegangen. Als ich den Bahnhof sah, bei dem der industrielle Glanz der Vergangenheit im krassen Gegensatz zum desolaten K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 12
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1. Series of Vulnerable Arrangements Voice and Wind , präsentiert im Rahmen von Haegue Yangs Einzelausstellung Condensation im Korea Pavillon bei der 53. Venice Biennale in Venedig 2009. 2. Eine Serie von skulpturhaften Arrangements mit dem Titel Totem Robot, für die Yang elektrische Birnen und Kleiderständer verwendete.
Zustand der Gegenwart steht, wollte ich darauf aufmerksam machen, dass die Industrialisierung auch heute immer noch eine Aufgabe ist, mit der wir uns auseinandersetzen müssen.“ Die Künstlerin Yang bringt mit ihrer Installation die schiere Intensität der „Modernisierung“ zum Ausdruck, eines gemeinsam durchlaufenen Prozesses der Menscheit, den die sich entwickelnden Länder noch am Erleben sind und der für die Industrieländer Erinnerung ist. Ihr Werk, das hervorragend zum Bild des einst florierenden und nun heruntergekommenen Güterbahnhofs passt, traf vor Ort auf große Resonanz. Das deutsche Kunstmagazin ART wählte es unter die zwanzig wichtigsten Werke der dOCUMENTA 2012 und in einer ARD-Nachrichtensendung wurde es als besonders sehenswert vorgestellt. „Um die an den Jalousien angebrachten Motoren und das Computersystem, das sie steuert, zu koordinieren, haben meine Kollegen und ich eigens eine neue Software entwickelt. Der Arbeitsprozess zog sich dadurch zwar etwas in die Länge, aber für mich war die Erforschung der mechanisierten Bewegungen bedeutsam“, äußerte Yang bei einem Interview in Kassel.
Ein Monodrama – selbst adaptiert und inszeniert Die dOCUMENTA, die alle fünf Jahre ihre Tore öffnet, gilt als die prestigeträchtigste Ausstellung für
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zeitgenössische Kunst weltweit. Dieses Jahr nahmen 150 Künstler aus 55 Ländern daran teil. Nach Yook Keun-byung, dem ersten Koreaner, der an einer dOCUMENTA teilnahm (1992), erhielten 2012, nach zwanzig Jahren, wieder einmal koreanische Künstler eine Einladung nach Kassel: die in Seoul und Berlin aktive Haegu Yang, sowie Moon Kyoung-won und das Team von Jeon Joon-ho. Yang gelang dabei ein aufsehenerregendes Doppel-Debüt: einerseits durch ihre Ortscharakteristik-bezogene Installation, die den Raum des bei einer Begehung wiederentdeckten, stillgelegten Güterbahnhofs nutzte, andererseits durch ihre eigene Adaptation von Marguerite Duras' Novelle La maladie de la mort (Die Krankheit Tod), die sie als Monodrama auf die Bühne des Staatstheaters Kassel brachte. Die dOCUMENTA in Kassel hat sich durch ihre gesellschaftskritische Themenwahl und innovativen Werke in der internationalen Kunstszene einen Namen gemacht. Damit wurde ein anderer Weg als bei der Biennale in Venedig eingeschlagen, die auch als „Kunst-Olympiade“ bekannt ist, da man durch Länderpavillons und ein Konkurrenzsystem mit Vergabe von Preisen breite Bekanntheit gewonnen hat. Kassel, das während des 2. Weltkrieges als Zentrum der deutschen Rüstungsindustrie fast vollständig durch die Bombenangriffe der Alliierten zerstört worden war, erlebte seit der Einrichtung der dOCUMENTA 1955 unter Leitung des Malers Artold Bode eine Wiedergeburt als Hochburg der zeitgenössischen Kunst. Die dOCUMENTA, die einst die Reflexion über die menschenverachtenden Willkürtaten des Nazi Regimes als ihren Ausgangspunkt nahm, setzt sich nun ernsthaft mit der Rolle von Kunst und Künstlern als Wegbereitern gesellschaftlicher Veränderungen auseinander. Dementsprechend stellt sie eine Traumbühne dar, auf die kein Künstler so einfach gelangt, auch wenn er noch so kommerziell erfolgreich sein mag. Und genau hier vermochte Yang durch Werke von profundem thematischen Bewusstsein und hohem Perfektionsgrad ihre künstlerische Präsenz deutlich spürbar zu machen . Yang ist eine Künstlerin, die vor neuen Herausforderungen nicht zurückschreckt. So verdient auch ihr Genre-übergreifendes Experiment, sich mit einem Bühnenstück zu versuchen, Beachtung. Bei dem nur ein einziges Mal (7. Juni) aufgeführten Monodrama La maladie de la mort handelt es sich um ein Bühnenprojekt, bei dem das Mysterium der Liebe durch die Rezitation des Stücks durch die französische Schauspielerin Jeanne Balibar und den Einsatz sich bewegender Lichter und Bilder sowie einfacher Gegenstände wie Ventilatoren zum Ausdruck gebracht wird. Carolyn Christov-Bakargiev, die für die künstlerische Leitung der 13. dOCUMENTA verantwortlich zeichnete, wies bei einer offiziellen Pressekonferenz mit über 500 Medienvertretern und Kunstkritikern ausdrücklich auf dieses Stück hin und zeigte ihr tiefes Interesse auch durch den Besuch der Vorführung.
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Das Geheimnisvolle im Alltäglichen Auf der internationalen Bühne zählt Haegue Yang unter den koreanischen Kollegen ihrer Altersklasse zu den aktivsten Künstlern. Auf der Biennale 2009, an der sie als Repräsentantin Koreas teilnahm, zog das von ihr präsentierte Werk Condensation breite Aufmerksamkeit auf sich. Auch damals stellte sie eine Installation mit den von ihr gerne und oft verwendeten Jalousien vor. Mittels dieser Aluminiumvorhänge schuf sie einen halbtransparenten Raum der Dualität von Offen- und Geschlossenheit, den sie mit Hilfe von Ventilatoren und Duftsprühern mit einer sanften Brise und Düften erfüllte. Die Besucher waren dazu eingeladen, an die Installation heranzutreten und mit einem Blick durch die Jalousien Brise und Düfte auf ihre Sinne wirken zu lassen. Haegue Yang verfolgt mit ihren Werken auf philosophischen Prinzipien beruhende Konzeptkunst. Ob in Venedig oder Kassel: Ihre Arbeiten sind abstrakt und wirken irgendwie unvollendet. Für die meisten ihrer Werke arrangiert sie alltägliche Gegenstände wie Jalousien, Wäscheständer, Klappstühle, Ventilatoren oder Glühbirnen zu nicht konkret etikettierbaren Konstruktionen. Es ist aber gerade diese Vagheit und Mehrdeutigkeit, die den Betrachter zur freien Interpretation und emotionalen Reaktion anregt. Ihre Wäscheständer, die sich in verschiedene Gymnastikposen geworfen zu haben scheinen, entlocken dem Betrachter unwillkürlich ein Lächeln. Die Installation, bei der Ventilator und Heizlüfter einträchtig nebeneinander stehen und Kalt- bzw. Warmluft von sich blasen, erinnert an die Dualität der Liebe, die K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 12
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Ihre Arbeiten sind abstrakt und wirken irgendwie unvollendet. Für die meisten ihrer Werke arrangiert sie alltägliche Gegenstände wie Jalousien, Wäscheständer, Klappstühle, Ventilatoren oder Glühbirnen zu nicht konkret etikettierbaren Konstruktionen. Es ist aber gerade diese Vagheit und Mehrdeutigkeit, die den Betrachter zur freien Interpretation und emotionalen Reaktion anregt.
Eine Szene aus Yangs Theaterprojekt Die Krankheit Tod , ein nach der Vorlage von Marguerite Duras' gleichnamiger Novelle adaptiertes Monodrama.
Freud und Leid in sich vereint. Darin steckt eine emotionale Kraft, die einen mit anderen Augen auf die Welt und das Leben blicken lässt. In einem Interview erklärte die Künstlerin dazu: „Manchmal zeigen sich ganz alltägliche Dinge plötzlich in einem völlig anderen Licht. Obwohl die Erscheinung der Dinge an sich unverändert ist, berühren sie unser Innerstes plötzlich auf eine nie da gewesene Weise. Solche Momente sind die wirklich geheimnisvollen im Alltäglichen.“ Ob sie jetzt das Besondere im Alltag entdeckt oder sich mit der Daseinsweise des modernen Menschen und politischen Problemen auseinandersetzt - indem sie über bestehende Stereotypen hinausgeht und ihre ganz eigene Sichtweise der Dinge präsentiert, löst sie sanfte Schocks aus.
Eine Künstlernomadin bereist die Welt Als Haegue Yang 2003 bei der Ausstellungseröffnung anlässlich der Hermes-Korea-Kunstpreisverleihung im Seouler Artsonje Center mit einem aufgemalten Oberlippenbart erschien, um ihren Preis entgegenzunehmen, zog sie alle Blicke auf sich. Wie sich einst Marcel Duchamp mit seiner Reproduktion der Mona Lisa mit Oberlippen- und Spitzbart über altehrwürdige Traditionen und Autoritäten lustig gemacht hatte, so wagte auch Yang durch ihr aus Fleisch und Blut bestehendes Kunstwerk eine spöttische Rebellion gegen die Kunstwelt. 2006 eröffnete Haegue Yang in einem leer stehenden Haus in Incheon ihre erste Soloausstellung auf koreanischem Boden. Es war eine Ausstellung der besonderen Art, für die strenger Einzelzutritt galt, den der Besucher nur mittels einer auf der Einladung notierten Geheimnummer für die Entriegelung der Eingangstür erhielt. In einem Raum, der keinen Bewohner mehr hatte, ließen Ventilatoren, Uhren mit durcheinander geratenen Ziffern, Spiegelscherben usw. den Betrachter auf die Spuren vergangener Zeiten zurückblicken. Zwar war Haegue Yang auch immer mal wieder in Korea aktiv, ihre Hauptbühne ist jedoch das Ausland. Nach ihren Abschlüssen in Bildender Kunst an der Seoul National University und der Frankfurter Städelschule führt sie bereits seit 18 Jahren das Leben einer Nomadin und ist weltweit in Sachen Kunst unterwegs. Haegue Yang arbeitet zwar hauptsächlich in Seoul und Berlin, doch dank der sog. Artist in Residence-Programme, die Künstlern die Nutzung von Ateliers im Ausland ermöglichen, hält sie sich auch in Japan, England, Frankreich oder den Niederlanden auf, d.h. sie geht ihrer Kunst unter Einsatz aller Kräfte nach, ohne sich irgendwo bequem niederzulassen. „Kunst ist für mich kein Zeitvertreib, sondern mein ganzer Lebensinhalt. In dem Moment, in dem ich mir selber gegenüber nachsichtig werde, ist es um mich als Künstlerin geschehen. Ich arbeite jede Sekunde in dem Bewusstein dieser Bedrohung.” Diese bedingungslose, nicht zwischen Leben und Arbeit unterscheidende Hingabe an die Kunst, die einem tagtäglichen Kampf gleicht, ermöglichte Haegue Yang schließlich Ausstellungen in den größten Kunstmuseen und Galerien der Welt. Zu nennen sind die Soloausstellungen Integrity of the Insider im Walker Art Center (Minneapolis, 2009), Voice and Wind im New Museum (New York, 2010) und Arrivals im Kunsthaus Bregenz (Österreich, 2011). Für Herbst 2012 sind eine Ausstellung im britischen Tate Modern sowie eine großformatige Installation in der Haupthalle des Münchner Kunstmuseums geplant. Des Weiteren befinden sich Werke Yangs im Besitz des Guggenheim Museums und des Museum of Modern Art in New York sowie der Hamburger Kunsthalle. Die französische Kuratorin Chantal Crousel von der Galerie Crousel beschreibt den besonderen Reiz von Yangs Werken folgendermaßen: „Yang ist eine herausragende Künstlerin, die in ihrer Kunst einen philosophischen Ansatz verfolgt und durch die Verbindung von universellen und koreanischen Elementen eine neue Energie erschafft.“ Im Bewusstsein der durch den Erfolg gestiegenen Erwartungen an sie arbeitet Yang, die jeglichen „Selbst-Plagiarismus“ und Wiederholung ablehnt, hart an sich selbst und ihrer Kunst. „Wie andere mich annehmen und beurteilen, ist für mich zweitrangig. Schließlich weiß ich selbst, ob ich einen Schritt vorwärts gemacht oder nur Altes in neuem Gewande aufgelegt habe. Es ist meine Arbeit, stets eine Lösung zwischen Konsequentheit und Grenzerweiterung zu finden. Ich kann die Zügel nicht schleifen lassen.“
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Gateway
to
Korea
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Korean Culture and Information Service
Ein Kinderbuch für Jung und Alt
O kurze, która opus´ciła podwórze Hwang Sun-mi: O kurze, która opus´ciła podwórze (Leafie, A Hen into the Wild), ins Polnische übersetzt von Choi Sung-eun Kwiaty Orientu Verlag, 210 Seiten, Preis: 26,67 Złoty
Leafie, A Hen into the Wild von Hwang Sun-mi, entwickelte sich nach seinem Erscheinen im Jahr 2000 zu einem Millionenseller und ist bis heute eins der beliebtesten Kinderbücher in Südkorea. Diese Geschichte der besonderen Art, die weder eine unbeschwerte Wohlfühl-Stimmung vermittelt, noch dem Schema Gut vs. Böse folgt, diente bereits als Vorlage für einen Animationsfilm. Es geht um eine LegebatterieHenne, die tagein tagaus Eier legen muss, ohne jemals ein Ei ausbrüten
zu dürfen. Als sie schließlich von der Hühnerfarm flieht, findet sie ein herrenloses Entenei, brütet es aus und zieht das Küken wie ihr eigenes groß. Nach und nach wird aber dem Entlein bewusst, das es anders als seine Mutter aussieht, und es versucht, auf eigenen Füßen zu stehen. In einem für ein Kinderbuch eher ungewöhnlichen und schockierenden Schluss opfert sich Leafie schließlich, um eine Wieselmutter und ihre Babys zu retten. In diesem Buch kommen all die von den Koreanern als besonders wichtig erachteten Werte wie Mutterliebe, Hoffnung, Freiheit usw. zur Geltung. Hwang Sun-mi , die 1995 als Schriftstellerin debütierte, erzählt, dass
NEUERSCHEINUNG Koreanisch lernen beim Kochen
Korean Home Cooking 45 beliebte koreanische Alltagsgerichte Daewoo Securities’ Community Service Group, Seoul: Bookie Publishing Co., 164 Seiten, 12.000 Won
„Wir brauchen keine komplizierten Rezepte für raffinierte Gerichte, die auch in einem normalen koreanischen Haushalt kaum je auf den Tisch kommen.“ So die einstimmige Aussage, die wir im Planungsstadium dieses Buches bei Umfragen unter Frauen aus multiethnischen Familien zu hören bekamen. Statt dessen wünschten sich diese Frauen genauere Erklärungen von schwer verständlichen Ausdrücken wie z.B. Maßangaben oder Zubereitungsmethoden wie Jum (eine Faust),
Umkeum (eine Handvoll) oder Tteum deurigi (ziehen lassen). Korean Home Cooking stellt 45 koreanische Rezepte für Gerichte vor, die in Korea häufig auf den Tisch kommen. Das Kochbuch richtet sich an alle in Korea lebenden Ausländer wie Studenten und Geschäftsleute, vor allen Dingen aber an die ausländischen Ehepartner von Koreanern. Von grundlegenden Gerichten wie gedämpftem Reis, Beilagen, Suppen oder Eintöpfen bis hin zu besonderen Speisen für festliche Anlässe, regionalen Gerichten oder Snacks – es werden die verschiedensten Arten von Essen und deren Zubereitung vorgestellt. Dazu gibt es hilfreiche Informationen über die wichtigsten Zutaten und Küchenutensilien, Einkaufstipps, Maßeinheiten und Messmethoden oder die Kunst des Reiskochens sowie Wissenswertes über die koreani-
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sche Essskultur und Tischsitten. Seit der Millenniumswende ist die Zahl der in Korea lebenden Ausländer sowie die der internationalen Ehen und Einbürgerungen sprunghaft gestiegen. Vor diesem Hintergrund hat sich das Buch v.a. zum Ziel gesetzt, den multiethnischen Familien und ihren Kindern das Einleben in der koreanischen Gesellschaft zu erleichtern. Das Kochbuch wurde in den zehn am häufigsten in Korea gesprochenen ausländischen Sprachen veröffentlicht: Englisch, Deutsch, Französisch, Japanisch, Chinesisch, Mongolisch, Vietnamesisch, Indonesisch, Thailändisch und Philippinisch. Nachdem es eine Zeitlang kostenlos an die betreffenden Gruppen verteilt worden war, wurde es jetzt als reguläre Veröffentlichung neu herausgegeben. Um sich beim Kochen auch gleich mit der koreanischen Sprache vertrauter zu machen, gibt es parallel zum Text in der jeweiligen Fremdsprache das koreanische Pendant. Dank dieser Besonderheit kann das Buch alleine, aber auch zusammen mit dem Ehepartner der jeweils anderen Nation gelesen und angewendet werden. Dieses Buch wäre ohne die uneigennützige Zusammenarbeit der verschiedensten Organisationen und Experten nicht möglich gewesen. Zu nennen sind das Korean Food Institute der Sookmyung Frauenuniversität und der Fotograf Yeo Sang-hyun, die ihre jeweiligen Fachkenntnisse in den Herstellungsprozess einbrachten, und das Korea Support Center for Foreign Workers , das die Übersetzer vermittelte. Alle Einnahmen aus den Lizenzgebühren sollen multiethnischen Familien zugute kommen.
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ihre Kindheit von Armut geprägt war und dass sie immer bis Einbruch der Dunkelheit in der Schule blieb, um Märchen zu lesen. Durch diese Erfahrung sei sie wohl auf den Gedanken gekommen, dass Geschichten für Kinder nicht unbedingt nur eine schöne heile Welt darstellen müssen, sondern dass auch Kinder vielmehr etwas über die Schwierigkeiten des Lebens, über den Schmerz einer Trennung und sogar die Angst vor dem Tod wissen sollten. Mit dem außergewöhnlichen und tragischen Ende von Leafie zeigt die Autorin, dass sie die Realität nicht beschönigt, sondern so, wie sie ist, in die Geschichte eingearbeitet hat. Beginnend mit der japanischen Übersetzung im Jahr 2003 wird Leafi, A Hen into the Wild jetzt der Leserschaft in aller Welt vorgestellt. In Polen wurde Najlepsza ksiazka na wiosne , wie der polnische Titel von Lea-
fie lautet, zum „Besten Buch im Frühling 2012“ gewählt. Dieser Erfolg in einem Land, in dem Übersetzungen koreanischer Literatur kaum zu finden sind, unterstreicht erneut, dass Leafie universal gültige Fragen in Bezug aufs Menschsein behandelt. In den USA soll Leafie bei Penguin Classic erscheinen. Mit Blick auf die englische Version ist bemerkenswert, dass der Verlag in Anbetracht des profunden inhaltlichen Themenbewusstseins des Kinderbuches schon ab der ersten Planungsstufe ein erwachsenes Leserpublikum anvisiert hat. In Italien erschien Leafie im Verlag Bompiani. Die Verlagsrechte wurden zudem auch bereits an weitere Länder wie Frankreich, China, Vietnam, Taiwan und Thailand verkauft.
Yoon Bit-na The Reader's News Kim Sung-chul Director, Community Service Group, Daewoo Securities Ki Hey-kyung Kuratorin, National Museum of Contemporary Art
Ausstellungskataloge im digitalen Zeitalter
23 Künstler des Jahres: 1995-2010 Free NMoCA Application for iPad Users
Wenn sich der Eröffnungstag einer Kunstausstellung nähert, haben die Kuratoren nicht genügend Hände, um alle Details abschließend auszuarbeiten. Zu den Dingen, die bis zur letzten Minute die Tage und Nächte verschlingen, gehört v.a. die termingerechte Fertigstellung des Ausstellungskataloges. Von Kuratorenseite ist oft zu hören: „Das Einzige, was nach einer Ausstellung bleibt, ist der Katalog.“ Kataloge der herkömmlichen Art widmen sich für gewöhnlich statischen Exponaten wie Gemälden und Skulpturen. Mit dem zunehmenden Aufkommen von Bewegtbildern, Installationen oder PerformanceKunstwerken, bei denen auch der Aspekt der Zeit zum Tragen kommt, begann man dann nach neuen Wegen der Verewigung solcher Ausstellungsinhalte zu suchen, da die herkömmliche Erfassung der Exponate in Print-Katalogen die Besonderheiten dieser neuen Kunststile nicht einzufangen vermag. Speziell im Falle der mehrere Genres fusionierenden interdisziplinären Kunst, die sich seit den 1990er Jahren stark entwickelte, erwies es sich als unzureichend, die Werke mit nur ein, zwei Fotos vermitteln zu wollen. In Folge der medialen Entwicklung ist dann das Digital Magazin erschienen, das es mit dem Abspielen von Videoclips jetzt möglich macht, um „zeitlichen Gehalt“ bereicherte Kataloge herzustellen. Der digitale Katalog zur Ausstellung 23 Künstler des Jahres: 1995-2010, die vom 9.8.-30.10.2011 in der Stadt Gwacheon lief, ist als Pilotprojekt zu verstehen. Herausgegeben vom National Museum of Contemporary Art (NMoCA) liefert er Informationen und Hintergrundberichte über die K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 12
Ausstellung sowie Interviews mit den Künstlern. Die Ausstellung beschäftigte sich mit den Werken der 23 Künstler, die in den letzten 16 Jahren zu Künstlern des Jahres gewählt wurden, weshalb der digitale Katalog als umfangreicher Überblick über die moderne Künstler Koreas gesehen werden kann. Das unter dem Namen National Museum of Contemporary Art Digital Publishing Campaign geführte Projekt wurde im April 2012 in New York bei den Fourth Internationalist Awards for Innovation in Media, einer internationalen Auszeichung für Medieninnovationen, mit dem Silberpreis ausgezeichnet. Über das Internet kann die NMoCA-Applikation überall auf der Welt heruntergeladen und der digitale Katalog eingesehen werden. Er vermittelt das Gefühl, um das Exponat herumzugehen und es von allen Seiten zu betrachten. Dazu lassen sich durch eine Zoom-Funktion Details vergrößern und genauer in Augenschein nehmen. Ein weiteres Plus: Der Digitalkatalog ist wie ein E-book portabel und platzsparend. Doch solche Kataloge sind noch in der Anfangsphase ihrer Entwicklung, so dass es einige Probleme zu lösen gibt. Z.B. gelten anders als bei Printausgaben weitaus strengere Urheberrechte und Bildrechte und der Service ist bislang auch nur auf dem iPad möglich. Auch wird eine Internetplattform benötigt, die reibungslos Videocontents wiedergeben kann. Doch ungeachtet dessen ist das Zeitalter, in dem digitale Kataloge nichts Ungewöhnliches mehr darstellen, ein Stück näher gerückt. Nicht zuletzt dient der digitale Katalog auch dazu, den eigentlichen Zweck der NMoCA-Ausstellung, nämlich die Werke der koreanischen Künstler dem Weltpublikum näher zu bringen, auf effektvolle Weise zu unterstützen. Das NMoCA plant auch in Zukunft, jedes Jahr digitale Kataloge zu den Künstler des Jahres-Ausstellungen zu veröffentlichen.
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BLICK AUS DER FERNE
Das Land der Schnell-Lerner Christoph Neidhart Korrespondent der Süddeutschen Zeitung für Japan und Korea
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amsung Galaxy, LG Optimus, LTE und natürlich auch das iPhone, von dem 2010 in den ersten drei Monaten in Korea über ein Million Exemplare verkauft wurden: Die Koreaner gelten als „early adopter“, Menschen, die Innovationen möglichst sofort ausprobieren und haben wollen – „haben müssen“, sagen viele junge Koreaner selber. Zwar hat das Koreanische kein eigenes Wort für „early adopters“, das Deutsche übrigens auch nicht. Beide verwenden den englischen Begriff. Aber in Korea gibt es Dutzende Websites, die sich an die „early adopters“ wenden. Und der in Hangeul transkribierte Begriff taucht auf koreanischsprachigen Internet-Sites hundert mal häufiger auf als auf deutschsprachigen Websites. Wer die Bereitschaft der Koreaner, Neues anzunehmen, auf den Verkauf elektronischer Gadgets reduziert, greift allerdings zu kurz. Wie auch, wer die Erfolge koreanischer Firmen, die solche Gadgets produzieren, mit dem Wunsch der jungen Koreaner erklärt, immer das Neueste zu haben. Korea hat sich auch in Märkten durchgesetzt, in denen der Heimmarkt eine minimale Rolle spielt; und die Endverbraucher gar keine: im Schiffsbau zum Beispiel. Korea hat nicht nur in wenigen Jahrzehnten mit mehreren Industriezweigen aus dem Nichts die Weltspitze erklommen - vor 1970 gab es in Korea keine Werften und keine Elektronikindustrie -, Korea hat auch immer wieder schnell auf neue Situationen reagiert. Es hat die IMF-Krise rasch und entschlossen bewältigt und den Lehman-Schock geschickt abgefedert. Außerdem ist
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Korea das erste Land, das mit den USA und mit der EU ein Freihandelsabkommen abgeschlossen hat. Eines mit China dürfte in den nächsten zwei Jahren folgen. Damit wird Korea zu fast 80 Prozent des Weltmarktes zollfrei Zugang haben. Korea hat sich nicht nur als Verbrauchergesellschaft und als Hersteller, sondern auch wirtschaftspolitisch immer wieder als „early adopter“ bewiesen. Inzwischen hat man in Seoul auch erkannt, dass Korea, wenn sich seine Wirtschaft auf dem erreichten Niveau behaupten und weiterwachsen soll, Kapital und Talente aus dem Ausland braucht. Dafür hat man die alte Idee ökonomischer Sonderzonen wiederbelebt: Diese Städte sollen Ausländern das Leben in Korea erleichtern, vor allem auch den Umgang mit den Behörden. Bemerkenswerte Schritte hat Korea auch in der Politik gemacht. Kein anderes Land hat sich den düsteren Kapiteln seiner eigenen totalitären Vergangenheit ohne jeden Druck von außen so offen gestellt wie Korea. Seine „Wahrheitskommission“, die die Massaker von Koreanern an Koreanern und die Repression gegenüber Dissidenten aufgearbeitet hat, ist von anderen Staaten, die sich von Diktaturen in Demokratien verwandelten, Indonesien zum Beispiel, als Vorbild gesehen worden. Darauf kann Korea stolz sein. Korea ist in den letzten Jahrzehnten zu einem Land der schnell Lernenden geworden. Das hat weniger mit Bildung als mit Attitude zu tun, mit Neugierde und dem Willen, sich etwas zu erarbeiten. Ohne eine solide Bildung dürfte diese Bereitschaft, sich ständig auf Neues
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einzurichten, nicht möglich sein. Allerdings ist nicht jede Neuerung innovativ, und nicht jede neue Idee wird, wenn die Politik sie nur lange genug beschwört, zur Innovation. Das scheint man im Eifer, möglichst schnell zu sein, zuweilen zu vergessen. Kein Land ist so vernetzt wie Korea, und in keinem andern spielt das Internet eine so große Rolle. Und das schon lange. OhmyNews ist eines der innovativsten Medienprodukte überhaupt: eine Web-Zeitung, geschrieben von Bürgern, aber redigiert von Profis. Und im Chor der von großen konservativen Medienhäusern dominierten Presse Koreas eine der wenigen Gegenstimmen. OhmyNews hat 2002 geholfen, Präsident Roh Moo-hyun zum Präsidenten zu wählen. Auch damit war Korea ein Pionier: das erste Land, dessen Netizens die Wahl des Staatsoberhaupts für ihren Kandidaten entschieden haben. Das war ein Sieg der Demokratie und ein weiterer Grund zum Stolz für Korea. Koreas dichte Vernetzung hat aber auch ihre Schattenseiten wie üble Nachrede im Netz, und v.a. InternetGames. Die Games sind eine Folge der Vernetzung und verursachen, wie überall auf der Welt, soziale Probleme. In Korea jedoch wird das Online-Spielen gefördert, schließlich ist es neu und einige der wichtigsten Firmen, die solche Spiele herstellen, sind koreanisch. Es gibt Gamer-Profis, die um Meisterschaften spielen – und dazu ironischerweise im Trainingsanzug antreten. Als ob Computer-Games eine Weiterentwicklung des Sport wären. Da sitzen die jungen Männer, oft übermüdet, starren gebannt auf Bildschirme und töten mit
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den Klicks ihrer Mäuse virtuelle mittelalterliche Feinde. Das kann nicht die Zukunft sein, die die koreanische Gesellschaft als erste verwirklichen will. Internet und Computer-Gaming können vor allem süchtig machen. Korea hat eine der höchsten Raten junger Leute, die Internet-abhängig sind. Leider gehört Korea auch da zu den „early adopters“. Im August 2008 erkannte Koreas Regierung die Dringlichkeit des Umweltschutzes und die Gefahr der globalen Erwärmung. Fast über Nacht stampfte sie ein „Green-Growth“-Programm aus dem Boden. Damit war sie zwar kein „early adopter“, viele europäische Staaten versuchen schon lange eine grüne Politik, aber Korea ist zumindest ein schneller „adopter“. Gleichsam über Nacht wurde „Green Growth“ zu einem zentralen Thema der Regierung. In puncto Public Relations besteht noch Lernbedarf. So bleiben Journalisten, die über Korea berichten, manches Mal allein. Einige der ganz großen Firmen blocken Fragen der ausländischen Presse ab, manche Regierungsstellen auch. Gewiss gibt es Ausnahmen, Hyundai Motors zum Beispiel. Und wenn man als Journalist erst einmal im Büro eines Amtsinhabers sitzt, nimmt sich dieser meist mehr Zeit als vereinbart und geht auch auf diffizile Fragen ein. Korea ist das Land der Schnell-Lerner. Mehr als alles andere dürfte das zum wirtschaftlichen Erfolg Koreas beigetragen haben. Aber wie jeder schnell Lernende überschätzt auch Korea den Lernerfolg zuweilen. Korea muss weiter lernen.
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EntertAINMENT
My Partner Nur Reality-Dating-Show oder Doku? My Partner (Jjak) ist eine Reality-Show, bei der „Otto oder Ottilie Normalverbraucher“ die Frau bzw. den Mann fürs Leben suchen. Eine Woche lang sind sie auf begrenztem Raum untergebracht, können einander beschnuppern und ihre Wahl treffen. Dieser Prozess wird dann im Dokumentationsstil präsentiert.
Hwang Jin-mee Filmkritikerin
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y Partner wurde inspiriert durch die Doku-Reihe SBS-Special , in deren Rahmen I am Korean — Be My Partner lief. Die erste Folge I Also Want to Find My Partner wurde am 2. Januar 2011 ausgestrahlt. Dabei sorgte diese Neujahrssondersendung der SBS-Doku-Reihe, die normalerweise am Wochenende zu später Stunde ausgestrahlt wird und sich hauptsächlich mit kulturellen Themen befasst, aufgrund ihres äußerst experimentellen Charakters für einige Furore. Es wurde beobachtet, wie jeweils zwölf ledige Frauen und Männer, die man an einem abgeschiedenen Ort zusammengebracht hatte, beim Lösen einfacher Aufgaben oder in der gemeinsam verbrachten Freizeit interagierten, um einen Partner zu finden. Trotz einer gewissen Anzüglichkeit, die dem Konzept an sich, i.e. dem Verfolgen der Partnersuche mit dem Kameraauge, innewohnt, hinterließ die bewusst nüchtern und intellektuell klingende Stimme aus dem Off beim Zuschauer eher das Gefühl, eine anthropologische Studie zu verfolgen. Es schien, als ob hier nach dem Muster der BBC-Serie Wunderbare Welt der Tiere der Versuch unternommen würde, genau zu ergründen, wie Homo sapiens – genauer Männlein und Weiblein des koreanischen Homo sapiens – Interesse aneinander entwickeln und zu einem Paar werden.
Eine Woche im „Dorf der Liebe“ Zwei Monate später war aus dem Doku-Projekt ein reguläres Programm mit dem Titel My Partner geworden. Für die erste Sendung am 23. März wurde das ursprüngliche Format weitgehend beibehalten: Zwölf Männer und Frauen im Verhältnis 7:5 oder 6:6 ziehen in das sogenannte „Dorf der Liebe“, wo ihr Leben eine Woche lang gefilmt und ihre Gedanken zwischendurch immer wieder durch Interviews festgehalten werden. Das Gesamtmaterial wird nach der Edition dann in zwei bis vier Folgen à 65 Minuten ausgestrahlt. Im Dorf der Liebe gelten 12 Regeln: Regel Nr. 1 macht klar, dass alle Aktivitäten dem Ziel dienen, einen Partner fürs Leben zu finden. Die Teilnehmer tragen Einheitskleidung mit Nummern auf dem Rücken und werden entsprechend nicht mit ihrem Namen bezeichnet, sondern als „Mann Nr. 1“ oder „Frau Nr. 2“. Am ersten Tag „beschnuppern“ sie sich ausschließlich auf Basis des ersten
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Eindrucks. Am Folgetag werden im Rahmen einer Selbstvorstellung Grundinformationen zur Person wie etwa der Beruf bekannt gegeben. In die am ersten Tag verspürte Anziehungskraft und das etwaige Interesse an einem/einer der Teilnehmer/innen mischen sich jetzt Faktoren wie sozioökonomisches Potential. Die Produzenten schaffen einige Gelegenheiten zur trauten Zweisamkeit und beobachten die weitere Entwicklung der Gefühle. Wie es oft so geht, fällt die Liebe hin, wo sie will, und verteilt sich nicht eins zu eins. So kommt es vor, dass gleich mehrere Männer um das Herz einer Frau buhlen oder auch umgekehrt. Es passiert auch, dass ein oder eine von niemandem Auserkorener oder Auserkorene mit gekränktem Stolz an die Seitenlinie gedrückt wird. Die Teilnehmer/innen geben ihr Bestes, sich von ihrer Schokoladenseite zu zeigen, potentielle Partner/innen auszukundschaften und zu einem aktiven Liebeswerben überzugehen. Dabei ändern sich die Paarkonstellationen im Laufe der Woche auch schon mal öfters. Ist man nicht sicher, ob das Gegenüber wirklich ernsthaft an einem interessiert ist, versucht man die Lage nach dem „Pushand-pull-Prinzip“ zu klären. Es kann auch sein, dass jemand von Anfang an kein Glück mit dem jeweils anderen Geschlecht hat und bei niemandem Interesse erweckt, oder dass jemand nach einem eigentlich vielversprechenden Start dann doch leer ausgeht, weil er seine Aufmerksamkeit mal hierhin und mal dahin richtet, anstatt sich auf eine Person zu konzentrieren. Das ständige Zusammenleben kann auch unter den Geschlechtsgenossen bzw. -genossinnen zu regelrechten Psychokämpfen führen. So konkurrieren schon mal einige Männer bis zum Schluss um ein und dieselbe Frau, manchmal kommt es auch zu Verhandlungen oder geheimen Absprachen. Natürlich gibt es auch oft den
Fall, dass Teilnehmer, von denen jeder angenommen hatte, dass sie zusammenkommen, letztendlich dann doch kein Paar werden, oder eine Liebe erst nach Abschalten der Kamera zu blühen beginnt.
Reality-Dating-Programme in Korea Auch früher gab es schon viele Sendungsformate, in denen sich alles um das Arrangieren von Stelldicheins für junge Frauen und Männer drehte. Als Beispiel kann hier die 1994 erstmals ausgestrahlte Sendung Studio der Liebe angeführt werden, bei der sich ledige Männer und Frauen durch simple Fragen und Antworten sowie Spiele näher kennen lernen und den Partner fürs Leben finden konnten. Die damals unter koreanischen Studenten verbreitete Kultur der arrangierten Treffen, „Meeting“ genannt, wurde damit einfach in ein Fernsehstudio verlagert. Im Rückblick mutet es seltsam an, dass man dachte, dass sich auf diese schlichte Art und Weise Paare finden können. Die Gesellschaft in Korea ist heute weitaus offener als zu jener Zeit, und unter jungen Frauen und Männern sind „Sogaeting“, Treffen für ein informelles Vorstellen (sogae), normalerweise durch Freunde, oder „Booking“, das BlindDate in Clubs oder Bars, zur Normalität geworden. Daher gibt es heute kaum mehr Teilnehmer oder Zuschauer, die allen Ernstes glauben, dass ein, zwei Stunden Plauderei im TV-Studio wirklich zu Partnerschaften führen. Vor diesem Hintergrund kam My Partner auf, eine Sendung von tiefer durchdachtem und thematisch fokussierterem Format. Liebe nach dem „Kamera-Aus“ My Partner wird nicht etwa nur von jungen Singles auf Partnersuche mit Interesse verfolgt. Die Zuschauer bekommen in drei, vier Folgen eine komprimierte Form dessen zu sehen, was in unzähligen Liebesgeschichten der Literatur oder TV-Serien behandelt wurde. Das Programm zeigt dabei typische Muster menschlichen Liebeswerbens auf und regt zu Vergleichen mit eigenen Präferenzen und Erfahrungen in puncto Partnerfindung an, aus denen sich Lehren ziehen lassen. Und genau das ist der Grund, warum die Sendung, obwohl sie gänzlich ohne Stars auskommt und einen späten Sendeplatz unter der Woche belegt, für so viel Furore sorgt. Nach jeder Ausstrahlung schießen in den Internet-Portalen die Suchwörter mit Bezug zu den jeweiligen Teilnehmern auf die
obersten Plätze. Der Hype, der um diese Protagonisten gemacht wird, macht vor nichts Halt: So machen im Internet die Vergangenheit oder private Informationen über die Teilnehmer die Runde oder es ist zu lesen, dass der eine oder die andere ja wohl nicht zwecks Partnersuche bei der Sendung mitgemacht hätte, sondern sie als Sprungbrett in die Welt des Entertainments oder zu eigennützigen Promotionszwecken missbraucht habe. In einem Zeitalter, in dem kommerzielle Ehevermittlungsinstitute mit ihren Versprechen, durch alle Variablen abgleichende Systeme für jeden Kunden einen kompatiblen Partner zu finden, Hochkonjunktur haben, trifft es bei manch einem auf Unverständnis, warum man sein Gesicht im öffentlichen Fernsehen zeigen und auch noch seine privatesten Gefühle preisgeben muss. Es erheben sich auch beißende Stimmen, nach denen es auf Zuschauerseite eine Form von Voyeurismus sei, voller Interesse wildfremden Menschen bei ihrem Liebeswerben zuzuschauen. Doch auch in der heutigen Zeit der freien Partnersuche in Korea gibt es noch viele, die verzweifelt über ihr Singletum sind. Aufgrund des Trends zum späten Heiraten und der Qual der Wahl unter vielen verschiedenen Individuen empfindet es manch einer trotz der Hilfe eines Heiratsvermittlers schwer, den Richtigen oder die Richtige zu finden. Daher erscheint diesen Personen ein Rahmen, der ihnen ein fruchtbares Umfeld zur Partnerfindung bietet, nützlich. Und je verzweifelter die Teilnehmer im Fernsehen ihr Innerstes entblößen, desto gebannter sind die Zuschauer. Der Wert der Sendung offenbart sich immer dann besonders, wenn die Teilnehmer um die Vierzig sind, noch nie eine Partnerbeziehung hatten oder ein zweites Mal heiraten möchten. Bisher waren über 300 Frauen und Männer im Dorf der Liebe. Vor einiger Zeit gab es das erste Paar, das tatsächlich geheiratet hat und jetzt ein Kind erwartet. Beide hatten an einer Sendung speziell für Geschiedene teilgenommen, in der sie sich aber jeweils für einen anderen Partner entschieden hatten. Diese Beziehungen gingen jedoch anschließend in die Brüche. Bei einem Treffen ehemaliger Show-Teilnehmer kam man sich dann aber näher und die Liebe nahm ihren Lauf. Ein gutes Beispiel dafür, dass das Leben und Lieben auch abseits von den Fragmenten des Seins, die die Kamera für den Bildschirm festhält, weitergehen und einiges an Überraschungen bereithalten.
Lifestyle
Erholungswälder für den gestressten Städter Die ersten Nationalen Erholungswälder öffneten ihre Tore 1988 in Daegwallyeong und im Gebirge Yumyeong-san. Heute hat sich ihre Zahl auf landesweit 36 erhöht und auch die Besucherzahl, die in den Anfängen über 50.000 pro Jahr nicht hinauskam, verzeichnete bis 2011 mit 2,86 Millionen einen Anstieg um das 25-Fache.
Ryu Jeong-yul Reiseschriftsteller
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s muss nur Wochenende werden und schon macht sich die in jüngster Zeit campingbegeisterte Son Jeong-a, die unter der Woche als Managerin in mittlerer Position an die Stadt gebunden ist, in den nächsten Erholungswald auf, um dort ihr Zelt aufzuschlagen. Im Wald gibt sie sich, eingelullt von sanften Brisen, einem Mittagsschläfchen hin oder gönnt sich, während sie gemächlich in einem Buch schmökert, eine Tasse Tee: Auszeit pur nur für sich.
Wald und Wellness Ryu Tae-hyeong, den der Beruf ebenfalls an die Stadt fesselt, liebte schon als Kind den Aufenthalt in der freien Natur und streifte mit geschultertem Rucksack durch Berge und Täler. Auch jetzt, wo er
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verheiratet ist, versucht er, so oft es geht, mit Frau und Kind in die Wälder zu fahren. Er ist der festen Überzeugung, dass es für sein Kind schon eine lehrreiche Erfahrung ist, die im Wald anzutreffenden Lebewesen wie die nur im saubersten Süßwasser vorkom© RESOMFOREST menden Flusskrebse und die endemischen Salamander zu beobachten oder Taglilien, Sibirische Chrysanthemen oder Chinesische Nelken zu betrachten. Ryu wandert barfuß mit seinem Kind über die Waldwege und versucht Bäume zu umschlingen, um deren gewaltige Stämme seine beiden Arme nicht herumreichen. Der zweifach mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete Biologe und Harvard-Professor Edward O. Wilson erklärte 1984 in seiner Hypothese der Biophilie (wörtl.: Liebe zum Leben), dass der Mensch Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t
© RESOMFOREST
Ein meditatives „Grünes Bad“ im Resom Forest, einem privat betriebenem Resort in der Nähe des Passes Bakdaljae in Jecheon, Provinz Chungcheongbuk-do.
aufgrund seiner genetischen Disposition einen Urinstinkt besitze, der ihn hinaus in Wald und Natur ziehe. Allein den Geräuschen des Waldes zu lauschen, ihn mit allen Sinnen zu ertasten und zu erfühlen, genüge schon für Körper und Geist, um Stress abzubauen und seelisch zur Ruhe zu kommen. Die Nationale Erholungswälderverwaltung propagandiert entsprechend die heilsame Wirkung von Wäldern und bietet - abgestimmt auf die regionalen Besonderheiten der verschiedenen Erholungswälder - Wellnessprogramme an.
Preiswerte Unterkünfte Vor einiger Zeit habe auch ich mich für meine ganz persönliche energisierende Begegnung mit dem Wald aufgemacht, und zwar nach Uljin. Die Nacht wollte ich im Erholungswald des Gebirges Tonggo-san (Tonggosan Mountain Recreational Forest) verbringen. Von Seoul bis Uljin sind es ungefähr 350 km und so nahm ich die Fernverkehrsstraße 36 in Richtung Buryeong-Tal, die quer durch die Gebirgskette Nakdong-Jeongmaek führt. Die Straße in die Berge wurde vor über zehn Jahren befestigt. Diese Gegend war lange Zeit eine nur schwer von außen zugängliche Wildnis. Tief im Inneren des Landes gelegen, hatten nur selten Menschen einen Fuß hierhin gesetzt, so dass die Natur so gut wie unberührt erhalten war. Der perfekte Ort also, um mich in der Stille der Berge zu K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 12
vergraben und mir Zeit nur für mich selbst zu nehmen. Der Tag im Gebirge Tonggo-san begann mit Vogelgezwitscher. Nach einem leichten Frühstück machte ich mich zu einem Spaziergang auf. Die beste Zeit dafür ist gegen Sonnenaufgang oder am Vormittag, denn zu dieser Zeit wird im Wald die höchste Menge an Phytonziden generiert, biologische Wirkstoffe, die von den Pflanzen als Schutz vor Krankheitserregern und Schädlingen an Wasser, Luft und Boden abgegeben werden. Sie reinigen zudem die Luft und wirken wohltuend auf Körper und Geist. Und tatsächlich drang der intensive Duft des Waldes in jede Ecke meiner Brust. Selbst die kleinen Gräser und Blumen, denen ich vorher keine Beachtung geschenkt hatte, fielen mir plötzlich ins Auge. Dann näherte ich mich einem Gebirgsfluss, der sich an der Seite eines schmalen Pfades entlangschlängelte, zog die Schuhe aus, krempelte die Hose hoch und steckte die Füße ins kühlende Nass. Alle Verhärtungen in meinem Inneren schienen sich sanft aufzulösen und davonzuschwimmen. Die Nationalen Erholungswälder in Südkorea weisen eine Reihe von Vorteilen auf, zu denen v.a. gemütliche Übernachtungsmöglichkeiten zu vergleichsweise günstigen Preisen zählen. Zur Grundausstattung gehören dabei Blockhütten und Campingplätze. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Anlagen, die den Wald facettenreich und hautnah erleben lassen: Rasenplätze für Entspannung
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lungswald des Gebirges Cheongtae-san (Cheongtaesan Mountain Natural Recreation Forest), der ein Erlebnis der besonderen Art ist. Die Landschaft dort ist von einer solchen Schönheit, dass Yi Seonggye, der Gründer des Joseon-Reiches (1392-1910), sie höchstpersönlich mit dem kalligraphischen Schriftzug „Cheongtae san“ würdigte. Dieses staatlich verwaltete Vorzeige-Waldgebiet weist eine ausgewogene Mischung aus neu angepflanztem Kulturwald und noch urwüchsigem Waldbestand auf. Das dichte Koreakieferwäldchen ist wegen seiner einladenden „grünen Dusche“ besonders beliebt. Des Weiteren können Besucher je nach Konstitution und Geschmack zwischen sechs verschiede1 nen Trekking- und Well Being-Waldwegen wählen. Jedes Jahr im September wird hier zudem ein Hanu-Festival (Hanu: Koreanisches Zuchtrind) veranstaltet, bei dem Menüs mit hochwertigem Hanu-Rindfleisch, eine Spezialität des Kreises Hoengseong, Touristen aus allen Teilen des Landes anlocken. Der Daegwallyeong-Erholungswald (Daegwallyeong Natural Recreation Forest) bei Gang Wer die Stempel aller 36 Erholungswälder des Landes sammelt und vorlegt, neung mit seinen weitläufigen erhält eine Ehrenmitgliedschaft, die zwei Jahre lang freien Eintritt in alle Beständen an Ahorn und Kieferbäumen war der erste staatlich Nationalen Erholungswälder ermöglicht. Am 30. Mai 2012 wurde diese verwaltete Erholungswald und wurde vom koreanischen OberEhrenmitgliedschaft zum ersten Mal verliehen. forstverwaltungsamt (Korea Forest Service) zu einem der drei schönsten Wälder des Landes gewählt. Der besonderen Beliebtdet sich der Deokgu-Spa mit der landesweit einzigen heißen Quelle heit von Familien erfreut sich hier v.a. das gut ausgestattete Natuvulkanischen Ursprungs. rerlebniszentrum. Mitten im Wald gibt es einen Brennofen, bei dem sich der Besucher eigenhändig im traditionellen Brennen von Erholung im goldenen Herbst Kohle aus Eichenholz versuchen kann. Zu empfehlen sind auch die Für den Herbst lassen sich einige Erholungswälder besonders für seit alter Zeit bestehenden Seonjaryeong- und Daegwallyeong-Pfaeinen Besuch empfehlen. Allen voran sei der Erholungswald im de, die sich hervorragend zum Wandern eignen und eine abwechsGebirge Bangtae-san (Bangtaesan Mountain Natural Recreation lungsreiche Landschaft zu bieten haben. Forest) genannt, der im Landkreis Inje in der Provinz Gangwon-do liegt. Diese Gebirgsgegend beherbergt einen der schönsten noch urwüchsigen Wälder des Landes, dessen Herbstlaubfärbung von Rechtzeitige Reservierung angesagt atemberaubender Pracht ist. Im Sommer warten auf all diejenigen, Die Nationale Erholungswälderverwaltung hat neuerdings ein die der Hitze entfliehen möchten, die erfrischenden, zweistufigen „Erholungstour-Stempel“-Programm ins Leben gerufen, bei dem Wasserfälle der Bergflüsse, deren man sich auf den flachen Felsen der Besucher für seine Erholungswald-Aufenthalte Stempel samam Ufer erfreuen kann. Und auch die Freunde des Wassersports meln kann und je nach Stempelanzahl mit besonderen Vergünskommen nicht zu kurz, denn am Fluss Naerin-cheon herrschen bis tigungen belohnt wird. Wer die Stempel aller 36 Erholungswälder in den September hinein perfekte Bedingungen fürs Rafting. vorlegt, erhält eine Ehrenmitgliedschaft, die zwei Jahre lang freien Im Landkreis Hoengseong, Provinz Gangwon-do, liegt der ErhoEintritt in alle nationalen Erholungswälder ermöglicht. Am 30. Mai und Spiel, Walderlebnisplätze, Waldschule, Holzschnitzen und Basteln mit Waldprodukten usw. Die koreanischen Erholungswälder bieten allesamt herrliche Landschaften mit einzigartiger Natur und liegen in den höchsten und majestätischsten Gebirgen des Landes. Der Wald des Tonggosan-Erholungsgebietes besteht überwiegend aus Japanischen Rotkiefern, die als Königin unter den Kiefern gelten, und diversen Sorten von Laubbäumen. Der Anblick des kristallklaren Wassers der Gebirgsflüsse, das sich an den Granitfelsen bricht, erinnert an die Schönheit alter Tuschemalereien. Die Wege laden zum Wandern und Naturbeobachten ein, oder einfach zu gemütlichen Spaziergängen. Nach der Erholung im Wald kann man sich den Freuden eines Bades im Meer oder in einer der heißen Quellen in der Nähe hingeben. Folgt man aus dem Tonggosan-Erholungswald dem Fluss Wangpi-cheon, einem Nebenfluss des Flusses durch das Buryeong-Tal, gelangt man zum Mangyangjeong-Strand. Nicht weit davon entfernt befin-
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Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t
On the shooting platform, people stand in order from the eldest to youngest, and the oldest shoots first, a courtesy in Korean traditional archery.
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2012 wurde Ha Yeong-ju aus Busan als erstes Ehrenmitglied ausgezeichnet. Nachdem Herr Ha im September 2011 in den Ruhestand gegangen war, hatte er damit begonnen, zusammen mit seiner Frau die Erholungswälder aufzusuchen. Aufgrund der gestiegenen Beliebtheit der Erholungswälder kann es zu bestimmten Zeiten schwierig sein, eine Unterkunft zu reservieren. Die Erholungswälder des Landes verfügen zusammen über rund 300 Unterkunfteinheiten mit ca. 750 Gästezimmern, die je nach Größe für 2 bis 18 Personen gedacht sind, so dass hochgerechnet etwa 4.300 Übernachtungsgäste pro Tag untergebracht werden können. Dennoch übersteigt die Nachfrage das Angebot, weshalb Reservierungen ausschließlich übers Internet entgegengenommen werden. In der Hochsaison im Sommer gibt es zwischen dem 14. Juli und 25. August so viele Bewerber, dass per Losverfahren entschieden werden muss. Den Rest des Jahres über kann jeden Mittwoch sechs Wochen im Voraus gebucht werden. Um zu gewährleisten, dass möglichst viele die Erholungswälder genießen können, ist jede Reservierung auf drei Übernachtungen begrenzt. Als Shin Dong-hun im letzten Sommer mit der Organisation eines Team-Workshops seiner Firma betraut wurde, wollte er zuerst wie bis dahin üblich eine privat betriebene Pension im Grünen mieten, aber dann entschloss er sich für einen Erholungswald. Da es sich um eine arbeitsbezogene Veranstaltung handelte, konnte er für K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 12
1. Der Fluss durchs Buryeong-Tal in der Nähe des Erholungswaldes im Gebirge Tonggo-san im Kreis Uljin, Provinz Gyeongsangbuk-do. 2. Kinder kommen den Bäumen im wahrsten Sinne des Wortes nahe im Erholungswald des Gebirges Unak-san im Kreis Gapyeong, Provinz Gyeonggi-do.
einen Wochentag reservieren, was einfacher war. Shin stellt fest: „Die Luft dort war so rein und klar, dass uns trotz feucht-fröhlicher Runde am Abend der Alkohol kaum in den Kopf gestiegen ist. Am Morgen gab es nichts Schöneres, als sich in aller Ruhe die Beine zu vertreten. Und beim Grillen am Abend kam es zu tieferen Gesprächen, wie sie sich am Arbeitsplatz sonst nicht ergeben.“ Ob jung oder alt, der Wald bietet körperliche und geistige Entspannung für alle. Wenn man im Wald gemeinsam über die Namen der Bäume rätselt, können sich die schönsten Gespräche entfalten, die die Familienbande stärken und zu unvergesslichen Erinnerungen werden. Geistige und emotionale Verbundenheit im Herzen der Natur: Ist nicht gerade das das größte Geschenk der Erholungswälder an den modernen Menschen von heute? „In der Natur lassen sich ganz leicht Gespräche führen, die zu Hause undenkbar wären“, sagt Herr Kim Chang-gyu, der in Sanbon in der Stadt Gunpo, Provinz Gyeonggi-do, lebt. Er fügt hinzu: „Der größte Reiz des Besuchs eines Erholungswaldes liegt wohl darin, dass man sich in entspannender Umgebung mit seiner Familie über alles Mögliche unterhalten kann und mit Menschen, die man liebt, die Natur und die frische Luft genießt.“
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REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR
Rezension
Ein Bäckersohn aus einer Landkleinstadt, der Schriftsteller wurde Uh Soo-woong Journalist für Kunst und Kultur, Tageszeitung The Chosun Ilbo
„M „
ir kommen die Bilder des Städtchens Gimcheon, in dem wir gelebt haben, oft in den Sinn. Die Zeit damals erscheint mir perfekt. Du erinnerst dich doch an das Nanking-Restaurant, in dem ein Foto von Chiang Kai-shek und ein Kalender mit den Landschaftsbildern von Taiwan hingen? Auch heute können wir uns noch an alles von damals erinnern. Wir kennen die Geschichte der Läden in den Straßen von Gimcheon in- und auswendig. Natürlich gab es damals auch Gewalt, Rumgefluche und den Kampf ums nackte Überleben. Aber die Menschen damals hatten die Grundeinstellung, wenigstens nie in der Schuld von jemand anderem stehen zu wollen. Sie haben nicht wie heute gedacht, dass der Ruin eines anderen der Trittstein für den eigenen Erfolg sein muss. Die Menschen von damals erscheinen mir viel eher als Wesen, die wirklich leben. Da die Zeit sich unendlich drehenden Fahrradpedalen gleicht, werden mir heute auch diese Erinnerungen fremd wie hohle Insektenschalen, aber es ist nur diese Zeit, die mir perfekt vorkommt.“ Das sagte Kim Yeon-su, einer der repräsentativen Autoren der modernen Literatur Koreas, zu Mun Tae-jun, einem Dichterfreund aus seiner Heimatstadt. Bei Die New York Bakery denke ich zwangsläufig an zwei Aspekte: Das eine ist das feine Gespür für die Generation, die in den 1970er Jahren geboren wurde. Das andere ist die lokale Besonderheit der Kleinstadt Gimcheon in der Provinz Gyeongsanbuk-do, die einer „Insel im Landesinneren“ gleicht. Diese beiden Aspekte unterscheiden und überlagern sich kurioserweise gleichzeitig. Hier finden sich die Wurzeln des literarischen Schaffens von Kim Yeon-su. „New York Bakery“ ist der Name einer Bäckerei, die einst wirklich an einer Seite des Bahnhofsplatzes von Gimcheon existierte. Sie wurde von Kims Eltern betrieben. Dem Dichter Mun Tae-jun zufolge kümmerte sich Kim Yeon-su in seiner Jugendzeit nach Schulschluss um das Geschäft und las dabei die Gedichte von Rimbaud oder Hwang Ji-u oder abonnierte Literaturzeitschriften. Dazu gibt es folgende Anekdote: Draußen schneite es und Kim saß in der Bäckererei am Brikettofen und las Gedichte. Da kam ein alter buddhistischer Mönch herein und fragte: „Was lesen Sie da, junger
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Mann?“ Kim antwortete: „Gedichte von Rimbaud.“ Darauf ermunterte ihn der Mönch: „Junger Mann, lesen Sie nur zehn Jahre so fleißig weiter. Es wird sich Großes daraus ergeben.“ Als Kim das hörte, dachte er: „Gut! Zehn Jahre, nicht weniger und nicht mehr werde ich darauf verwenden. Wird sich dann nicht etwas für mich ergeben?“ Ich habe einige Fotos aus Kims Kindheit gesehen. Auf einem ist er auf einem Dreirad zu sehen, im Hintergrund das Schild „New York Bakery“. Die Aufnahme wurde also genau vor der Bäckerei gemacht. Der kleine Junge hat ein sonniges Lachen auf dem Gesicht. Die Sonnenblende ist heruntergelassen, um die Sonne auszusperren, und auf dem Fenster klebt ein Papier, auf dem im Schreibstil der 1970er Jahre zu lesen ist „Feine Kuchen” und „Heiße Schokolade”. Als Kim klein war, zählte jeder Pfenning, weshalb seine Mutter auch Sparsamkeit walten lassen musste, wenn es darum ging, ihrem Sohn Kuchen zu geben. Von „richtigem Kuchen“ konnte der kleine Kim nur träumen, er musste sich mit den „Kirepashi“, den Resten, die beim Proportionieren und Verpacken von Biskuitkuchen anfielen, begnügen. Abgeschnittene Reste. Nicht formschön genug zum Verkaufen, aber zu gut zum Wegwerfen. Der Autor sagt: „Ich bin zwar nie Adzukibohnenmus-Teilchen, Buttercremeteilchen, Streuselteilchen, Chapssaltteok-Klebreiskuchen, Krapfen und Milchtoastbrot überdrüssig geworden, aber diese Kirepashi konnte ich irgendwann nicht mehr sehen.“ Die Kirepashi landeten kurz vor dem Verderben beim Haushündchen, aber selbst das Hündchen würdigte sie schon bald keines Blickes mehr: „So ist nun mal das Leben: Überfluss erzeugt Überdruss.“ Um etwas Persönliches zu sagen: Kim Yeon-su und ich sind im gleichen Alter. Gleiches Alter bedeutet das Teilen von Erfahrungen und Erinnerungen ein und derselben Generation. Die Koreaner, die wie wir in den 1970er Jahren geboren wurden und in den 1980er Jahren heranwuchsen, hatten noch keinen Begriff von „unterschiedlichem Geschmack“, sie genossen und konsumierten alle die gängige Populärkultur. Zu Beginn der Grundschulzeit erlebten wir erstmals Farbfernsehen. Als Jugendliche waren wir Feuer und Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t
© Paik Da-huim
Kim Yeon-su Die Jury für den Dongin Literaturpreis 2003 begründete die Auszeichnung des Erzählbandes Als ich noch ein Kind war von Kim Yeon-su (geb. 1970) wie folgt: „Der Autor hat eine seltene Methode erschlossen, die jüngste Zeitgeschichte Koreas wiederaufleben zu lassen, indem er einen Stein auf den See seiner persönlichen Erfahrungen wirft, der dann konzentrische Kräuselwellen erzeugt.“
Die New York Bakery ist eine autobiographische Erzählung aus diesem Band. K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 12
Flamme für die Kämpfe des Profi-Ringers Kim Il und den Animationsfilm Die fünf Adlerbrüder. Als Mittel- und Oberschüler erhielten wir unsere Taufe in der Popmusik. Dank der gemeinsamen Erfahrungen in der Kindheit und Jugend identifiziere ich mich auf eine natürliche Weise mit den Bildern des Mangels und des kleinen Luxus, für den die Kirepashi stehen, auch wenn ich Kirepashi nie bis zum Überdruss essen konnte. Kim Yeon-su debütierte im Jahr 1993. Zuerst schrieb er Gedichte. Aber bereits ein Jahr später veröffentlichte er seinen ersten Roman Auf die Maske zeigend laufen . Nimmt man das Jahr des Erscheinens seines Gedichtbandes als Debütjahr, dann ist Kim bereits 20 Jahre schriftstellerisch aktiv. Während dieser Zeit hat er zwar ein breites Spektrum unterschiedlicher Werke geschaffen, aber das, was sein Schreiben wesentlich definiert, ist Folgendes: „Kim hat seinen Fokus auf die typische Erfahrungswelt und die besondere Situation der Menschen, die in den 1970er Jahren geboren wurden, gelegt, hat aber gleichzeitig die Momente der heiklen und schmerzhaften Selbsterkenntnis der Individuen, die im ‚Zeitalter des Verlustes‘ leben, mit einem ausgeprägten Gespür in geschliffenen Sätzen erfasst.“ Die New York Bakery ist eine autobiographische Erzählung, in der Erinnerungen und Kontemplationen ineinander übergehen, eine Erzählung, die den geistigen Ursprung des Autors offenbart. Wie es im ersten Satz heißt, hat er diese Erzählung mit dem Bleistift geschrieben. Er hat wohl gedacht, dass eine stärker „hand-werkliche“ Herangehensweise nötig sei, weil es in dieser Erzählung quasi sein ungeschminktes Gesicht zeigt. Kim sagte einmal, einen Zeitungsartikel zitierend: „Der vierjährige Sohn freute sich beim Spiel am Smart Phone, als ‚Fail‘ angezeigt wurde. Als der Vater ihn fragte, ob er denn wisse, was ‚Fail‘ bedeute, antwortete der Sohn: ‚Misslingen‘. Auf die Nachfrage, was denn ‚Misslingen‘ bedeute, kam die Antwort: ‚Neu starten‘.“ Für jeden dürfte der Reiz von Kims Erzählungen in einem anderen Aspekt liegen. Aus meiner Sicht lässt er sich so beschreiben: Nach der Lektüre seiner Erzählung werden „Misslingen“ und „Neu starten“ zu Synonymen. Das ist Grund zur Freude und Grund zur Dankbarkeit.
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IMpressionen
U
nter der blendenden Sommersonne reift der Weizen golden heran. Der Pfad, der zwischen den sich endlos erstreckenden Weizenfeldern verläuft, verschwindet in der Ferne. Am Rande der Weizenfelder lässt Klatschmohn sein rotes Blut tropfen, das schon bald in den sengenden Sonnenstrahlen verblasst. Mit jeder der langen Furchen erstreckt sich der Lavendel in einem immer tiefer werdenden Violett über den Hügel. Ein Bauernhaus liegt eingehüllt im Schatten der hohen Bäume, die es umgeben. Ein kleiner Dorfplatz am Ende des Weges. Kühles Wasser ergießt sich aus einem Springbrunnen, Leute sitzen um einen Tisch herum, trinken Pfefferminzwasser, schauen den vorbeiziehenden Wolken nach. Alte Platanen, die die Straße entlang den Himmel verdecken, werfen ihre tiefen Blattschatten auf den Boden. Wenn ich unter den Bäumen vorbeigehe, tanzen die Schatten schwach auf meinem Körper. Nachdem ich vorbeigegangen bin, ruhen die löchrigen Blätterschatten wieder auf der Straße. So streifte ich lange Zeit im gut gereiften Sommer eines fremden Landes herum. Während ich den Weg entlang wanderte, betrachtete ich – manchmal von der Seite, manchmal von unten – die Blumen, die Weizenfelder, die hohen Bäume, den Springbrunnen und die Bauernhäuser. Ich war neben ihnen, ich war unter ihnen. Ich war Teil der Landschaft geworden. Als ich in mein Land zurückkehrte, war es schon Herbst. Eine Luftaufnahme „Das Land vom Himmel aus betrachtet“. Nackte Felder ohne jeden Schatten. Die Blumen verwelkt, die Blätter herabgefallen. Die Vögel und die Menschen waren weg. Die Felder, bar jeglichen Schmucks, bleiben als nackte Abstraktionen allein zurück. An einem Herbsttag im All taten sich am Nachmittag, als das Licht der Sterne noch nicht angekommen war, die abgeernteten Felder, die an das geflochtene Haar eines schwarzen Mädchens erinnerten, unter den Augen des Himmels auf. Es war eine Landschaft, die ich zum ersten Mal sah: ein Blick von jener Welt auf diese Welt. Das könnte doch so fremd nicht wirken, es sei denn, es ist die Rückseite der Landschaft. Nicht einmal das über mein Land wissend, war ich durch den Sommer der Welt gebummelt. Wieder zu Hause, entdeckte ich dann plötzlich mich selbst, der außerhalb der Landschaft stand. Jetzt blicke ich mit den Augen einer verbannten Seele weit auf die Felder hinaus, als sähe ich die Rückseite eines abreisenden Körpers. So kam der Herbst in dieses Land.
Herbst: die Rückseite der Landschaft von außen betrachten Kim Hwa-young Literaturkritiker, Mitglied der Korean National Academy of Arts Fotos: Choi Jae-young