KOREANA - Summer 2012 (German)

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SOMMER 2012

Koreanische Kultur und Kunst sum m er 2012 SOMMER

Spezial vo 26anngo7. ,2 N r. 2 J ahl.rg

DER Hallyeo-Wasserweg Das Meer und seine traumhafte Inselwelt Tongyeong: Kunst-Mekka an der K端ste

Der Hallyeo-Wasserweg Jahrgang 7, Nr. 2

ISSN 1975-0617


IMpressionen

„Der blaue Himmel meiner Heimat / weit jenseits der blauen Berge. / Auf ihn schaue ich nur, / wenn mich die Sehnsucht erfasst.“ Bis Mitte des 20. Jahrhunderts sangen die Kinder in Korea dieses Lied. Im Herzen der Koreaner, deren Land zu 70% aus gebirgigem Gelände besteht, wird die Landschaft ihres Heimatortes am Horizont stets von Bergen eingerahmt. Die Berge waren immer „pureun (blau, grün)“. Die Farbe, die das koreanische Verb der Beschreibung „pureu-da (blau-sein, grün-sein)“ meint, kann je nach Distanz eine andere sein. Aus der Nähe betrachtet sind die von Wald bedeckten koreanischen Berge „pureun-grün“. Aus der Ferne betrachtet wirken sie „pureun-blau“. Für die Koreaner, die in ihrem Alltag die Berge mit je nach Distanz variierenden Farben sahen, war ihr Heimatort nicht sichtbar, da er jenseits der blauen Berge in der Ferne lag. Blau ist daher die Farbe von weit entfernten Orten. Der Heimatort jenseits der blauen Berge ist eine ursprüngliche Welt, in die man stets zurückkehren möchte. Daher malten koreanische Kinder auch immer dasselbe Landschaftsmotiv: Blaue Berge im Hintergrund, strohgedeckte Häuser am Fuß der Berge und sich zu den Häusern windende weiße Pfade. Zwischen den Häusern stehen alte Bäume und grüne Gemüsebeete säumen den Pfad. Im Zuge der Industrialisierung und Globalisierung verließen die Menschen jedoch ihre Heimatorte und begannen auf der Suche nach einem besseren Leben in die Städte zu strömen. Die neuen Stadtbewohner, die frühmorgens zur Arbeit gingen und spätabends heimkehrten, vermissten ihre „jenseit der blauen Berge“ liegenden Heimatorte. Während der Industrialisierung und der Saemaeul-Bewegung (Bewegung Neues Dorf; eine von Präsident Park Chung-hee initiierte Kampagne zur Modernisierung der ländlichen Gebiete) in den 1970er Jahren verschwanden die Strohdachhäuser. Statt mit Reisstroh, das jedes Jahr mühsam ausgewechselt werden musste, deckte man die Häuser nun mit Schiefer oder Ziegeln, überall wurden Hochhäuser gebaut, aus denen dann Städte wurden. Die Menschen wurden wohlhabender und das Land entwickelte sich. Aber jetzt gibt es jenseits der blauen Berge kein süßvertrautes Heimatdorf mit seinen Strohdachhäusern, seinen weißen Pfaden und seinen Gemüsebeeten mehr. Der Heimatort von einst ist zu einer Art Fossil verkommen, das nur noch als Exponat in Volksund Heimatmuseen oder alten Kinderliedern existiert. Auf dem Foto des Heimatortes sind keine Menschen zu sehen.

Mein Heimatort ist...“ Kim Hwa-young Literaturkritiker, Mitglied der Korean National Academy of Arts Fotos: Suh Heun-gang

„Mein Heimatort war ein Bergdorf voller Blüten, / Pfirsichblüten, Aprikosenblüten, junge Azaleenblüten. / Ein Dorf in einem bunten Palast aus Blüten. / Ich sehne mich nach der Zeit, als ich da spielte.“ Wer weiß: Vielleicht kommt bald die Zeit, in der die vom K-Pop begeisterten Jugendlichen die Gefühlswelt dieser alten Kinderweisen nicht mehr verstehen können.

K o r e a n a ı S o mme r 2 01 2 Festungsdorf Nagan-eupseong


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Koreanische Kultur und Kunst Sommer 2012 IMPRESSUM Herausgeber The Korea Foundation 2558 Nambusunhwan-ro, Seocho-gu, Seoul 137-863, Korea

Hallyeo-sudo ist ein 120km langer Wasserweg, der von der Insel Hansan-do vor Tongyeong, Provinz Gyeongsangnam-do, bis Yeosu in der Provinz Jeollanam-do fließt. Die Regierung hat diesen Wasserweg und einen Teil der angrenzenden Küstenregion 1968 zum Meeresnationalpark bestimmt. SEA1A 034H 2007 ©Bae Bien-u

Das Meer, die Inseln und die Bewohner Für viele Menschen ist das Meer ein Ort, den sie aufsuchen, um sich zu erholen und zu entspannen. Für die Bewohner der Inseln ist das Meer jedoch Lebensgrundlage und für Künstler seit jeher Quelle der Inspiration. Für Seeleute wiederum, die sich aufs offene Meer hinauswagen, stellen die tiefblauen Gewässer einen gefährlichen, aber unwiderstehlichen Reiz dar. Seitdem die alten Koreaner sich auf der koreanischen Halbinsel niedergelassen haben, haben sie die umgebenden Meere als Schatztruhe der Meeresressourcen und als Stimulation für künstlerisches und literarisches Schaffen hochgeschätzt. Das Südmeer mit seinen unzähligen Inseln vor der zerklüfteten Küste ist schon seit jeher ein wichtiger Wasserweg für den internationalen Handel in Nordostasien.

Das Meer, die Inseln und seine Bewohner können viele Geschichten über Vergangenheit und Gegenwart des einzigartigen Lebensstils und der Kultur der Region erzählen. Die Sommerausgabe von Koreana bietet einen kleinen Blick in diese faszinierende, vom Meer geprägte Welt und das Alltagsleben der zähen Bewohner der Region. Besonderes Augenmerk richtet sich dabei auf ihr Bestreben, in Harmonie mit dem natürlichen Kommen und Gehen von Ebbe und Flut zu leben. Die Expo 2012 Yeosu Korea, die unter Teilnahme von 100 Ländern der Welt vom 12. Mai bis zum 12. August läuft, steht unter dem Thema „Das lebendige Meer und die Küste“. Der Veranstaltungsort der Expo liegt an der malerischen Küste des Hallyeo-Wasserwegs. Ahn In-kyoung Chefredakteurin der deutschen Ausgabe


Spezial DER Hallyeo-Wasserweg

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DAS MEER DER LIEDER

Stetig fließend, schmückt der Hallyeo-Wasserweg die Südküste Koreas

Chung Il-keun

INSELN

Das Meer und seine traumhafte Inselwelt

Han Chang-hoon

STADT DER KUNST

Tongyeong: Kunst-Mekka an der Küste

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Soul Ho-jeong

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FOKUS Die Geschichte des Dorfes Sungmisan You Chang-bok

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KUNSTKRITIK Meditation per Pinselstrich Dansaekhwa: Koreas monochrome Malerei Koh Mi-seok

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KUNSTHANDWERKER

Lim In-ho: Kunsthandwerker mit eisernem Stolz auf Metallletterdruck

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Die Bank von Korea: „Haupttempel“ der Landeswährung

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Multikulturelle Vielfalt: ihre Bedeutung für die koreanische Gesellschaft

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Festungsdorf Nagan-eupseong in Pflaumenblütenpracht und Tempel Geumdun-sa

MODERNE WAHRZEICHEN

Park Hyun-sook

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Kim Chung-dong

INTERVIEW

Kim Chang-hee

UNTERWEGS

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Kim Yoo-kyung

NEUERSCHEINUNG Choi Joon-sik, Uh Soo-woong, Lee Soo-ki Herz und Geist der alten Koreaner lesen

Special Lecture on Korean Paintings Unerbittliche Erforschung des Todes im Leben

Tengo derecho a destruirme

Smartphone-App für Chats mit „künstlicher Intelligenz“

SimSimi 64

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BLICK AUS DER FERNE

Korea ist kein Land, Korea ist eine Einstellung

Jan Janowski

GOURMETFREUDEN Kalguksu: Nudelgericht mit unendlichen Varianten Ye Jong-suk REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR

Rezension: Paradoxie von zwei Trennungen Uh Soo-woong Re-Interpretation der Geschichte um die Zeit der Trennung

Kim Do-yeon

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Spezial Der Hallyeo-Wasserweg / Das Meer der Lieder

Stetig fließend, schmückt der Hallyeo-Wasserweg die Südküste Koreas

Gibt es einen Weg mitten im endlosen Blau des Meeres? Ja, denn es existieren nicht nur Landwege auf dem Erdboden. Den Himmel entlang führen Luftwege und durchs Meer erstrecken sich Wasserwege. Und unter allen Wasserwegen Koreas ist der Hallyeo-sudo, Hallyeo-Wasserweg, der schönste. Chung Il-keun Dichter, Professor an der Kyungnam University | Fotos: Bae Bien-u

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Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


SEA1A 034H 2007

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in alter Schlagerhit (1973) von Lee Mi-ja, einer der beliebtesten Sängerinnen Koreas, heißt Der 300 Li lange Hallyeo-sudo. Wie der Songtitel schon verrät, erstreckt sich der Hallyeo-Wasserweg nach der traditionellen koreanischen Maßeinheit über 300 Li, umgerechnet etwa 120 Kilometer. Eine 120 Kilometer lange Landstrecke ließe sich mit dem Wagen in einer guten Stunde zurücklegen, aber der 300 Li lange Hallyeo-sudo ist ein „Weg des Gemüts“, der sich nicht durchrasen lässt. Denn all die schönen Winkel entlang des Wasserweges bezaubern jeden Wanderer und verlangsamen unwillkürlich seinen Schritt, so dass er hier und da verweilt und nur langsam, langsam vorankommt. Das Territorium Koreas grenzt im Osten, Westen und Süden ans Meer, weshalb man von der „koreanischen Halbinsel“ zu sprechen pflegt. Das Ostmeer, aus dem die Sonne aufsteigt, ist das Meer der Hoffnung, und das Westmeer (Gelbes Meer), in das die Sonne versinkt, das Meer des Abschieds. Das Meer im Süden, das wie eine blumenbestickte Wiese mit unzähligen Inseln gesprenkelt ist, gilt als Meer der Lieder. Der Hallyeo-sudo führt gerade durch dieses

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warme, blaue Meer der Lieder. Es ist ein Weg, der begleitet von den Liedern, die Himmel, Meer, Inseln und Menschen singen, in ständigem Fluss hin und her strömt. Die Farbe dieser Lieder ist am Morgen anders als am Abend und wandelt sich mit dem Wandel der Jahreszeiten.

Ein Meer von Kamelien Nach der geographischen Definition meint „Hallyeo-sudo“ den Meeresweg, der von der zur Stadt Tongyeong gehörigen Insel Hansan-do, Provinz Gyeongsangnam-do, über Sacheon (Samcheonpo) und Namhae bis zur Stadt Yeosu, Provinz Jeollanam-do, reicht. Dieser Wasserweg und die dazugehörigen Küstenregionen wurden vor 44 Jahren, also 1968, von der südkoreanischen Regierung zum Maritimen Nationalpark erklärt und stehen seitdem unter Naturschutz. In Korea gibt es zwar mehrere Meeresnationalparks, der Hallyeo-sudo ist jedoch der älteste seiner Art. Der aus Tongyeong stammende Maler Jeon Hyuck Lim (19162010), der sein ganzes Leben lang den Hallyeo-sudo auf der LeinKorean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


sea1a 06hc 2011

Der Hallyeo-Wasserweg oder Hallyeo-sudo, der von der Insel Hansan-do bis zu der zur Stadt Yeosu gehörigen Insel Odong-do reicht, verwandelt sich im März in ein Kamelien-Meer. Vor dem Blau des Meers kommt das strahlende Rot der Blüten besonders schön zur Geltung.

wand künstlerisch einfing, bezeichnete die Farbe des Wassers als „Kobaltblau“. Im Frühling ist der Wasserweg ins Rot der Kamelien getaucht. An den Küsten und Inseln des Hallyeo-sudo erwachen gegen Ende des Winters allmählich die Kamelien, um im Frühling in voller Festpracht zu erstrahlen, bevor dann alle Blüten zu Boden regnen wie die rotenTränen des Poseidon. Auch der oben erwähnte Schlager Der 300 Li lange Hallyeo-sudo besingt die Kamelien „Über die im Dämmerlicht liegende Insel Hansan gleiten die Möwen. Der drei Hundert Li lange Hallyeo-sudo bietet einen malerischen Anblick. „Den gewundenen Wasserweg K o r e a n a ı S o mme r 2 01 2

entlang kommt das Schiff./ In dem jungen Herzen der frisch verheirateten Maid, die ihrem geliebten Mann entgegeneilt./ Glüht es rot, rot wie die Kamelien./ Am Meer flammt es auf.“ Als dieser Schlager 1973 herauskam, wmurde er sofort zu einem Hit. Er ist auch heute noch so beliebt wie gestern und auch die Kamelien entlang des Hallyeo-sudo blühen heute noch jeden Frühling in voller Pracht. Der Hallyeo-Wasserweg verwandelt sich im März von der Insel Hansan-do bis zur Insel Odong-do vor Yeosu in ein Kamelien-Meer. Vor dem Blau des Meers kommt das strahlende Rot der Blüten besonders schön zur Geltung. Wenn die Kamelienblüte beginnt,

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sind die Japanbrillenvögel mit ihrem schönen Gesang nicht weit. Diese Singvögel, die innerhalb der Familie der Brillenvögel zur Gattung Zosterops zählen, leben auf den Inseln, auf denen Kamelien wachsen. Denn die Kamelien werden nicht von Bienen oder Schmetterlingen bestäubt, sondern von den Japanbrillenvögeln. Wer auf einer Reise entlang des Hallyeo-sudo auf einer der Kamelien-Inseln Halt macht, sollte unbedingt im Schatten der Kamelien dem wunderschönen Gesang des Japanbrillenvogels lauschen. Er wird erkennen, dass das Paradies nicht in unwirklicher Ferne liegt, sondern in jedem Winkel des Hallyeo-Wasserwegs, wo Kamelien blühen, verborgen ist. Wenn er dann die zu Boden gefallenen Kamelienblüten aufsammelt und die Blütenblätter eins nach dem anderen aufs Meer streut, wird jeder, der diese Blätter auf dem Wasser schweben sieht, von dem Paradies träumen, aus dem sie stammen. Wenn die Kamelien verblüht sind, kommen Früchte hervor, aus denen man in Korea seit alter Zeit Kamelienöl gewinnt. Als das Land noch unter Armut litt, nutzte man das Öl für die verschiedensten Zwecke: zum Polieren alter Möbel, als Rostschutz für Instrumente und Maschinen, und – als es noch an Stromversorgung fehlte – auch als Lampenöl. Vor alle Dingen aber verwendeten es die Frauen als Haaröl. In alter Zeit, als die Frauen ihre Haare wachsen zu lasssen pflegten, verwendeten sie Kamelienöl, um ihnen Glanz zu verleihen. Dieses Kamelienöl, das früher bei den Koreanerinnen beliebt war, weil es keinen Eigenduft besitzt und nicht schnell austrocknet, gewinnt heutzutage als Nahrungsergänzungsmittel neue Aufmerksamkeit.

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Ein Meer voller Gaumenfreuden Der Hallyeo-sudo, der sich vor der Küste von beliebten Urlaubszielen wie Tongyeong, Sacheon, Namhae und Yeosu erstreckt, gilt auch als „Meer der Gaumenfreuden“. Die sauberen Gewässer sind nämlich Fang- und Zuchtgründe für die Fische und Meeresfrüchte, die die Koreaner gerne auf den Tisch bringen. Grund für die Fülle an Meeresprodukten ist die Riasküsten-Formation, die sich durch eine stark strukturierte Küstenlinie mit zahlreichen kleinen Buchten und Inseln auszeichnet. Diese charakteristische Formation bietet den Meerestieren hervorragende Brutstätten. Außerdem führen an dieser Küste warme Meeresströmungen vorbei, so dass das ganze Jahr über eine konstante und damit für die Marikultur ideale Wassertemperatur gegeben ist. Deshalb sind überall entlang des Hallyeo-sudo frische Fische, Meeresalgen und Schalentiere zu finden. Wenn man in Korea über Gaumenfreuden aus dem Meer spricht, heißt es immer „Fein beschmutzte Scholle (Pleuronichthys cornutus) im Frühling, Gefleckter Pazifikhering (Konosirus punctatus) im Herbst“. Das bedeutet, dass im Frühling die Fein beschmutzte Scholle und im Herbst der Gefleckte Pazifikhering am besten schmeckt. Da auch Fisch je nach Jahreszeit eine etwas andere Geschmacksnote hat, ist es empfehlenswert, Fische wie Obst in der jeweiligen Hochsaison zu genießen. Außerdem kann auch ein und derselbe Fisch auf verschiedene Weise zubereitet genossen werden. Schollen kann man zum Beispiel roh oder als Suppeneinlage essen. Rohe Scholle kann man wiederum filetiert servieren oder klein geschnitten mit noch intaktem Knochengerüst. Eine Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


sea1a 18h 2008

mineral- und nährstoffreiche Schollen-Seetang-Suppe ist empfehlenswert für stillende Mütter und im Frühling kocht man mit dem vom Meerwind zerzausten Beifuß eine Beifuß- Schollen -Suppe .

Ein Meer voller Geschichte Der Hallyeo-Wasserweg ist auch ein Meer reich an Geschichte. Vor etwa 620 Jahren haben die Koreaner hier gegen die Japaner gekämpft. Die Invasion Japans bezeichnet man in der koreanischen Geschichte als Imjin-Waeran (Invasionskrieg des nach alter Zeitrechnung als Imjin bezeichneten Jahres 1592). Von 1592 bis 1598 fielen die Japaner zwei Mal übers Meer in Korea ein, verwüsteten das Land und stürzten das Volk ins Elend. Doch Admiral Yi Sun-sin (1545-1598) konnte die Eindringlinge mit seinen Schildkrötenschiffen zurückschlagen und besiegen. Admiral Yi Sun-sin ist einer der großen Helden Koreas. Sein legendärer Seesieg über die Japaner macht ihn zu einem der herausragendsten Befehlshaber in der Geschichte der großen Seeschlachten der Welt. Er wird oft mit dem britischen Admiral Horatio Nelson verglichen. Der japanische Admiral Togo, der im Russisch-Japanischen Krieg (1905) die Baltische Flotte Russlands besiegte, soll sich selbst manchmal mit Nelson verglichen haben, aber nie mit Yi Sun-sin, dem er nach eigenen Worten kaum das Wasser reichen könne. Admiral Yi errang nämlich bei jeder Schlacht im Hallyeosudo den Sieg. In der letzten Schlacht des sieben Jahre währenden Krieges, bei der er rund 200 japanische Kriegsschiffe versenkte, fand er ein glorreiches Ende. An vielen Stellen entlang des Hallyeo-Wasserwegs finden sich K o r e a n a ı S o mme r 2 01 2

Erinnerungen an den Namen des großen Seehelden und damit verbunden auch an seine legendären Schildkrötenschiffe. Die nach ihrer Form benannten Schildkrötenschiffe gelten als die weltweit ersten, eisengepanzerten Angriffsschiffe und verhalfen Admiral Yi selbst im Kampf gegen eine feindliche Übermacht zum Sieg. Admiral Yi hinterließ ein Tagebuch, in dem er den Kriegsverlauf aus seiner persönlichen Sicht ausführlich beschreibt. Dieses Tagebuch mit dem Titel Nanjung Ilgi (Tagebuchaufzeichnungen inmitten schwerer Zeiten) wurde zum Nationalschatz Koreas erklärt. Die Eintragungen sind klar und ehrlich gehalten, wie man es von einem Militärführer erwartet. Darüber hinaus ist dieses Tagebuch aufgrund seines sublimiert-kraftvollen Stils auch noch von hohem literarischen Wert. Das Nanjung Ilgi wurde dieses Jahr auf die provisorische UNESCO-Liste des Weltdokumentenerbes gesetzt.

EXPO 2012 in Yeosu In der Stadt Yeosu, vor der der Hallyeo-sudo kurz Halt macht, bevor er auf seinem Weg weiterfließt, findet derzeit die Weltausstellung Expo 2012 statt. Wenn man von Yeosu aus weiter Richtung Süden aufs Meer hinausfährt, kommt man zum Nationalpark Dadohae (Dadohae: Meer der vielen Inseln). Viele Besucher aus der ganzen Welt, die das Ägäische Meer, die Wiege der antiken griechischen Zivilisation im östlichen Mittelmeer mit ihren zahlreichen Inseln zwischen Griechenland, Kleinasien und Kreta, kennen, kommen dieses Jahr nach Korea und entdecken diesen im koreanischen Südmeer verborgenen schönen „Garten der Inseln“.

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Spezial Der Hallyeo-Wasserweg / Inseln

Das Meer und seine traumhafte Inselwelt Ich sage immer, dass man ans Meer fahren soll, wenn man das Leben als leer empfindet. Ich rate den Leuten, einmal das wahre Meer zu erleben und nicht nur am Strand herumzuspazieren und frische Meeresfr端chte zu essen. Han Chang-hoon Schriftsteller | Fotos: Park Jong-su, Jung In-su, Kwon Tae-kyun

Baek-do, ein Archipel von mehreren Felseninseln, liegt etwa 28km von der Insel Geomun-do, Yeosu, entfernt.


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ch bin auf einer Insel im Südmeer geboren. Blaues Meer rundum und ein Stück Erde gerade groß genug, um nicht im Wasser zu versinken. Das war die ganze Welt, die ich kannte, als ich aufwuchs. Ich war wie ein Beduinenkind, das glaubt, die Welt bestehe nur aus einigen Oasen und endlosen Sandwüsten. Wenn ich die Augen öffnete, sah ich Mauern aus per Hand aufgeschichteten Steinen, Kartoffelfelder am Fuße der Berghänge, Wassertröge fürs Vieh, die rot von den herabgefallenen Kamelienblüten waren, und als Hintergrund im Osten, Westen, Süden und Norden Meer, nichts als Meer. Nur ein kleines Stück von unserer Haustür entfernt gab es pechschwarzes Felsgestein, senkrecht in die Höhe springende Klippen und kleine Fischerboote. Im Morgengrauen fuhren die Fischer mit ihren kleinen Kuttern aufs Meer hinaus. Die Mädchen gingen zum Sammeln von Meeresfrüchten an die Felsenküste, während sich die Haenyeo, die Meerfrauen, in ihren tiefschwarzen Taucheranzügen zu ihrer Arbeit im Meer aufmachten. Auch meine Großmutter war eine Haenyeo. Sie hat mich oft zum Tauchen mitgenommen. Es war meine Aufgabe, an der Küste auf die Sachen wie z.B. die Kleider der rund 30 Taucherinnen aufzupassen, während sie im Wasser waren. Bei ihren Tauchgängen entfernten sich die Frauen allmählich immer mehr von der Küste und nach drei bis vier Stunden kamen sie alle zusammen zurück. Wenn sie dann aus dem Wasser stiegen, tropfte das frische, blaue Meerwasser an ihnen herunter. Ich war neun, als ich die Taucherbrille meiner Großmutter aufsetzte, um meinen ersten Tauchversuch zu starten. Meine Großmutter hatte mir geraten, nicht zu tief einzuatmen und meinen Körper mit dem Kopf nach unten in eine völlig senkrechte Position zu bringen. Ich entdeckte die faszinierende Unterwasserwelt, wo Algen sich hin und her wiegen, Fischschwärme umherziehen und dazwischen die Sonnenstrahlen wie Lichteffekte spielen. Die Fischer fingen Rote Seebrassen, Seebarsche, Gelbschwanzmakrelen, Aale und Kraken, während die Haenyeo Turbanschnecken, Seegurken und Seeohren sammelten. Die Mädchen, die an die Felsenküste gegangen waren, kamen mit Miyeok-Braunalgen und anderem Gim-Seetang zurück. Hin und wieder gab es auch tödliche Unfälle, aber der normale Tagesablauf wurde dadurch nicht unterbrochen. Denn die Meeresprodukt-Ernte musste verkauft werden, um den Bauch zu füllen und den Körper zu bedecken.

© Park Jong-su

Meine Heimat, die Insel Geomun-do Meine Heimat ist die Insel Geomun-do vor der Stadt Yeosu. Sie liegt innerhalb des maritimen Nationalparks Dadohae (Dadohae: Meer der vielen Inseln), der an den Hallyeo-sudo grenzt. Es gibt im Südmeer zwar zahlreiche Inseln, Geomun-do jedoch blickt auf eine besondere, einzigartige Geschichte zurück. Stichwort: Geomundo-Vorfall. Von April 1885 bis Februar 1887 stand Geomun-do unter Besatzung der Briten, die die Insel mit sechs Kriegsschiffen und zwei Handelsschiffen der Britischen Ostasien-Flotte in ihre Gewalt gebracht hatten. Die Insel hieß damals „Port Hamilton“ und der Union Jack wurde gehisst. Zu dieser Zeit, als die Besatzungspolitik des modernen Imperialismus an Fahrt gewann, wollte Großbritannien mit der Okkupation von Geomun-do dem weiteren Vordringen der Russen nach Süden Einhalt gebieten. Auch heute noch finden sich auf Geomun-do die Gräber von drei britischen Marinesoldaten, die auf der Insel gestorben sind, und Fotos aus der Hinterlassenschaft der Besatzer. Dank dieser Fotos konnte ich im Detail feststellen, wie Geomun-do vor langer Zeit einmal ausgesehen hat. Es gab darunter z.B. die Aufnahme eines konfuzianistischen koreanischen Gelehrten mit dem charakteristischen hohen Hut auf dem Kopf. (anscheinend kommuniziert er schriftlich mit einem chinesischen Dolmetscher.) Fotos von Inselbewohnern in abgetragenen, schmutzbefleckten Kleidern, von alten Holzschiffen und von einer Schmiede, wo verschiedene Geräte und Werkzeuge für Landwirtschaft und Fischerei gefertigt wurden. Am beeindruckendsten war für mich aber der scharfe Blick der Inselbewohner in ihren zerschlissenen, dreckigen Lumpen. Dieser Blick unterscheidet sich so völlig von dem der Menschen von heute, die zwar ein elegant-kultiviertes und sauberes Äußeres aufweisen, deren Blick jedoch oft kraftlos-leer ist. Laut historischer Aufzeichnungen sind die britischen Besatzer zwar gut mit den Inselbewohnern ausgekommen, das ändert aber nichts an der grundlegenden Tatsache, dass sie die Insel unter Anwendung von Gewalt an sich gerissen hatten. Als Königin Elizabeth II. 1999 Korea für drei Tage besuchte, hatte ich als von Geomun-do stammender Koreaner eine Entschuldigung erwartet. In Anbetracht der speziellen Gegebenheiten des damaligen historischen Kontextes und der Tatsache, dass es zu keinen besonderen gewaltvollen Auseinandersetzungen gekommen war, wäre selbst ein formaler Ausdruck des Bedauerns schon hinreichend gewesen, aber die Königin verließ Korea ohne auch nur ein Wort über den Geomundo-Vorfall zu verlieren.

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Den britischen Marinesoldaten muss Geomun-do wie eine schrecklich weit entfernte Insel vorgekommen sein. In meiner Kindheit lag für mich das Festland genauso weit entfernt. Bis zum 115 Kilometer entfernten Hafen von Yeosu musste man gute acht Stunden mit dem Linienschiff fahren. Es gab nichts Schlimmeres als diese lange Fahrt zum Festland. Schutzmaßnahmen und Rücksicht auf kindliche Bedürfnisse — heutzutage Selbstverständlichkeiten — kannte man damals noch nicht. Die alten Passagierschiffe waren abgenutzt, langsam und immer voller Kinder und ungehobelten Erwachsenen. Die Erwachsenen spielten in den Kabinen Karten, wobei sie unablässig tranken und rauchten. Da es für uns Kinder an Deck zu gefährlich sein sollte, mussten wir in den dreckigen, kleinen Kabinen ausharren, wo man schnell seekrank wurde. In der Nähe von Geomun-do liegt eine Insel namens Cho-do. Zwischen diesen beiden Inseln war die Strömung besonders schnell und der Wellengang hoch, so dass es auf diesem Streckenabschnitt auch den Erwachsenen oft schlecht wurde. Wir Kinder, die wir den hohen Wellengang, den starken Zigarettenrauch und Alkoholgeruch acht Stunden lang aushalten mussten, wurden schließlich ganz grün um die Nase vor lauter Übelkeit und begannen wie Espenlaub zu zittern. Das Festland näherte sich erst nach solch langen Stunden des Leidens. Obwohl ich seekrank war, habe ich doch immer beobachtet, wie die Inseln langsam näher kamen und dann wieder in der Ferne verschwanden. Ich erkannte schon sehr früh, dass eine Meerlandschaft, um wirklich schön zu sein, Inseln aufweisen muss. Als ich schon erwachsen war, wurde meine Heimatregion in offizieller Anerkennung ihres Wertes zum maritimen Nationalpark bestimmt (1981).

1. Brutplätze von schwarzgeschwänzten Seemöwen auf der Insel Hong-do, Tongyeong 2. Galgot-do, ein malerischer Ort voller zerklüfteter Klippen

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Mein Arbeitsplatz: der Hallyeo-Wasserweg Meine Kindheitserfahrungen führten wohl dazu, dass ich auch als Erwachsener ständig zwischen den Inseln unterwegs war. Mehrere Jahre lang arbeitete ich im Bereich der Verarbeitung von Meeresprodukten, hauptsächlich Honghap-Miesmuscheln. Wenn es in den Miesmuschelfarmen vor der Küste von Yeosu keine Muscheln mehr gab, fuhr ich mit meinen Kollegen in Richtung Westen bis zur Insel Heuksan-do und nach Osten bis nach Tongyeong hinaus. Auch dort gab es überall zahlreiche Inseln: steil emporragende und flache Inseln, sanft oval gerundete Inseln und Inseln mit scharf gezackter Küstenlinie. Wie erwartet, war — wie in einer unabhängigen Republik — auf jeder Insel der Sprachgebrauch etwas anders und auch die Küche hatte ihre eigene distinktive Note. Das 2 Gleiche galt für alkoholische Getränke und Arbeitsgewohnheiten. Auch die Meeresströmungen und die Wassertiefe waren unterschiedlich. Es gab aber auch Gemeinsamkeiten: Vor dem Hintergrund des blauen Meeres ging von allen Inseln eine gewisse Einsamkeit aus und das Gefühl des materiellen Mangels. Weitere Gemeinsamkeiten waren: der Sonnenuntergang, der das Meer vom Westen her rot färbte und uns nach Feierabend auf dem Weg nach Hause begleitete; reich beladene Tafeln in fremden Dörfern mit z.B. frisch gefangenen rohen Seebrassen, gekochten Kraken und scharf in der Pfanne gerührtem Oktopus; die Milchstraße, die nachts am Himmel erschien, und die Arbeit eines neuen Tages, die mit frischer Energie früh am Morgen angegangen wurde. Die Inseln, die ich damals besuchte, gehören alle zum Hallyeo-Wasserweg, so dass das Südmeer lange Zeit Teil meines Lebens war. Wenn wir mit dem mit Honghap-Miesmuscheln voll beladenen Schiff zwischen den Inseln navigierten, hatten wir stets auf die Strömungen zu achten. Ein voll beladendes Schiff bewegt sich nur langsam, weshalb man die Meeresströmungen genau berechnen muss, um auf Kurs zu bleiben und die Ankunftszeit korrekt einzuschätzen. So hatten es auch schon früher die alten Fischer in meinem Heimatdorf gemacht. Die alten Inselbewohner von damals hatten gezeigt, bis wohin man den menschlichen Sinnen vertrauen kann. Konkretes Beispiel: Ein alter Fischer war einmal mit seinem alten Boot aufs Meer hinausgefahren. Er fährt aufs vor der Rückseite der Insel gelegene Meer, um zu fischen. Da wird sein Boot jedoch ohne jede Vorwarnung plötzlich in dicksten Nebel gehüllt. Nebel ist viel gefährlicher als hoher Seegang oder starker Wind. Denn im Nebel verliert man leicht die Orientierung und treibt aufs Meer hinaus. Der alte Fischer ruft sich zuerst die Gezeiten des Tages in Erinnerung. Gezeiten ist das durch die Anzie-

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Obwohl ich seekrank war, habe ich doch immer beobachtet, wie die Inseln langsam näher kamen und dann wieder in der Ferne verschwanden. Ich hatte bereits sehr früh erkannt, dass eine Meerlandschaft, um wirklich schön zu sein, Inseln aufweisen muss. Als ich schon erwachsen war, wurde meine Heimatregion in offizieller Anerkennung ihres Wertes zum maritimen Nationalpark bestimmt. hungskraft von Mond und Sonne verursachte regelmäßige, täglich zweimalige Ansteigen und Absinken des Meeresspiegels. Im Kopf des Fischers waren die zyklischen Bewegungen des Meerwassers gespeichert. Er checkt Datum und Uhrzeiten nach Lunarkalender und beobachtet dann, in welche Richtung das Boot getrieben wird. In seinem Kopf laufen Berechnungen zu Lunarkalender, Ebbe und Flut sowie Strömung. „Wenn zu dieser Zeit die Strömung in diese Richtung fließt, heißt das, dass sich unsere Insel dort befinden muss.“ Er wendet das Boot in diese Richtung und schon bald taucht im Nebel die Heimatinsel auf. Wir waren zwar nicht so erfahren im Berechnen, konnten aber zumindest sagen, welche Unterschiede es in der Fahrzeit geben würde, je nachdem, ob wir mit oder gegen die Strömung fuhren. Heutzutage übernehmen solche Berechnungen die GPS-Systeme an Bord. Aber je mehr man sich auf die Geräte verlässt, desto mehr stumpft die Sinneswahrnehmung ab. Sogar ältere Kapitäne ermitteln ihre Position nur noch anhand der GPS-Geräte und legen entsprechend ihren Kurs fest. Sollten die Geräte plötzlich ausfallen, lässt sich nicht sagen, was passieren wird. Als Indonesien 2004 von dem verheerenden Tsunami heimgesucht wurde, sollen die Naturvölker in dieser Gegend das Heranrollen der Riesenwelle instinktiv geahnt und sich rechtzeitig in die Berge in Sicherheit gebracht haben.

Ein 200 Jahre altes Meereskundebuch Wenn ich an die im westlichen Teil des Südmeeres gelegene Insel Heuksan-do denke, fällt mir eine Person ein: Jeong Yak-jeon (1758-1816), ein Gelehrter und Beamter, der Ende der Joseon-Zeit lebte. Er war schon als Kind außergewöhnlich klug und aufgeschlossen. Angezogen vom Katholizismus, konvertierte er als einer der ersten Koreaner zum katholischen Glauben. 1801 wurde er im Rahmen der von König Sunjo (reg. 1800-1834) initiierten Katholikenverfolgung auf die Insel Heuksan-do verbannt. Dort verbrachte er die restlichen 16 Jahre seines Lebens. Während dieser Zeit gründete er eine Schule und unterrichtete junge Menschen. Seine herausragendste Hinterlassenschaft ist jedoch das Jasan eobo, eine Enzyklopädie der Fischarten von Heuksan-do. Es handelt sich um ein naturkundliches Werk, das Bezeichnungen, Vorkommen, Formen, Gewohnheiten und Zubereitungsmöglichkeiten von rund 155 maritimen Tierund Pflanzenarten in den Gewässern um Heuksan-do ausführlich auflistet und beschreibt. Dieser Klassiker der Naturwissenschaft ist die erste koreanische Veröffentlichung im Bereich der Fischereiwissenschaft . Ich besitze selbst eine Ausgabe dieses Meereskundebuchs und habe meinem Buch einen Titel gegeben, der an Jeongs Enzyklopädie erinnert: Jasan eobo auf meinem Esstisch. Für meine Bewunderung Jeong Yak­jeons gibt es zwar verschiedene Gründe, allen voran aber seine offene Einstellung und sein aktives Verhalten. Da Korea zum asiatischen Kulturraum mit dem asiatischen Festland im Zentrum zählt, neigte die herrschende Schicht des Landes früher dazu, das Meer zu ignorieren und es mit Verachtung zu behandeln. Jeong Yak-jeon gehörte als Gelehrter ebenfalls zur herrschenden Oberschicht. Auch wenn er die neue westliche Kultur aufnahm und die Praktische Lehre Silhak zu seiner Philosophie machte, verrieten Auftreten und Gewohnheiten seine adlige Herkunft. Dieser Hochwohlgeborene wendete dann eines Tages seine Aufmerksamkeit den Lebewesen im Meer rund um Heuksan-do zu und begann, darüber Aufzeichnungen zu machen. Das war wahrhaft revolutionär für diese Zeit. Diesem Geist ist es zu verdanken, dass in Korea schon vor 200 Jahren ein sehr wertvolles Meereskundebuch existierte.

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1 1. Im Südmeer gefangene Anschovis werden an der Küste getrocknet. 2. Der Hallyeo-sudo ist ideal für Sportsegeln. 3. Die Insel Bijin-do vor Tongyeong, wo sich im Sommer Scharen von Urlaubern tummeln.

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1. Hyangiram in Yeosu, ein beliebter Ort,um den Sonnenaufgang zu erleben. 2. Die Kamelienblüten des Hallyeosudo sind Boten des Frühlings.

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Die Schlachtfelder von Admiral Yi Sun-sin Wenn Jeong Yak-jeon das Meer als Wissenschaftler betrachtete, so tat es Admiral Yi Sun-sin als Militärstratege. Als am 16. September 1597 die japanische Flotte zum zweiten Mal versuchte, in Korea einzudringen, musste sich Admiral Yi dem Feind mit lediglich zwölf Kriegsschiffen entgegenstellen. Zusammen mit einem von Fischern verwendeten Schiff bestand seine Flotte aus dreizehn Schiffen. Die japanische Flotte, die die Küsten im Südwesten angriff, wartete mit 133 Kriegsschiffen auf. Mit einer zahlenmäßigen Überlegenheit von 10 zu 1 schien der Ausgang des Gefechts schon vor Beginn der Kampfhandlungen entschieden. Allerdings vermochte Admiral Yi die Meeresströmungen zu lesen und wusste, wie man die geographischen Eigenschaften der Gegend kampfstrategisch nutzen konnte. Er richtete sein Augenmerk auf die enge Passage Uldolmok, die sich zwischen der Insel Jin-do und dem Festland befindet. Es war eine strategisch wichtige Stelle, die das Südmeer und Westmeer verbindet, und wo die Strömung bei Ebbe und Flut besonders stark ist. Die Passage erhielt den Namen Uldolmok — wörtlich „Passage der heulenden Felsen“ —, weil das Geräusch des gegen die Felsen klatschenden Meerwassers so gewaltig wie das Heulen der Felsen klingt. Während der Flutzeit verzeichnet die Strömung circa 10 Knoten. Admiral Yi ließ eine starke Eisenkette durch die Meeresenge legen und wartete auf das Eintreffen der feindlichen Schiffe. Sobald sie erschienen, ließ er die Kette von den Bewohnern der Gegend straff spannen und fügte so der japanischen Flotte entscheidenden Schaden zu. Auch berechnete er exakt den Moment des Gezeitenwechsels und nutzte den Augenblick, in dem die starken Strömungen die Flotte des Feindes durcheinander brachten, zum Angriff, was zum entscheidenden Sieg über die Japaner führte. Diese Passage wird auch Myeongnyang-Meeresstraße genannt, weshalb die Seeschlacht auch als „Schlacht von Myeongnyang“ bekannt ist. Durch den Sieg bei dieser Schlacht konnte der Kriegsverlauf zu Koreas Gunsten gewendet werden. Dank seiner militärstrategischen Geschicklichkeit konnte Admiral Yi selbst bei zahlenmäßiger Unterlegenheit neben der Schlacht von Myeongnyang weitere 20 Seeschlachten gewinnen, weil er die Meeresströmungen und die jeweiligen geographischen Besonderheiten zu nutzen wusste. Hansan-do, die bekannteste Insel des Hallyeo-sudo, ist ein weiteres Schlachtfeld, auf dem Admiral Yi kurz vor der Schlacht von Myeongnyang einen Sieg erringen konnte. Deshalb werden jedes Jahr verschiedene Festivals zur Erinnerung an die Heldentaten von General Yi, der das Südmeer vor den japanischen Eindringlingen schützte und das 2 ganze Land verteidigte, veranstaltet. Es sind das Myeongnyang-Seeschlacht-Festival, das in Haenam und auf der Insel Jin-do stattfindet, sowie das Hansan-Schlacht-Festival in Tongyeong. Rückkehr nach Geomun-do Eine lange Zeit ist vergangen, aber das Wasser des Südmeers fließt immer noch zwischen den Inseln hin und her. Das Meerwasser, das hinausgeströmt war, kehrt wieder zurück, das zurückgekehrte Wasser fließt wieder hinaus. Auch ich strömte wie das Meerwasser hinaus und streifte auf dem Festland herum, um vor sieben Jahren wieder in die Heimat zurückzukehren. Jeden Frühling fallen im Kamelienwald hinter meinem Haus die Kamelienblüten herab. Der Boden färbt sich rot. Gestern haben mich meine engsten Nachbarn besucht. Es sind Mitarbeiter des Nationalparks. Da es schon eine ganze Weile nicht mehr geregnet hat, müssen sie bei jeder Gelegenheit Rundgänge machen, um Waldbrände zu verhindern. Ich begegne ihnen auch hin und wieder auf der Straße. Dann winken wir einander freundlich zu. Für sie bin ich ebenfalls der engste Nachbar. Vor kurzem, als ein Kamelienbaum in meinem Garten zu kränkeln begann, kamen sie vorbei. Am Baum hatten sich feine Fäden gebildet und er trieb keine Knospen. Sie haben Aufnahmen gemacht und Proben für eine Analyse gesammelt, um dem Problem auf die Spur zu kommen. Bald werden sie mir sagen können, an welcher Krankheit der Baum leidet und wie man ihn behandeln kann. Das Südmeer, das ich von meinem Fenster aus sehen kann, ist blau wie immer. Auch die großen und kleinen Inseln sind da, wo sie schon immer waren. Es ist wegen dieser Inseln, dass das Meer so wunderschön ist.

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Spezial Der Hallyeo-Wasserweg / Stadt der kunst

Tongyeong Kunst-Mekka an der K端ste Tongyeong war schon zur Joseon-Zeit (1392-1910) eine Hochburg des Kunsthandwerks und hat sich seither zu einer Wiege von Kunst und Kultur entwickelt. Das Dorf Dongpirang, das f端r seine im Rahmen eines Gemeinschaftsprojekts entstandenen Wandmalereien bekannt ist, verleiht der historischen Stadt einen originell-erfrischenden Charme. Soul Ho-jeong Journalistin | Fotos: Ahn Hong-beom, Lee Il-sub


1. Das Jeon Hyuck Lim Museum of Art zeigt halb abstrakte Gemälde, die das Wesen von Tongyeong einfangen. 2. Das Cheongma Literaturmuseum steht an der Stelle des einstigen Geburtshauses des Dichters.

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er Kunstkritiker Oh Gwang-su sagte einmal: „Wenn es um Chungmu (alter Name von Tongyeong) geht, so, glaube ich, sagt ein einziges Bild von Jeon Hyuck-lim mehr als jede andere Kunst aus. In einem Gedicht des namhaften Dichters Seo Jeong-ju heißt es, dass es zu 80 Prozent der Wind war, der ihn zu dem, was er war, gemacht hat. Ich meine, dass 80 Prozent von dem, was die Kunst von Jeon Hyuck-lim zu dem, was sie ist, gemacht hat, Wind und Sonnenlicht von Chungmu sind.”

Jeon Hyuck Lim Museum of Art Wenn man die Schönheit von Tongyeong erfahren möchte, sollte man sich daher die Bilder von Jeon Hyuck-lim anschauen. Ein Besuch des Jeon Hyuck Lim Kunstmuseums, in dem zahlreiche Werke dieses oft als „Farben-Magier“ bezeichneten Künstlers ausgestellt sind, ist tatsächlich die einfachste Methode, Tongyeong zu erkunden. Jeon Hyuck-lim wurde 1916 in Tongyeong geboren und ist 2010 in seiner Heimatstadt verstorben. Er war ein Maler, der nie eine formelle künstlerische Ausbildung genossen hat. Trotzdem wollte er schon seit der Zeit, als er als kleiner Junge mit dem Zeichenblock in der Hand alleine ans Meer oder in die Berge zum Malen gezogen war, immer das zum Ausdruck bringen, was hinter der physischen Form der Dinge verborgen lag. Schon sehr früh machte er sich also an die Erforschung der abstrakten Welt. Jeon begann in den 1950er Jahren mit Gemälden, die Titel wie Der Hafen von Chungmu und Hallyeo-sudo trugen, und befasste sich die folgenden 60 Jahre lang immer wieder mit diesen Themen. Anfangs waren es traumhaft-verschwommene Bilder mit amorphen Objekten, aber allmählich entwickelte er einen halbabstrakten Stil mit betont simpel und flach dargestellten Inseln, Häusern, Booten, Brücken und Bergen, die auf einem kobaltblau glitzernden Meer schweben. Jedes dieser Bilder gilt mittlerweile als „ein Bild von Jeon Hyuklim, das mehr als jede andere Kunst“ symbolisch für Tongyeong steht. Auch der ehemalige Präsident Roh Moo-hyun war so angetan von Lims Werken, dass er während seiner Amtszeit das Monumentalgemälde Hallyeo-sudo erwarb, das eine ganze Wand des Empfangszimmers im Blauen Haus (Amtssitz und Residenz des südkoreanischen Präsidenten) bedeckte. Das am Fuße des Bergs Mireuk-san in Tongyeong gelegene Jeon Hyuck Lim Kunstmuseum wurde auf dem Grundstück des alten Wohnhauses errichtet, in dem der Künstler knapp 30 Jahre lang gelebt hatte. Das Museum ist ein

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Kunststudenten aus ganz Korea haben die Gassen mit interessanten und einfallsreichen Malereien gefüllt. Das einst schäbige, heruntergekommene Dorf Dongpirang verwandelte sich in ein schönes Viertel mit pulsierendem Leben. Die Kreativität der jungen Menschen hat Dongpirang in ein völlig neues Gewand gekleidet.

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1. Die Maschine stoppte für den besten Moment , ein Werk des schwedischen Bildhauers Erik Dietman im Tongyeong Nammangsan Skulptur-Park. 2. Jeon Hyuck-lims Meisterwerk Mandala im Jeon Hyuck Lim Museum of Art 3. Yi Hyeong-man ist ein Meister der traditionellen Perlmuttintarsien-Lackkunst im Stile Tongyeongs.

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besonderes Bauwerk, dessen Außenwand mit rund 7.500 Keramikkacheln verkleidet ist, auf denen die Bilder von Jeon Hyuck-lim und seinem Sohn Jeon Yeong-geun zu sehen sind. Auf drei Etagen sind rund 80 Gemälde und zahlreiche Materialien bezüglich Leben und Werk des Meisters ausgestellt.

Zu neuem Leben erwachte Legenden Tongyeong hat neben Jeon Hyuck-lim eine ganze Reihe von Künstlern hervorgebracht wie z.B. den Komponisten Yun I-sang, die Dichter Yu Chi-hwan und Kim Chun-su sowie den Sijo (traditionelle koreanische Poesie) Dichter Kim Sang-ok. Sie sind alle bereits verstorben, aber ihr ungewöhnliches Leben und ihr künstlerisches Erbe werden zu Legenden von Tongyeong. Die genannten Künstler haben direkt nach der Unabhängigkeit Koreas von Japan im Jahr 1945 gemeinsam an der Mädchenmittelschule von Tong­yeong als Lehrer gearbeitet. Jeden Tag haben sie sich im Haus von Yu Chi-hwan getroffen, getrunken und sich Sorgen über das Chaos, das der Befreiung folgte, gemacht. Sie gründeten schließlich den Tongyeong Kulturverein und riefen eine Bewegung für Kultur ins Leben. Ihre Aktivitäten haben eine entscheidende Rolle dabei gespielt, aus der kleinen Hafenstadt Tongyeong eine Drehscheibe der Kultur und Kunst zu machen. Diese Künstler – zusammen mit der 1926 in Tongyeong geborenen Romanschriftstellerin Park Kyung-ni (auch „Pak Kyongni“ geschrieben), die erst nach ihrem Tod im Jahr 2008 in ihre Heimatstadt zurückkehrte und nun auf dem Berg Mireuk-san ruht – sind Teil des Alltagslebens der Bürger dieser Stadt: Überall finden sich Straßen, die den Namen oder Künstlernamen der berühmten Söhne und Töchter der Stadt tragen, ihre Geburtshäuser wurden renoviert oder originalgetreu nachgebaut und in Museen bzw. Gedenkstätten umgewandelt. An vielen Stellen stehen Statuen oder Gedenkmonumente mit ihren Gedichten und Liedern. Auf diese Weise werden Legenden geschaffen. Nimmt man zu diesen Kulturressourcen noch die wunderschöne Landschaft des HallyeoWasserweges hinzu, erhöht sich der Markenwert von Tongyeong als attraktivem Reiseziel noch weiter. Unter den genannten Künstlern dürfte der Dichter Yu Chi-hwan K o r e a n a ı S o mme r 2 01 2

wohl derjenige sein, dem auf die vielfältigste Weise gedacht wird. Vielleicht deshalb, weil sein Leben das kürzeste und gleichzeitig bewegteste war?

... Auch heute schreibe ich am Fenster der Post, durch das der emeraldblaue Himmel scheint, einen Brief an Dich... Yu Chi-hwan soll der Sijo-Dichterin Lee Yeong-do, die ebenfalls an der Mädchenmittelschule von Tongyeong unterrichtete, Tausende von Liebesbriefen geschrieben haben. Auch die obigen Zeilen aus dem Gedicht Glück, warm und süß wie ein Flüstern, waren einer seiner Liebesbotschaften an sie. Es gibt seit längerer Zeit Bestrebungen der Bürger, die Hauptpost von Tongyeong, die höchstwahrscheinlich die im Gedicht von Yu Chi-hwan erwähnte Post ist, in „Cheongma-Post“ (Cheongma: Schriftstellername von Yu Chihwan) umzubenennen, der Erfolg bleibt jedoch noch abzuwarten. Es gibt noch weitere Stätten, die Realität und Träume dieses Dichters atmen, so z.B. das Gelände des Kindergartens, den Yus Ehefrau betrieb, um Cheongma beim Bestreiten des Lebensunterhalts der Familie zu helfen, und das Haus, in dem die bereits mit 21 verwitwete Lee Yeongdo mit ihrer Tochter lebte und ihre Gefühle in Briefen an Cheongma zum Ausdruck brachte. Das alte Geburtshaus des Dichters, das am Hang des Berggipfels Mangilbong gelegen war, wurde wieder aufgebaut und zum Cheongma Literaturmuseum umfunktioniert. In diesem Museum sind rund 100 Exponate aus Yus Hinterlassenschaft ausgestellt, die dem Besucher ein tieferes Verständnis seines Lebens und seiner literalischen Welt vermitteln, sowie rund 350 verschiedene literarische Schriftstücke. Yu Chi-hwan kam mit 59 Jahren in Busan bei einem Autounfall ums Leben.

Traditionelle Handwerkskunst Tongyeong ist zwar unbestritten die Heimat großer moderner Künstler, die Stadt ist jedoch seit jeher schon eine Hochburg der traditionellen Handwerkskunst. In Tongyeong (Abkürzung von

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1. Teil des Gesichts einer steineren Totemfigur der Joseon-Zeit in Munhwa-dong, Tongyeong 2. Die von Studenten geschaffenen Wandmalereien haben dem Dorf Dongpirang — wörtlich „Ost-Klippe” — neues Leben eingehaucht.

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„Tongjeyeong“) befanden sich während der Joseon-Zeit das Marinekommando Tongjeyeong, das die drei Provinzen Gyeongsang-do, Jeolla-do und Chungcheong-do verwaltete, und zwölf Werkstätten, die Militärbedarf und Konsumartikel lieferten. Deshalb zog Tong­ yeong viele Kunsthandwerker an. Dank dieses geschichtlichen Hintergrunds gibt es in Tongyeong heutzutage mehr staatlich desig­ nierte Träger wichtiger Immaterieller Kulturgüter als in irgendeiner anderen lokalen Gebietskörperschaft des Landes. So leben hier die Träger der Titel Wichtiges Immaterielles Kulturgut Nr. 10 Lackkunstmeister (Perlmuttintarsien-Lackkunst), Nr. 55 Möbeltischlermeister (traditionelle Holzmöbel), Nr. 64 Metallkunstmeister (dekorative Holzmöbel-Metallbeschläge) und Nr. 114 Flechtkunstmeister (Blenden aus Bambusgeflecht). Auch der Träger des Titels Wichtiges Immaterielles Kulturgut Nr. 4, Gat-Meister (Gat: traditioneller Herrenhut aus Pferdehaaren) stammt ursprünglich aus Tongyeong, wurde jedoch aus der Liste des Wichtigen Immateriellen Kulturguts von Tongyeong gestrichen, weil er nach Seoul gezogen ist. Die Werke dieser Meister kann man im Museum für traditionelle Handwerkskunst Tongyeong, das sich im Viertel Donam-dong befindet, betrachten. Wie es bei der Weiterleitung von traditioneller Kultur und Kunst oft der Fall ist, so spiegeln auch diese Museumsexponate der traditionellen Handwerkskunst das Streben der Meister wider, traditionelle und moderne Elemente fließend zu harmonisieren und so Kunstformen zu schaffen, die den Trends des Zeitalters entgegenkommen. Das Dorf Dongpirang Wenn man den Hügel hinter dem Markt vor dem Hafen von Tong­ yeong hinaufgeht, gelangt man in ein kleines Dorf namens Dongpirang. Das Dorf verdankt seinen Namen der Tatsache, dass es auf einer Klippe im Osten liegt: „Dong“ bedeutet „Osten“ und „Pirang“

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im Tongyeong-Dialekt „Klippe“. Es ist eine natürlich gewachsene Siedlung, die entstand, als sich hier während der japanischen Kolonialzeit einfache Lohnarbeiter aus anderen Regionen des Landes niederließen. Damals gab es keinen Entwicklungsplan, man baute, wo und wie man es gerade brauchte, so dass ein Labyrinth enger, gewundener Gassen entstand, in denen der armselige Hausrat der Bewohner nicht selten auch noch vor der Tür der engen Behausungen platziert wurde. Die Stadt Tongyeong plante zur Verschönerung der Stadt den Abriss des Viertels. Es wurde ein aufwändiger Plan erstellt, laut dem auf dem Gelände von Dongpirang die östliche Kasematte des Marinekommandos von Admiral Yi Sun-sin originalgetreu rekonstruiert und rundherum ein Park angelegt werden sollte. Jedoch wurde dieser Plan gestrichen, als im November 2006 die Bürgerinitiative Grünes Tongyeong 21 unter dem Motto „Auch ein Armenviertel am Hang kann schön sein, wenn man es pflegt!“ eine Ausschreibung für Wandmalereien veranstaltete. Kunststudenten aus ganz Korea haben die Gassen mit interessanten, einfallsreichen Malereien gefüllt. Das einst schäbige, heruntergekommene Dorf Dongpirang verwandelte sich in ein schönes Viertel mit pulsierendem Leben, das an die Dörfer entlang den Hängen der neapolitanischen Küste erinnert. Die Kreativität der jungen Menschen hat Dongpirang in ein völlig neues Gewand gekleidet und es zu einem sehenswerten Touristenziel von Tongyeong gemacht. Das Dorf ist vor allem für junge Besucher ein attraktives Ausflugsziel.

Café Pagoda oder Bagdad In Dongpirang lebten einst Menschen, deren Lebensverhältnisse so prekär waren wie der Hang, an dem ihre Behausungen klebten, steil. Entsprechend viele herzzerreißende Geschichten gibt es hier. Ich traf eine Großmutter, die schon seit fast 40 Jahren in Dongpirang lebt. „Das lässt sich gar nicht mit Worten beschreiben. Ich Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


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habe den ganzen Tag lang hier gesessen und auf die Boote gewartet. Wenn sich eins mit einer weißen Fahne genähert hat, hat mich fast der Schlag getroffen. Ich bin dann barfuß zum Hafen da unten gelaufen. Denn die weiße Fahne bedeutete, dass ein Unfall geschehen war.“ Wenn man eine Runde im Dorf macht, findet man das Café Pagoda. Es steht zwar „Café“ auf dem Schild, aber in Wirklichkeit ist es nichts als ein Miniladen. In diesem nur ca. drei Quadratmeter großen Café kann man Kekse, Getränke und Instantnudeln bestellen. Vor dem Café gibt es eine Holzplattform, auf der drei bis vier Erwachsene Platz haben, und ein altes Sofa. Als ich eine Tasse Kaffee bestellte, servierte mir der alte Besitzer Baek Tae-jin (73 Jahre) eine Tasse Instantkaffee mit Zucker und Milchpulver in einem Wegwerfbecher. So ein einfacher Kaffee, den man beim Betrachten des Meeres trinkt, schmeckt schon besonders süß. „Großväterchen, seit wann leben Sie schon hier?” „Bestimmt schon länger als 40 Jahre. Noch bis vor einigen Jahren gab es hier nicht mal eine richtige Wasserversorgung. Die Straßen, wenn man die überhaupt so nennen kann, waren miserabel. Da kam gerade mal ein Fahrrad durch. Die meisten Frauen von hier haben da unten auf dem Markt Fische verkauft. Es scheint mir erst gestern gewesen zu sein, dass K o r e a n a ı S o mme r 2 01 2

die Kinder halb nackt durch die steilen Gassen gelaufen sind.“ Großvater Baek fügte hinzu, dass er sich darüber freut, dass nach Fertigung der Wandbilder mehr Besucher nach Dongpirang kommen, und meinte: „Eis verkauft sich gut.“ Die Geschichte, warum der Laden den Namen „Café Pagoda“ erhielt, war besonders interessant: Eines Tages erwähnte ein Kunde, dass der Laden ihn an das Café Bagdad im Film Bagdad Café (Originaltitel: Out of Rosenheim) erinnere. Großvater Baek hängte dann am nächsten Tag ein Schild mit der Aufschrift „Café Pagoda“ über den Eingang. Da er schlecht hörte, klang für ihn „Café Bagdad“ wie „Café Pagoda“. An der Wand gegenüber dem Café steht ein Audio-Gerät, das jemand weggeworfen hat. Ein Kabel windet sich aus dem Gerät heraus an der Wand entlang nach oben. Das Kabel endet an einem auf die Wand gemalten Kopfhörer. Die Besucher, die hier vorbeigehen, legen immer ihr Ohr an den Kopfhörer und schließen die Augen. Sie lauschen vielleicht dem Geräusch des Meeres. In zwei Jahren werden die Wände neu bemalt. Die Farben verblassen nämlich mit der Zeit. Wie wird Dongpirang dann aussehen? Ach ja, neben dem Bild mit dem Kopfhörer steht ein alter Holzstuhl. Daneben steht: „Bitte setzen Sie sich für eine Weile hin und betrachten Sie das morgendliche Meer.“ Das kann ich nur empfehlen.

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FOKUS

Die Geschichte des Dorfes Sungmisan Ursprünglich als Gemeinschaftskindertagesstätte im Jahr 1994 gegründet, etablierte sich das „Dorf Sungmisan“ zu einer erfolgreichen Dorfgemeinschaft, die eine alternative Grund-, Mittel- und Oberschule, eine Konsumgenossenschaft für den Handel mit Agrarprodukten aus organischem Anbau und ein Kulturzentrum für die Bewohner umfasst. Die Wiederbelebung alter Dorfgemeinschaftsstrukturen, die durch die Stadtentwicklung mehr und mehr verschwinden, ist auch eines der Hauptprojekte der Stadtregierung Seoul. You Chang-bok Vertreter des Sungmisan-Dorftheaters | Fotos: Ahn Hong-beom

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m Hochsommer sitzen die Dorfbewohner auf einer riesigen Holzplattform vor einer Reinigung. Mit einem lauten Knack schneidet die Frau des Reinigungsbesitzers eine Wassermelone in zwei Hälften. Die eine Hälfte im Arm haltend, löst sie eifrig das reife Fruchtfleisch mit einem Löffel heraus und gibt es in eine Messingschüssel. Ihr Mann legt ein großes Eisstück in die Schüssel und zersplittert das Eis mit Hilfe einer langen Nadel und eines Hammers. Der ungeduldige Inhaber des Lebensmittelgeschäfts gegenüber der Reinigung schnappt sich die andere Melonenhälfte, schneidet sie mit dem Messer in spitze Stücke und verteilt sie an die Kinder, die sich mit wässrigen Mündern um ihn gedrängt haben. Nachdem die Kinder die Melone verputzt haben, spielen sie vor der Holzplattform Versteck oder versammeln sich in einer Ecke der Gasse, wo die am Leitungsmast hängende Straßenlaterne ein schwaches Licht verbreitet, und erzählen Gruselgeschichten. Auf der Holzplattform werden die Wassermelonenschalen beiseite geschoben und eine Partie Janggi (koreanische Schachvariante) wird eröffnet. Solche Szenen vor meinem Haus waren vor 40 Jahren, als ich Kind war, typisch. Obwohl ich in der Stadt aufwuchs, verbrachte ich meine Kindheit doch inmitten einer solch warmen, nachbarschaftlichen Atmosphäre. In jüngster Zeit ist „Schaffung einer Dorfgemeinschaft“ zu einer Art weit propagiertem Slogan geworden. Um das Projekt zur Wiederbelebung der Dorfgemeinschaft systematisch durchzuführen, hat die Seouler Stadtverwaltung das „Seoul DorfgemeinschaftKomitee“ ins Leben gerufen. Auch wenn diese Aktion etwas spät

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kommt, so ist es doch nichtsdestoweniger begrüßenswert, dass die Seouler Stadtregierung ihre Aufmerksamkeit auf die Wiederherstellung und Bewahrung der Werte von eigenständigen Dorfgemeinschaften richtet. Aber ein Dorf als Gemeinwesen ist letztendlich nicht etwas, das man einfach nach einem vorgefertigten Plan schaffen kann. Es entsteht erst dadurch, dass sich die Nachbarn über die gemeinsamen Probleme, mit denen sie sich im Alltag konfrontiert sehen, beklagen, und nach Wegen suchen, wie sie diese Probleme gemeinsam lösen können. Ein „Dorf“ ist damit ein von Reziproziät geprägtes Netzwerk von Alltagsbeziehungen, in dem jeder seine Talente mit den anderen teilt.

Anfang als kommunales Kinderbetreuungsnetzwerk Das Sungmisan-Dorf erstreckt sich in einem Radius von einem Kilometer um den Berg Sungmi-san (Höhe: 66m) im Seouler Stadtteil Mapo-gu. Verwaltungstechnisch gesehen umfasst es fünf Bezirke (Dong). Das Dorf wurde vor rund zehn Jahren weit und breit bekannt, als es durch die Aktion „Rettet den Sungmi-san“ häufig in Zeitungen und Fernsehen Gegenstand der Berichterstattung war. Heutzutage kommen jedes Jahr etwa 5.000 Besucher aus dem ganzen Land hierher, wobei die meisten eine erfolgreiche Dorfgemeinschaft in Augenschein nehmen und davon etwas lernen wollen. Wir haben ungefähr 20 Jahre gebraucht, um dahin zu kommen, wo wir heute sind. 1994 schlossen sich etwa 20 Doppelverdiener-Haushalte, die keine richtigen Kinderbetreuungsmöglichkeiten finden konnten, zusammen. Sie brachten gemeinsam das notwendige Kapital auf und Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


1. Der Laden der Konsumgenossenschaft, der Ükofreundliche Lebensmittel anbietet, unterstßtzte auch eine Reihe weiterer Gemeinde-Aktivitäten. 2. Unterricht in darstellender Kunst in der Halle der Sungmisan Schule 2


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ⓒ garimtoMJKim

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Das Theater hat 365 Tage im Jahr ununterbrochen geöffnet. Hier finden nicht nur Film-, Theater- und Konzertaufführungen, sondern auch Veranstaltungen wie Modeschauen und Volljährigkeitszeremonien statt, dazu werden große und kleine Dorfgemeindesitzungen und Feste abgehalten. Es ist daher eher ein Dorfplatz als ein Theater.

1. Der Laden der Konsumgenossenschaft befindet sich am Eingang zum Viertel. 2. Kinder nehmen am jeden Mai stattfindenden Sungmisan Festival teil. 3. Eltern übernehmen freiwillig die Aufsicht bei den Aktivitäten nach Schulschluss. 4. Das Sungmisan Theater ist das ganze Jahr über geöffnet.

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gründeten in Yeonnam-dong, Mapo-gu, eine Kindertagesstätte. Auf diese Weise wurde die Woori Kindertagesstätte, die erste kommunale Kinderbetreuungsgenossenschaft Koreas, ins Leben gerufen. Ein Jahr später wurde in Seogyo-dong mit der Nareuneun Kindertagesstätte die zweite kommunale Kinderbetreuungseinrichtung eröffnet. Als die hier betreuten Kinder in die Grundschule kamen, wurde 1999 eine Einrichtung für die Betreuung nach Schulschluss gegründet. Immer mehr Menschen, die die kommunale Kinderbetreuungsphilosophie „Wir ziehen unsere Kinder gemeinsam groß!“ teilten, packten entschlossen ihre Siebensachen und zogen in die Nähe der Kinderbetreuungseinrichtungen am Fuße des Sungmi-san. Während die Bewohner mit endlosen Treffen und Aktivitäten die Genossenschaft leiteten, wurden die Kinder schnell groß. Aus dem ältesten Jungen von einst ist mittlerweile ein 23-jähriger junger Mann geworden. Durch das gemeinsame Großziehen des Nachwuchses erfuhren die Eltern eine neue Art der Freude. Denn dank der Kinder freundeten sich auch die Eltern an und knüpften so enge Beziehungen zueinander, dass – wie es so schön heißt – jeder weiß „wie viele Löffel der andere in seiner Küche hat“. Das Interesse an unseren Kindern weitete sich zu einem Interesse an unserer kommunalen Gemeinschaft aus, denn um unsere Kinder gut aufziehen zu können, musste die ganze Nachbarschaft zu einem Ort werden, an dem sich gut leben lässt.

Konsumgenossenschaft als Dorfzentrum Auf Basis der wertvollen Erfahrungen, die beim Leiten der Kinderbetreuungsgenossenschaft gesammelt wurden, wurde 2001 K o r e a n a ı S o mme r 2 01 2

eine Konsumgenossenschaft gegründet. Über die Konsumgenossenschaft, die hauptsächlich den gemeinsamen Einkauf von umweltfreundlichen Lebensmitteln organisiert, wurden freundschaftliche Beziehungen nicht nur unter den Mitgliedern der Kinderbetreuungsgenossenschaft aufgebaut, sondern auch zu den übrigen Bewohnern des Viertels. Heute, zehn Jahre später, weist die Genossenschaft einen durchschnittlichen Jahresumsatz von fünf Milliarden Won (rd. 3,37 Mio. Euro) und eine Mitgliederzahl von 5.000 Haushalten auf und fungiert als Drehscheibe für verschiedene lokale Aktivitäten. Beispielsweise unterstützt sie Gründung und Management verschiedener Vereine (Bergsteigerverein, Ackerbauverein, Verein zur Bekämpfung von Neurodermitis, verschiedene bildungsorientierte Vereine z.B. zum Elternwerden und Elternsein oder Volkslied-Gesangvereine), organisiert das jährlich stattfindende Sungmisan-Dorffest, Wald-Musikkonzerte und Dorfsportfeste und spielt in puncto Maßnahmen für wichtige Angelegenheiten des Dorfs eine zentrale Rolle. Eins der Hauptprojekte der Genossenschaft ist die oben genannte Aktion „Rettet den Sungmi-san“. Zwecks Bau einer Anlage, die das Mapo-Gebiet mit Leitungswasser versorgen sollte, begann die Stadtregierung Seoul 2001 mit dem Fällen von Bäumen auf dem Sungmi-Berg, einer wertvollen natürlichen Grünzone. Mit der Aktion „Rettet den Sungmi-san“ kämpften wir zwei Jahre lang gegen das städtische Bauvorhaben und konnten schließlich den Bau des Wasserwerks verhindern. Im Jahr 2009 wehrten wir uns in einer zweiten Aktionsrunde gegen den Plan einer Privatschulstiftung, ihre Grund-, Mittel- und Oberschule in dieses Gebiet umzusiedeln. Aber diesmal hatten wir keinen Erfolg. Derzeit sind ungefähr 30

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Prozent der zum Sungmi-san gehörenden Fläche durch die Bauarbeiten für die Schulen beschädigt. Unsere Forderung „Lasst den Wald auf dem Berg und die Schulen in der Ebene“ konnten die in der Realität bestehenden Hürden nicht nehmen.

Jeder Tag ein Fest Im Mai 2001, als die Konsumgenossenschaft eröffnet wurde, haben wir zu ihrer Bekanntmachung in der lokalen Gemeinschaft ein Festival auf den Weg gebracht, das jetzt schon mehr als 10 Mal stattgefunden hat. Jedes Jahr im Mai, wenn das Dorf vom Duft der Azaleen, die den ganzen Sungmi-san bedecken, erfüllt ist, lassen die Bewohner mit besonderer Begabung für Stimmungsmache auf der Bühne ihrem Talent leidenschaftlich freien Lauf. Weil wir dachten, dass ein Festival pro Jahr nicht ausreicht, sondern dass jeder Tag ein Festival sein sollte, schufen wir einen „Spielplatz“ für verschiedene Dorfvereine: das Sungmisan Dorftheater. Das Theater hat 365 Tage im Jahr ununterbrochen geöffnet. Zur Häfte fungiert es als Laienbühne für die Bewohner und zur Hälfte als Bühne für professionelle Darbietungen. Hier finden nicht nur Film-, Theater- und Konzertaufführungen, sondern auch Veranstaltungen wie Modeschauen und Volljährigkeitszeremonien statt, dazu werden große und kleine Dorfgemeindesitzungen und Feste abgehalten. Es ist daher eher ein Dorfplatz als ein Theater. Das Theater hat auch die verschiedenene Kultur- und Kunstvereine zum Florieren gebracht. Zurzeit gibt es rund 15 Vereine wie Pungmul-Gruppe (traditionelle PercussionBand), Dorftheatertruppe, Fotografierverein, Videoproduktionsverein, Rockband der Älteren und Alten, Dorfchor und Zeichenclub.

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Alternative Bildung In unserem Dorf gibt es auch die erste alternative Schule Koreas, die die ganze 12-jährige Schulbildungslaufbahn von der Grund-, über die Mittel- bis zur Oberschule umfasst. Unter Einsatz der Bewohner wurde die Schule nach einer Vorbereitungsphase von zwei Jahren im September 2004 eröffnet und wird heute, nach neun Jahren, von rund 170 Kindern besucht. So haben die Bewohner aus eigener Kraft nach und nach den gesamten Bildungsweg ihrer Kinder abgedeckt und gemanagt, angefangen bei Kindertagesstätten und Betreuungseinrichtung nach Schulschluss bis hin zur Alternativschule Kkumteo (Traumplatz), die neben der verpflichtenden Grund- und Mittelschulbildung auch die höhere Oberschulbildung umfasst. Auf diese Weise ist das Dorf jetzt mit einer Kern-Infrastruktur ausgestattet, die es den Bewohnern erlaubt, für den gesamten Bildungsweg ihrer Kinder bis zum Erreichen der Volljährigkeit (20) gemeinsam die Verantwortung zu tragen. In einer Metropole wie Seoul, in der man manchmal selbst nach Jahren nicht weiß, wer nebenan wohnt, und für bessere Schulabschlüsse der Kinder oft in Gegenden mit den besseren Schulen umzieht, haben wir eine realistische und solide Grundlage für ein langfristiges nachbarschaftliches Zusammenleben geschaffen. Diese tiefe Solidarität war möglich, weil die Nachbarn ihre Köpfe zusammensteckten, um sich gemeinsam über Alltagsprobleme den Kopf zu zerbrechen, Lösungen vorzuschlagen, und so Nachbarschaft lebten. Dieses von Reziprozität geprägte Netzwerk für das Alltagsleben – ist es nicht gerade das, was eine Dorfgemeinschaft ausmacht?


Selbstbestimmung lernen Nach der Konsumgenossenschaft wurden jedes Jahr ein oder zwei weitere Dorfunternehmen gegründet. 2002 öffnete Dongne Bueok (Dorfküche) ein Laden für Beilagen aus hundertprozentig organischen Zutaten und ohne chemische Geschmacksverstärker. Es folgten das Dorfcafé Jageun Namu (Kleiner Baum) und das Dorfrestaurant Sungmisan-Bapsang (Sungmisan Esstafel), beide mit gemeinsamen Investitionsmitteln der Bewohner gegründet und gemeinsam betrieben. Ob es nun um Geld oder Arbeit geht: Man kann Herausforderungen, die man nicht alleine anzugehen wagt, reibungslos erledigen, indem man sich zusammenschließt, und dabei auch noch den „Nachbarn“ kennen lernen. SungmisanGongbang, eine Werkstatt in der auch junge Behinderte Arbeit gefunden haben, Binu Dure, wo manuell Seifen hergestellt werden, Hanttam Dure, wo umweltfreundliche Baumwoll-Damenbinden, Bettwäsche und die traditionelle koreanische Tracht Hanbok hergestellt werden, und Dolbom Dure, wo Senioren gepflegt werden – all das sind nur einige Beispiele für Unternehmen, die von Bewohnern mit besonderen Talenten und dem Willen zum Arbeiten gegründet wurden. Vor kurzem wurde das alternative Wohnungsbau-Unternehmen „Sohaengju“ (Akronym für den koreanischen Ausdruck: glückliches Wohnen dank Kommunikation) geschaffen, das auf der Grundlage des Cohousing-Konzepts Cohousing-Wohnraum mit umfangreichen Gemeinschaftseinrichtungen entwickelt und verkauft. Es gibt im Dorf insgesamt 20 Unternehmen, die nach dem Genossenschaftsprinzip betrieben werden. Das Kapital wird von investitionswilligen Dorfbewohnern jeweils im Rahmen der individuellen Möglichkeiten aufgebracht, die Leitung übernehmen Personen mit Zeit und Bereitschaft dazu. Mit rund 150 bei den verschiedenen Dorfunternehmen Beschäftigten, tragen die Genossenschaftsbetriebe nicht wenig zur Schaffung von Arbeitsplätzen in der Gemeinschaft bei. Kooperation kann aber auch ein sehr umständlicher Prozess sein. Wenn die verschiedenen Mitglieder die diversen Unterschiede zwischen ihnen nicht anerkennen und die für Koexistenz notwendige Sensibilität ihnen nicht in Fleisch und Blut übergeht, können sie weder gemeinsam vorankommen, noch etwas erreichen. Ist jedoch nach dem schwierigen Prozess des Zusammenarbeitens einmal ein Erfolg erzielt worden, spricht dies in beredter Weise für Kraft und Potenzial der Kooperation. Es ist ein Prozess, bei dem man sein Leben selbst bestimmt und aus eigener Kraft führt, Hindernisse und die Notwendigkeit ihrer Beseitigung erkennt und sie dann auch tatsächlich aus dem Weg räumt. „Sungmisan-Dorf“ ist kein Name, der von den Behörden zur Bezeichnung einer Verwaltungseinheit bestimmt wurde. Es ist nur ein symbolischer Name, der alle Bewohner vor Ort, die freiwillig an diesem Projekt „Dorf“ teilnehmen, zu einer Einheit zusammenschließt. Für uns ist das Dorf ein Raum, wo wir unser Selbstbestimmungsrecht als Bewohner lernen und praktizieren können.. K o r e a n a ı S o mme r 2 01 2

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1. Die Sungmisan Schule ist ein weiteres Gemeinschaftsprojekt der Bewohner des Viertels. 2. In Anschluss an das Kinderbetreuungszentrum richteten die Bewohner ein Programm zur Betreuung nach Schulschluss ein.

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KUNSTKRITIK

Meditation per Pinselstrich

Dansaekhwa Koreas monochrome Malerei

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Die diesmalige Ausstellung wirft ein neues Licht auf die als Dansaekhwa bekannte monochrome Malerei, die die moderne koreanische Kunstgeschichte die letzten 40 Jahre lang stark geprägt hat. Die präsentierten 150 Werke von 31 Künstlern zeichnen Anfänge und Entwicklung dieser bedeutenden Kunstbewegung eingehend nach. Koh Mi-seok Fachjournalistin für Kunst & Design, Tageszeitung Dong-a Ilbo | Fotos: Nationl Museum of Contempory Art

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2 1. Kim Tae-ho, Ausschnitt aus Internal Rhythm 2011-4 , Acryl auf Leinwand, 163 x 260 cm 2. Lee Ufan, From Point , Kleber und Steinpigmente auf Leinwand, 117 x 117 cm

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n der Ausstellungshalle, bei deren Design man sich an einerm traditionellen koreanischen Hanok-Haus orientiert hatte, herrschte eine heimelige Atmosphäre. Von den abstrakten, einfarbigen Bildern, die mal im völlig offenen Raum, mal entlang den versteckten Passagen ausgestellt waren, strahlte ein ruhiges Licht und eine tiefe Resonanz aus. In den einfachen Grundfarben wie Schwarz, Blau oder Weiß, in denen die einzelnen Werke mit ihrem jeweils ganz individuell-originären Charakter gehalten waren, verbargen sich mehrschichtige Bedeutungen und tausend verschiedene Ausdrucksnuancen. Die Ausstellung Dansaekhwa: koreanische monochrome Malerei, in der ausschließlich einfarbige, gegenstandslose Malereien zu sehen waren, fand vom 17. März bis zum 14. Mai im Nationalmuseum für Zeitgenössische Kunst in Gwacheon, Provinz Gyeonggido, statt. Vertreten waren sowohl ältere Künstler wie Park Seo-bo, Lee Ufan, Chung Chang-sup und Ha Chong-hyun, die die Dansaekhwa-Bewegung in ihrer Anfangsphase in den 1970er Jahren angeführt hatten, als auch Künstler in ihren 40ern und 50ern wie Lee Kang-so oder Kim Tae-ho, die für die Dansaekhwa-Malerei ab den 1980er Jahren durch eine moderne Sensibilität neue Dimensionen eröffneten. Um die Dansaekhwa-Kunst aus einer neuen Perspektive zu präsentieren, warb das Museum Yoon Jin-sup, Kunstkritiker und Professor an der Honam Universität, für diese Ausstellung als Kurator an. Das Ergebnis war eine Ausstellung, die nicht nur monochrome Malereien aus der Perspektive der zeitgenössischen Kunst zeigte, K o r e a n a ı S o mme r 2 01 2

sondern auch großformatige, qualitativ hochwertige Werke präsentierte, die bis dahin nur schwer zugänglich gewesen waren, was von Kritikern und Publikum gleichermaßen wohlwollend gewürdigt wurde. Die Ausstellung war zudem in der Hinsicht bedeutsam, dass hier die Bezeichnung „Dansaekhwa“ offiziell als Eigenname propagiert und mit den bislang verwendeten verwirrenden Bezeichnungen wie „Monochrome Malerei“, „Monotone Malerei“ oder „Einfarbige-Flächen-Malerei“ aufgeräumt wurde. „Dansaekhwa unterscheidet sich grundlegend vom westlichen Minimalismus“, sagt Professor Yoon, und fügt hinzu: „Wir hoffen, dass sich die koreanische Bezeichnung Dansaekhwa durch diese Ausstellung international als eine der koreanischen Kunst eigene Marke etablieren kann.“ Dansaekhwa hatte seinen Ausgangspunkt in der monochromen Kunst des Westens, wurde dann jedoch auf Basis des inneren Wesens und der geistigen Werte Koreas neu interpretiert, weshalb Dansaekhwa ähnlich wie das japanische Monoha und die italienische Arte Povera als originärer koreanischer Kunststil international anerkannt werden sollte, meint Professor Yoon.

Stille, geschaffen durch intensive Arbeit In Korea kam die auf der monochromen Malerei basierende Kunst Anfang der 1970er Jahre auf und überrollte dann Mitte der 70er die koreanische Kunstszene wie eine gewaltige Welle. Obwohl sie zu Beginn unter dem Einfluss des den westlichen Modernismus

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repräsentierenden Minimalismus stand, schlug sie in den letzen 40 Jahren als eigenständige koreanische Kunstform Wurzeln und gelangte zur Blüte. Wie unterscheidet sich nun Dansaekhwa von der westlichen monochromen Kunst oder dem Minimalismus? Professor Yoon erklärt, dass der westlichen monochromen Malerei eine rationale und logische, auf den Prinzipien der Mathematik und Sprache basierende Schaffensweise zugrunde liege, während Dansaekhwa auf einem meditativen, ganzkörperlich-holistischen Schaffensakt beruhe. In Kontrast zur „leeren Malerei“ des Minimalismus zeugt Dansaekhwa von der Intensität der Gedanken und der Mühen sowie von der Tiefe des Schweigens. Obwohl die Werke in beiden Fällen monochrom sind, ist bei Dansaekhwa die Körnigkeit der Farbe zu spüren, was dadurch erreicht wird, dass der Künstler denselben Pinselstrich mehrere zehn oder mehrere hundert Male wiederholt. Die Dichte des Schwarz, das durch wiederholte Pinselstriche erzeugt wird, kann nicht identisch sein mit der Dichte des

1 1. Yun Hyong-keun, Burnt Umber & Ultramarine Blue 86-29 , Öl auf Leinwand, 300 x 150 cm 2. Park Seo-bo, Ecriture No. 43 , Bleistift und Öl auf Hanfleinen, 193,5 x 259,5 cm 3. Kim Tschoon-su, Ultra-Marine 1034 , Öl auf Leinwand, 200 x 200 cm

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durch einen einmaligen Pinselstrich erzeugten Schwarz. „Während die westliche monochrome Malerei sich am Visuellen orientiert, legt Dansaekhwa Wert auf die taktile Wahrnehmung und spiegelt die koreatypische Sicht der Natur wider, also Angleichung an die Natur,“ erklärt Professor Yoon. „Es sind also Werke, die aus der Betrachtungsweise der Ökologie, Kosmologie und des Konzeptes der Mutter Erde geschaffen wurden“. Dansaekhwa-Künstler versuchen ihren Werken die koreanischen geistigen Werte einzuhauchen, also Leere, Kontemplation, Bewegung im Stillstand, absichtsloses Handeln (Wu Wei), und Maßhalten, die alle auf der traditionellen Sichtweise des Einklangs mit der Natur beruhen. Die meisten Künstler rangen auf der Suche nach einem originären Stil ihr ganzes Leben mit sich selbst. Wie in lebenslanger Askese drückten sie ihren transzendentalen Geisteszustand auf der Leinwand durch das Wiederholen immer ein und derselben Handlung aus. Anders als Minimalisten wie Robert Morris oder Donald Judd, die nur Ideen vorbrachten, ihre Werke dann


aber unter Einsatz von industriellen Stoffen in Fabriken herstellen ließen, strebten die koreanischen Dansaekhwa-Künstler wie Mönche, die ihren Körper strengen Meditationsübungen unterwerfen, danach, durch jahrelange harte Arbeit mit den Händen Werke zu schaffen, die die Wahrheit der Natur in sich bergen.

die Farbe von Naturhanfstoff bewahrt und sich die natürlich Ausbreitung der Farbstoffe zunnutze macht; Park Seo-bo (geb. 1931), der in einer in Fleisch und Blut übergegangenen Askese tiefe, vertikale Furchen auf die Leinwand bringt, die an die Furchen traditioneller koreanischer Ziegeldächer erinnern; Ha Chong-hyun (geb. 1935), der dicke Schichten Farbe auf der Rückseite der Leinwand aufträgt und sie auf der Vorderseite durchbluten lässt; Choi Byungso (geb. 1943), der wie in einem Akt der geistigen Disziplinierung Zeitungspapier mit Kugelschreiber und Bleistift schwärzt, und Lee Dong-youb (geb. 1946), der sein Leben lang weiße Pinselstriche auf weißen Hintergrund setzte. Die Künstler der späten, zu Beginn der 1980er Jahre einsetzenden Dansaekhwa-Periode gehören zur Nachkriegsgeneration, die Koreas rasante Industrialisierung miterlebte. Sie haben daher den Kontext der Dansaekhwa-Kunst durch eine neue Empfindsamkeit und neue Betrachtungsweisen erweitert und unterscheiden sich in Bezug auf konzeptuelles Bewusstein, Neigungen und Materia-

Vor und nach der Industrialisierung Die Ausstellung war grob in Werke der frühen und der späten Periode unterteilt. Den Auftakt machten Arbeiten von Kim Whan-ki (1913-1974), der in einem Akt der Selbstdisziplin unzählige blaue Punkte auf eine riesige Leinwand malte, Lee Ufan (geb. 1936) mit seinen Kalligraphie-basierten Arbeiten und Quac In-sik (19191988) mit seinen farbenfrohen Punkten auf dünnem Papier. Diesen Künstlern folgten Chung Chang-sup (geb. 1927), der mit den Rindenfasern des Papiermaulbeerbaums (Broussonetia kazinokii), aus der das traditionelle koreanische Papier Hanji gefertigt wird, eine Welt der Stofflichkeit präsentierte; Yun Hyong-keun (geb. 1928), der

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„Dansaekhwa unterscheidet sich grundlegend vom westlichen Minimalismus. Wir hoffen, dass sich die koreanische Bezeichnung Dansaekhwa durch diese Ausstellung international als eine der koreanischen Kunst eigene Marke etablieren kann.“ lien stark von den Künstlern der frühen Periode, die überwiegend in den 1930er Jahren geboren wurden. „Die meisten Künstler der späten Periode haben während des Studiums eine auf dem westlichen Modernismus basierte Ausbildung erfahren, so dass zwischen den Vertretern der frühen und der späten Periode eine Art ästhetischer Bruch besteht,“ erklärt Professor Yoon. Tatsächlich finden sich in den Ausstellungsräumen, die der späten Periode gewidmet sind, neben Werken wie die von Lee Kang-so (geb. 1943), für die Öl- oder Acrylfarben benutzt wurden, Arbeiten, die die Ästhetik der industriellen Gesellschaft mittels künstlicher Materialien wie polyurethane Autolacke (Moon Beom), glitzernde Pailletten (Noh Sang-kyoon), Zuchtperlen (Koh San-keum) und synthetische Harze (Cheon Kwang-yup) erkunden. Nachdem Südkorea 1986 die Asienspiele und 1988 die Olympischen Sommerspiele ausgerichtet hatte, entwickelte sich die koreanische Gesellschaft zu einer Konsumgesellschaft und die Künstler der späten Periode brachten diesen Wandel in einem breiten Spektrum unterschiedlicher Arbeiten zum Ausdruck.

Einem Hanok-Haus nachempfundener Ausstellungsraum Die Ausstellung erregte auch aufgrund ihrer räumlichen Gestal-

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tung Aufmerksamkeit. Man war nämlich vom sonst für Ausstellungshallen üblichen Null-acht-fünfzehn-Design der weißen Würfel abgekommen und hatte statt dessen ein Design gewählt, das den Eindruck vermittelte, durch ein traditionelles koreanisches Hanok-Haus, und zwar ein Yangban (Adliger)-Hanok, zu wandern. Das Design beinhaltete Elemente wie das für traditionelle koreanische Häuser so typische Mitteltor, lange, schmale Durchgänge und eine offene Struktur, die die Landschaftsszenerie außerhalb des Hauses ins Haus miteinbezieht und dadurch einen Raum schafft, der zwischen Offenheit und Geschlossenheit, Spannung und Entspannung wechselt. An Stellen des Übergangs von einem Thema oder einem Künstler zum anderen wurden verschiedene Versuche unternommen, den Besucher völlig in die Kunstwerke eintauchen zu lassen. Beispielsweise wurden die Arbeiten aus den 1970er Jahren, den frühen Tagen der Dansaekhwa , in einem großen, offenen Raum präsentiert, der an den Innenhof eines Hanok erinnerte, um die Werke dieser Periode mit einem Blick erfassen zu lassen. Im Gegensatz dazu wurde Yun Hyongkeuns großformatiges Werk, das vom redlichen Geist eines konfuzianistischen Gelehrten durchdrungen ist, so arrangiert, dass dem Betrachter der Eindruck von Dreidimensionalität vermittelt Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


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3 1. Lee Kang-so, From an Island-07247 , Acryl auf Leinwand, 218,2 x 291 cm 2. Die Ausstellung zog mit ihrer räumlichen Variation von Offenheit und Geschlossenheit, Spannung und Entspannung die Aufmerksamkeit auf sich. 3. Ahn Jung-sook, Tension 2008-A-2 , Öl auf Leinwand, 85 x 85 x 8 cm

wurde. Anstatt Zentrum und Peripherie des Ausstellungsraumes genau zu unterscheiden, waren die schmalen Passagen mit den offenen Räumen verbunden und verbanden so auf natürliche Weise den Fluss der in verschiedenen Farben gehaltenen Werke und die einzelnen Ausstellungsbereiche wie Wasser, das für einen Moment gestaut wird, um dann wieder frei zu fließen. Ein interessanter neuer Ansatz des Kurators bestand darin, entlang des Ausstellungsweges „Aussichtspunkte“ zu arrangieren. Auf diese Weise wurde es den Besuchern ermöglicht, sich frei zwischen den Exponaten zu bewegen und gleichzeitig beim Stopp an einem dieser Aussichtspunkte einen harmonischen Überblick über diverse Werke zu bekommen.

Ästhetik des Reifens Anfang der 1970er Jahre erlebte Dansaekhwa zwar dank der Verbreitung durch Ausstellungen wie Independent, École de Seoul, Seoul Modern Art Show oder Daegu Modern Art Show eine ungeahnte Blüte, warf aber damit auch einen Schatten auf die koreanische Kunst. Die Dansaekhwa-Künstler stellten eine derart große Gruppe, dass für Künstler anderer Stilrichtungen kaum Raum K o r e a n a ı S o mme r 2 01 2

blieb, um sich zu artikulieren, was eine weitgehende Uniformierung der Kunstszene zur Folge hatte. In den 1980er Jahren wurde die Danksaekhwa-Gruppe stark von den Vertretern der MinjungKunst (Volkskunst), einer sozialkritischen Kunstbewegung, dafür kritisiert, in der Zeit der Unterdrückung durch das Militärregime geschwiegen zu haben. Doch ungeachtet aller Kritik hat Dansaekhwa überlebt und besteht, anders als der westliche Minimalismus, der in den 1970er Jahren nach einer kurzen Phase der Popularität zu Ende ging, auch heute noch. Dansaekhwa hat überdauert, weil es eine einzigartige Kunstwelt erschaffen hat, die als Gefäß für neue Ideen dient und die leeren Räume des Bewusstseins einfängt, anstatt nur Trends aus dem Westen zu folgen. Auch wenn sich koreanische Dansaekhwa -Künstler im Stil ihres Ausdrucks und in der Art und Weise, wie sie monochrome Flächen schaffen, unterscheiden, so ist ihnen doch gemeinsam, dass sie ihre inneren Landschaften durch arbeitsintensives Schaffen zum Ausdruck bringen. Diese Landschaften sind erfüllt von der Ästhetik der Mäßigkeit, der Leere, und des Reifens, das durch einen lang anhaltenden Prozess des Gärens erreicht wird, und beim Betrachter ein Gefühl der Stille und des Friedens hervorruft.

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KUNSTHANDWERKER

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Lim In-ho Kunsthandwerker

mit eisernem Stolz auf Metallletterdruck Kunsthandwerker Lim In-ho hat seit 2007 sage und schreibe 44 Typen von beweglichen Metalllettern, die für alte koreanische Dokumente verwendet wurden, originalgetreu nachgeschaffen. Zurzeit steht er im Mittelpunkt des fünfjährigen Projekts zur Nachbildung der Metalllettern, mit denen das Jikji (Anthologie der Zen-Lehre) , das älteste, mit

beweglichen Metalldrucktypen gedruckte Buch der Welt, geschaffen wurde. Park Hyun-sook Freiberufliche Schriftstellerin | Fotos: Ahn Hong-beom

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m 17. Januar 2012 fand in der Schriftgießerei-Werkstatt von Lim In-ho (50), Träger des „Immateriellen Kulturgutes Nr. 101“, im Kreis Goesan-gun, Provinz Chungcheongbuk-do, ein Briefing zum laufenden Projekt Originalgetreue Nachbildung der beweglichen Metalllettern, mit denen das Jikji (Anthologie der Zen-Lehre) gedruckt wurde, statt. Bei dieser bedeutsamen Veranstaltung wurde der beachtliche Etappen-Erfolg des Projekts gefeiert. Denn schon ein Jahr, nachdem Lim sich an die Rekonstruktion der Metalldrucktypen des weltweit ältesten und noch erhaltenen, mit Metalllettern gedruckten Werkes gemacht hatte, konnte er 13 der insgesamt 78 Seiten von Band 2 des buddhistischen Textes nach der traditionellen Methode der Bienenwachs-Gießerei dem Original getreu neu erschaffen. Im Rahmen dieses Projekts, das unter Leitung der Stadtverwaltung Cheongju durchgeführt wird, soll Lim von 2011 bis 2015 die für die buddhistische Anthologie verwendeten Metalllettern nachbilden. Das Jikji besteht aus zwei Bänden, von denen der erste mit Holzdruckstöcken und der zweite mit beweglichen Metalllettern gedruckt wurde.

Drucktechnik von Goryeo und Jikji In Korea wurden die Herstellungstechniken für Druckmaterialien wie Papier und Tusche bereits sehr früh entwickelt. Auch die Holzdrucktechnik blühte früh auf, etwa gegen das 10. Jahrhundert, aber diese Methode war mit vielen Mängeln behaftet: Die Herstellung von Holzdruckblöcken war nicht nur geld- und zeitaufwändig, die mühsam gravierten Holzblöcke waren auch anfällig für Schäden durch Fäulnis, Abnutzung, Schädlinge und Feuer. Zur Behebung dieser Schwachpunkte wurden Metalllettern entwickelt. Anders als bei der Holzdrucktechnik, für die ein Holzdruckstock mit eingravierten Zeichen verwendet wurde, wurden bei dieser Technik bewegliche Druckbuchstaben aus Metall gefertigt und auf einer Setzplatte angeordnet. Die spiegelverkehrte Oberfläche der Lettern wurde dann mit Tinte bestrichen und auf Papier gedruckt. Weil die Lettern aus Metall waren, waren sie stabiler und einfacher aufzubewahren als Holzdruckstöcke. Die Metalllettern des Goryeo-Reichs (918-1392) nehmen einen herausragenden Platz in der Weltgeschichte der Drucktechnik ein. Aus historischen Dokumenten geht hervor, dass der Druck mit beweglichen Metalllettern Anfang des 13. Jahrhunderts in Goryeo weltweit seinen Anfang nahm. Die Herausgabe von mit beweglichen Metalllettern gedruckten Schriften, die unter Leitung der Zentralregierung in Gaegyeong, der alten Hauptstadt von Goryeo (heute Gaeseong in Nordkorea), rege vorangetrieben wurde, verbreitete sich schnell landesweit, was wiederum zum raschen Anstieg der Zahl von mit dieser neuen Technik hergestellK o r e a n a ı S o mme r 2 01 2

2 1. Lim In-ho bei der abschließenden Bearbeitung der Gusstypen. Bei jedem Einzelschritt des Gießens hält er sich strikt an traditionelle Methoden. 2. Die geschnitzten Zeichen werden an Bienenwachshaltestielen angebracht.

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„Wäre ich bei der Gravur von hölzernen Druckstöcken geblieben, hätte ich wahrscheinlich schon längst damit aufgehört. Für mich ist die Schriftgießerei derart spannend, dass ich nie die Freude daran verlieren werde, selbst wenn ich diese Arbeit mein ganzes Leben lang mache.“

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ten Druckschriften beitrug. Das Jikji wurde von Gyeonghan (auch bekannt als Baegun), einem buddhistischen Mönchen aus der Goryeo-Zeit, verfasst und handelt als eine Art spirituelle Anleitung von den Lehren der großen Meister des Zen-Buddhismus. Der offizielle Titel des zweibändigen Werkes lautet Baegun hwasang chorok buljo jikji simche yojeol (Die von Mönch Baegun zusammengestellte Anthologie von Lehren von Ehrenwürdigen Mönchen, die zur Praktizierung des Zen-Buddhismus notwendig sind). Im Juli 1377, im dritten Regierungsjahr von Goryeo-König U (reg. 13741388), wurde das Buch im Tempel Heungdeok-sa in Cheongju mit beweglichen Metalllettern gedruckt. Heutzutage ist nur noch eine Kopie des mit beweglichen Metalldrucktypen hergestellten zweiten Bandes des Jikji erhalten. Ende der Joseon-Zeit (1392-1910) nahm Collin de Plancy (1853-1922), ein französischer Diplomat, der von 1887 bis 1990 und von 1896 bis 1906 im damaligen Kaiserreich Daehan (1897-1910) gedient hatte, diese Ausgabe nach Frankreich mit. Sie gelangte dann in den Besitz eines Antiquariensammlers und nach dessen Tod in die Französische Nationalbibliothek, wo sie bis heute aufbewahrt wird. Das Jikji wurde 78 Jahre früher als die 42-zeilige lateinische Gutenberg-Bibel (1452-1454) in Deutschland und 145 Jahre früher als das Chunqiu fanlu (Üppiger Tau der Frühlings- und Herbstannalen) von Dong Zhongshu in China gedruckt. Das Jikji wurde 1972 im Rahmen des International Book Year der UNESCO präsentiert und als das älteste mit beweglichen Metalllettern gedruckte Schriftstück der Welt anerkannt. Mit Blick auf seinen historischen Wert wurde das Jikji 2001 zum UNESCO-Weltdokumentenerbe erklärt. Das Jikji ist auch für Lim In-ho persönlich ein Buch voller Bedeutung, weil er mit seinem Lehrer Oh Guk-jin bis zu dessen Tod im Jahr 2005 über acht Jahre lang an der Nachbildung der JikjiMetalllettern arbeitete.

In die Fußstapfen des Lehrers treten „Jede einzelne Metallletter wird unter Einsatz einer Kombination von verschiedenen Techniken zur Bearbeitung von Metall, Holz, Sand, Bienenwachs und Feuer geschaffen,“ erklärt Lim, der den staatlich verliehenen Titel „Immaterielles Kulturgutes Nr. 101“ von seinem Lehrmeister geerbt hat. „Eine Metallletter ist ein komplexes Kunstwerk, das Kunsthandwerk, Wissenschaft und Technologie in sich vereint. Im Joseon-Reich, wo der Druck mit beweglichen

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Metalllettern so weit entwickelt wurde, dass man es ohne Übertreibung als „Land der beweglichen Metalllettern“ bezeichnen kann, unterhielt die Zentralregierung eine Behörde für Schriftgießerei, „Jujaso“ genannt, in der jeder einzelne Fertiggungsschritt wie Gravur, Guss, Satz und Druck von einem jeweils spezialisierten Kunsthandwerker übernommen wurde. Heutzutage ist ein Schriftgießer für all diese Prozesse von der Herstellung der beweglichen Metalldrucktypen bis zum Druck zuständig. Entsprechend schwierig ist die Schriftgießerei heute. Die Rekonstruktion von Metalllettern auf der Grundlage von alten, bis heute erhaltenen Schriften war sowohl für mich als auch für meinen Lehrer eine Herausforderung. Aber mein Lehrer gab nie auf.“ Lim In-ho ließ sich 1984 in die traditionelle koreanische Kunst, Schriftzeichen oder Zeichnungen in Holzdruckplatten oder andere Materialien einzugravieren, einweisen und eröffnete 1992 eine eigene Werkstatt in seinem Heimatort Yeonpung-myeon im Kreis Goesan-gun. Aus Neugier auf den Druck mit Metalllettern, der Gemeinsamkeit mit der Holzgravur haben dürfte, suchte er 1996 Oh Guk-jin, den ersten staatlich designierten Meister der Schriftgießerei, auf. Lim besuchte Oh über sechs Monate lang und bewies ihm seine Leidenschaft für dieses Handwerk, wodurch er schließlich das Herz des Meisters zu bewegen vermochte und als Lehrling aufgenommen wurde. „Der Prozess, kochendes Flüssigmetall in eine Gussform zu gießen und daraus Druckbuchstaben zu schaffen, fesselte mich,“ erklärt Lim. „Ich dachte: Das ist gemeint, wenn man sagt, dass man etwas

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1. Das Schnittbild eines von Lim In-ho geschaffenen Lehmmodells zeigt, wie die Lettern in einer Lehmform gegossen werden. Damit der Lehmrahmen nicht bricht, musste Lim die optimale Mischung aus roter Lehmerde, Sand und Wasser herausfinden. 2. Spiegelverkehrte Zeichen werden im Relief in Bienenwachs geschnitten. 3. Nach der Sandguss-Methode produzierte Drucklettern an Haltestielen.

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aus dem Nichts schafft. Es war auch eine neue Freude, jedes einzelne Zeichen zu bearbeiten und zu polieren, so dass es lebendige, ‚bewegliche‘ Gestalt anzunehmen schien. Vor der unermüdlichen Ausdauer meines Lehrers, das ausgestorbene Handwerk der traditionellen Schriftgießerei wiederzubeleben, hatte ich zudem tiefsten Respekt. Er, ein Experte im Studium von alten Dokumenten und Epigraphen und darüber hinaus anerkannter Kalligraph, war außerordentlich streng. Er tadelte mich stets hart, wenn ich einen typographischen Fehler machte, oder er mit nur einem einzigen Strich in einem Zeichen nicht zufrieden war. Er kannte kein Aufgeben. Ich vergesse schon hin und wieder den Todestag meines Vaters, aber den Todestag meines Lehrers habe ich niemals vergessen.“ In der Vergangenheit wurden Metalllettern in Korea durch die Technik, flüssiges Metall in eine Gussform zu gießen, hergestellt. Für die Schriftgießerei gab es zwei Methoden: Bienenwachs-GießeK o r e a n a ı S o mme r 2 01 2

rei und Sandguss-Verfahren. Bei der Bienenwachs-Gießerei, die in der Goryeo-Zeit erfunden wurde, gravierte man die Schriftzeichen zunächst in eine Grundlage aus Bienenwachs ein, die anschließend mit einer Sand-Lehm-Mischung eingefasst wurde. Danach wurde das Wachs herausgeschmolzen und in den Hohlraum flüssiges Metall gegossen, so dass man ein Metall-Schriftzeichen erhielt. Beim Sandguss-Verfahren, das am Königshof und von den Behörden der Joseon-Zeit eingesetzt wurde, wird zunächst ein erhabenes, spiegelverkehrtes Schriftzeichen-Relief in ein Stück Holz geschnitzt. Die so hergestellten Zeichen-Prototypen werden an einer Haltevorrichtung befestigt in einen weiblichen Rahmen platziert, der dann mit Lehm aufgefüllt, umgestülpt und mit einem männlichen Rahmen bedeckt wird. Danach wird flüssiges Metall in den durch die Schriftzeichen geformten Hohlraum zwischen den aufeinander gelegten Rahmen gegossen, so dass bewegliche Let-

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1. Flüssiges Metall wird durch eine Öffnung an der Seite des schräg positionierten Gussrahmens gegossen. 2. Die fertigen Drucktypen kommen in einen Setzrahmen. 3. Bienenwachs ist ein wichtiges Material für den Letternguss. 4. Das Jikji , gedruckt mit den originalgetreu nachgebildeten Metalltypen.

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tern entstehen. Meister Lim berichtet: „Bei unseren Versuchen zerbrachen die Gussrahmen leicht, weil sie nicht widerstandsfähig gegen Hitze waren, und ich musste wiederholt Experimente durchführen, um das richtige Verhältnis von Sand, Lehm und Wasser herauszufinden. Bei der Herstellung der Gussrahmen sollte man die Konsistenz und die Feuchtigkeit von Sand und Lehm genau kennen. Zwar hängt dies von der Jahreszeit und der jeweiligen Temperatur am Arbeitstag ab, aber das Verhältnis zwischen Sand, Lehm und Wasser beträgt grundsätzlich 6:4:1. Auch für die Bronzelegierung, die bei der Fertigung von beweglichen Metalllettern zum Einsatz kommt, fand ich nach einigem Experimentieren schließlich heraus, dass 75 Prozent Kupfer, 25 Prozent Zinn und 1 bis 2 Prozent Blei gemischt werden sollten. Die Freude, die ich spürte, als ich nach langen frustrierenden Experimenten die traditionelle Methode der Bienenwachs-Gießerei rekonstruieren konnte, werde ich nie vergessen.“ Zur originalgetreuen Nachbildung von Metalllettern alter Dokumente ist höchste Dauerkonzentration erforderlich, weil man beim Gießen von 1.200 Grad heißem Flüssigmetall den Grad der Ausdehnung des Metalls in Relation zur Hitzeeinwirkung genau berechnen muss. Die Größe der Zeichentypen aus Bienenwachs oder Holz, die Qualität von Gussrahmen und Füllmaterialien wie Lehm, die Konzentration und Temperatur des Flüssigmetalls, das Gießen des Flüssigmetalls in den Hohlraum des Gussrahmens und schließlich die Bearbeitung jedes einzelnen gegossenen Schriftzeichens – all das sind wichtige Variablen, bei denen ein winziger Fehler über Erfolg oder Misserfolg entscheidet. Meister Lim sagt, er leidet an kreisrundem Haarausfall (Alopecia areata), weil er zehn Stunden pro Tag konzentriert an der Eingravierung von Schriftzeichen, der Herstellung von Gussrahmen, der Bearbeitung von beweglichen Druckbuchstaben und der Anordnung dieser Buchstaben in einem Setzrahmen arbeitet. Dabei streicht er seine Haare aus der Stirn und weist auf eine kahle, tischtennisballgroße Stelle am Haaransatz, wobei sein Gesichtsausdruck jedoch einen gewissen Stolz ausstrahlt. Heutzutage, wo tagtäglich unzählige Bücher veröffentlicht werden, ist Lim In-ho bereit, sich fünf Jahre lang der Herstellung eines einzigen Buches zu widmen. „Um nur eine einzige Seite zu drucken, müssen rund 400 Lettern hergestellt werden. Was die BienenwachsGießerei betrifft, so braucht ein Schriftgießer mindestens fünf Jahre, um die 40.000 Metalllettern, die man 3

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für ein Buch braucht, zu fertigen. Denkt man nur an die Produktivität, kann man das gleich vergessen. Aber jeder einzelne Arbeitsschritt ist derart interessant, dass ich völlig davon gefesselt bin. Wäre ich bei der Gravur von hölzernen Druckstöcken geblieben, hätte ich wahrscheinlich schon längst damit aufgehört. Für mich ist die Schriftgießerei dermaßen spannend, dass ich nie die Freude daran verlieren werde, selbst wenn ich diese Arbeit mein ganzes Leben lang mache. Für mich ist das schönste chinesische Schriftzeichen auf der Welt 狂 („Gwang“auf Koreanisch), was soviel wie ‚fanatisch‘ bedeutet.“

Nachbildung von 44 Typen von Metalllettern In der Joseon-Zeit wurden bewegliche Druckbuchstaben aus Metall auf Hochtouren produziert, was in der Entwicklungsgeschichte der weltweiten Drucktechnik seinesgleichen sucht. Darüber hinaus wurden verschiedene Schriftzeichen-Varianten entwickelt: Gyemi-Font (1403), die erste Metallletter von Joseon, Gyeongja-Font (1420), Gapin-Font (1434), Byeongjin-Font (1436), Gyeongo-Font (1450) und Gapjin-Font (1484). Seit 2007 hat Lim 44 Typen von Metalllettern wie den Gyemi-Font originalgetreu nachgebildet. Den Moment, als er den kompletten Gapin-Font, der als elaboriertester und feinster Font Koreas bewertet wird, erfolgreich nachbildete, wird er sein Leben lang nicht vergessen. „Der Gabin-Font wurde im Jahr 1434, im 16. Regierungsjahr von König Sejong dem Großen (reg. 1397-1450), geschaffen, als die K o r e a n a ı S o mme r 2 01 2

Drucktechnik von Joseon ihren Höhepunkt erreichte. König Sejong, der selbst ein Genie war, trug zur weiteren Entwicklung von Wissenschaft und Technik bei. Der Gapin-Font wurde auch für das Hunminjeongeum (Korrekte Laute zur Unterweisung des Volkes) verwendet, die Schrift, mit der 1446 das koreanische Alphabet Hangeul bekannt gemacht wurde. Die großen Schriftzeichen des Gabin-Fonts waren 1,6cm breit und 1,4cm hoch, während die kleinen 0,8cm breit und 1,4cm hoch waren. Ihre Dicke betrug unabhängig von der Größe 0,6 - 0,8cm. Weil die vier Seiten dieser Metallletter von geichmäßiger Rechteckigkeit sind und die Grundlinie flach ist, ergibt dieser Schriftsatz Buchseiten von optisch hoher Qualität. Der Gapin-Font ist so fein, fließend und schön, dass bis Ende der Joseon-Zeit sechs Varianten geschaffen wurden.“ Lim merkt an, dass er sich voller Konzentration dermaßen im Prozess der Herstellung von Metalllettern verliert, dass sein Kopf völlig frei von profanen Gedanken wird. Er sagt: „Ich erkenne jedesmal nach Beendigung der Arbeit, wie unsere Vorfahren aus den einfachsten Materialien wahre Schätze schaffen konnten.“ Seiner Meinung nach ist der Aufstieg Koreas zu einer IT-Macht auf die Entwicklung der Drucktechnik in der Vergangenheit, die quasi eine frühe Informationsrevolution darstellt, zurückzuführen. Sein eiserner Stolz darauf, diese Wurzeln der Drucktechnik zu schützen, ist mit der schieren Freude an der Herstellung von Metalllettern verschmolzen, so dass seine Leidenschaft für die Schriftgießerei nie erkalten wird.

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MODERNE WAHRZEICHEN

Die Bank von Korea

„Haupttempel“ der Landeswährung Das Gebäude der Bank von Korea war im Jahre 1909 ursprünglich zu dem Zweck erbaut worden, die Zweigstelle der japanischen Dai-Ichi Bank (First National Bank of Japan) in Gyeongseong, wie Seoul damals hieß, zu beherbergen. Nach Gründung der Republik Korea 1948 diente es als Hauptstelle der Koreanischen Zentralbank, bis es 2001 schließlich ins „ Bank of Korea Museum“ umgewandelt wurde. Kim Chung-dong Professor für Architektur, Mokwon University | Fotos: Ahn Hong-beom


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uf jedem Geldschein, der tagtäglich von den Koreanern benutzt wird, prangt der Name „Bank of Korea“. Die koreanische Währung wird nicht vom Präsidenten des Landes, sondern vom Generaldirektor der Bank von Korea herausgegeben, was auch entsprechend auf jeder Banknote vermerkt ist. Das charakteristische Äußere des Gebäudes war dafür gedacht, einen nachhaltigen Eindruck bei der Bevölkerung zu machen und das Image einer ehernen Schatzkammer auszustrahlen. Zu jener Zeit, als es erbaut wurde, hatte das Äußere einer Bank, der man schließlich sein Geld anvertraute, Autorität zu suggerieren und robust und massiv zu wirken. Der Eingang hatte klein zu sein, um potentielle Bankräuber gehörig in Verlegenheit zu bringen. Heutzutage gilt das alles nicht mehr. Es gibt sogar Banken mit Glasfassade.

Gründung der Bank von Korea Aus architektonischer Sicht repräsentiert die Bank von England

den Archetypus der idealen Bank. Das typische Bild einer Bank als imposante Steinkonstruktion leitet sich hiervon ab. Als die Japaner während der Meiji-Periode (1868-1912) die Baupläne für ihre erste Bank entwarfen, studierten sie eingehend die Konstruktion der Londoner Bank. Das Resultat war die Hauptstelle der First National Bank, kurz Nichigin, der heutigen, 1882 gegründeten japanischen Zentralbank. Wenig später eröffneten die Japaner im Rahmen ihrer Annexionsbestrebungen eine Bank in Gyeongseong, dem heutigen Seoul. Ab 1905 verstärkte Japan seine Kolonisierungsbestrebungen und die japanische Regierung autorisierte die Zweigstelle der First National Bank in Gyeongseong, Regierungsgelder zu verwalten, Währungsreformen durchzuführen und Banknoten herauszugeben. Mit der Verkündung des Erlasses über die Hankuk-Bank (Bank of Korea) am 26. Juli 1909 wurde die Aktiengesellschaft Hankuk-Bank (Bank of Korea) gegründet, die die Rechte und Aufgaben der japani-


Der Architekt wählte für den Bau einen eklektischen Renaissance-Stil mit einer imposanten, autoritären Fassade, wobei an ein belgisches Chateau erinnernde Elemente beigemischt wurden. Das Gebäude besteht aus Stahlbeton, der mit Stein verkleidet ist.

schen First National Bank übernahm. Die Existenz dieser Bank wurde auf 50 Jahre, gerechnet vom Gründungsdatum, bis zum 26. Juli 1959, befristet. Nach der Annexion Koreas durch Japan 1910 wurde die Bank am 15. August 1911 in „Bank von Joseon“ umbenannt. Mit dem Entwurf sowohl der First National Bank als auch ihrer Zweigstelle in Gyeongseong wurde der japanische Architekt Tatsuno Kingo (1854–1919) betraut, der als Wegbereiter der neuen Architektur der Meiji-Ära gilt. Tatsuno studierte an der Kaiserlichen Hochschule für Ingenieurswesen unter dem britischen Architekten Josiah Conder (1852–1920) und gehörte zum ersten, 1879 hervorgebrachten Absolventen-Jahrgang der Universität. 1880, direkt nach seinem Abschluss, ging er zur Fortsetzung seines Studiums nach England, wo er die Werke von Richard Norman Shaw (1831–1912), der für seine spätviktorianische Gotik-Architektur bekannt war, kennen und bewundern lernte. Nach seiner Rückkehr nahm Tatsuno 1886 eine Professur für Architektur an der Kaiserlichen Universität von Tokio an und arbeitete von 1888 bis 1891 am Entwurf des Haupthauses der First National Bank. Seine Backstein-Architektur erinnert an die

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Bauten Shaws, da Tatsuno den vorklassischen Stil des schottischen Architekten nachahmte. Beim Entwurf der Gyeongseong-Zweigstelle der First National Bank arbeitete Tatsuno mit Kasai Manji (1863–1942) zusammen. Die Zentralbankgebäude Koreas und Japans sind auch heute noch so, wie sie von Tatsuno gebaut wurden, erhalten, auch wenn sich in einem Fall der Nutzungszweck mittlerweile geändert hat. Welch eine Hommage für einen Architekten!

Eine Palastanlage aus der Joseon-Zeit An der Stelle der Bank von Korea befanden sich ursprünglich der Dalseongigung, ein Sonderpalast der königlichen Familie von Joseon (1392-1910), und einige große traditionelle Hanok-Häuser. Auf einem niedrigen, mit Pinien bedeckten Hügel in unmittelbarer Nähe zum südlichen Haupttor der Stadt gelegen, nannte man diese Gegend „Namsonghyeon“ (Südlicher Pinien-Hügel). Als der Amerikaner Clarence F. Reid und seine Frau, die ersten Missionare der Bischöflichen Methodistenkirche, am 14. August 1896 nach Seoul kamen, zogen sie in eins der Hanok-Häuser in dieser Gegend und nutzten es als Wohnung und Missionshauptquartier. (1906 zog das Ehepaar in den Nordwesten Seouls ins heutige Naeja-dong in die Nähe der Baehwa Mädchenschule um. Ihr neues Zuhause befand sich auf dem Platz, an dem einst das Anwesen des bekannten Joseon-Gelehrten Yi Hang-bok gestanden hatte.) Ein weiteres Haus aus der Namsonghyeon-Nachbarschaft wurde von der Sangdong-Kirche in ein Krankenhaus umgewandelt. Daneben lag die Jejungwon Schule für Medizin. Da sich in der Nähe auch Krankenhäuser befanden, zog der deutsche Kaiserliche Hofarzt Dr. Richard Wunsch (1869–1911) in diese Gegend, um bequemer zum Krankenhaus pendeln zu können. Der Amerikaner William F. Sands (1874–1946), seines Zeichens Berater des koreanischen Kaisers, lebte auf dem Hügel im heutigen Sogong-dong, ganz in der Nähe des Anbaus der Bank von Korea. Vor dem Bau der Bank wohnten in dieser Gegend viele ausländische Missionare oder kaiserliche Berater. Hier war nach der Gemeinde in Jeong-dong die zweitgrößte Gemeinde von Ausländern in Seoul angesiedelt. Der japanische Generalgoverneur in Korea ließ den königlichen Palast und das Expat-Viertel ohne die Erlaubnis der koreanischen Behörden abreißen, um hier das neue Bankgebäude zu errichten. Es ist bedauerlich, dass es den Architekten an der notwendigen Sensibilität für die historische Bedeutung dieses Viertels fehlte, und kein Versuch unternommen wurde,

Die Innenräume des Bank of Korea Museums und der Rundturm. Die Atrium-artige Halle im Zentrum des Erdgeschosses, die früher als Lobby genutzt wurde, ist heute eine Ausstellungshalle, die alte und neue Banknoten aus der ganzen Welt präsentiert.


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die japanische Obrigkeit dazu zu bewegen, einen anderen Standort für die Bank zu finden.

Fertigstellung im Jahr 1912 Die alte Bank von Korea besteht aus einem Untergeschoss und zwei oberirdischen Geschossen. Sowohl die Fassade als auch der Grundriss sind symmetrisch angelegt, mit einem Portikus am Eingang. Die Halle in der Mitte des ersten Geschosses, welche eine Fläche von 530 m² abdeckt, diente als eine Art Atrium und konnte bis zu 1.600 Personen fassen. Im Untergeschoss befand sich der zu jener Zeit größte Safe des Landes. Die Gesamtfläche des Gebäudes beträgt 7.588 m². Dem Architekten Tatsuno Kingo ging es weniger um Funktionalität, als um ein imposantes, autoritäres Aussehen. Daher wählte er einen eklektischen Renaissance-Stil mit einer Beimischung von belgischem Chauteau-Stil. Das Gebäude besteht aus Stahlbeton, der mit Stein verkleidet ist. Beim Entwurf machte der Architekt gestalterische Anleihen bei der Bank von England und der Nationalbank von Belgien. Das Gebäude ist horizontal-symmetrisch angelegt, mit runden Türmen bzw. Treppenhäusern an jeder Seite der Fassade und in einer hinteren Ecke. Die Fassade ist mit falschen Säulen verkleidet, die an ihren Kapitellen mit Wappen verziert sind, was auf die Vorliebe des Architekten für den archaischen westlichen Stil hinweist. Für diese dekorativen Säulenköpfe schreckten die japanischen Bauher-

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ren nicht davor zurück, alte koreanische Münzen zusammentragen, einschmelzen und zu Ornamenten formen zu lassen. Auf der Fassade im Zentrum sitzt eine von zwei Ziergiebeln flankierte Stupa. Das Dach ist sorgsam mit rundlaufenden Balustraden ausgestaltet. Jeder der drei Rundtürme wird von einer Kuppel gekrönt, die an eine Glocke sarazenischen Stils erinnert. Der Granit für die Steinverkleidung stammt aus dem Steinbruch in Changsin-dong vor dem Dongdaemun, dem Osttor der Stadt. Die Ziegel wurden in der staatlichen Ziegelei gebrannt und der Stahl wurde aus den USA von der Carnegie Steel Company sowie aus England und Japan importiert. Im November 1907 wurde mit dem Bau des Bankgebäudes begonnen und 39 Monate später, am 20. Januar 1912, war es fertiggestellt. Die Grundsteinlegung fand am 11. Juli 1909 statt, im dritten Regierungsjahr von Kaiser Sunjong (reg. 1907-1910). Es heißt, dass der japanische Generalgouverneur Ito Hirobumi an der Zeremonie teilnahm und die chinesischen Schriftzeichen 定礎 (Grundsteinlegung) auf den Grundstein schrieb. Während der Bauarbeiten entschied man sich für eine kleinere Version, weshalb man von einigen ursprünglich geplanten dekorativen Elemente absah. Der Bau lag in der Hand des japanischen Bauunternehmers Shimizugumi, für die Bauaufsicht vor Ort zeichnete Nakamura Yoshihei verantwortlich. Das symbolträchtige Gebäude fiel nach seiner Fertigstellung zwei Mal den Flammen zum Opfer. Die erste Feuersbrunst ereignete Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


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2 1. Die koreanische Zentralbank befindet sich im Herzen Seouls. Im Hintergrund ist das Zentralpostamt der Stadt zu sehen. 2., 3. Ausruhzonen im Museum, bei deren Renovierung man die ursprünglichen Strukturen bewahrt hat

sich am 15. Januar 1945, kurz bevor Korea von seinen japanischen Besatzern befreit wurde. Sie zerstörte einen Teil der Innenräume, die aber bereits bis zum 29. April desselben Jahres wieder restauriert werden konnten. Mit der Unabhängigkeit des Landes wurde die Bank an die koreanische Regierung übergeben. Allerdings wurde mit dem Kapital der Bank von Korea die Nippon Credit Bank auf dem Grundstück der Tokio-Zweigstelle der Bank von Korea gegründet. Die Bank von Korea wurde am 12. Juni 1950 als Zentralbank Koreas wiedergeboren. Doch nur zehn Tage später wurden mit dem Ausbruch des Koreakriegs alle Funktionen der Bank lahmgelegt. Das Hauptquartier wurde am 28. Juni nach Daejeon verlegt, am 16. K o r e a n a ı S o mme r 2 01 2

Juli ins weiter südliche Daegu und am 22. August schließlich in die an der Südspitze der koreanischen Halbinsel gelegenen Hafenstadt Busan. Während des Krieges wurden die Dächer und große Teile der Inneneinrichtung in den oberirdischen Geschossen durch Bomben und Flammen zerstört. Glücklicherweise überstand die Granitfassade den Krieg. Die Restaurationsarbeiten des Bankgebäudes erstreckten sich von Mai 1956 bis Oktober 1958. Dabei wurden abweichend zum Originalbau die Dächer verkleinert. Zu denen, die den größten Beitrag zur Restauration leisteten, gehörten Jeon Chang-il (1912–1971), ein Bankangestellter, der vor dem Krieg für Instandhaltung und Reparaturarbeiten verantwortlich gewesen war, und Song Min-gu (19202010), der Architekt, der mit den Entwürfen für die Restaurierung betraut worden war. Am 29. Dezember 1973 legte die Koreanische Gesellschaft für Architektur der Bank von Korea einen Antrag auf Abriss des alten Gebäudes vor. Der Antrag wurde jedoch verworfen, als er auf den starken Widerstand der Bevölkerung stieß, die für die Erhaltung dieses modernen städtischen Kulturerbes eintrat. Am 25. September 1981 wurde das Gebäude zur Historischen Stätte Nr. 280 erklärt und kam damit unter den Schutz der Regierung. 1987 wurde hinter der alten Bank ein neues Bankgebäude mit drei Kellergeschossen und 15 Obergeschossen hochgezogen. Aus dem historischen Bau wurde das Museum der Bank von Korea.

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INTERVIEW

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ls ich Chung Byung-ho, Professor für Anthropologie und Direktor des Instituts für Globalisierung und multikulturelle Studien der Hanyang Universität, anrief, um mit ihm einen Interviewtermin auszumachen, lud er mich ein, nach Ansan in der Provinz Gyeonggi-do zu kommen, wo sich sein Universitätscampus befindet. Auf meine Frage, ob wir uns nicht in Seoul oder der Nähe von Seoul treffen könnten, meinte er nach kurzem Überlegen, es wäre ratsam, mir vor dem Interview einmal selbst die „Straße ohne Grenzen“ in Ansan anzusehen. Der Anthropologe wollte mir die multikulturelle Gemeinde, über die er forscht, zeigen und mir vor Ort Erklärungen auf meine Fragen geben.

Straße ohne Grenzen Nach unserem Treffen machten wir uns sofort zur „Straße ohne Grenzen“ im Viertel Wongok-dong in Ansan auf. Unzählige Fahnen der unterschiedlichsten Nationen wehten im Wind und Geschäfte und Menschen aus aller Herren Länder waren zu sehen. In Wongok-dong beträgt die Zahl der koreanischen Einwohner rund 20.000 und genau so viele ausländische Mitbürger aus etwa 60

Ländern leben dort. An den Wochenenden ist der Anteil der Ausländer sogar noch höher, weil viele hierher kommen, um ihre Familien zu besuchen oder ein authentisches Essen aus ihrem Heimatland zu genießen. Wo gibt es Banken, die am Wochenende öffnen? Hier in Ansan gibt es sie, und zwar für die Arbeitsmigranten, die wochentags keine Zeit für ihre Bankangelegenheiten finden und daher am Wochenende ihre Bankgeschäfte wie Überweisungen an die Familie in der Heimat erledigen wollen. In vielerlei Hinsicht ist diese Straße ein Zuhause für die größte Expat-Gemeinde in Korea. Dieses Gebiet ist es denn auch, über das Professor Chung in seinem jüngst erschienenen Buch Koreas multikulturelle Gemeinde (Hanguk-eui damunhwa gonggan) geschrieben hat. Viele Bücher haben dieses neue Kulturphänomen in Korea bereits behandelt, aber es wird sich schwer eins finden lassen, das seinen Blick so umfassend auf dieses Thema richtet. Professor Chung und ich setzten uns an einen Tisch im Samarkand, einem Restaurant, das von einem ethnischen Koreaner aus Usbekistan betrieben wird. Wir bestellten russisches Bier und dazu Hammelfleisch-Schaschlik und Samosa-Teigtaschen.

Multikulturelle Vielfalt ihre Bedeutung für die koreanische Gesellschaft Die Zahl der in Korea lebenden Ausländer ist in den letzten Jahren stark angestiegen und lag 2011 bei über 1,2 Millionen. Im Umfeld jedes größeren Industriekomplexes in ganz Südkorea haben sich multikulturelle Gemeinden gebildet, so z.B. auch in Ansan, wo Professor Chung Byung-ho das Institut für Globalisierung und multikulturelle Studien leitet. Kim Chang-hee Journalist | Fotos: Kim Yong-chul, Ahn Hong-beom


„In Wongok-dong selber sinkt die Zahl der Expats. Es gibt immer mehr Umzüge in die benachbarten Viertel, da die Geschäfte gut laufen und daher die Wohnungsmieten steigen. Insgesamt gesehen ist die Multikulti-Straße also am Wachsen, “ erklärt Professor Chung. Dieser Trend ist nicht auf Wongok-dong beschränkt. Die Zahl der in Korea wohnhaften Ausländer wird in den nächsten Jahren definitiv steigen. Die Rückkehrer aus der koreanischen Diaspora (wie z.B. die ethnischen Koreaner aus China oder den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion) und diejenigen, die aus Arbeits- oder Heiratsgründen ins Land kommen, stellen zwar den größten Anteil an Zuwanderern, aber es gibt auch immer mehr Expats, die sich aus den verschiedensten anderen Gründen in Südkorea niederlassen. Doch sind wir wirklich schon darauf eingestellt und bereit, mit Menschen aus anderen Kulturen zusammenzuleben? Der Zustrom an Ausländern nach Korea, der in den frühen 1990ern begann, stellt uns vor große Aufgaben. Diese bislang beispiellose Erfahrung der letzten zwanzig Jahre lässt uns über eine Reihe von Fragen Gedanken machen . Professor Chung fährt fort: „Genauer betrachtet, ist dies nicht der erste große Zustrom von Ausländern nach Korea. Nach der Öffnung der koreanischen Häfen durch den mit Japan geschlossenen Vertrag von Ganghwa-do 1876 und die Militärrevolte von 1882 schlugen über 4.000 Soldaten der chinesischen Qing-Dynastie ihr Lager in Yongsan im südlichen Teil Seouls auf und schufen damit den ersten ausländischen Militärposten in Korea. Nach dem auf der koreanischen Halbinsel geführten Chinesisch-Japanischen Krieg von 1894 wurde dieses Gebiet zu einer japanischen Militärbasis. In Anschluss an den Russisch-Japanischen Krieg von 1905 wurde es dann auf eine Fläche von knapp über 1.000 Hektar erweitert. Nach Ende des 2. Weltkrieges wurde das gesamte Gebiet zur Hauptmilitärbasis für die US-amerikanischen Streitkräfte in Südkorea umgewandelt. Mit anderen Worten: Es gab im Laufe der ganzen modernen koreanischen Geschichte von Kolonialherrschaft, über Befreiung und Teilung des Landes bis hin zu den Zeiten des Kalten Krieges stets eine Präsenz ausländischer Militärangehöriger und anderer Ausländer, die im Herzen von Seoul lebten.“

Multikulturalisierung des koreanischen Volkes Professor Chung betrachtet das Phänomen der Multikulturalität also vor dem Hintergrund des geschichtlichen Kontextes. Korea sah sich erneut großen historischen Umwälzungen gegenüber, als in den 1990er Jahren der Kalte Krieg endete. Es kam zu radikalen Veränderungen der inländischen Industriestruktur und des Arbeitsmarktes, was dazu führte, dass Industriearbeiter aus dem Ausland, besonders aus Südostasien und Zentralasien, in großer Zahl ins Land zu strömen begannen. In der Vergangenheit hatte es ein solches Phänomen bis dahin noch nie gegeben. Einen beträchtlichen Teil stellten unter den Zuwanderern dabei ethnische Koreaner, die zu Beginn der Moderne durch die Umstände der Zeit dazu K o r e a n a ı S o mme r 2 01 2

gezwungen worden waren, sich in China oder den Ländern der früh­eren Sowjetunion niederzulassen. Professor Chung erklärt dazu: „Teile der Bevölkerung des Feudalstaates Joseon (1392-1910) waren aufgrund der japanischen Kolonisierung und Ausbeutung in die Nachbarländer verstreut worden. Während der Zeit der japanischen Besatzung Koreas (1910-1945) und des Kalten Krieges lebten sie abgeschnitten von der Bevölkerung ihres Heimatlandes und durchliefen entsprechend andere Sozialisationsprozesse, so dass letztendlich andere kulturelle Gruppen entstanden. Durch die nach Ende des Kalten Krieges einsetzende internationale Migration waren mit einem Mal diese Gruppen auch in Südkorea anzutreffen. Ich würde dieses Phänomen gerne als ‚Multikulturalisierung des koreanischen Volkes‘ bezeichnen. “ Neben den „historischen“ Aspekten verwies Professor Chung auf einen weiteren Aspekt, nämlich auf den der „ethnisch-nationalen Identität“. Das war eine überaus wichtige Erkenntnis. Für die meisten Menschen sind Immigranten schlichtweg Menschen „anderer“ Volkszugehörigkeit. Allerdings können ethnische Koreaner aus China oder der ehemaligen Sowjetunion, die den größten Anteil der Immigranten stellen, schlecht als Menschen „anderer“ Volkszugehörigkeit bezeichnet werden. Dennoch fällt es auch schwer, sie als „echte“ Koreaner zu sehen. Wer oder was sind diese Menschen dann? Professor Chungs Erkenntnisse gehen hier einen Schritt weiter. Er schlägt vor, alle Gruppen, ob es sich nun um ausländische Arbeitsmigranten oder aus der Diaspora heimgekehrte ethnische Koreaner handelt, als Teil der Immigrantenfrage zu betrachten. Das ist gleich ein Vorschlag, darüber nachzudenken, wie die Bemühungen, sie ohne Diskriminierung in die südkoreanische Gesellschaft zu integrieren, aussehen sollten. Nur so könnten die historische Aufgaben zur endgültigen Aufhebung des Kolonialismus und des Kalten Krieges erfolgreich und mit Blick auf die künftige Wiedervereinigung angegangen werden. „Die gesellschaftliche Assimilierung ethnischer Koreaner aus China, die nach dem Ende des Kalten Krieges nach Südkorea kamen, ist keine Frage, der man sich auf der Ebene des Paternalismus annähern sollte. Es bietet sich hier eine wertvolle Gelegenheit, Erfahrungen im Hinblick auf den künftigen Umgang mit Menschen aus Nordkorea zu sammeln, mit denen wir nach Jahrzehnten der Trennung irgendwann einmal wieder zusammenleben werden. Insofern lässt sich die Frage der Multikulturalität in Korea als vorweggenommene Zukunft und praktische Herausforderung betrachten, der man sich heute schon stellen muss. Dies ist kein Problem, das andere für uns lösen können, oder das aufgeschoben werden kann. “

Unterstützung für junge nordkoreanische Flüchtlinge Dann erzählte mir Professor Chung ausführlich die persönlichen Umstände, die ihn zur Beschäftigung mit der Frage der Multikulturalität brachten, und wie aus einem bloßen Forschungsanliegen

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eine Art praktische Aufklärungsmission wurde. Seine Forschungen, die er Ende der 1990er Jahre über die Situation nordkoreanischer Flüchtlinge im Nordosten Chinas unternommen hatte, führten dazu, dass er ab 2001 vier Jahre lang nordkoreanische Jugendliche an der Hana-dul-Schule des Hanawon-Zentrums, in dem nordkoreanische Flüchtlinge auf ihr Leben in der südkoreanischen Gesellschaft vorbereitet werden, unterrichtete. Dort sind ihm viele Dinge bewusst geworden. „Wissen Sie, mit welcher Farce Jugendliche aus Nordkorea als erstes hier im Süden konfrontiert werden? Sie werden auf dem Internationalen Flughafen Incheon von einem Plakat begrüßt, auf dem ‚Welcome to Korea‘ steht. Es soll sie eigentlich willkommen heißen, aber sie haben gar keine Ahnung, was der englische Satz überhaupt bedeutet. Dies zeigt beispielhaft die Diskrepanz zwischen der Situation der Nordkoreaner, die ihr Leben riskieren, um den Tumen-Fluss zu überqueren und durch die Mandschurei wandern, und der postmodernen Welt der Südkoreaner. Das hat mich dazu bewegt, ernsthaft darüber nachzudenken, wie diese Kluft geschlossen werden kann.“ Anstatt die jungen Nordkoreaner als eine politisch gesonderte Gruppe zu betrachten, half Professor Chung ihnen, sich an die neue Realität anzupassen, und suchte nach Wegen, ihre Integration in die südkoreanische Gesellschaft zu erleichtern. So schuf er ein Zentrum für junge Immigranten, an dem junge Nordkoreaner zusammen mit ethnischen Koreanern aus China und der ehemaligen Sowjetunion, aber auch mit Jugendlichen ganz anderer Volkszugehörigkeit wie Mongolen etc., über die südkoreanische Gesellschaft lernen. Es ist das mit Unterstützung der staatlichen Jugendkommission gegründete Regenbogen-Jugendzentrum . Hier kam Professor Chung zu der Einsicht, dass das Problem zwischen Nord- und Südkorea letztendlich das allgemeine Problem der Multikulturalität ist.

Verständnis in zwei Richtungen „In einem Seolleongtang-Restaurant in Ansan habe ich einmal einen jungen Mann aus Bangladesch getroffen. Er erzählte, dass er an der Universität von Dhaka Politik studiert hätte und nun hier in der Containerherstel-

Eine graziöse Wandskulptur aus den Flaggen der Welt schmückt die Fassade des Gemeindezentrums für ausländische Mitbürger im Viertel Wongok-dong in der Stadt Ansan. Professor Chung verbringt Zeit als Forscher, aber auch als Freund, mit verschiedenen, in diesem Gebiet ansässigen Zuwanderergruppen,

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lung arbeite. Sollte man ihn dafür bedauern? Keineswegs. Er ist überaus ehrgeizig. Er möchte von der Dynamik der koreanischen Gesellschaft lernen und nach Rückkehr in seine Heimat ein Handelsunternehmen aufziehen. Aung Tin Tun, ein junger Mann aus Myanmar, ist einer der wenigen Asylbewerber, denen bislang von der südkoreanischen Regierung politisches Asyl gewährt wurde. Ich habe ihn einmal gebeten, in unserer Universität einen Vortrag zu halten. Als er davon berichtete, wie schwer er es hatte, weil im acht Jahre lang aufgrund diverser Missverständnisse kein Asyl gewährt wurde, schluchzten viele Studenten. Wo liegt in dem Fall der Unterschied zu den jungen Koreanern, die sich nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung von Gwangju 1980 illegal in die USA geschmuggelt haben? Die Gründe und Motive mögen im Einzelfall anders sein, aber wir sollten nicht alle, die nach Korea gekommen sind, pauschal als Menschen abstempeln, die nur wegen des Geldes hier sind. “ Die Gedanken und Ziele jedes einzelnen Zuwanderers so sehen, wie sie sind, und zu respektieren, ist vielleicht der erste Schritt, um die Zuwanderungsfrage auf möglichst natürliche und harmonische Weise zu lösen. Denn nur mit einer solchen Einstellung wird es möglich sein, sie als unsere Nachbarn zu akzeptieren und nicht länger als „die Anderen“ anzusehen. Professor Chung wies außerdem darauf hin, dass es sich bei den Immigranten bei genauer Betrachtung um wahre Überlebensstrategen handelt. Sie schaffen es, Nischenmärkte zu entdecken und durch größte Anstrengungen ihre selbstgesteckten Ziele binnen weniger Jahre zu erreichen, was man nur als bewundernswerte Überlebensfähigkeit bezeichnen kann. Professor Chung ist der Meinung, dass die nordkoreanischen Flüchtlinge in Südkorea in dieser Hinsicht viel von solchen Immigranten lernen könnten. Auch die Regierung sollte die Kultivierung einer solchen Fähigkeit zum selbstständigen Überleben befördern, statt die nordkoreanischen Flüchtlinge abhängig von der staatlichen Unterstützung zur Ansiedlung oder von der Sozialfürsorge zu machen. Im Laufe unserer Unterhaltung gewann der Charakter der Immigranten-Frage in Südkorea immer mehr an Deutlichkeit. Zu Beginn nur sehr vage, gewann sie im Kontext der Geschichte und Gegenwart an Kontur, um sich dann als ein wichtiger


„Ich habe einmal einen jungen Mann aus Bangladesch in einem Seolleongtang-Restaurant in Ansan getroffen. Er erzählte, dass er an der Universität von Dhaka Politik studiert hätte und nun hier in der Containerherstellung arbeite. Sollte man ihn dafür bedauern? Keineswegs. Er ist überaus ehrgeizig. Er möchte von der Dynamik der koreanischen Gesellschaft lernen und nach Rückkehr in seine Heimat ein Handelsunternehmen aufziehen.“

Richtungsweiser im Hinblick auf Wiedervereinigung, der noch unvollendetetn Aufgabe des koreanischen Volkes, darzustellen. So wurde es also auch zu meinem Problem. Wie kann man die Erfahrung, dass „das Problem der Anderen“ zu „meinem Problem“ wird, mit anderen Leuten teilen? Laut Professor Chung stellt Koreas multikulturelle Gemeinde nur den Auftakt zu einer Serie über globalen Multikulturalismus dar. Zurzeit arbeitet er an einem Buch, das die Transnationalität als Überlebensstrategie von ethnischen Koreanern rund um den Globus untersucht. Das Werk soll den Blickwinkel auf das Thema Immigration insgesamt ausweiten. Ob durch die Auswanderung in der Kolonialzeit oder durch die Arbeitsmigration von Bergleuten und Krankenschwestern nach Deutschland eine Generation später: Es wurden dringliche Lehren aus den Erfahrungen der Koreaner im Ausland gezogen. Professor Chung beschäftigt sich mit der Frage, warum diese Lehren nicht umgekehrt auf die Situation der ausländischen Immigranten in Südkorea angewendet werden. Eine wichtige Grundlage für die Publikation seiner globalen Multikulturalismus-Serie bildet die Tatsache, dass seine Universität sich der Besonderheit des Standortes Ansan, wo sich der zweite Campus der Hanyang Universität, befindet, bewusst ist, und das InstiK o r e a n a ı S o mme r 2 01 2

tut für Globalisierung und multikulturelle Studien entsprechend großzügig unterstützt. Dem Institut gehören bereits mehr als 50 Professoren an, die sich auf die verschiedensten Felder spezialisiert haben. Professor Chungs Problembewusstsein und die Forschungsaktivitäten des Instituts eröffnen neue, richtungsweisende Horizonte für Politiken in vielen Bereichen der Immigrationsfrage. Professor Chung beendete unsere Unterhaltung mit einer weiteren Erzählung aus seinem reichen persönlichen Erfahrungsschatz: „Herr Kim Hee-chan, ein Dokumentarfilmer, hat hier in der Nähe ein Büro mit dem Namen Haltestelle für Erdlinge eröffnet, in dem Immigranten lernen können, ihr eigenes Videomaterial herzustellen. Eine Russin, die an diesem Programm teilnahm, drehte eine sehr bewegende Dokumentation über ihre Erfahrungen in Ansan: Aus unterschiedlichen Blickwinkeln und in vielfältigen Farbtönen wurden die bunten Blumenbeete, die überall in Ansan zu finden sind, gezeigt. Und auch andere schöne Dinge in unserer Umgebung, die wir nie so richtig wahrgenommen hatten, wurden auf eine sehr effektive Weise vermittelt. Ist denn so etwas nicht ein wertvoller Impuls für Koreaner und Immigranten, einander besser zu verstehen? Denn schließlich ist Verständnis keine Einbahnstraße, sondern eine Straße, die in zwei Richtungen führt. “

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UNTERWEGS

Festungsdorf Nagan-eupseong in Pflaumenbl체tenpracht und Tempel Geumdun-sa Im Festungsdorf Nagan-eupseong sind Struktur und Atmosph채re eines nach Plan entwickelten Dorfs der Joseon-Zeit (1392-1910) gut erhalten. In dem von massiven Festungsmauern umgebenen alten Dorf leben auch heute noch Menschen, die Lebensstil und Kultur von einst weitgehend bewahren. Kim Yoo-kyung Journalistin | Fotos: Kwon Tae-kyun, Ahn Hong-beom, Ha Ji-kwon, Suh Heun-gang


1. Das Osttor, der Hauptzugang zum Festungsdorf Nagan-eupseong, wird teilweise von einer schützenden Vormauer verdeckt. 2. Totempfähle am Eingang des von einer Mauer umgebenen Dorfes.

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as Festungsdorf Nagan-eupseong befindet sich jenseits eines Hügels 22 Kilometer westlich der Stadt Suncheon in der Provinz Jeollanam-do. An einem Frühlingstag, als der alle fünf Tage stattfindende traditionelle Wochenmarkt seine Tore öffnete, machte ich mich auf den Weg von Seoul nach Suncheon. Ich wollte zunächst den „unteren Markt“, der zusammen mit dem „oberen Markt“ einer der größten traditionellen Märkte von Suncheon ist, besichtigen und am Nachmittag nach Nagan-eupseong fahren. Als ich den Fluss Dong-cheon überquerte, vermittelten mir die geschäftigen Menschen, die mit ihren Einkäufen an mir vorbeieilten, das lebendige Treiben eines Markttages. Die Waren und die Menschen in den Bergdörfern um Suncheon hatten schon auf den Markttag gewartet. An der Bushaltestelle hatten sich Menschen, voll beladen mit Waren, versammelt. Auf der rund 40-minütigen Fahrt nach Nagan nahm der Bus die Strecke über den Buljae-Pass, rechts und links gesäumt von grünen Hängen. Früher sollen einmal Füchse den hier Vorbeigehenden aufgelauert und sie angegriffen haben, aber all das ist längst Vergangenheit. „Früher, als es noch keine Straßenbeleuchtung gab, hatten die Menschen Angst, wenn sie den Pass überquerten, aber heute nicht mehr,“ meinte ein Herr mittleren Alters zu mir. Der Bus hielt vor dem Festungsdorf an. Die auf der Ebene angelegte Festung Nagan-eupseong war zu sehen. Ein Jangseung-Totempfahl, geschnitzt in Form eines Mannes, begrüßte mich und schien mir sagen zu wollen: „Herzlich willkommen! In diese Richtung, bitte!“ Obwohl es sich nur um ein kleines Dorf mit zwei-oder dreihundert Bewohnern vor und hinter den Festungsmauern handelt, strahlte es die Würde eines alten Dorfs aus.

Aufbau des Festungsdorfs Vom Ende der Goryeo-Zeit (918-1392) bis Anfang der Joseon-Zeit (1392-1910) kam es in Nagan immer wieder zu Schlachten gegen japanische Seeräuber, die in dieses Dorf eindrangen, um die reichlich vorhandenen Agrar- und Meeresproduktbestände zu plündern. Auf der Steinbrücke vor dem Haupttor der Festung befinden sich drei Hundegestalten, von denen man glaubte, dass sie das Festungsdorf vor den Geistern der bei ihren Plünderungsversuchen ums Leben gekommenen Japaner schützten. Die Hälfte des Osttors wird von einer Art Vormauer verdeckt, was auf die Vorsicht der Bewohner gegenüber Fremden hinweist, die sie zuerst einmal in Augenschein nehmen wollten, bevor sie ihnen Zutritt gewährten. Auf diese Weise schützten die Dorfbewohner ihr Leben und auch ihren Grund und Boden. Das Festungsdorf umfasst eine Fläche von 135.597m2. Im nördlichen Teil 1

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1. Steinerne Hundefiguren vor dem Osttor sollen böse Geister abhalten. 2. Die Festungsmauern umschließen traditionelle strohgedeckte Häuser, in denen rund 80 Haushalte wohnen.

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befindet sich ein Verwaltungsviertel mit dem Amtsbüro des Magistraten, einem Gästehaus für Beamte, der Residenz des Magistraten, dem zum Gedenken an den Joseon-General Im Gyeong Eop errichteten Schrein, Nangmingwan (eine offizielle Veranstaltungshalle), ein Informationszentrum für Besucher und ein Gefängnis. Alle Gebäude sind mit den traditionellen Giwa-Dachziegeln gedeckt. Dazwischen wachsen hundert Jahre alte Zelkoven, Zürgelbäume und Mukubäume (Aphananthe aspera). Im Südteil des Dorfs stehen entlang der Straße rund 330 Häuser mit Strohdächern, in denen 80 Haushalte leben. In Südkorea gibt es zwar noch 1.500 Bergfestungen, aber nur noch in Nagan leben die Menschen auf traditionelle Art und Weise. Das ist auch der Grund, warum es heute viele Besucher hierher zieht. Unterhalb der Festungsmauern gibt es zahlreiche Dolmen, Relikte der Bronzezeit, wie sie überall auf der koreanischen Halbinsel zu finden sind. Auf dem Berg Geumjeon-san nördlich des Dorfs steht der im 6. Jhdt. im Baekje-Reich (18 v.Chr.-660 n.Chr.) errichtete Tempel Geumdun-sa. Auch eine steinerne buddhistische Statue im Baekje-Stil und eine dreistöckige Pagode des Vereinten Silla-Reiches (676-935) befinden sich im Tempel. Die Festung, die aus Natursteinfelsbrocken aus den Bergen errichtet wurde, weist die Form eines Trapezes auf und hat einen Umfang von 1,4 Kilometern. Auf dem südöstlichen Hügel gibt es einen dichten Bambushain und an rund 20 Stellen finden sich enge Steintreppen, die von der Festung ins Dorf führen. Das Nordtor

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wurde vor langer Zeit beseitigt und das Ost- und Südtor waren wegen der jahrzehntelangen Vernachlässigung während der japanischen Kolonialherrschaft (1910-1945) stark verfallen, wurden dann aber in den 1980er Jahren als zweistöckige Pavillon-Struktur restauriert. Durch das Westtor können auch hohe Fahrzeuge fahren, da dort der Aufbau nicht mehr existiert. „Wenn ich als Kind die Steine in den Mauern auf der Seite des Südtors, die alle größer als ich selbst waren, betrachtete, habe ich mich immer gewundert, wie man überhaupt solch riesige Steine herbringen und aufschichten konnte,“ sagte der Wächter des Weststors. Von der Festungsmauer aus sind das gesamte Dorf sowie die Ebenen und die nahen Berge zu sehen. Jedes der Anwesen innerhalb der Festungsmauern besteht aus zwei oder drei Gebäuden. Dazu gehören Gemüsebeete und Haufen aufeinander gestapelten Strohs. Kühe und Kälber waren im Hof zu sehen. Hier und da blühten Pflaumenblüten entlang den Steinmauern. Im Verwaltungsbezirk finden sich Nachstellungen von Gefängnisszenen wie Gefangene, die in der Zelle sitzen oder an eine Folterbank gefesselt mit einem breiten Stock geprügelt wurden, was etwas bedrückend wirkte. Im Wohnviertel mit seinen strohgedeckten Häusern schienen hingegen unbekannte Blumen, die die niedrigen Steinmauern bedeckten, eine Flut von Pflaumenblüten und die grünen Knoblauchfelder die Gelassenheit des Lebens der Bewohner zu sichern.

Steinmauern, Gingkobäume und strohgedeckte Häuser Auf den vier Meter hohen Festungsmauern verläuft ein 3-4 Meter breiter Weg, so dass man den ganzen Festungsrring ablaufen kann. Jeden Oktober findet eine Veranstaltung statt, bei der Menschen in der Dunkelheit mit Fackeln in den Händen die Mauer ablaufen. Song Gap-deuk, Ehrenmagistrat der Verwaltungsbehörde, der früher als Kreisvertreter und Leiter der Dorfverwaltung tätig war, verfasste ein Buch über Nagan-eupseong , weshalb er sich mit Vergangenheit und Gegenwart des Dorfs gut auskennt. Er erzählte: „Sehen Sie die zwei alten Gingkobäume in der Dorfmitte? Wenn Nagan ein Schiff wäre, dann wären die beiden Bäume die Masten und die Dutzenden von uralten großen Bäumen wären die Ruder. Der Anker wäre das Hügelchen im Hof der konfuzianistischen Schule außerhalb der Festung.“ Das Festungsdorf ist an drei Seiten von Meer umgeben. Als ich nach Südosten über die Nagan-Ebene blickte, wurde mir die Quelle der einstigen wirtschaftlichen Prosperität des Festungsdorfes schlagartig klar. Die Nagan-Ebene, die den Ausläufer der großen Honam-Ebene darstellt, und das nicht weit entfernte Meer liefern reiche Feldernten und eine Fülle von Meeresprodukten. Die Festung trägt bis heute die Spuren zweier bedeutender militärischer Führer der Joseon-Zeit: Admiral Yi Sun-sin (1545-1598) und General Im Gyeong Eop (1594-1646). Als Marine-Oberkommandeur der Linken Jeolla-Provinz kam Admiral Yi während der japanischen Invasionen von 1592-1598 fünf Mal nach Nagan, um sich mit seinen Offizieren über Kriegsstrategien zu beraten, seine Bestände an Proviant und Waffen aufzufüllen und Soldaten zu rekrutieren. Viele mutige Soldaten der von Admiral Yi befehligten Seestreitkräfte stamKorean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


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1.Von der Festungsmauer aus hat man einen Blick über die gesamte Wohnsiedlung. 2. Eine alte Dorfbewohnerin zeigt in ihrem Arbeitsraum, wie man früher webte. 3. Das Haupttor des Tempels Geumdun-sa im Gebirge Geumjeon-san.

men aus diesem Festungsdorf. Einer Legende nach soll das Fuhrwerk von Yi, der in Nagan Soldaten rekrutieren wollte, zusammengebrochen sein, so dass er anhalten musste und es mitten im Dorf unter den Gingkobäumen reparieren ließ. Da sollen die Dorfbewohner ihn und seine Leute mit den so. „Acht Delikatessen“ bewirtet haben. Das sind regionale Spezialitäten wie die Ballonblumenwurzeln Doraji, die Tigerglockenwurzelart Deodeok (Codonopsis lanceolata), das Buchweizengelee Muk, Fische, Rettiche, Iwatake-Pilze, der Adlerfarn Gosari und der Wasserfenchel Minari. Auf der Speisekarte eines Restaurant in der Festung wurde ein Gericht mit dem Namen „Acht Delikatessen“ angeboten, was ich auch probierte. Serviert wurde ein Set-Tafelmenü mit Beilagen wie PilzPfannküchlein, Fisch, zusammen mit Rettich geschmort, Ballonblumenwurzeln usw. Als ich an dem Gingko vorbeikam, erzählte mir eine der Dorffrauen eine weitere Geschichte über den Baum: „Vor langer Zeit ist mal eine Riesenschlange aus diesem alten Baum herausgekrochen. Meine Großmutter, die frühmorgens frisches Wasser aus dem Brunnen geholt hatte und glaubte, dass die Schlange Glück bringen würde, betete über diesem Wasser, dass die Schlange ‚an einen guten Ort‘ gehen solle. Danach wurde die Schlange nie wieder gesehen. Und das ist jetzt schon mehr als 30 Jahre her.“ General Im Gyeong-eop war Magistrat des Kreises Nagan. An seinem Schrein in der Festung werden bis heute Rituale zu seiner Verehrung abgehalten. Über ihn hörte ich folgende Geschichte: „General Im besaß zwei exzellente Schwerter. Das Yongcheon-geom (Drachenteich-Schwert) soll er von einem Drachen, der aus dem Drachenteich in Nagan gestiegen ist, erhalten haben. Später soll es ein Japaner mit nach Japan genommen haben. Das zweite Schwert, das Churyeon-geom (HerbstLotus-Schwert), soll das Geschenk eines Riesenkarpfen oder der mythischen Riesenschlange gewesen sein. Es wird heute in einem Museum in Chungju aufbewahrt.“ Die Festparade der lokalen Bauernbands startet denn auch am Schrein für General Im Gyeong-eop und nicht wie sonst traditionell üblich am heiligen alten Baum, in dem nach altem Volksglauben die Schutzgottheit eines Dorfes wohnt.

Leben der Dorfbewohner Die Pension mit dem Strohdach, in der ich übernachtete, war klein, aber sauber. Das Zimmer mit Ondol-Fußbodenheizung war etwas warm. Überall war es still, Mond und Sterne leuchteten klar am Himmel. Da es mich ins Freie trieb, ging ich in den Hof, öffnete das nur mit einem Messinglöffel zusammenhaltene zweiteilige Tor aus Baumzweigen und spazierte die Dorfgassen entlang. Ich sah Steinmauern mit Pflaumenblüten, auf die das Licht der Straßenlaternen fiel, ein Bächlein mit fließendem Quellwasser, Dunkelheit, die sich an der Biegung am Gassenende vertiefte, hier und da schwach erhellte Fenster und die tiefen Traufen der ziegelgedeckten Pavillons. Aber ich traf auf keine Menschenseele. Das war eigentlich auch kein Wunder in einem Dorf mit nur 80 HaushalK o r e a n a ı S o mme r 2 01 2

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ten und ohne Wirtshaus. Die wenigen Geschäfte hatten auch längst Feierabend gemacht. Daher waren die Autos, die zu dieser Stunde ins Dorf fuhren, für mich ein willkommener Anblick. Die Festungstore wurden auch in der Nacht nicht geschlossen. In der Nähe des Südtors gab es kleine Teiche, die man angelegt hatte, um Gefangene vom Ausbruch aus dem neben dem Tor gelegenen Gefängnis abzuhalten. Die Pensionsbesitzerin hatte mir schon gesagt, dass es in der Nacht hier still sei, weil die Menschen auf dem Land früh ins Bett zu gehen pflegten. Erst als ich in der Morgendämmerung in den Hof trat, bemerkte ich, dass ich von einem Meer von Pflaumenblüten umgeben geschlafen hatte. Ich spazierte früh am Morgen nochmals in der Festung herum, bevor sie voller Touristen war. Auf den Festungsmauern machten einige Frühaufsteher schon einen Spaziergang. Die Dorfgassen, die in alle Richtungen führten, waren breit genug, um einen Wagen durchzulassen. Überall sah ich die für Korea typischen ländlichen Szenen, die ich bislang fast nur aus Gedichten oder Fotos kannte: Baumblütenpracht, die sich über verfallenen Steinmauern erhebt, die schmalen, auf den Hof hinaus führenden Holzveranden der strohgedeckten Lehmhäuser und einzelne Felder. Hündchen, die in der Nacht nicht zu sehen gewesen waren, kamen herausgelaufen und die Frauen bespritzten in Vorbereitung auf einen neuen Tag den erdgestampften Hof mit Wasser. Die größte der Quellen, die die Bewohner vor dem Anschluss ans öffentliche Leitungsnetz mit Wasser versorgte, hatte man

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in ihrem ursprünglichen Zustand belassen. Diese Quelle floss noch immer über vor Wasser, das durch eine Steinrinne geleitet wurde. Um die Quelle hing ein Geumjul, ein Strohseil zur Abwehr böser Geister. An wichtigen Knotenpunkten standen Dutzende von Jangseung-Totempfählen, die als Wegweiser dienen. Sie wurden von Im Byeong-ju und anderen Holzschnitzern aus dem Dorf geschaffen, die sich bemüht hatten, die natürliche Form des Holzes so gut wie möglich zur Geltung zu bringen. Um neun Uhr öffneten das Verwaltungsbüro, das Informationszentrum und das Pansori (traditioneller epischer Sologesang)-Haus ihre Tore weit. Schmied Kang Ho-in, der in der Schmiede Messer schliff, sagte: „Dieses Eisenmesser sieht zwar nicht schick aus, aber es ist besser als zehn moderne Küchenmesser zusammen. Um es vor dem Verrosten zu schützen, braucht man es nur mit Perillaöl zu bestreichen.“ Dann wickelte er das Messer in mehrere Zeitungsblätter, die er an beiden Enden faltete und mit Gummibändern fixierte. Das war dann auch schon die ganze Verpackung. Beim Herumwandern schaute ich mich in allen Häusern, deren Tore offen standen, um. In einem wurden z.B. Strohwaren hergestellt, in einem anderen befand

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sich eine Färberei. Da rief jemand nach mir: „Hallo! Unser Haus ist hier. Warum gehst du in andere Häuser? Hast du dich etwa verlaufen? Nun komm schon herein und trink einen Kaffee!“ Es war die alte Besitzerin meiner Pension. Obwohl ich nur eine Nacht in ihrem Haus übernachtet hatte, war es schon „unser Haus“ geworden. Aus ihrer blitzblanken Stehküche holte sie eine Zuckerdose, einen großen Esslöffel und eine hübsche Kaffeetasse: „Kaffee muss man mit ordentlich Zucker trinken, nur dann schmeckt er richtig.“ Ihre Name war Kim Gwi-sim. Sie war eine heitere Person ohne jegliche Allüren. „Hier bin ich geboren, hier habe ich geheiratet, ich habe also mein ganzes Leben hier verbracht. Als ich jung war, war ich so stark, dass ich bei der Reis­ernte sogar einem durchschnittlichen Kerl was vormachen konnte. Früher lief ich am Markttag drei oder vier Stunden lang zu Fuß mit Weizensäcken und Rettichbündeln auf dem Kopf bis nach Suncheon und kam mit dem Geld, das ich mit den Waren verdiente, zurück. Heute sagen mir die Leute:Es ist nicht gut alt zu werden. Die Frau, die so stark und gut zu Fuß war, ist so eine alte Oma geworden.“ Sie erzählte weiter: „Ich habe neun Kinder zur Welt gebracht und drei Söhne begraben, ohne dass ich irgendwelche Sünden begangen hätte. Mein Mann starb mit 51. An Daeboreum, dem ersten Vollmondtag des Mondjahres, hatte er immer in der Bauermusikband die Große Trommel gespielt. Wenn er mich unter den Zuschauern sah, sagte er: ‚Geh nach Haus! Es schickt sich nicht, anderen Männern zuzusehen.‘ Ich bin jetzt 91 und man sagt, dass ich die Jahre, die er nicht mehr hatte, auch noch lebe. Wenn im Sommer meine Yuja-Bäume (Yuja: Citrus Junos) Früchte tragen, kommen alle, um sie zu pflücken. GesKorean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


1. Ein Stein-Buddha steht gegenübereiner dreistöckigen Steinpagode mit dem Bildnis eines Mönches, der mit beiden Händen ein Teeopfer darbringt. 2. Mönch Jiheo ist ein Meister der traditionellen Teezeremonie.

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„Wenn ich als Kind die Steine in den Mauern auf der Seite des Südtors, die alle größer als ich selbst waren, betrachtete, habe ich mich immer gewundert, wie man überhaupt solch riesige Steine hierher bringen und aufschichten konnte,“ sagte der Wächter des Weststors. Von der Festungsmauer aus sind das gesamte Dorf sowie die Ebenen und die nahen Berge zu sehen.

tern wehte der Wind so stark, dass ich vor lauter Angst kein Feuer im Küchenherd angemacht habe. Denn der Schornstein berührt fast das Strohdach und hätte Funken darauf sprühen können. Wenn ich hier auf meiner kleinen Holzveranda sitze und die Menschen kommen und gehen sehe, ist mir überhaupt nicht langweilig.“ Da hörten wir das Geräusch eines Motorrollers. Sie rief den Fahrer laut beim Namen und meinte: „Bist du gerade beim Ausliefern? Komm doch auf einen Sprung rein!“ Dann wandte sie sich mir zu und sagte: „Er trinkt gern Kaffee. Ich muss ihm einen machen.“ Plötzlich ertönte die Stimme des Kreisvertreters. Er bat über Lautsprecher die Dorfbewohner, die Dünger bestellt hatten, zum Abholen in sein Büro zu kommen. Hier ist die Landwirtschaft immer noch eine Schlüsselindustrie. Aber im Oktober, wenn das Namdo Food Festival stattfindet, wimmelt es von rund 300.000 Touristen. Da schließen die berühmten Restaurants in der Provinz Jeollanam-do für zwei, drei Tage und kommen nach Nagan, um ihre regionalen und lokalen Spezialitäten zu präsentieren.

Tee-Opferzeremonie im Geumdun-sa In der Nähe der Festung findet sich am Fuße des BerK o r e a n a ı S o mme r 2 01 2

ges Geumjeon-san der Tempel Geumdun-sa, ein weiterer Hinweis auf die Geschichtsträchtigkeit der Gegend. Hier lebt der Mönch Jiheo, der sich um die Wildtee-Felder kümmert und gerne vom Tee erzählt. Der Geumdun-sa wurde im sechsten Jahrhundert in der Regierungszeit von König Wideok (525-598) des Baekje-Reiches gebaut. Hier gibt es auch eine steinerne Buddhastatue aus dem siebten Jahrhundert von Baekje und eine Pagode aus dem 9. Jahrhundert. Der Tempel, der während der japanischen Imjinwaeran-Invasion (1592-1598) niedergebrannt wurde, wurde von Mönch Jiheo ab 1983 restauriert. „Ich bin zufällig bei der Besorgung von Wassermelonen hier vorbeigekommen und habe die Buddhastatue, die verfallen am Boden lag, gesehen. Einige Jahre später brachten mich ungewöhnliche Umstände wieder an diesen Ort und seitdem lebe ich hier. Diese dreistöckige Pagode, in die eine Tee-Opferzeremonie eingraviert ist, ist ein Schatz, der Einblicke in unsere traditionelle Teezeremonie Dado vermittelt.“ Vor dem Hintergrund der Klippe oberhalb des Tempels stehen die Pagode und der Buddha einander gegenüber. Im zweiten Stock der Steinpagode ist ein Re­lief zu sehen, das zwei Mönche zeigt, die mit einem Knie auf dem Boden Buddha mit beiden Händen Tee als Opfergabe darbringen. In gleicher Körperhaltung brachte Mönch Jiheo an diesem Tag vor der Buddhastatue Tee als Opfergabe dar. Wenn diese Zeremonie nicht von Herzen käme, könnten das Bild des Teeopfers aus dem 9. und das aus dem 21. Jahrhundert nicht so genau übereinstimmen. Wohin auch immer ich in Korea gehe, bin ich immer wieder überrascht, wie tief die Bahnen der Geschichte überall eingegraben sind.

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Special Lecture on Korean Paintings Oh Ju-seok: Special Lecture on Korean Paintings , ins Englische übersetzt von Lee Su-bun / Cho Yoon-jung. Hollym Publishing Co.; 261 Seiten; 49.50 US$

NEUERSCHEINUNG

Herz und Geist der alten Koreaner lesen

Der verstorbene Oh Ju-seok war der erste koreanische Kunsthistoriker, der versuchte, der Öffentlichkeit die Schönheit der koreanischen Kunst auf leicht verständliche Weise vorzustellen. Bis dahin hatten sich die Kunsthistoriker in ihrer Forschung meistens nur auf die Kunststile konzentriert, so dass die den Werken inhärente Schönheit zu kurz kam. Oh Ju-seok ging über dieses eingeschränkte Studium der Kunst hinaus und thematisierte die Schönheit der Gemälde an sich, wodurch er die Kunst einem breiteren Publikum näher bringen konnte. Oh war auch ein Wissenschaftler im herkömmlichen Sinne, der als Experte der traditionellen Malerei Koreas wissenschaftliche Bücher verfasste, darunter Danwon Kim Hong-do (1998), in dem er sich ausführlich mit dem Werk des virtuosen Genre-Malers Kim Hong-do (1745-?, Danwon: Künstlername) beschäftigte, der Ende des Joseon-Zeit aktiv war. Aber da er die Schönheit der koreanischen Malerei auch für die breite Leserschaft verständlich machen wollte, publizierte er auch Bücher wie Freude an den Bildern von einst (1999). Ich war eng mit ihm befreundet und besuchte viele seiner Vorlesungen, die sich völlig von denen anderer Kunsthistoriker unterschieden. Vor allen Dingen verstand er die Bilder, von denen er sprach, in völliger Tiefe. Aus diesem Grund schlug ich ihm vor, aus seinen Vorlesungsmaterialien ein Buch zu machen, um seine Einsichten einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Das Ergebnis ist der vorliegende Band Special Lecture on Korean Paintings (Sondervorlesung über die koreanische Malerei). In diesem Buch nähert sich Oh Ju-seok den alten Gemälden so an, als ob es sich um lebendige Wesen handelte. Zwar ist es auch wichtig, die jeweiligen Malstile zu analysieren, aber mit dieser intellektuell-theoretisierenden Methode erfasst man das Kunstwerk als gefühllosen Gegenstand. Oh Juseok hingegen liest aus den Malereien Herz und Geist der alten Koreaner heraus. Der Grund dafür ist einfach: Sonst kann man die alten Werke nicht wirklich verstehen. Aber warum muss man sie überhaupt verstehen können? Damit wir uns, den modernen Menschen von heute, verstehen können. Denn der Geist der modernen Koreaner birgt auch die Gedankenwelt der Koreaner von einst in sich. Aber viele Koreaner leben oft ohne dieses Bewusstsein vor sich hin. Durch Ohs Erklärungen zu den alten Werken entdeckt der Leser die „Koreanischheit“, die den Koreanern innewohnt, ihnen aber nur selten bewusst ist. In diesem Sinne ist das Buch auch für ausländische Leser interessant und hilfreich, denn bislang mangelte es an Büchern in Englisch. Dieses Problem wurde jetzt durch die vorliegende Übersetzung angegangen. In dieser Hinsicht ist das Buch von besonderem Wert.

Choi Joon-sik

Professor für Koreastudien, Ewha Womans University

Uh Soo-woong Journalist, Kultur- und Kunstabteilung der Tageszeitung Chosun Ilbo

Lee Soo-ki Reporter der Tageszeitung JoongAng Ilbo

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Unerbittliche Erforschung des Todes im Leben

Smartphone-App für Chats mit „künstlicher Intelligenz“

Tengo derecho a destruirme

SimSimi

Kim Young-ha: Tengo derecho a destruirme (Ich habe das Recht, mich selbst zu zerstören) , ins Spanische übersetzt von Kim Hyeon-kyun. Buenos Aires: Bajo la Luna Verlag, 112 Seiten, Preis noch nicht bestimmt.

Auf Koreanisch und Englisch verfügbar, 3,76 MB, kostenloser Download

Im November 2011, als die spanische Übersetzung von Kim Young-has (44) Roman Ich habe das Recht, mich selbst zu zerstören veröffentlicht wurde, war ich in Mexiko, um an der Internationalen Buchmesse Guadalajara teilzunehmen. Am Rande der Messe fand eine Autorenlesung statt. Kims Werk wurde von der spanischsprachigen Leserschaft mit euphorischer Begeisterung aufgenommen, weil seine Themen zeitgenössischen und globalen Anspruch haben. Die Hauptfigur „Ich“ dieses Kurzromans ist ein Selbstmord-Designer. Er berät die vom Gefühl der Sinnlosigkeit ihres Lebens gequälten, einsamen und depressiven Menschen in Bezug auf ihren Selbstmord. Der Erzähler „Ich“ lehrt sie die Art der Selbsttötung, die von ihnen gewünscht wird, und bereitet alles, was sie dafür brauchen, vor. Für ihn ist der Suizid eine künstlerische Methode, das von Langeweile und Durcheinander geprägte Leben zu komprimieren, und eine Art Ritus zur ästhetischen Vollendung des Lebens. Im Roman begehen zwei Frauen Selbstmord: Se-yeon (Judith), eine Animierdame, die die Angewohnheit hat, beim Sex einen Lutscher im Mund zu haben, und Mimi, eine Performance-Künstlerin. Mimi lässt sich von einem Videokünstler aufnehmen, wie sie nackt, ihre langen Haare als Pinsel nutzend, malt. Beim späteren Anschauen der Videoszenen schlitzt sie sich die Adern auf. Die Gründe für ihren Selbstmord werden nicht genannt. Wie ein Möbiusband, das keine Unterscheidung zwischen innen und außen zulässt, verschmelzen im Roman Realität und Irrealität, Leben und Tod. Der Roman stellt die Frage: Wenn der Mensch das Leben begehrt, wird er dann nicht auch den dem Leben immanenten Tod begehren können? Der Tod ist nicht einfach Auflösung des Körpers, er wird zum Gegenstand der Begierde. Seit der Veröffentlichung dieses Kurzromans im Jahr 1996 hat Kim insgesamt sechs Romane veröffentlicht. Seine Werke wurden in 15 Sprachen wie Englisch, Deutsch, Französisch und Japanisch übersetzt. Ich habe das Recht, mich selbst zu zerstören ist darunter das am häufigsten übersetzte Werk. Die Süddeutsche Zeitung bewertete den Roman als von deutlich anderem Ansatz und anderer Strickart als die herkömmlichen Werke der koreanischen Literatur, was Grund genug für die Lektüre sei. Im Vergleich zu den Autoren der früheren Generation, die hauptsächlich die Teilung des Landes und die Erfahrungen unter der Militärdiktatur thematisierten, ist Kim einer der repräsentativsten der Autoren, die die Werte des Individuums statt die der Gruppe sowie gesellschaftliche Ausgrenzung und Kommunikation statt historische Anliegen als wichtige Themen betrachten.

In der Welt der Smartphones werden jetzt sogar Partner kreiert, mit denen einsame Menschen jederzeit plaudern können. SimSimi , eine App, die Chats mit einer künstlichen Intelligenz anbietet, ist eine der bekanntesten Unterhaltungs-Apps. Gibt man z.B. „Ich hatte heute eine Prüfung.“ ein, antwortet SimSimi „Gut überstanden? Wär‘ toll, wenn du sie gut geschafft hättest!“ Diese Applikation wurde im Juni 2010 präsentiert. Vorläufer war die von MSN Messenger 2002 angebotene Software, die von Choi Jeong-hoi (37), damals Student der Seoul National University und jetzt Leiter des Softwareunternehmens SimSimi, und seinen Kommilitonen entwickelt wurde. Anfang 2011 wurde mit einem konzentrierten Vorstoß auf den ausländischen Markt begonnen. Im Januar, als die App auf den US-amerikanischen Markt kam, wurde sie innerhalb einer Woche 2,2 Millionen Mal heruntergeladen. Damit landete sie unter den kostenlosen Applikationen gleich auf Platz 2 und unter den Unterhaltungs-Apps auf Platz 1. Nachdem der berühmte amerikanische Rapper Ace Hood und Soulja Boy getweetet hatten, wie interessant SimSimi sei, schnellte die Downloadzahl enorm empor. Auch jetzt nutzen pro Tag mehr als eine Million Menschen allein in den USA SimSimi. Diese Applikation kann im App-Store von Apple oder auf dem Android-Market gratis heruntergeladen werden. Zurzeit sind koreanische und englische Versionen verfügbar. Das Erfolgsrezept von SimSimi liegt in der Möglichkeit begründet, sich rund um die Uhr unterhalten zu können. Die Nutzer können SimSimi auch Vokabeln beibringen. Daher kann SimSimi situationsgerechte witzige Antworten geben. Zum Beispiel erwidert es: „Wie viele Sparbücher hast du?“, wenn man fragt: „Willst du mich heiraten?“ Die Zahl der Applikationsentwickler, die einen Hit wie SimSimi landen wollen, ist ständig am Steigen. Der Marktstudie über Smart-Contents 2011 zufolge, die von der Korea Creative Content Agency (Koreanische Agentur für kreative Contents) im Februar 2011 veröffentlicht wurde, beläuft sich der Umfang des koreanischen Marktes für Smart-Contents auf 1,5 Billionen Won (rund eine Milliarde Euro). Die Zahl der im SmartContent-Sektor tätigen Unternehmen beträgt 1.270 und die der Beschäftigten 18.637. Da sich die App-Entwicklung jedoch längst zu einer populären Branche gemausert hat, kann man davon ausgehen, dass, unter Einbeziehung der Freiberufler, die Zahl der tatsächlich in diesem Bereich Aktiven über den offiziellen statistischen Angaben liegt. Die Zahl der auf T-Store, dem App-Store von SK Telecom, registrierten Entwickler beträgt 29.000. Davon gelten 26.000 als selbständig. Ein Beispiel dafür ist Kim Hyun-soo (26), der auf eigene Faust die iPhone-App

Archery Worldcup (Bogenschieß-Weltmeisterschaft) entwickelte, die weltweit bereits mehr als 4,4 Millionen Mal heruntergeladen wurde.


BLICK AUS DER FERNE

Korea ist kein Land, Korea ist eine Einstellung Jan Janowski Freiberuflicher Übersetzer und Journalist

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ch stand auf dem Balkon der Wohnung meiner Eltern. Draußen war es stockfinster. Mucksmäuschenstill. Ich war in Berlin, der nach eigener Aussage „dynamischsten Stadt Europas“. Es war kurz nach acht Uhr abends und die Bürgersteige schienen hochgeklappt. Es war März 2008, ich war nach meinem Austauschjahr in Korea gerade wenige Stunden wieder in Europa und wusste: Ich muss zurück. Nur wenige Monate später war ich wieder in Seoul. Bis heute bin ich der Überzeugung, dass es nie eine treffendere Beschreibung einer Nation in einem Wort gegeben hat als „Dynamic“ Korea. Diese Dynamik hat ihre positiven und negativen Aspekte, aber der Wandel an sich, die ständige Chance auf etwas Neues, das ist das, was mich in meinen inzwischen fast fünf Jahren in Korea jeden Tag aufs Neue elektrisiert. Wenn ich morgens aufstehe, den Berg Namsan mit dem Fernsehturm sehe, unter mir die Autos, die sich durch die Stadt schlängeln, dann steigt in mir ganz natürlich die Lebensenergie auf. Meist hält diese Lebensenergie nicht lange an, denn schlafen tue ich selten und kurz. Ob es die Angst ist, etwas zu verpassen? Es gibt diese 20-30 Minuten tief in der Nacht, so irgendwann zwischen 4 und 5 Uhr morgens, an denen meine Kreuzung ruhig ist. Dann huscht nur mal ein Taxi vorbei, aber ansonsten – minutenlang Stille. Mitten in Seoul. Fast so wie auf dem Balkon meiner Eltern damals im Jahr 2008. Aber eben nur fast, denn diese Stille birgt die Gewissheit, dass nach einer kurzen Verweilpause wieder etwas Neues beginnt. Ruhe in Korea ist nicht die Ruhe vor dem Sturm, sondern die Stille im Auge des

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Orkans. Als ich eines frühen Morgens auf dem Weg zur Arbeit durch eine Gasse lief, bemerkte ich, dass sich an einem Haus einige Bauarbeiter zu schaffen machten und Fensterscheiben herausnahmen. Als ich nach dem etwas längeren Arbeitstag mit anschließendem Gelage nach Hause kam, war das Gebäude weg. Und nicht nur das: Ein neues Fundament stand auf dem Grundstück. Auch als ich am nächsten Tag – jetzt nüchtern – wieder vorbeiging, war das Haus noch immer weg. Es war nicht nur immer noch weg, sondern das erste Geschoss eines neuen Hauses stand bereits. „Andoemyeon doege hara“. Wenn es nicht geht, mach es möglich. Nichts ist unmöglich auf Koreanisch. An diesem Wesen der Koreaner konnten weder japanische Kolonialherrschaft, Industrialisierung noch, weiter im Norden, sogenannter Sozialismus etwas verändern. Davon durfte ich mich bei einer Reise nach Gaeseong im anderen Teil Koreas überzeugen. Die Uniformen sind anders, die Bevölkerung bitterarm – aber wenn man unbeobachtet war, waren die Menschen genauso freundlich, genauso geradeaus, neugierig und herzlich wie südlich der DMZ. Und genauso willensstark, unbezwingbar in ihrem Stolz geradezu. Das hat mich tief bewegt. Genauso bewegend sind aber die scheinbar belanglosen Begegnungen: Der Vortrag der Ajumma (koreanische Frau mittleren Alters, mit beiden Beinen im Leben stehend, von manchen als „koreanische Geheimwaffe“ bezeichnet) die im Brustton der Überzeugung meinte, westliches Essen sei ungesund und mir daraufhin leckere koreanische BlutKorean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


wurst, Reiskuchenwürste in verdammt scharfer Soße und Fritiertes auftischte. Der Vortrag der Ärztin der traditionellen koreanischen Medizin, die es mit Wurzelsäften und unnachahmlicher Strenge schaffte, mir meine Pfunde wieder abzutrainieren. Jede einzelne dieser Begegnungen war für mich und mein Verhältnis zu Korea definierend, prägend. Prägend, weil sie mir aufzeigten, dass jede Gesellschaft im Innersten eine Ansammlung größter Widersprüche, tiefer Konflikte und - im Idealfall – widerstreitender, da dadurch kreativer Tendenzen ist. Viele haben mir gerade in der Anfangszeit gesagt, dass ich Korea zu positiv sehe. Dieser Vorwurf wurde mir interessanterweise gerade von Koreanern gemacht, die mich immer wieder auch selbst auf die Schattenseiten ihrer Gesellschaft aufmerksam machten. Da hieß es dann oft abgewandelt zum Sinnspruch von oben „Doeneun geotdo oepgo, an doeneun geotdo oepda“: In Korea geht nichts, aber alles ist möglich. Für mich wurde immer klarer, dass es vielleicht gerade diese latente Unzufriedenheit der Koreaner mit dem Ist und Jetzt ist, mehr aber noch der Wunsch nach einem noch besseren Später, der die Menschen antreibt. Von jedem Plakat in Korea lächelt einem eine glückliche Familie entgegen, geschätzt jede zweite Politikerrede verspricht „das Glück der Bürger“ zu mehren. Was aber die wirkliche Antriebskraft zu sein scheint, ist der Hunger nach dem Besseren, der in jedem einzelnen steckt. Die entstehenden Reibungen und Spannungen sind gerade das, was Korea die Dynamik gibt. Sie abzustreiten, Korea zu einem Land der Harmonie und Einigkeit zu stilisieren, hieße Korea seines größten Reizes zu berauben. Sei es der Firmenangestellte, der nach der Arbeitszeit noch Fremdsprachen paukt, oder die Ajumma, die in unserem Nachbarschaftspark jeden Tag ihre Übungen an den öffentlichen Fitnessgeräten macht: Niemand steht still, keiner lehnt sich selbstzufrieden zurück. Das hat auch mich angespornt, das Beste aus mir herauszuholen. So lernte ich langsam, die Fäden meiner Erfahrungen zu einem unzerreißlichen Netz der Zuneigung zu Korea zu knüpfen. Und irgendwann merkte ich, dass ich, der Vergleichende Politikwissenschaften studierte, aufhörte, Korea zu vergleichen. Ich merkte, dass ich Korea nie zu positiv gesehen hatte, sondern dass ich schlicht auf einem Weg gewesen war, das Land nicht mehr „persönlich zu nehmen“. K o r e a n a ı S o mme r 2 01 2

Was ich damit meine, ist, nicht bei jedem Verhalten, jeder Situation mehr Korea zu sehen, sondern die Situation an sich. Ich bleibe ein Ausländer, bleibe zwangsläufig immer ein wundersamer Fremdkörper, aber deswegen muss ich mich nicht darüber definieren und mich selbst noch weiter nach außen stellen. Statt mich über „die Koreaner“ aufzuregen, merkte ich, dass es für jedes Verhalten, das mich störte, unendlich viele Koreaner gab, die das Problem ebenso sahen wie ich. Eine erschreckend einfache Erkenntnis, die mich jedoch Jahre kostete und zu der manche nie kommen. Als ich aufhörte, in Korea Korea zu sehen, sondern einfach das Land, in dem ich lebe, meine Freunde habe und mich wohlfühle, da wurde Korea plötzlich Heimat und egal, wohin es mich noch in meinem Leben ziehen sollte: Heimat wird Korea immer für mich bleiben, da ich in diesem Land wichtige Weichen für mein Leben gestellt habe. Weichen hätte ich natürlich auch in Deutschland gestellt, aber der Zug wäre wohl ein Vorstadt-Bummelzug gewesen. Neulich führte ich im Rahmen meiner Tätigkeit für KBS World Radio ein Interview mit einer Dame, die gerade anstrebte, ein Auslandsstudium in Südkorea zu beginnen. Während des Interviews kamen die alten Bilder zurück, wie ich vor fünf Jahren als frischgebackener Student eingeschüchtert die Speisekarten der Restaurants erkundete. Sie erzählte, sie habe sich die ersten Tage in Seoul nicht einmal getraut, allein das riesige U-Bahnnetz zu erkunden. Jetzt fühle sie sich aber so, als könne sie jede Herausforderung meistern. Mich treiben nun ebenfalls neue Herausforderungen in einen anderen Teil der koreanischen Halbinsel. Auch dort gibt es eine U-Bahn. Man darf sie nur nicht alleine erkunden, selbst wenn man das wollte. Viel mehr weiß ich erst einmal nicht. Ansonsten fängt so ziemlich alles von vorne an, nur dass ich mir sicher bin, dass auch die Menschen im Norden nach einer besseren Zukunft streben und sich ihr Wesen als Koreaner bewahrt haben. Und ich weiß, dass ich sie zuallererst als Menschen behandeln werde und nicht als Angehörige eines von vielen durchaus kritisch gesehenen Staates. Selbst wenn mich mein Leben in Südkorea nur das gelehrt hätte, wären die letzten fünf Jahre nicht umsonst gewesen.

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GOURMETFREUDEN


Kalguksu

Nudelgericht mit unendlichen Varianten Dünne Schichten gefalteten Teigs werden mit dem Messer zu langen Nudeln geschnitten. Je nachdem, welche Brühe man mit welchen Einlagen und Zutaten kombiniert, erhält man eine endlose Zahl von Kalguksu-Varianten. Ye Jong-suk Professor für Marketing, Hanyang University, Food-Kolumnist | Fotos:Ahn Hong-beom

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s dürfte schwierig sein, ein Gericht in Korea zu finden, das beliebter und allgegenwärtiger ist als Kalguksu. Egal, in welche Provinz oder Stadt des Landes man auch geht: überall trifft man auf Restaurants, die sich auf diese Nudelsuppe spezialisiert haben. Wie sehr die Koreaner Kalguksu lieben, lässt sich leicht am Beispiel Daejeons erkennen, einer Stadt im Herzen des Landes, zwei Fahrstunden südlich von Seoul gelegen. Dem jüngsten Bericht einer dortigen Lokalzeitung zufolge, befinden sich in Daejeon mit seinen 1,5 Millionen Einwohnern sage und schreibe 2.000 Kalguksu-Restaurants. Das sind doppelt so viele Nudelrestaurants wie in der Kagawa-Provinz, der Nudelsuppen-Hochburg Japans, die für ihre heimische Spezialität Sanuki Udon berühmt ist. Es gibt in Korea keine Stadt, die kein für sie repräsentatives, berühmtes Kalguksu-Restaurant hat.

Nudeln nach Hausmacherart Kalguksu gehört gleich hinter dem Hauptnahrungsmittel Reis zu den Speisen, die in koreanischen Haushalten am häufigsten auf den Tisch kommen. Daher ist dieses Gericht für viele Koreaner mit Erinnerungen an ihre Kindheit und an die von ihrer Mutter zubereiten Kalguksu verbunden. Der ehemalige koreanische Präsident Kim Young-sam ist bekannt für seine besondere Vorliebe für Kalguksu, die ihn sogar oft Gästen in seinem Amtssitz Cheong Wa Dae dieses Gericht servieren ließ. Und tatsächlich ist Kalguksu eins der Gerichte, das bei allen Koreanern gleichermaßen beliebt ist, vom Präsidenten bis hin zum einfachen Bürger. Wer sich etwas mit der koreanischen Sprache auskennt, der mag sich vielleicht über die Bezeichnung „Kalguksu“, wörtlich „Messernudeln“, wundern. Doch genau so, wie die Koreaner oft darüber witzeln, dass es im „Bungeo-Bbang“, im „Karpfenbrot“, keinen Karpfen gibt, auch wenn diese süße Backware wie ein Karpfen aussieht, so hat man in der Kalguksu auch kein „Kal“, kein Messer, zu fürchten. Der Name rührt vielmehr daher, das dünne Schichten gefalteten Teigs mit dem Messer zu langen Nudeln geschnitten werden. Es ist aber auch für koreanische Gerichte eher die Ausnahme, dass sie nach einem Küchenutensil anstatt nach der Hauptzutat oder Zubereitungsweise benannt wurden. Manchmal werben Restaurants auf ihren Aushängeschildern auch mit „Son-Kalguksu“, also „HandMessernudeln“, als Spezialität des Hauses, um zu betonen, dass der Teig per Hand und nicht maschinell zubereitet und zugeschnitten wurde. Kalguksu wird manchmal auch „Kaljebi“ genannt, um es von „Sujebi“ zu unterscheiden, einem verwandten Gericht, bei dem von der Teigmasse grobe Stückchen mit der Hand abgerissen werden. K o r e a n a ı S o mme r 2 01 2

Der Mehlteig wird dünn und flach ausgerollt, bevor er gefaltet und in dünne Streifen geschnitten wird. Manchmal mischt man dem Teig Chlorella als Würze bei, um den Geschmack zu intensivieren.


In der Stadt Daejeon, die 1,5 Millionen Einwohner zählt, soll es an die 2.000 Kalguksu-Restaurants geben. Das sind doppelt so viele Nudelrestaurants wie in der Kagawa-Provinz, der Nudelsuppen-Hochburg Japans, die für Sanuki Udon, ihre heimische Nudelspezialität, berühmt ist. Koreanische Nudeln lassen sich nach drei traditionellen Zubereitungsarten einteilen: Napmyeon , für die der Teig wiederholt geworfen und in die Länge gezogen wird, Apchakmyeon , für die der Teig durch ein siebartiges Gerät gedrückt wird, aus dem dann dünne Nudelstränge herausquellen, und Kalguksu. Für Letztere wird der Teig zuerst mit einem Nudelholz in dünne Schichten gerollt, die dann mehrfach gefaltet und mit dem Messer in schmale Streifen geschnitten werden, die sich schließlich zu langen Bandnudeln auffalten. Von diesen drei Varianten findet die ursprünglich chinesische Napmyeon-Herstellungsmethode in alten koreanischen Aufzeichnungen kaum Erwähnung, und die Apchakmyeon-Variante, mit der die Buchweizennudeln für das kalte Nudelgericht Naengmyeon hergestellt werden, ist heutzutage größtenteils maschinisiert. Nur noch Son-Kalguksu werden heute wie einst nach Hausmacherart per Hand hergestellt.

Buchweizen statt Weizen In der Vergangenheit, als Weizen nur schwer zu bekommen und dementsprechend teuer war, waren Weizenmehl-Nudeln anscheinend besonderen Anlässen vorbehalten. In dem viel zitierten Text Xuanhe fengshi Gaoli tujing (Illustrierte Aufzeichnungen der chinesischen Gesandtschaft nach Korea während der Regierungsdevise Xuanhe 1119-1125), der 1123 von dem chinesischen Gesandten Xu Jing verfasst wurde, heißt es: „Das Goryeo-Reich produziert wenig Weizen und führt ihn aus Huabei (Nordchina) ein. Weizenmehl ist daher äußerst teuer und wird, mit Ausnahme von Hochzeitsfeierlichkeiten, nicht verwendet.“ Allgemein verbreitet scheint hingegen Buchweizen gewesen zu sein, wie auch Kochbücher aus dem 17. Jahrhundert belegen. So finden sich etwa im Eumsik dimibang (Gourmet-Rezepte) und im Jubangmun (Küchenliteratur) Rezepte für Kalguksu auf Buchweizenbasis. Das von Seo Myeong-eung (1716-1787) in der Späten Joseon-Zeit verfasste Gosa sibijip (Abhandlung über Landwirtschaft in zwölf Bänden) weiß Ähnliches zu berichten: „Nudeln werden eigentlich aus Weizenmehl hergestellt, doch oft wird in unserem Land stattdessen Buchweizen verwendet.“ Buchweizen-Kalguksu finden sich auch heute noch in der für den Buchweizenanbau berühmten Provinz Gangwon-do; in der Provinz Gyeonggi-do ist das Gericht als „Kalssakdugi“ bekannt. Erst nach dem Koreakrieg (1950-53), als Weizenmehl in großen Mengen im Rahmen der US-Lebensmittelhilfe ins Land kam, fanden auch die bis dahin seltenen Weizenmehl-Kalguksu stärkere Verbreitung. Des Weiteren bewegte eine Reisknappheit in den 1960er Jahren die koreanische Regierung dazu, Mehl-basierte Nahrungsmittel als Alternative zu propagieren, was zu einem erhöhten Konsum von Mehlspeisen führte.

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Im Restaurant Hanseong Kalguksu in Nonhyeon-dong werden die Nudeln mit Schnittlauch-Kimchi (Buchu-kimchi) und Rettich-Wasserkimchi (Nabak-kimchi) serviert. Die Nudeln werden in einer Brühe gekocht, für die Rinderbeinknochen und Rinderbrust mehrere Stunden gekocht wurden, und dann mit einer einfachen Garnierung aus würzigen, kurzgebratenen Zucchini-Streifen serviert (links).

Endlose Variationsmöglichkeiten Es gibt so viele Arten von Kalguksu, wie es Mehlsorten zur Herstellung der Nudeln gibt, sei es Weizen, Buchweizen, Bohnenmehl oder Eichelmehl. Die Vielfalt wird noch durch die endlosen Varianten an Zutaten vergrößert, die für Brühe, Garnierung und Würzung verwendet werden können. Je nachdem, woraus die Brühe hergestellt und mit welchen Einlagen sie kombiniert wird, lassen sich z.B. folgende Arten unterscheiden: Hühnchen-Kalguksu, Rinderknochen-Kalguksu, Anschovis-Kalguksu, Manilamuschel-Kalguksu, Rote-Bohnen-Kalguksu, Perillasamen-Kalguksu, Kimchi-Kalguksu, Aonori(Grünalgen)-Kalguksu oder Minikraken-Kalguksu. Im Landesinneren wird die Brühe typischerweise aus Rinderbeinknochen und Rindfleisch gekocht, während entlang der Küste mehr Anschovis, Manilamuscheln und verschiedene Arten von Meeresfrüchten Verwendung finden. In der Vergangenheit wurden wohl auch oft vollkommen andere Zutaten gebraucht, nämlich Fasanenfleisch, Sojasoße oder auch die Beerentraube Omija (Schisandra chinensis). Auch bei den Garnierungen, die auf die Nudeln kommen, gibt es zahlreiche Varianten wie z.B. Zucchinistreifen, zerkleinertes Rind- oder Hühnerfleisch, Pilze oder feine Omelettestreifen, nach Eiweiß und Eigelb getrennt gebraten. Je nach Zubereitungsmethode lassen sich zwei grundlegende Kalguksu-Arten unterscheiden: Geonjin-guksu und Jemul-guksu (oder Nureum-guksu). Geonjin-guksu sind „geschöpfte Nudeln“, die in den adligen Yangban-Haushalten in Andong, dem neo-konfuzianischen Zentrum in der Provinz Gyeongsangbuk-do, besonders geschätzten Gästen serviert wurden. Für diese Nudeln wird der Teig aus einer Mischung aus Weizen- und Bohnenmehl zubereitet, in dünne Streifen geschnitten und in Wasser gekocht. Die Nudeln werden dann abgeschöpft und in kaltem Wasser ausgespült, bevor man sie in die Brühe gibt, garniert und serviert. Jemul-guksu bedeutet „Selbes-Wasser-Nudeln“. Wie der Name schon verrät, werden die Nudeln zusammen mit Brühe und Zutaten gekocht und nicht separat zubereitet, so dass Nudeln und Brühe insgesamt eine dickere Konsistenz als bei der geschöpften Variante entwickeln. Die „Selbe-WasserVariante“ ist also einfacher und quasi auch bürgerlicher als „geschöpfte Nudeln“. Für gewöhnlich ist Kalguksu ein Hauptgericht, aber manchmal werden die Nudeln in kleineren Portionen auch zur Abrundung einer Mahlzeit serviert. Sie kommen dann z.B. in die übrig gebliebene Brühe des scharfen Fischeintopfes Maeuntang oder des japanischen Fleischfondues Shabu-Shabu. In Seoul werden kundige Liebhaber von Sagol(Rinderbeinknochen)-Kalguksu die Restaurants Hyehwa-Kalguksu in Hyehwa-dong und Hanseong-Kalguksu in Nonhyeon-dong aufsuchen. Für Dak (Hühnchen)-Kalguksu ist das traditionsreiche Myeongdong-Gyoja in Myeong-dong die erste Adresse. Für Bajirak(Manilamuschel)-Kalguksu empfiehlt sich Im Byeong-ju Sandong Kalguksu in Seocho-dong und für Myeolchi(Anschovis)-Kalguksu das Chungmu Kalguksu in Chungmu-ro. Allen berühmten Kalguksu-Restaurants ist übrigens gemeinsam, dass sie besonders schmackhaften Kimchi servieren, der ihre jeweilige Nudelspezialität perfekt ergänzt.

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REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR

Kim Do-yeon (geb. 1966) ist ein Autor, dem Schnee, Wind und Einsamkeit des Daegwallyeong-Passes in der Provinz Gangwon-do als Triebkräfte seines Schaffens dienen. Seine Erzählung Re-

Interpretation der Geschichte um die Zeit der Trennung ist eine Art politische Fabel, die das sich mit der Zeit verändernde politische Bewusstsein anhand von Zusammensein und Trennung eines Paares beschreibt. Es ist eine Erzählung, die etwas von seinem üblichen Schreibstil abweicht.

Kim Do-yeon Rezension

Paradoxie von zwei Trennungen Uh Soo-woong Journalist für Kunst und Kultur, Tageszeitung The Chosun Ilbo

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s gibt zwei Orte in Korea, wohin sich die Schriftsteller des Landes gerne zum Schreiben zurückziehen: Die Toji Foundation of Culture in Wonju und das Manhae-Dorf in Inje. Da beide in der Provinz Gangwon-do liegen, könnten die Schriftsteller aus Gangwon-do quasi ihren Heimvorteil durchsetzen, aber sie sind stets auf Höflichkeit und Anstand bedacht und lassen gerne Autoren aus anderen Regionen den Vortritt. Kim Do-yeon, der aus Pyeongchang stammt und die Gegend um den Daegwallyeong-Pass nie verlassen hat, stellt da keine Ausnahme dar. Wenn Schriftstellerkollegen aus anderen Landesteilen kommen, fungiert er fleißig als Fremdenführer und sorgt für das leibliche Wohl der Gäste. Er genießt allseits den Ruf schlicht-herzlicher Freundlichkeit und Großzügigkeit. Um die Zeit der Veröffentlichung seines später verfilmten Romans Wie man mit einer Kuh reist (2007), kursierte in den Schriftstellerkreisen das Gerücht, dass Kim die Fähigkeit besitze, sich mit Kühen verständigen zu können. Es hieß sogar, dass er sich nach ein paar Gläsern Alkohol mit den Gräsern und Steinen am Wegrand unterhalte. Die meisten seiner Werke strahlen ebenfalls eine solche Wärme und Schlichtheit aus, weshalb Re-Interpretation der Geschichte um

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die Zeit der Trennung die Leser etwas überrascht. Der Untertitel dieser Erzählung lautet: Die Seeschlacht vor Yeonpyeong zwischen Ihm und Ihr sowie heiterer Twist. Die Schlacht vor der Insel Yeonpyeong-do bezieht sich auf die Scharmützel, zu denen es 1999 und 2002 zwischen den beiden Koreas kam. Dabei zwangen Schnellboote der südkoreanischen Marine nordkoreanische Patrouillenschiffe, die im Westmeer über die Nördliche Grenzlinie in südkoreanische Gewässer eingedrungen waren, in die Hoheitsgewässer des Nordens zurück . Die Erzählung läuft auf zwei Zeitschienen: 1997 und 2007. Im Jahr 1997 ist die Frau die Stärkere. Auf einem nach Schimmel riechenden Bett liegend, fragt sie: „Wer wird wohl der nächste Präsident?” Sie ist eine Frau, die ständig “Ich fühle mich so unsicher” sagt. Erst als der Mann sein Verlangen nicht länger unterdrücken kann, gibt sie sich ihm in einer Art großzügigem Gefallen hin und ihre Körper verschmelzen. Zu diesem Zeitpunkt sind die beiden noch jung und unverheiratet. Die Frau möchte sich von der verhassten Armut befreien. Korea leidet zu der Zeit unter der Finanzkrise und erhält Rettungskredite des Internationalen Währungsfonds, weshalb diese Krise in Korea auch als „IWF-Krise“ bekannt ist. Auch während dieKorean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


ser Zeit, als „selbst stabile Existenzen auf der Straße landen“, lieben sie einander, trennen sich aber schließlich doch. Der Mann schenkt ihr zum Abschied eine Halskette und ein schönes Kleid. Nach zehn Jahren treffen sie sich wieder. Während es für den einen ein Zufall ist, ist es für den anderen eine absolute Notwendigkeit. Besessen von dem Gedanken, sie finden zu müssen, arbeitet er sich im Internet durch über hundert Suchergebnisse, in denen derselbe Name wie ihrer auftaucht. Soll man es als Belohnung für verbissene Hartnäckigkeit bezeichnen? Jedenfalls treffen sie sich schließlich in einem Bungalow-Restaurant in einem Ferienort in einem Tal voller Maronenbäume wieder. Beide sind jetzt verheiratet, aber mit jeweils anderen Partnern. Der Mann betreibt zusammen mit seiner Ehefrau ein kleines privates Nachhilfeinstitut in seiner Heimatstadt. Die Frau genießt eine gehobene Stellung, da ihr Ehemann zum Filialleiter befördert wurde. Soju-Schnaps trinkend und an Hähnchenknochen nagend, löschen sie die Jahre ihres Getrenntseins aus. Was in den Augen der anderen eine skandalöse Affäre sein könnte, ist für die beiden eine wiederaufgenommene Liebe. Nur hat diese Liebe eine andere Form als vor zehn Jahren. Die Namen der Stars der Sportsendungen, denen sie im Motelzimmer zuschauen, haben sich von Park Chan-ho zu Pak Ji-sung gewandelt und auch der Name des Präsidenten ist ein anderer. Aber da ist noch etwas, was anders als früher ist: Die Frau, die dem Mann früher Lektionen im Sich-gedulden erteilte, wirft sich ihm jetzt in einer 180-GradWendung geradezu an den Hals und greift beim Anruf ihres kleinen Sohnes zu einer Ausrede: „Mami ist mit einer Freundin zusammen und kommt bald zurück.“ Während sie früher bei jedem Liebesakt gewohnheitsmäßig den Satz „Ich fühle mich unsicher“ hervorgebracht hatte, wiederholt sie nun den Satz „Ich bin glücklich“. Schließlich ahnen beide, dass eine zweite Trennung auf sie zukommt. Auf die Frage, wer wohl der nächste Präsident wird, lautet ihre desinteressierte Antwort „Wer es auch wird, ist doch völlig egal.“. Die beiden Hälften der Erzählung tragen die Zwischentitel 1997. Die Interpretation der Geschichte um die Zeit der Trennung und 2007. Die Re-Interpretation der Geschichte um die Zeit der Trennung. Die „Re-Interpretation“ ist eine geistreiche Bezeichnung, die auf den Grund verweist, warum Untreue nichts Schönes sein kann. Geht man eine Ebene tiefer, ist aber auch eine politische Interpretation möglich. Es kann eine Anspielung auf das linksorientierte Buch Interpretation der Geschichte um die Zeit der Befreiung von der japanischen Kolonialherrschaft sein, das in den 1980er Jahren quasi die Bibel der gegen die Militärdiktatur gerichteten koreanischen Studentenbewegung war. 20 Jahre später erschien als Antwort darauf das rechtsorientierte Buch Re-Interpretation der Geschichte um die Zeit der Befreiung von der japanischen Kolonialherrschaft. Die Erzählung kann aber auch als beißende Kritik an der Mittelschicht interpretiert werden, deren politisches Bewusstsein umgekehrt proportional zum materiellem Wohlstand abstumpfte. Die Erzählung betrachtet den geschichtlichen MakroK o r e a n a ı S o mme r 2 01 2

kontext der Zeit der Befreiung von der japanischen Kolonialherrschaft und des Koreakrieges in einer fesselnden Variante unter der mikroskopischen Linse einer romantischen Verstrickung. Wenden wir hier unseren Blick einmal dem Autor dieser interessanten Beobachtungen zu. Kim Do-yeon, der in der Provinz Gangwon-do geboren und aufgewachsen ist, debütierte 1991, als er beim jährlichen Frühjahrs-Literaturwettbewerb der Tageszeitung Kangwon Ilbo ausgezeichnet wurde. Der Schnee, der Wind und die Einsamkeit der Gegend des Daegwallyeong-Passes sind seine Schätze. Er war auch einmal wegggangen, weil er Schnee und Wind nicht mehr ertragen konnte: Nach dem Besuch der Jinbu Mittelschule in seinem Heimatort Daegwallyeong-myeon, Yucheon-ri, wagte er den „Ausbruch“ und besuchte die Oberschule in der Großstadt Chuncheon, ebenfalls in der Provinz Gangwon-do. Er entschied sich für das weiter entfernte Chuncheon, weil er aus der näher gelegenen Stadt Gangneung, wo seine Schulfreunde aus der Mittelschule die Oberschule besuchten, jedes Wochenende hätte nach Hause kommen müssen. Doch auch während der Oberschulzeit in Chuncheon blieb die Einsamkeit, auch wenn Schnee und Wind weniger raue Gefährten waren als in seinem Heimatort. Das Schreiben war die einzige Zuflucht. Doch nach seinem Debüt war es erst einmal unmöglich, sich vom Schreiben zu ernähren, und das Café, das er mit Hilfe eines Kredits seines Vaters eröffnet hatte, konnte sich nicht einmal ein Jahr halten. Diese harte Realität des Lebens brachte ihn schließlich wieder zurück in seine Heimat. Anfang 2000 schlich er sich wie ein Dieb nach Hause, fest entschlossen, wieder zu gehen, sobald es wärmer würde, aber der Frühling kam und ging, und Kim blieb. Dass der Mann in der Erzählung Re-Interpretation der Geschichte um die Zeit der Trennung sich in seinem Heimatort niederlässt, ist wohl eine Spiegelung der Erfahrung des Autors. Anfangs wurde gesagt, dass der Autor mit den Kühen kommunizieren könne. Tatsächlich umarmt Kim oft seinen Hund und unterhält sich mit ihm. Er sagte, dass er den Hund, der ihm fröhlich zubellt, wenn der angetrunken nach Hause kommt, an sich drückt und ihm seine Erzählung vorliest, weil er keinen Menschen hat, dem er das fertige Werk vorlesen könnte. Auf der Fahrt von Seoul nach Gangwon-do muss man durch mehrere Tunnel fahren. Wenn man aus dem einen Tunnel herauskommt, schneit es, und wenn man aus dem nächsten kommt, schüttelt der starke Wind das Auto durch. Nach dem letzten Tunnel überfällt einen dann vielleicht die Einsamkeit. All diese Tunnel zu durchqueren, wird die literarischen Produkte von Kim Do-yeon vielleicht noch packend-intensiver machen. Mit der Erzählung ReInterpretation der Geschichte um die Zeit der Trennung verhält es sich auch nicht anders: Die Paradoxie der Trennung, die sich nach zehn Jahren wiederholt, bei der aber aus dem Refrain „Ich fühle mich so unsicher” der Refrain „Ich bin glücklich” wird. In dieser Paradoxie liegt die Lehre dieser Erzählung.

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