Herbst 2016
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST
SPEZIAL
DMZ
ein blick auf das verbotene land, erhascht durch Stacheldrahtzäune dMZ: erde des traums der Wiedervereinigung; innere ruhe auf dem dMZ-Waldwanderweg; Ökosystem der dMZ: eingehüllt in stille; Gyodong-do: eine nordkorea gegenüber liegende insel; real dMZ Project: Vermächtnis des Kalten Krieges im spiegel der Kunst
dmz
JaHrgang 11, nr. 3
issn 1975-0617
IMPRESSIONEN
Outdoor-Mode und die Berge Kim Hwa-young Literaturkritiker, Mitglied der National Academy of Art
% der Gesamtfläche der koreanischen Halbinsel ist gebirgig. Auf den restlichen, aus flachem Land bestehenden 30 % bauten die Koreaner ihre Häuser und bestellten die Felder. Park Ji-won, ein Gelehrter aus dem 18. Jh, beklagte, dass in diesem Land voller Berge sich kaum eine Ebene über 100 Li (etwa 40 km) erstrecke und kein Ort mehr als 1.000 Häuser habe. Heutzutage sagen ausländische Besucher angesichts der Megacity Seoul mit ihren mehr als 10 Mio. Einwohnern: „Egal wohin man geht, es gibt nur Wohnhochhäuser.“ Wenn so viele Menschen auf so beschränkter Fläche leben, können die Wohngebäude nur nach oben wachsen anstatt sich zu ebener Erde seitwärts auszubreiten. Ein aufmerksamer Beobachter wird jedoch bald feststellen, dass in nicht allzu weiter Ferne hohe Berge die Stadt einrahmen. Das gilt nicht nur für Seoul. Es gibt 4.400 Berge, die für die meisten Koreaner von Arbeits- oder Wohnort aus leicht zu erreichen sind. Kein Wunder also, dass Bergwandern zu den beliebtesten Freizeitaktivitäten der Koreaner gehört. Die Koreaner wandern in den Bergen, weil es eben Berge gibt. Die Zahlen sind je nach Umfrageinstitut zwar etwas unterschiedlich, aber Schätzungen zufolge unternehmen 15 Mio. der insgesamt 50 Mio. Südkoreaner jeden Monat Bergtouren und 4 von 5 Koreanern über 18 mehr als einmal pro Jahr. Aufs Jahr gerechnet macht das 460 Mio. Bergtouren. Unerwarteterweise hatte dieses Phänomen auch Auswirkungen auf die Mode-Industrie. Noch vor wenigen Jahrzehnten stellte Bekleidung nur einen geringen Prozentsatz der Bergwanderausrüstung. Anfänglich wurden Wanderkleidung und Ausrüstung in kleinen Läden im Zugangsbereich zu Wanderrouten verkauft. Doch heutzutage sieht man oft Menschen, die beim Spaziergang durch ihr Wohnviertel oder am Fluss die neueste funktionale Wanderkleidung tragen und aussehen, als ob sie den Everest erklimmen wollten. Die koreanische Outdoor-Bekleidung ist mittlerweile auf über 7 Bio. Won (ca. 6,25 Mrd. Dollar) gewachsen. Im Herbst, wenn die Berge in ein buntes Blätterkleid gehüllt sind, bereichert die Outdoor-Mode-Fashionshow der Bergwanderer die Farbenpracht der Landschaft.
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Von der Redaktion
VERLEGER REDAKTIONSDIREKTOR CHEFREDAKTEURIN REDAKTIONSBEIRAT
Die DMZ im Zeitalter des Cyberkriegs Eine unheimliche Ruhe hängt über dem verlassenen Land jenseits der Stacheldrahtzäune. Für die jungen Soldaten mit ihren oft noch unschuldigen Jungengesichtern auf den Wachtürmen entlang der Grenze scheint die lautlose, aber angespannte Konfrontation eine völlig alltägliche Selbstverständlichkeit zu sein. Aber sie dürften sich sehr bewusst sein, dass sie jederzeit plötzlichen Scharmützeln oder gar ernsthaften Kampfhandlungen von jenseits der Grenze ausgesetzt sind. Gerade zum jetzigen Zeitpunkt eine SPEZIAL-Reihe über die Demilitarisierte Zone, den langen Streifen Land, der die beiden Koreas voneinander trennt, zu bringen, mag etwas seltsam erscheinen. Während die vorliegende KOREANA-Ausgabe für die Drucklegung vorbereitet wird, scheinen Frieden und Sicherheit auf der koreanischen Halbinsel inmitten eskalierender Spannungen am seidenen Faden zu hängen. Bedenkt man, dass das Leben von Millionen Menschen, darunter Zivilisten und Militärangehörigen, vor sechseinhalb Jahrzehnten in einem mit Panzern und Haubitzen geführten Krieg vernichtet wurde, beinhalten die Kontroversen über die nukleare Bedrohung, die Raketenbedrohung und die Stationierung von hochmodernen U-Boot-gestützten ballistischen Raketen (SLBM) und des THAAD-Raketenabwehrsystems weitreichende Implikationen. Diese „demilitarisierte“ Pufferzone hat in der Realität selten den im Waffenstillstandsabkommen festgeschriebenen ursprünglichen Zielsetzungen entsprochen. Die ganze Welt weiß, dass es auch ohne die steigende Besorgnis über weitere hochmoderne Waffenvernichtungswaffen heutzutage bereits die am stärksten militarisierte Grenze auf der Welt ist. In diesem Zeitalter der Cyberkriegsführung hat die geographische Distanz, die die Pufferzone gewährleistet, längst an Bedeutung verloren. Die SPEZIAL-Reihe der Herbstausgabe „DMZ: Ein Blick auf das verbotene Land, erhascht durch Stacheldrahtzäune“ betrachtet die koreanische DMZ aus historischer und humanitärer Perspektive. Es ist ein Versuch, Vergangenheit und Gegenwart dieses Niemandslandes, dessen Zugang strikt verwehrt bleibt, zu beleuchten und einen Blick in den Alltag der Bewohner der Grenzregion zu werfen.
COPY EDITOR KREATIVDIREKTOR LEKTORAT KUNSTDIREKTOR DESIGNER
Lee Si-hyung Yoon Keum-jin Ahn In-kyoung Bae Bien-u Charles La Shure Choi Young-in Han Kyung-koo Kim Hwa-young Kim Young-na Koh Mi-seok Song Hye-jin Song Young-man Werner Sasse Anneliese Stern-Ko Kim Sam Lim Sun-kun, Noh Yoon-young, Park Sin-hye Lee Young-bok Kim Ji-hyun, Kim Nam-hyung, Yeob Lan-kyeong
LAYOUT & DESIGN
Kim’s Communication Associates 44 Yanghwa-ro 7-gil, Mapo-gu Seoul 04035, Korea www.gegd.co.kr Tel: 82-2-335-4741 Fax: 82-2-335-4743
ÜBERSETZER
Ahn In-kyoung Anneliese Stern-Ko Do Young-in Kim Eun-ji Park Ji-hyoung
Preis pro Heft in Korea 6.000 Won Außerhalb Koreas US$9 Detailinformationen zu den Subskriptionspreisen finden Sie auf Seite 84. THE KOREA FOUNDATION BERLINER BÜRO c/o Botschaft der Republik Korea Stülerstraße 8-10, 10787 Berlin, Germany Tel: +49-(0)30-260-65-458 / Fax: +49-(0)30-260-65-52 E-mail: koreana@kf.or.kr
Ahn In-kyoung Chefredakteurin der deutschen Ausgabe The Korea Foundation West Tower 19F Mirae Asset CENTER1 Bldg. 26 Euljiro 5-gil, Jung-gu, Seoul 04539, Korea
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST Herbst 2016
Viertejährlich publiziert von The Korea Foundation 2558 Nambusunhwan-ro, Seocho-gu Seoul 06750, Korea http://www.koreana.or.kr
DMZ 2009_Gelber Fluss Heryun Kim 2009, Öl auf Leinwand, 150x200 cm.
GEDRUCKT HERBST 2016 Samsung Moonwha Printing Co. 10 Achasan-ro 11-gil, Seongdong-gu, Seoul 04796, Korea Tel: 82-2-468-0361/5 © The Korea Foundation 2016 Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Publikation darf ohne vorherige Genehmigung der Korea Foundation in irgendeiner Form reproduziert werden. Die Meinungen der Autoren decken sich nicht notwendigerweise mit denen der Redaktionsmitglieder oder der Korea Foundation. Koreana ist als Vierteljahresmagazin beim Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus registriert (Reg. Nr. No. Ba-1033, August 8, 1987) und erscheint neben Deutsch auch auf Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Indonesisch, Japanisch Russisch und Spanisch.
IntervIew
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Cartoonist Kim Botong : Geliebt von den Botong (gewöhnlichen)-Menschen Park Seok-hwan
KUnstKrItIK
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Lee Jung-seop: Kunst als dokumentierung der Macht der Wahrheit
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Chung Jae-suk
HÜter Des traDItIOneLLen erbes
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An der sandam über die ewigkeit sinnieren Heo Young-sun
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rUnD UM ZUtaten
SPEZIAL
reis - und was man alles daraus machen kann
DMZ: ein blick auf das verbotene land, erhascht durch stacheldrahtzäune
Kim Jin-young
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LIfestyLe sPeZIaL 1
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dMZ: erde des traums der Wiedervereinigung
verLIebt In KOrea
Ham Kwang-bok
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innere ruhe auf dem dMZ-Waldwanderweg
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Ökosystem der dMZ: eingehüllt in stille
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darcy Paquet: Fahnenträger des koreanischen independent-Films
Baik Chang-hwa
reIsen In DIe KOreanIscHe LIteratUr
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Wäre es möglich, zu beweisen, dass ich derselbe wie damals bin?
Kim Hyun-sook
Unterwegs
Lee Chang-guy
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Wiederbelebung von Kleinbuchhandlungen im Zeitalter der kulturellen diversifikation
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schreiben sie viele gute Gedichte, bis zum tag der Wiedervereinigung
Choi Jae-bong
Plaza Hotel Kim Mi-wol
Gwak Jae-gu
Seo Jae-chul
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Gyodong-do: eine nordkorea gegenüber liegende insel
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Lee Chang-guy
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real dMZ Project: Vermächtnis des Kalten Krieges im spiegel der Kunst Koh Mi-seok
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SPEZIAL 1 DMZ: Ein Blick auf das verbotene Land, erhascht durch Stacheldrahtzäune
Über dem Imjin-gang aufsteigender Morgennebel schwebt über dem mittelwestlichen Teil der Southern Limit Line (SLL) in der Provinz Gyeonggi-do. Ein Militärjeep patroulliert das Gebiet entlang des Stacheldrahtzauns, der die Südliche Begrenzungslinie der DMZ markiert.
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DMZ
ERDE DES TRAuMS DER WIEDERvEREINIGuNG
Die rund 4 km breite, 238 km lange Demilitarisierte Zone (DMZ) ist eine Pufferzone, die sich entlang der Militärischen Demarkationslinie durch die Mitte der koreanischen Halbinsel erstreckt und Nord- und Südkorea teilt. Entgegen ihrer Bezeichnung als Pufferzone ist die DMZ das weltweit am stärksten militarisierte Relikt des Kalten Krieges. Dieser paradoxe Raum, der selbst heute noch, 60 Jahre nach dem Waffenstillstand, als Symbol von Teilung und Konflikt weiterbesteht, sollte als Stätte der Inspiration zur Überwindung der Teilung fungieren. Ham Kwang-bok Leiter des Korea DMZ-Instituts, DMZ-Reporter Fotos Ahn Hong-beom, Lee Sang-youp
CHANGDO
GOSEONG GEUMGANG
NöRDLICHE DMZ-BEGRENZuNGSLINIE (NORTHERN LIMIT LINE, NLL)
2km
GOSEONG
PJÖNGJANG
4km DMZ
MILITäRISCHE DEMARKATIONSLINIE (MILITARy DEMARCATION LINE, MDL)
GIMHWA
2km SÜDLICHE DMZ-BEGRENZuNGSLINIE (SOuTHERN LIMIT LINE, SLL)
CHEORWON
ZIvILE KONTROLLLINIE (CIvILIAN CONTROL LINE, CCL)
CHEORWON CHANGPUNG
PAECHON
INJE
YEONCHEON
KAESONG (GAESEONG)
YEONAN
YANGGU
HWACHEON
Nordkorea
POCHEON
PANMUNJOM GAEPUNG
GAPYEONG PAJU
CHUNCHEON 38. Breitengrad
YANGJU
Südkorea GYODONG
GANGHWA GIMPO
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obald sie an dem Tag das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet hatten, standen Generalleutnant William K. Harrison vom Kommando der Streitkräfte der Vereinten Nationen (UNC) und der nordkoreanische General Nam Il auf und verließen den Raum durch eine jeweils andere Tür. An diesem schicksalsschweren Tag, der Geburtsstunde der Demilitarisierten Zone (DMZ), gingen sie ohne ein Wort, ohne ein formelles Händeschütteln auseinander. So erblickte am 27. Juli 1953 um 10.12 Uhr in Panmunjeom die DMZ gleichsam als Bankert von Hass und Misstrauen das Licht der Welt.
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Weder Krieg noch Frieden Die DMZ ist dieses Jahr 63 Jahre alt geworden. In Menschenjahren gerechnet, käme sie nun in die Phase des fortgeschrittenen Alters, in der ein Mensch mehr Jahre gelebt hat als ihm noch bevorstehen. In diesem Sinne bringen ihr jetzt vielleicht viele mehr Nachsicht und Großmut gegenüber. Zum Beispiel beschwört man Bilder von jahrzehntelang von Menschenhand unberührten Landschaften mit nach Herzenslust herumspringenden wilden Tieren herauf. Man möchte glauben machen, dass das Unglück der innerkoreanischen Teilung uns wenigstens den Schatz sauberer Natur beschert hat. Doch die DMZ ist auf keinen Fall ein „gebrechlicher alter Mensch“ und auch keine „ökologische Schatzkammer“. Raue Ebenen, verwüstet durch wilde Lauffeuer; Stacheldrahtzäune des Militärs beider Seiten, die sich über die grünen Berge ziehen; Laufgräben und Zementtreppen, die sich mäanderartig zu den Bergrücken hochschlängeln; schmale, steil ansteigende Militärstraßen; Maisfelder, die nordkoreanische Soldaten hier und da am Berghang angelegt haben; Bunker, in denen sie sich verstecken, den Blick starr nach Süden gerichtet; und die Posten der südkoreanischen Einheiten, die ein waches Auge auf die Grenzlinie haben: Auch wenn man nicht
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mehr von einem Schlachtfeld sprechen kann, so glaubt doch niemand, der weiß, was die DMZ ist, dass dort Frieden herrscht.
Was ist die DMZ? Als DMZ definiert das Waffenstillstandsabkommen ein Gebiet 2 km nördlich und 2 km südlich der Militärischen Demarkationslinie, die von der mit dem Schild Nummer 0001 markierten Stelle an der Mündung des Flusses Imjin-gang an der Westküste bis zu dem mit der Nummer 1292 beschilderten Dorf Myeongho-ri an der Ostküste verläuft. Die DMZ ist also genau genommen ein langer Streifen, der sich durch die Mitte der koreanischen Halbinsel von Ost nach West erstreckt. Spricht man über die Teilung der koreanischen Halbinsel, fällt gewöhnlich die Formulierung „entlang der 155-Meilen-Stacheldrahtzäune der Waffenstillstandslinie“. Doch ist diese Beschreibung richtig? Zur Überprüfung hat ein Geograf die Strecke entlang der südlichen DMZ-Begrenzungslinie (SLL) von der Mündung des Imjin-gang bis zum Chogu-Dorf an der Ostküste gemessen. Die exakte Entfernung betrug 148 Meilen (238 km). Außerdem ist die Waffenstillstandslinie genau genommen nur eine Linie auf der Karte, die in der realen Welt auf keine Weise befestigt und nur durch die oben genannten Schilder gekennzeichnet ist. . Was Touristen auf DMZ-Tour sehen, wenn sie durch die großen Glasfenster der Observatorien entlang der Stacheldrahtzäune der sog. 1 Zwei Grenzsoldaten auf Wache blicken von einem „Southern Limit Line (SLL)“ auf der Turm an der Militärischen südkoreanischen Seite schauen, ist ein Demarkationslinie hinunter stiller, friedlicher Streifen, an den sie auf die DMZ. 2 Soldaten einer an der Misich später als ein Stück Erde, auf dem litärischen Demarkationsalles stillsteht, erinnern. In Wirklichkeit linie stationierten Einheit liefern sich beide Seiten dort aber auch beim Morgenappell. heute noch ständig einen geschickt geführten Schlagabtausch. Zum Beispiel verbrennen die Soldaten auf südlicher und nördlicher Seite jedes Jahr von Mitte Februar bis Mai alle Pflanzen und Bäume, die Sicht und Schussfeld beeinträchtigen könnten. In der DMZ wird die alte „Kunst der Kriegsführung mit Feuer“ immer noch als nützliche Taktik eingesetzt. Die Bestimmung des Waffenstillstandsabkommens, nach der der Süden und der Norden die jeweils 2 km von der Militärischen Demarkationslinie gezogenen Grenzlinien, die sog. „Southern Limit Line (SLL)“ bzw. „Northern Limit Line (NLL)“, nicht überschreiten dürfen, ist schon seit langem übertreten. Denn zwischen
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den beiden Koreas kam es zu einem „Kleinkrieg um Territorium“, bei dem die Grenzzäune an der NLL bzw. SLL Stückchen für Stückchen vorgerückt werden. Auf Konflikte, bei denen es um Waldbrände, Landminen und vom Norden gegrabene Infiltrationstunnel ging, folgte in jüngster Vergangenheit die Wiederaufnahme des Propaganda-Beschallungskriegs über Lautsprecheranlagen. Eine weitere bemerkenswerte Tatsache über die DMZ ist, dass die statistische Zahl der Grenzgebiet-Bewohner deutlich unter der Zahl der tatsächlich dort lebenden Personen liegt. Die in der DMZ stationierten Soldaten gelten nämlich als „verborgene Einwohner“. Die Einwohnerzahl des Landkreises Hwacheon-gun in der Provinz Gangwon-do im DMZ-Grenzgebiet betrug 2015 offiziell etwas über 27.000. Aber es könnte darüberhinaus noch „verborgene Einwohner“ geben.
Die Wahrheit über die ökologie in der DMZ Kurz gesagt: Das natürliche Umfeld in der DMZ ist letztendlich 8 KoreAnA Herbst 2016
nicht so natürlich. Die Wälder verödeten durch strategischen Feuereinsatz und wurden von den vielen dort „Ansässigen“ abgeholzt und verschmutzt. Schon seit langem weisen Wissenschaftler darauf hin, dass der Holzbestand in der DMZ und ihrer Umgebung nicht einmal mehr die Hälfte des landesweiten Durchschnitts betrage und unterstreichen die Dringlichkeit der Wiederherstellung des zerstörten Ökosystems. Die Tiere in diesen armen, verwahrlosten Wäldern leiden unter dem Lärm der gegenseitigen Lautsprecherbeschallung als Mittel der psychologischen Kriegsführung und unter den grellen Lichtern, die nachts die Stacheldrahtzäune beleuchten. Manche werden Opfer der Landminen. Doch Reportagen über die DMZ beschreiben diesen Ort stets als Paradies für Wildtiere und zeigen Herden von fröhlich springenden Wasserrehen, einen majestätischen, hoch auf einem Felsen stehenden Langschwanzgoral, der in die Ferne blickt, oder Wildschweinfamilien, die um eine Kaserne streifen. Doch keins dieser Wildtiere posiert für die Kamera. Vielmehr setzt die Kamera ihre
WARTEN AUF DIE ABFAHRT IN RICHTUNG GEUMGANG-SAN
2 1 Es ist auf dem Foto zwar schwer zu erkennen, aber der südkoreanische Wachposten an der Westfront befindet sich nur ein kleines Stück von dem nordkoreanischen Wachposten entfernt. 2 Kim Yeong-beom und Kim Sun-hui wurden beide in einem Dorf innerhalb der Zivilen Kontrollzone im Kreis Cheorwon-gun, Provinz Gangwon-do, geboren. In den 1980er Jahren eröffneten sie im Mindeulle-Feld vor ihrem Dorf die „Raststätte an der Frontlinie“. Auf den Tag der Wiedervereinigung wartend begrüßen sie Gäste, die eine Reihe von militärischen Kontrollpunkten passiert haben, um Scharfen-Wels-Eintopf, die Spezialität des Hauses, zu probieren. 3 Die Jeongyeon-Bahnbrücke, die 1926 für den E-Zugverkehr auf der Geumgangsan-Bahnlinie über den Fluss Hantang-gang im Kreis Cheorwon-gun gebaut wurde. Die Worte am Tragwerk oberhalb der Pfeiler „Die abgebrochene Bahnstrecke! 90 km bis Geumgang-san“ sind Ausdruck von tiefem Schmerz und Sehnsucht.
Das „Mindeulle-Feld“ in Gimhwa-eup, Kreis Cheorwon-gun ist das am nördlichsten gelegene Gebiet in Südkorea – ein Stück Unbehagen erzeugendes Erde, auf das die schwarzen Berge Nordkoreas beständig herunterstarren. Durch das Feld verläuft die Demilitarisierte Zone. Auch eine verrostete Bahnbrücke ist zu sehen. Diese 1926 für den E-Zugverkehr auf der Geumgangsan-Bahnlinie freigegebene Brücke verband die Stationen Cheorwon und Nae-Geumgang, bis sie durch die Teilung des Landes stillgelegt wurde. Am Tragwerk oberhalb der Pfeiler steht zu lesen „Die abgebrochene Bahnstrecke! 90 km bis Geumgang-san“ – ein Ausdruck des Bedauerns, dass die Reise hier zu Ende ist. Anfang der 1970er Jahre machte ein junger Landwirt namens Kim Yeong-beom in einem innerhalb der Zivilen Kontrollzone gelegenen Dorf einer im gleichen Dorf wohnenden jungen Frau namens Kim Sun-hui einen Heiratsantrag, indem er auf den damals beliebten Schlager Gemeinsam mit der Geliebten anspielend fragte, ob sie nicht mit ihm auf dem grünen Mindeulle-Feld ein malerisches Haus bauen und darin ihr Leben mit ihm verbringen wolle. Gerade zu dieser Zeit standen am Fluss Hantan-gang die Satsuki Azaleen in voller Blütenpracht. Sie konnte nicht anders als nickend Ja zu sagen. Die beiden heirateten, lebten glücklich und bekamen einen Sohn und eine Tochter. Während all der Jahre flehte Kim immer wieder die Kreisbehörde und die zuständigen Militäreinheiten um eine Baugenehmigung an, um sein Versprechen einzulösen. Nach über 10 Jahren durfte er tatsächlich ein malerisches Haus auf dem grünen Feld bauen. In der Hoffnung, dass irgendwann die abgebrochene Bahnstrecke wieder verbunden wird und mit Touristen gefüllte Züge bringt, hängte er ans Haus das Schild „Jeonseon Hyugeso (Raststätte an der Frontlinie)”. Besuch von Touristen, die auf dem Weg ins Geumgangsan-Gebirge hier Zwischenstopp machen, wird er zwar nicht bekommen, doch hat es sich bis über die Zivile Kontrollzone hinaus herumgesprochen, dass seine Frau einen hervorragenden Scharfen-Wels-Eintopf zubereitet. Zugleich wurde auch die herzerwärmende Liebesgeschichte des Ehepaares bekannt, was das Haus zu einer mitten in der Zivilen Kontrollzone versteckten Attraktion machte.
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geheimen Lebensräume auf diesem rauen Stück Erde, wo die großen Wälder verschwunden sind, dem Blick aus.
Die fünf Gesichter der DMZ Wenn man sich die DMZ bisher vage als Ort des Friedens und Lebens oder als große Wunde der Teilung vorgestellt hat, so ist es jetzt an der Zeit, dieses Stereotyp abzuschütteln und einen Blick auf ihr wahres Gesicht zu werfen. Erstens, die DMZ ist ein lebendiges Kriegsmuseum. Der Koreakrieg, der im Juni 1950 ausbrach, war de facto ein globaler Krieg, an dem über 60 Staaten direkt oder indirekt beteiligt waren, darunter rund 10 Staaten aus dem kommunistischen Block. Kein Krieg in der Geschichte der Menschheit wurde von so vielen Staaten und unterschiedlichen Nationalitäten an einem einzigen Fleck der Erde geführt. Die DMZ ist Zeugnis des Machtkampfes zwischen Ost und West und lebendige Dokumentation des Kalten Kriegs. Zweitens, die DMZ ist eine Schatzkammer der Anthropologie und der koreanischen Geschichte. 1978 entdeckte der damals in Korea stationierte US-Soldat Greg Bowen am Ufer des Flusses Hantan-gang in Yeoncheon-gun, Provinz Gyeonggi-do, Faustkeile des Acheuléen. Sie beweisen, dass vor 300.000 Jahren in der Gegend der DMZ eine ältere menschliche Spezies als der moderne Mensch gelebt hat. Relikte früherer Kriege wie die vielen Festungen an den Flüssen Hantan-gang und Imjin-gang bezeugen, dass dieser Ort vor 2.000 Jahren Schauplatz erbitterter kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen den Königreichen Goguryeo (37 v. Chr.-668 n. Chr.), Baekje (18 v. Chr.-660 n. Chr.) und Silla (57 v.Chr.–668 n.Chr.) war. Nach der Zeit der Drei Königreiche (57 v. Chr.-668 n. Chr.) wurde inmitten der DMZ im heutigen Cheorwon 901 das Reich Taebong (901-918) gegründet. Am selben Ort wurde 918 das GoryeoReich (918-1392) errichtet, von dessen Hauptstadt Gaeseong aus 1392 das Joseon-Reich (1392-1910) ins Leben gerufen wurde. Die DMZ war damit die Geburtsstätte dreier Herrschergeschlechter und Reiche. Drittens, die DMZ ist eine Schatzkammer des modernen Kulturerbes. Die einstige, der Zerstörung anheim gefallene Stadt Cheorwon hatte in den 1940er Jahren an die 37.000 Einwohner. Diese unter der japanischen Kolonialherrschaft am Reißbrett geplante Stadt wurde während des Koreakrieges durch Bombenanschläge verwüstet. Die Ruinen einstiger Gebäude wie des alten Kreisamts, einer Grundschule, des ehemaligen Polizeireviers, einer Kirche, der
einstigen Inspektionsbehörde für Agrarprodukte, eines alten Eislagers, der Finanzgenossenschaft, eines Bahnhofs und des einstigen regionalen Hauptquartiers der nordkoreanischen Arbeiterpartei geben Zeugnis von einer Stadt, die einmal war. In Cheorwon, das nach der Befreiung von der japanischen Kolonialherrschaft 1945 bis zum Abschluss des Waffenstillstandsabkommens 1953 zu Nordkorea gehörte, führen Seite an Seite die 1948 von Nordkorea entworfene Seungil-Brücke und die 1996 von Südkorea gebaute Hantan-Brücke über die Stromschnellen des Hantan-gang . Viertens, die DMZ ist ein Schmelztiegel. Gleich nach dem Waffenstillstand standen rund 100 Dörfer in der Zivilen Kontrollzone außerhalb der DMZ leer. Um sie wieder mit Leben zu füllen, wurden Siedlungsmaßnahmen vorangetrieben. Als Resultat davon lebten 1983, als die Zivile Kontrollzone am breitesten war, insgesamt 39.725 Menschen in 8.799 Haushalten in 81 Dörfern der Zivilen Kontrollzone. (Später wurde die Kontrolllinie für die Zivilbevölkerung weiter nach Norden verschoben, sodass viele der Dörfer heute nicht mehr zur Zivilen Kontrollzone gehören.) Die Dorfbewohner entwickelten eine einzigartige Kultur: Das Miteinander von Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund in Bezug auf Sprache, Denkweise, Bräuche und Familiengeschichte in Kombination mit der Militärkultur ergab eine einzigartige kulturelle Mischung „der dritten Art“. Zuletzt: die DMZ ist ein Naturpark des Ökosystems des Kalten Krieges. Aufgrund der starken Eingriffe des Menschen dürfte die natürliche ökologische Abfolge in der DMZ während des Kalten Krieges gestört worden sein. Doch die Pfützen, in die die Kanonenkugeln fielen, wurden zu Teichen, und die vom Menschen aufgegebenen Reisfelder zu Sumpfgebieten. Deren Wasserpflanzen dienen heute Wasserrehen als Nahrung und Insekten und Würmer haben Vögel und andere Tiere angezogen. Die Bäume auf den Ebenen, auf denen sich Soldaten aus Nord und Süd Feuerangriffe lieferten, scheinen es aufgegeben zu haben, Seitenzweige zu treiben. Vielleicht haben sie die Weisheit entwickelt, dass es besser ist, sich in die Höhe zu recken, sodass das Feuer unterhalb der Zweige bleiben kann. Dass die Ebenen nach den Waldbränden im Frühling wieder grün werden, ist darauf zurückzuführen, dass die Flammen nur die einjährigen Blätter, die entbehrliche „Verbrauchsgüter“ sind, vernichten. Aber größere Tiere wie Wildschweine finden hier nicht mehr genügend Nahrung. Einige Wildtiere fallen Minen und Sprengfallen zum Opfer oder überleben
Was Touristen auf DMZ-Tour sehen, wenn sie durch die großen Glasfenster der Observatorien entlang der Stacheldrahtzäune der sog. „Northern Limit Line (NLL)“ auf der südkoreanischen Seite schauen, ist ein stiller, friedlicher Streifen, an den sie sich später als ein Stück Erde, auf dem alles stillsteht, erinnern. In Wirklichkeit liefern sich beide Seiten dort aber auch heute noch ständig einen geschickt geführten Schlagabtausch.. 10 KoreAnA Herbst 2016
Soldaten aus Süd- und Nordkorea stehen sich an der Militärischen Demarkationslinie, die durch die Joint Security Area im Waffenstillstandsdorf Panmunjeom verläuft, gegenüber. Das Gebäude auf der gegenüber liegenden Seite ist das nordkoreanische Hauptgebäude Panmungak, das blaue Gebäude links ist ein JSA-Konferenzgebäude.
mit Mühe und Not dank der Essensabfälle der Soldaten. Bei dem im Hochwinter oft heftigen Schneefällen retten Soldaten in den tiefen Tälern des Gebirges Hyangnobong Langschwanzgorale vor dem Tod, indem sie das Gemüse ihrer Essensrationen mit den Ziegen teilen. Ein anderes, für die DMZ charakteristisches Naturphänomen sind latente Viren und Pathogene. Hämorrhagisches Fieber mit renalem Syndrom, mit dem sich über 3.000 Soldaten der UN-Truppen während des Koreakrieges infizierten, ist hier immer noch zu finden.
Auch grassieren in der DMZ Tollwut und Malaria. Diese fünf Gesichter der DMZ konstituieren ein historisches Kulturerbe, das in dieser Art nirgendwo auf der Welt zu finden ist. Es sind wertvolle „Contents“, die das 20. Jahrhundert den Koreanern von heute hinterlassen hat, als wolle es diejenigen, die im Zeitalter der schmerzvollen Teilung leben mussten, entschädigen. Es ist jetzt an uns, diese Contents als Inkubatoren unserer Vorstellungskraft zu nutzen, um die Wiedervereinigung auf den Weg zu bringen. KoreAnisCHe KuLtur und Kunst 11
SPEZIAL 2 DMZ: Ein Blick auf das verbotene Land, erhascht durch Stacheldrahtzäune
INNERE RuHE AuF DEM DMZ-WALDWANDERWEG Woher rührt die Fähigkeit, Frieden hervorzubringen? Ich sinnierte darüber nach, als ich durch den Wald lief, der vor über 60 Jahren ein Schlachtfeld gewesen war. Lee Chang-guy Dichter, Literaturkritiker Fotos Ahn Hong-beom, Han Dae-in
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m Mai 1986 wurde auf einer von der Spanischen UNESCO-Kommission einberufenen internationalen Wissenschaftskonferenz über die Erziehung zur Gewaltlosigkeit die „Erklärung von Sevilla zur Gewaltfrage“ bekannt gegeben. Die in fünf Thesen formulierte Erklärung, die sich gegen die Auffassung wendet, dass organisierte Gewalt wie Kriege auf die biologische Prädisposition des Menschen für Gewalt zurückzuführen sei, endet wie folgt: „Ebenso wie ‚Kriege im Geiste des Menschen entstehen‘, so entsteht auch der Frieden in unserem Denken. Dieselbe Spezies, die den Krieg erfunden hat, kann auch den Frieden erfinden. Jeder von uns ist dafür mitverantwortlich.“ Bedeutet das, dass demilitarisierte Zonen (DMZ) eine ziemlich passable Erfindung des menschlichen Geistes ist, die als eine Zwischenstation auf dem Weg vom Krieg zum Frieden zu betrachten ist? Diejenigen, die über vertrauenswürdige Informationen über erfolgreiche DMZ-Beispiele verfügen, werden bedeutungsvoll lächelnd nicken. Befassen wir uns etwas näher mit dieser Frage anhand eines konkreten Beispiels.
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DMZ und das „Zwischenfeld“ Im alten China der Shang-Dynastie (1600-1046 v. Chr.) lagen die Lehnsherren der beiden Staaten Yu und Rui im ständigen Streit um die Grenzen. Um beurteilen zu lassen, wer von ihnen nun recht hat, baten sie den Lehnsfürsten Xibo von Zhou um Schlichtung. Doch sobald sie den Boden von Zhou betraten, erkannten sie ihren Fehler und kehrten sofort um. Sie hatten nämlich gesehen, wie die Bauern die Raine, die als Begrenzungen zwischen ihren Feldern lagen, gemeinsam nutzten und sich gegenseitig zugestanden. Diese Episode aus Shiji (Aufzeichnungen des Chronisten) des chinesischen Historikers Sima Qian (ca. 145 - ca. 90 v. Chr.), die v.a. dazu dienen sollte, den Lehnsfürsten Xibo, später König Wen der Zhou-Dynastie (1046-771 v. Chr.), zu ehren, gibt einen interessanten Einblick in die Weisheiten und Bräuche der asiatischen Bauern. Die Episode beinhaltet nämlich die Konzepte „Ganjeon“ (間田; Zwischenfeld) und „Hanjeon“ (閑田; Ruhendes Feld). In Shangshu dazhuan (Buch der Urkunden), des chinesischen Gelehrten Fu Sheng steht, dass ein umstrittenes Gebiet abgetreten und zum „Zwischenfeld“ erklärt wird. In Shuo yuan (Garten von Geschichten) des konfuzianischen Gelehrten Liu Xiang wird „Ruhendes Feld“ als „neutrale Zone, die zu keinem der beiden Länder gehört“ definiert. In Liji (Buch der Riten, Textsammlung über Etikette und Riten der Zhou-Dynastie) wurde das Wort „Hanjeon“ mit den chinesischen Zeichen „閒田“ geschrieben: Ein Stück Land, das wie der Mond am Himmel oder die Äste an den Bäumen auf dem Berg vor dem Fenster niemandem gehört. Nachdem ich all das ausformuliert habe, erkenne ich aber einen deutlichen Unterschied zwischen einer DMZ und einem „Ganjeon“, einem „Zwischenfeld“. Während die DMZ Ergebnis eines Urteils ist, das am Verhandlungstisch mit Blick auf die menschliche Lebensweise auf einfachster, funktio-
Vom Eulji Observatorium in Haean-myeon, Kreis Yanggu-gun, Provinz Gangwon-do, hat man einen weiten Blick über den Punchbowl-Talkessel, eins der am härtesten umkämpften Gebiete während des Koreakriegs. An klaren Tagen sind von hier aus die sich jenseits des Talkessels erhebenden Gipfel des Geumgang-Gebirges in Nordkorea zu sehen.
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nalster und Interessenparteien-orientierter Ebene gefällt wurde, ist „Zwischenfeld“ quasi ein Konzept der Verschmelzung von Zugeständnissen, Mäßigung und Toleranz, basierend auf der Grundlage der realistischen Interessen der betreffenden Parteien. Dennoch scheinen DMZs eine vergleichsweise gelungene Erfindung zu sein. Sie haben in verschiedenen Konfliktregionen Kriege unterbrochen – wenn auch nur vorübergehend – und sich v. a. nützlich erwiesen bei Konflikten in Zusammenhang mit wissenschaftlichen Expeditionen und Forschungen in entlegenen Regionen wie der Antarktis. Doch wenn zwei Mächte mittels ihrer militärischen Stärke unter dem Vorwand des Schutzes ihrer jeweiligen Werte und Interessen unerbittlich gegeneinander antreten, scheint die Nützlichkeit einer DMZ begrenzt zu sein: Anders als beabsichtigt, ist nämlich die DMZ zwischen den beiden Koreas zu einer schwer bewaffneten Zone geworden, in der Waffen verschiedenster Art und rund 1,5 Mio. Soldaten konzentriert sind. Seit über 60 Jahren herrscht in diesem breiten Streifen Land ein Zustand der Konfrontation, bei dem auch Blutvergießen nicht gescheut wird. Wenn es mir darum ginge, wie durch die Entscheidung großer internationaler Organisationen oder die Ideen von Thinktanks staatlicher Institutionen oder herausragender politischer Führungsköpfe Frieden auf der koreanischen Halbinsel herbeigeführt werden könnte, müsste ich hier aufhören zu schreiben. Mir geht es um triviale Dinge: alltägliche Dinge wie die Beseitigung von Niederholz, das die Pfade versperrt, die Verbreiterung der Zufahrtsstraßen zu den Schulen oder das Umpflanzen unbekannter Blumen in die Gärten der in der Zivilen Kontrollzone der DMZ lebenden Menschen. Denn das einzige, das sie von anderen Koreanern unterscheidet, ist der besondere Ort, an dem sie leben. Ansonsten leben sie ja auch so wie die anderen, Schwierigkeiten ertragend, Zugeständnisse machend, und so ein besseres Leben anstrebend. In diesen Menschen erkenne ich das Potential, Frieden zu schaffen, denn das Konzept des „Zwischenfelds“ dürfte aus einer solchen Haltung geboren worden sein.
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Auf dem Punchbowl Trail Das als „Punchbowl (Bowlenschüssel)“ bekannte Becken in Yanggu-gun, Provinz Gangwon-do, war Schauplatz eines der heftigsten Gefechte des Koreakriegs (1950-1953) und wird daher bei Diskussionen über den Krieg unweigerlich thematisiert. Wäre das Gebiet dem Gegner in die Hände gefallen, hätte das die Stadt Chuncheon gefährdet, die Einnahme von Chuncheon wiederum hätte Seoul den feindlichen Angriffen direkt ausgesetzt, sodass dieser strategische Knotenpunkt unbedingt zu verteidigen war. Allein im Kreis Yanggu-gun kam es zu neun großen Schlachten, vier davon im Punchbowl-Gebiet. Eine davon war die „Schlacht bei Dosol-san“, die der koreanischen Marineinfanterie den Spitznamen „Unschlagbare Marineinfanterie“ einbrachte, eine weitere die „Schlacht bei Gachilbong“, bei der der hart umkämpfte Berggipfel innerhalb von 40 Tagen sechs Mal den Besitzer wechselte. Die englische Bezeichnung „Punchbowl“, die von einem ausländischen Kriegsberichterstatter stammt und darauf anspielt, dass dieses Gebiet, eingerahmt von 1.000 m über dem Meeresspiegel liegenden Bergen, einer Bowlenschüssel ähnelt, ist auch unter den Koreanern allgemein gebräuchlich. In dem aus verwittertem und erodiertem Felsgestein entstandenen Haean-Becken – so die ursprüngliche koreanische Bezeichnung – befand sich bis zum Krieg nur ein Bergdorf. In dieses verwüstete Dorf, das nach dem Waffenstillstand der Zivilen Kontrollzone zugeordnet wurde, wurden im Zuge regierungspolitischer Maßnahmen 1956 gruppenweise Zivilisten umgesiedelt. So kam es, dass dort eine „Myeon“-Gemeinde mit ca. 1.700 Einwohnern entstand. In den Zeiten, als das Pro-Kopf-Einkommen der Koreaner nicht einmal 100 US-Dollar betrug, bestellten die Einwohner den Boden und verwandelten unter Einsatz ihres Lebens sogar die verminten Berghänge 600m über dem Meeresspiegel (der niedrigste Punkt liegt bei 400m ü. d. M.) in fruchtbaren Boden. Als vor 16 Jahren der Berg Wau-san unter Federführung des Koreanischen Forstdienstes aufgeforstet wurde, sammelte man bei den Planierarbeiten zwei Sack Patronenhülsen auf, was das hier Geschehene schon erahnen lässt. Auch heute noch sind die Landstreifen, die von den Bewohnern nicht kultiviert wurden, voller Landminen oder stehen unter militärischer Kontrolle. Allein in diesem Jahr explodierten in Hyeon-ri in der Nähe des vierten Infiltrationstunnels wieder zwei Minen. Im Herbst 2011 wurde der „DMZ Punchbowl Trail“ in diesem am nördlichsten gelegenen Dorf eröffnet. Da das Dorf sich innerhalb der Zivilen Kontrollzone befindet, war eine vorherige Entminung unerlässlich. Anderenfalls hätte das Militär den Zugang verweigert. Zur Sicherheit muss jede Tour von einem Führer begleitet werden. Kim Eun-suk (56) arbeitet schon seit fünf Jahren als Waldtrail-Führerin. Neben den Führungen gehören aber auch Trail-Management und Erforschung des Ökosystems zu ihrem Arbeitsbereich. Für sie ist dieser Beruf einer der größten Vorteile des Aufwachsens in dieser Region. Sie, ihr Mann und die beiden Kinder lebten zuvor nur von der Landwirtschaft. Die Arbeit wurde jedoch immer härter und
1 Kim Eun-suk (ganz rechts), eine Führerin für den DMZ Punchbowl Trail, erklärt die topographischen Besonderheiten der Gegend. 2 Bei ihren Führungen betont Kim Eun-suk, dass der Punchbowl Trail ein ganz besonderer Waldweg ist, auf dem man über Krieg, Frieden und die Geheimnisse der Natur nachdenken kann.
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Als sie einmal eine Gruppe von inzwischen alt gewordenen Marineinfanterie-Veteranen, die an den Schlachten in Punchbowl teilgenommen hatten, führte, entdeckte sie in ihrem Blick Ähnliches: Vielleicht haben sie ja irgendwo an diesem Pfad das Bild junger Soldaten gesehen, die auf dem Fleck, auf dem sie mit dem Gewehr im Arm gesessen hatten, wie kleine Kinder zusammengeklappt schliefen. KoreAnisCHe KuLtur und Kunst 15
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die Preise für Agrarprodukte sanken ständig, sodass sie nach einer neuen Arbeit Ausschau hielt und schließlich ihren jetzigen Job fand. Die Trekking-Route ist genau der Weg, den sie früher mit ihrer Mutter nahm, um in mageren Zeiten den Esstisch mit Lindenrinde und Wildkräutern zu bereichern. Nie hätte sie sich vorgestellt, dass die Namen der Bäume und Gräser, die sie von ihrer Mutter gelernt hatte, einmal so nützlich für sie sein würden. Natürlich sind inzwischen einige einheimische Pflanzen wie Purpurkrautwurzel, die Beifuß-Art Artemisa capillaris und die Japanische Gerbera verschwunden, dafür sind fremde Arten hinzugekommen. Der insgesamt 72,2 km lange DMZ Punchbowl Trail ist in vier Abschnitte unterteilt: „Waldweg des Friedens“, „Weg zu den Feldern von Oyu-ri“, „Weg zu den Feldern von Mandae-ri“ und „Weg zum Pass Meonmetjae“. Kim mag zwar auch den Meonmetjae-Weg, der zur Bergkette Baekdu-daegan führt, doch ihre besondere Vorliebe gilt dem Trail zu den Feldern von Oyu-ri. Denn anders als oben am Gipfel Gachil-bong und am Berg Daeu-san, wo es viele Minen und steile Stellen gibt, führt diese Route durch vergleichsweise ebenes Terrain und bietet mit ihren roten Lehmwegen über die Hochebene, den Tälern und dem Reservoir, die nacheinander auftauchen, eine abwechslungsreiche Szenerie. Vor allem führt der Weg durch das Gebiet, in dem Kim als Grundschülerin lebte und an der Kochstelle auf dem holzgefeuerten Lehmherd Reis gekocht hatte. Am Anfang des Oyuri-Trails liegen die Grabhügel ihrer Eltern. Sie erinnert sich daran, dass ihr Vater, ein Bauer, sich fürs Ausgehen stets mit traditionellem Herrenhut und Mantel in Schale warf. Bis heute tut es ihr in der Seele weh, dass sie ihn, der gerne einen trank, vor lauter Scham über seinen betrunkenen Zustand wie Luft behandelte, wenn sie ihm irgendwo begegnete. Wenn Kim die Wanderer führt, kommt es ihr manchmal plötzlich so vor, als ob sie die Wälder wieder gemeinsam mit ihrer Mutter auf der Suche nach Bergkräutern durchstreife – eine Illusion, die sie vor allem dann hat, wenn sie durch die Lücken der Baumwipfel die 16 KoreAnA Herbst 2016
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1 Der 4. Infiltrationstunnel, der 1990 in der DMZ rund 26 km nordöstlich von Yanggu entdeckt wurde, gehört zu den Punchbowl-Sehenswürdigkeiten zum Thema „Sicherheit“. Der von den Nordkoreanern zwecks Infiltration des Südens gegrabene Tunnel ist einer von insgesamt vier in der DMZ entdeckten Infiltrationstunneln. 2 Der in der Zivilen Kontrollzone in Cheorwon, Provinz Gwangwon-do, gelegene Bahnhof von Woljeong-ri ist eine 1914 auf der Strecke Seoul-Wonsan gelegene Zwischenstation. Unter einem Schild mit der Aufschrift „Das Eiserne Pferd will wieder laufen“ sind die Überreste eines kurz nach dem Koreakrieg von Bomben getroffenen Zugs zu sehen. 3 Ein Wachposten in der Zivilen Kontrollzone blickt auf die herbstliche Landschaft der Cheorwon-Ebene herab. Dahinter erstrecken sich die Felder und Berge Nordkoreas.
weißen Wolken am blauen Himmel betrachtet. Als sie einmal eine Gruppe von inzwischen alt gewordenen Marineinfanterie-Veteranen, die an den Schlachten in Punchbowl teilgenommen hatten, führte, entdeckte sie in ihrem Blick Ähnliches: Vielleicht haben sie ja irgendwo an diesem Pfad das Bild junger Soldaten gesehen, die auf dem Fleck, auf dem sie mit dem Gewehr im Arm gesessen hatten, wie kleine Kinder zusammengeklappt schliefen.
In der Ebene von Cheorwon Für Zugvögel aus Sibirien oder dem Nordosten Chinas war die koreanische Halbinsel einst das ideale Winterquartier. Doch die drastische Urbanisierung und Landgewinnungsprojekte in den Feuchtgebieten hält heute viele fern. Zumindest die Cheorwon-Ebene bietet ihnen noch Zuflucht. Die erste Vorhut von Gänsen und Kränen kommt bereits vor Ende der Reisernte, gefolgt von einer so starken Nachhut im Oktober. Zusammen mit den relativ spät eintreffenden Stockenten- und Baikalenten-Nachzüglern bieten die Millionen von Zugvögeln auf der Cheorwon-Ebene ein prachtvolles Spektakel. Die Zugvögel wählen die Cheorwon-Ebene als erste Raststätte wegen des warmen Flüsschens mit einer Wassertemperatur von 15℃, das über das von den Lavaströmen des Vulkans Ori-san gebildete Plateau fließt. Dieses Flüsschen und die fruchtbare Erde
des verwitterten Basalts haben die Gegend zur besten Reiskammer der Provinz Gangwon-do gemacht. So wie die Menschen diesen Ort trotz seiner Lage in der Zivilen Kontrollzone wegen seiner üppigen Natur aufsuchen, so zieht es auch die Zugvögel hierher, die nach der Reisernte auf den Feldern nach Essbarem suchen. Doch die Cheorwon-Ebene war während des Koreakrieges auch eins der blutigsten Schlachtfelder. Das sog. „Eiserne Dreieck“ für das die Kreise Cheorwon-gun, Pyeonggang-gun und Gimhwa-gun die Eckpunkte bildeten, war ein strategischer Knotenpunkt, den es zu verteidigen galt, um die Frontlinie im mittleren Teil der Halbinsel einzunehmen. Bis kurz vor den Waffenstillstandsverhandlungen standen sich hier die UN-Truppen und die kommunistische Armee Chinas gegenüber und setzten ihre gnadenlosen Bombardements, denen Tausende zum Opfer fielen, fort. Im Dezember 1992 entdeckte ein Soldat im Cheorwon-Gebiet der DMZ einen Kranich, der in den schneebedeckten Feldern ungewöhnlich lange regungslos dastand. Eine Woche später fand er den Kranich an derselben Stelle zusammengebrochen auf dem Boden liegen, und zwar neben dem Kadaver eines Männchens, das schon ziemlich lange tot zu sein schien. Das geschwächte Weibchen wurde fürsorglich gesund gepflegt. Die Geschichte von dem trauernden Kranich-Weibchen verbreitete sich in Windeseile im Dorf. Dank der guten Pflege war das verwitwete Weibchen nach einem Monat wieder bei Kräften und die Dorfbewohner ließen es wieder frei. An einem Fußgelenk hatte man als Erkennungszeichen einen Ring angebracht. Einige Zeit später wurde der in der Zivilen Kontrollzone in fruchtbarer Erde und sauberem Umfeld angebaute
Odae-Reis aus Cheorwon zu einer landesweit berühmten Marke. Und obwohl niemand den Kranich je wieder zu Gesicht bekommen hat, sehen die Bewohner von Cheorwon darin ein Dankeszeichen des Vogels für seine Rettung und füttern ihrerseits jetzt Jahr für Jahr die Zugvögel. Einige Gebiete im Bereich der Zivilen Kontrollzone wie die Halbinsel Jangdan in Paju, der Fluss Imjin-gang in Duji-ri, Jeokseong-myeon, und das Togyo-Reservoir in Dongsong-eup, Cheorwon-gun, sind besonders wichtige Winterquartiere für Adler. Vor 20-30 Jahren fand man in diesen Gegenden oft große Adler, die ausgehungert und erschöpft waren. Als die Bewohner damit anfingen, die Vögel zu füttern, begannen immer mehr Tiere, in dieser Region zu überwintern. Gewöhnlich suchen um die 2.000 Adler diese Orte als Winterquartier auf. Die als „Saubermacher der Natur“ bekannten Greifvögel entsorgen selbst die Kadaver von Tierzüchtern, was ein neues Koexistenz-Modell von Mensch und Tierwelt darstellt. Nachdem die Internationale Union zur Bewahrung der Natur und natürlicher Ressourcen (IUCN) 1979 die Einrichtung Internationaler DMZ-Parks für Frieden und Natur vorgeschlagen hatte, wurden mit Unterstützung verschiedenener internationaler Organisationen, den zuständigen Institutionen der koreanischen Regierung sowie den Medien diverse Untersuchungen und Forschungsarbeiten unternommen. Auf dieser Grundlage kam es zwar zu mehreren Vereinbarungen zwischen Süd- und Nordkorea über die friedliche Nutzung der DMZ, doch aus den Abmachungen wurde nie etwas, da sie Ergebnis von Verhandlungen waren, die Frieden als Garantie voraussetzten.
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SPEZIAL 3 DMZ: Ein Blick auf das verbotene Land, erhascht durch Stacheldrahtz채une
Das Taepung Observatorium in Yeoncheon, Provinz Gyeonggi-do, bietet einen weiten Blick 체ber den Imjing-gang, der sich von Nordkorea durch die DMZ nach S체den schl채ngelt.
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öKOSySTEM DER DMZ: EINGEHÜLLT IN STILLE
Seo Jae-chul Fachmitglied, Green Korea United Fotos Ahn Hong-beom, Kim Cheol
Die Demilitarisierte Zone (DMZ) ist eine der wichtigsten öko-Achsen auf der koreanischen Halbinsel. Dieses verbotene Stück Erde ist seit dem vor über 60 Jahren zu Ende gegangenen Koreakrieg von der Zivilisation und ihren Einflüssen wie Straßenbau und urbanisierung abgeschnitten. und trotz der wiederholt durch militärische Aktivitäten verursachten Waldschäden haben sich im westlichen Bereich Feuchtgebiete und im östlichen Bereich gemäßigte urwälder entwickelt. KoreAnisCHe KuLtur und Kunst 19
ur einer äußerst kleinen Zahl für Überwachungsoperationen eingesetzter Soldaten beider Koreas ist der Zutritt zur Demilitarisierten Zone (DMZ) gestattet. Nach dem Waffenstillstand im Juli 1953 erhielt nur eine Handvoll Zivilisten die Erlaubnis, die DMZ zu betreten. In den Jahren nach der Millenniumwende, als zwischen den beiden Koreas eine Stimmung der Versöhnung und Zusammenarbeit herrschte, hatte ich drei Mal die Gelegenheit, diese verbotene Erde zu betreten. Ich war Mitglied eines aus Sachverständigen des privaten und öffentlichen Sektors bestehenden Teams, das Umweltverträglichkeitsprüfungen für die Wiederanbindung der unterbrochenen Straßen- und Schienenwege durch die DMZ wie der Bahnlinien Seoul (Süd)-Sinuiju (Nord) und Yangyang (Süd)-Anbyeon (Nord) durchführte. Die Prüfungen waren wiewohl auf einen sehr kleinen Teil der DMZ beschränkt. 2006 nahm ich an einer Waldzustandserhebung in der DMZ und ihrer Umgebung teil, die unter der Federführung des Koreanischen Forstdienstes und mit Unterstützung des Verteidigungsministeriums durchgeführt wurde. Den Stacheldrahtzäunen der südlichen DMZ-Begrenzungslinie (SLL) entlang, die sich vom Anfang der einstigen westlichen Kriegsfrontlinie an der Mündung des Flusses Imjin-gang in Paju, Provinz Gyeonggi-do, bis zum Ende der östlichen Frontlinie bei Goseong-gun, Provinz Gangwon-do, im Osten erstreckt, liefen wir auf den Militärpfaden die ganze Strecke ab. Das erlaubte mir, das wahre Wesen der DMZ genauer zu erfassen. Jeden Morgen durchquerten wir die Zivile Kontrollzone, um in die DMZ zu gelangen, und liefen dann unsere für den Tag festgelegte Strecke südlich der MDL ab – ein ermüdendes Unter-
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1 Dorschbarsche der Art Siniperca scherzeri, die zum Naturdenkmal bestimmt wurden, im Oberlauf des Bukhan-gang im Kreis Hwacheon-gun, Provinz Gangwon-do, in der DMZ. 2 Eine Gruppe Wasserrehe spaziert den Stacheldrahtzaun im MDL-Bereich der DMZ entlang.
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fangen, das zwei Monate in Anspruch nahm. Wie ein Mosaik erstreckte sich südlich der MDL ein facettenreiches Ökosystem des gemäßigten Waldes. Es war eine Schatzkammer der Biodiversität, die alles umfasste von der Pfütze bis hin zur Schlusswaldgesellschaft.
Feuchtgebiete mit biologischer vielfalt Es sind die Feuchtgebiete im Westen der DMZ, die die dynamischste Szenerie aufweisen. Die Umgebung aller Fließgewässer hat sich hier im Zuge der natürlichen Sukzession in Feuchtgebiete umgewandelt. Inmitten des ganzen Wassers in Form von kleinerern und größeren Flüssen, Gebirgsbächen, kleineren Wasseransammlungen wie Pfützen sind hier und da die in ihrer ursprünglichen Form erhaltenen Raine einstiger Reisfelder zu sehen. Das breite Gebiet im Mittelwesten der DMZ wurde vor dem Krieg landwirtschaftlich genutzt. Die alten Anbauflächen befinden sich zwischen Wasserläufen. In den aufgrund des Krieges lange Zeit brach liegenden Reisfeldern und den Wasserläufen fand eine natürliche Sukzession statt, die ein Feuchtgebiet-Paradies der biologischen Vielfalt schuf, in dem Standvögel, Fische, Amphibien, Reptilien und zahlreiche Insektenarten leben. Läuft man die Stacheldrahtzäune entlang, fragt man sich staunend, ob die Feuchtgebiete mit ihrer Vielfalt nicht ein schillerndes Spektakel sind, das die Natur auf den seit Jahrzehnten nicht mehr bestellten Böden inszeniert. Im Winter werden die Gebiete von verschiedenen Zugvögeln wie Kranichen und Weißnackenkranichen besucht. In den Feuchtgebieten der DMZ lebt auch das Wasserreh, eine international geschützte Tierart. Wasserrehe haben im Vergleich zu anderen Hirscharten einen kleineren, schmächtigeren Körper, was sie sanftmütig wirken lässt, wenn sie gemächlich die Ufer entlang wandern oder an ruhigen Orten herumspielen, aber beim Springen entwickeln sie so viel Kraft wie die Katzenartigen unter den Raubtieren. Die Flüsse und die Gebirgsbäche in der DMZ folgen noch ihrem ursprünglichen Lauf aus der Zeit vor Modernisierung und Industrialisierung und führen sehr klares, sauberes Wasser. Da hier weder Entwicklungsarbeiten noch Angeln oder Fischerei gestattet sind, schwimmen verschiedene Süßwasserfische darin herum. Es sind ihrer so viele, dass die Flüsse halb aus Wasser und halb aus Fischen zu bestehen scheinen. An den Flüssen in der DMZ leben auch überall Otter, eine vom Aussterben bedrohte Tierart. Sie ernähren sich von dem reichen Fischangebot.
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Läuft man die Stacheldrahtzäune entlang, fragt man sich staunend, ob die Feuchtgebiete mit ihrer Vielfalt nicht ein schillerndes Spektakel sind, das die Natur auf den seit Jahrzehnten nicht mehr bestellten Böden inszeniert. Im Winter werden die Gebiete von verschiedenen Zugvögeln wie Kranichen und Weißnackenkranichen besucht.
Waldgebiete im Osten Das Gebiet an der einstigen östlichen Frontlinie ist dicht bewaldet. Die Täler sind tief, die Berghänge steil. Es geschieht hier selten, dass Waldbrände sich schnell oder weitläufig ausbreiten. Daher ist dieses Gebiet ein sicherer Lebensraum für Tiere. Soldaten sollen während ihrer Wache an der Grenzlinie gelegentlich auf Langschwanzgorale und Moschustiere stoßen. Moschustiere wurden nach den 1970er Jahren auf der koreanischen Halbinsel außerhalb der DMZ nicht mehr gesichtet. Doch 2014 wurde ihre Existenz wieder bestä-
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tigt und sie wurden auf die Rote Liste gefährdeter Arten der Internationalen Union zur Bewahrung der Natur und natürlicher Ressourcen (IUCN) gesetzt. In der DMZ finden sich auch verschiedene andere Säugetiere wie Otter, Buntmarder, Wasserrehe, Gleithörnchen, Bengalkatzen und Asiatische Schwarzbären. Erstaunlicherweise gehen die dort lebenden Tiere den Menschen nicht aus dem Weg. Es heißt, das ist wegen des ungeschriebenen Gesetzes der in der DMZ stationierten Soldaten, keine Wildtiere zu fangen und zu töten, da das der Truppe Unglück bringe.
1 Für die Zugvögel, die nach der Ernte auf der Suche nach Körnern in die Cheorwon-Ebene kommen, existieren keine Grenzen. 2 Japanischer Hundszahn wächst durch einen Riss in einem verrosteten Gefechtshelm.
Die natürlichen Wälder der DMZ, die sich von Ost nach West über atemberaubende Bergrücken und Gipfelketten erstrecken, sind dicht bestanden mit Bäumen wie Mongolische Eichen, Orientalische Weiß-Eichen, Chinesische Korkeichen, der Birkenart Betula dahurica, Bergkirschen, Japanische Spitzahorne, Baumaralien, dem Walnussgewächs Juglans mandshurica, Gewöhnliche Traubenkirschen, Feuer-Ahorne und Koreanische Fächer-Ahorne. Etwa 30 in Korea einheimische Pflanzen wie die Koreanische Türkenbundlilie und die Glockenblumenart Hanabusaya asiatica wachsen ebenfalls hier. Natur und Ökosystem der DMZ erwecken bei vielen Menschen Neugier. Doch bislang wurden nur rund zehn Prozent des gesamten Ökosystems erforscht, was aber auch schon wieder länger her ist. Viele Gebiete können zudem wegen der noch zahlreich vorhandenen Landminen nicht betreten werden. Es ist zu hoffen, dass eine Grundlage für den innerkoreanischen Frieden geschaffen wird und schließlich der Tag kommt, an dem eine umfassende ökologische Erforschung dieses Gebietes unternommen und der Schleier des Geheimnisvollen gelüftet werden kann.
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ÜBERBLICK ÜBER DAS ÖKOSYSTEM DER DMZ Das Forstwissenschaftsinstitut des Koreanischen Forstdienstes unterteilt das Waldökosystem der DMZ und ihrer Umgebung grob in vier Bereiche: das westliche Küstengebiet, das mittelwestliche Festlandgebiet, das mittelöstliche Gebirgsgebiet und das östliche Küstengebiet. Das westliche Küstengebiet ist eine Brackwasserzone, in der sich große Feuchtgebiete wie die an der Mündung der Flüsse Han-gang und Imjin-gang befinden, und in der Süß- und Meerwasser zusammenkommen. Rund 100 m hohe Hügel sind zu sehen, die fruchtbaren Ebenen werden landwirtschaftlich genutzt. Das Gebiet ist ein Lebensraum für vom Aussterben bedrohte Vogelarten wie Schwarzstirnlöffler, Weißnackenkraniche und Schwanengänse. Das Festlandgebiet im Mittelwesten umfasst das Vulkangebiet am Hatangang-Flussbecken, darunter die Cheorwon-Ebene und den Kreis Yeoncheon-gun. Flüsse wie der Imjin-gang und der Hantan-gang mäandrieren durch dieses Gebiet, wo Kraniche und Weißnackenkraniche, die als weltweit gefährdete Arten eingestuft sind, überwintern. Das Gebirgsgebiet im Mittelosten umfasst das Gebiet am Flussbecken des Bukhan-gang, das sich von der Bergkette Baekdu-daegan bis zur Gebirgskette Hanbuk-jeongmaek erstreckt. Es besteht aus Bergen von bis über 1.000 m Höhe und dichten Wäldern. Hier wohnen Langschwanzgorale und Moschustiere, die als Naturdenkmäler eingetragen sind. Das östliche Küstengebiet ist das Gebiet östlich des Baekdu-daegan-Massivs im Osten der koreanischen Halbinsel. Der Bereich vom Hyangnobong-Gipfel bis hin zum Berg Geonbong-san wurde zum Naturreservat bestimmt.
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SPEZIAL 4 DMZ: Ein Blick auf das verbotene Land, erhascht durch Stacheldrahtzäune
An klaren Tagen ist vom Gipfel des Hwagae-san auf der Insel Gyeodong-do die Yeonbaek-Ebene in Nordkorea zu sehen. Noch lebende Flüchtlinge aus dem heute zu Nordkorea gehörenden Kreis Yeonbaek-gun, Provinz Hwanghae-do, bezeugen, dass die Inselbewohner bis zur Teilung der koreanischen Halbinsel mit dem Boot nach Yeonbaek fuhren, wo sie auf dem Markt Waren kauften und verkauften.
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GyoDoNG-Do EINE NORDKOREA GEGENÜBER LIEGENDE INSEL Auf der Insel Gyodong-do, die in der Zivilen Kontrollzone liegt, gibt es weder eine gesonderte militärische Demarkationslinie noch eine demilitarisierte Zone. Denn diese Funktionen übernimmt das Meer um die Insel. 2014 wurde die aus militärischen Sicherheitsgründen umstrittene Brückenverbindung zur Insel Gwanghwa-do vor Incheon eröffnet, sodass Gyodong-do jetzt ohne Fähre zu erreichen ist. Lee Chang-guy Dichter und Literaturkritiker Fotos Ahn Hong-beom, Kim yong-chul
er Wasserlauf, den die Koreaner als „Jo-gang“ bezeichnen – vom Zusammenfluss der Flüsse Han-gang und Imjin-gang, vorbei an den Inseln Ganghwa-do und Gyodong-do bis zum Westmeer – ist im Waffenstillstandsabkommen unter der Bezeichnung „Han-Fluss-Ästuar“ als neutrales Gebiet festgelegt. Anders als in der Demilitarisierten Zone ist daher allen zivilen Schiffen aus Nord- und Südkorea die friedliche Nutzung des Flusses gestattet, doch aus Sicherheitsgründen schränken beide Regierungen Fischfangaktivitäten ein. Entlang dieses Wasserweges ist die 37,5 km lange Küstenlinie der Insel Gyodong-do zu rund zwei Dritteln mit Stacheldrahtverhauen bewehrt. . Dass für den Bau der Schnellstraße Jayuro (Freedom Highway), die seit 1990 die Haengju-Brücke und die Aussichtsplattform in der Sicherheits- und Besuchszone Imjingak verbindet, Bauschuten die Nutzung dieses Wasserwegs genehmigt wurde, war eine solch großer Ausnahmefall, dass er als Top-Meldung des Tages Schlagzeilen machte. So kam das Meer vor Gyodong-do „in den Blick“. Allerdings lässt dieses Meer, das stürmischen Winden ausgesetzt und von dichtem Nebel bedeckt unter der roten Sonne liegt, die Inselbewohner immer wieder über die durch Krieg und Landesteilung bewirkten Ereignisse und Veränderungen nachsinnen und sie hinterfragen.
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Das Meer meines vaters Ich stamme aus Incheon, wo ich meine Kindheit und Schulzeit verbracht habe. Erst als ich nach der Heirat aus dem Elternhaus auszog, verließ ich auch diese ganz in der Nähe der Insel Gyodong-do liegende Hafenstadt. Aber irgendwann begann ich auf die Frage nach meinem Heimatort zögernd und ausweichend zu antworten. Der Heimatort meines Vaters ist Songya-ri, Honam-myeon, Kreis Yeonbaek-gun, Provinz Hwanghae-do in Nordkorea. Während des Koreakrieges flüchtete er nach Incheon, wo er sich niederließ. Ich weiß nicht, seit wann dieses mir von niemandem aufgezwungene Bewusstsein, zu einer Flüchtlingsfamilie zu gehören, sich in mir festgesetzt hat. Wahrscheinlich hat es sich auf natürliche Weise verstärkt, wenn meine Familie und Verwandten an Feiertagen oder bei kleinen und KoreAnisCHe KuLtur und Kunst 25
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größeren familiären Anlässen nach heimatlichem Rezept halbmondförmige, gefüllte Songpyeon-Reisküchlein und riesige Mandu-Maultaschen zubereiteten und dabei Geschichten über den Heimatort im Norden erzählten. Eines Tages setzte ich mich aus einem unergründlichen Impuls heraus mit meinem Vater zusammen und zeichnete eine Karte seines Heimatsdorfes, in dem ich selbst noch nie gewesen war. Um ihre Sehnsucht nach der Heimat zu stillen, stiegen mein Vater, der jetzt in den 90ern ist, und sein vor zehn Jahren verstorbener älterer Bruder bei gutem Wetter auf den im nördlichen Teil von Gyodong-do gelegenen Hügel, um gedankenverloren auf die Kiefern, die auf einem Hügel hinter Honam-myeon, ihrem nur zwei, drei Kilometer von Gyodong-do entfernten Heimatort stehen, zu blicken. Vor der Befreiung von der japanischen Kolonialherrschaft war Gyodong-do ein wichtiger Zwischenstopp für Passagierfähren. An der Küste befanden sich über zehn Häfen und Fährenanleger. Wenn ich an die kleinen und großen Schiffe, die hier Halt machten, und an das damit verbundene geschäftige Treiben denke, fühle ich mich irgendwie entspannt. Außerdem waren die Gezeitenunterschiede so groß, dass man zu Fuß nach Yeonbaek auf dem Festland laufen konnte, wenn bei Springflut das Wasser abgelaufen war. Jedem der Inselbewohner dürfte es schon mal passiert sein, dass er bei einem Marktbesuch auf dem Festland die Zeit vergessen und die Ebbe verpasst hat, sodass er erst am nächsten Tag wieder zurück nach 26 KoreAnA Herbst 2016
Hause laufen konnte. In Zeiten dürrebedingter schlechter Ernten verkauften die Bewohner von Gyodong-do Insel-Spezialitäten wie Persimonen auf dem Festlandmarkt und viele junge Leute gingen auf der Suche nach Arbeit nach Yeonbaek. Heiratete ein Mädchen von Gyodong-do einen Mann aus dem festländischen Yeonbaek, wurde sie beneidet. Natürlich ist auch die Lebensweise der Inselbewohner ähnlich wie die der Festlandbewohner in der Provinz Hwanghae-do. Und auch Sprechweise und Redensarten der gebürtigen Gyodongdo-Bewohner ähneln so offensichtlich denen in der Provinz Hwanghae-do, dass sofort die Gesichter meiner dortigen Verwandten, die ich lange nicht gesehen habe, vor meinem geistigen Auge erscheinen. Auf Gyodong-do sind Reiskuchen und Maultaschen leicht „überdimensional“, auch die Häuser sind vergleichsweise groß mit geräumigen Zimmern wie in den nördlichen Regionen. Weisen und Melodien der traditionellen Bauernmusik, die am Erntedankfest Chuseok oder am ersten Vollmondtag des Mondjahres, von den von Haus zu Haus wandernden Bauernbands gespielt wird, sind hier schneller und kraftvoller als in den südlichen Regionen. Und auch der Kimchi aus großen Speiserübenstücken und die Vorliebe für Koriander stammt aus der Kultur der nördlichen Regionen.
Meer wie ein vorhof Nachdem 1964 die sog. Fischerei-Grenzlinie gezogen wurde, ist der Fischfang vor Gyodong-do auf die Gewässer zwischen dem Pas-
sagierfähren-Terminal von Namsanpo im Süden von Gyodong-do, Changhu-ri auf der Insel Ganghwa-do und der Insel Seongmo-do beschränkt. Dadurch gingen drei der acht für Gyodong-do typischen Attraktionen verloren, darunter der Panoramablick auf die Fischkutter und die Kneipen und Bars in den Häfen von Juksanpo und Binjangpo, wo saisonale Fischmärkte stattfanden. Das Fischereigebiet von Gyodong-do ist so klein, dass man per Boot vom Hafen Namsanpo aus in nur fünf bis zehn Minuten die Grenze erreicht. Die Zahl der Fangnetze pro Boot ist auf zwei begrenzt. Ursprünglich lebten hier rund zehn Haushalte vom Fischfang, aber heute setzen nur noch fünf Fischer die Fischerei-Traditionen von Gyodong-do fort und erfüllen die nostalgischen Schwelgereien derjenigen, die noch den „Geschmack von früher“ kennen. Einst öffneten die Kommandeure der in der Nähe stationierten Militäreinheiten vor den Seollal- oder Chuseok-Feiertagen in einer Geste des Wohlwollens die Zivile Kontrollinie und erlaubten unter Geleitschutz den Fang von Großkopfmeeräschen und Muscheln, aber diese Zeiten sind längst vorbei. Die Fischernte im ersten Halbjahr 2016 war nicht besser oder schlechter als in anderen Jahren. Cha Gwang-sik (66), geboren in Yeonbaek-gun, Provinz Hwanghae-do, und während des Kriegs in Decken gewickelt von der flüchtenden Familie nach Süden gebracht, konnte damals nicht ahnen, dass er einmal sein ganzes Leben als Fischer auf Gyodong-do verbringen würde. Auch die Menge der von ihm fürs Einsalzen bestimmten Garnelen ist wieder nur durchschnittlich. Sie gehen an seine Stammkunden. Hyeon Sang-rok (63), Vertreter der Fischer von Gyodong-do, verkauft seinen Fang ebenfalls direkt an die Konsumenten und betreibt ein Restaurant. Als Sohn eines Flüchtlings ein Jahr nach dem Waffenstillstand geboren, lebt er seit über 40 Jahren in Namsanpo vom Fischfang. Abgesehen davon, dass gelegentlich Nordkoreaner über die neutrale Gewässerzone nach Gyodong-do schwimmen und damit für Schlagzeilen sorgen, ist es in den Gewässern vor der Insel glücklicherweise über 60 Jahre lang zu keinen militärischen Auseinandersetzungen gekommen. Ich bewundere das Leben der mit dem Meer älter werdenden Inselbewohner, ein Leben voller Abenteuer und doch ergeben, voller Realismus und doch nicht gehetzt.
Hüter von Gyodong-do Han Gi-chul (67), dessen Familie seit Generationen auf Gyodong-do lebt, verhehlt nicht, dass er ein Selfmade-Agrobusiness-Geschäftsmann mit über vier Hektar Agrarland ist. Sich ausgerechnet auf einer Insel des Agrarland-Besitzes zu rühmen, mag seltsam anmuten, aber auf Gyodong-do wird die Landwirtschaft höher als andere Wirtschaftstätigkeiten geschätzt, da Gyodong-do, der das Meer genommen wurde, nicht wie eine Insel funktionieren kann. Erst nach den 1970er Jahren kam es im Zuge einer Flurbereinigung und der Anlage eines Reservoirs dazu, dass die Bestellung des Bodens einfacher wurde und die Produktivität entsprechend zu steigen begann. Zudem wurden durch Eindeichung einstige Wattgebiete zu Agrarland, was die Anbaufläche vergrößerte. Han gehört zu denjenigen, die diesem revolutionären Wandel der Landwirtschaft ihre jungen Jahre widmeten. Han, ein einflussreicher Mann in der Gegend, hat zwar noch verschiedene andere Amtstitel inne, doch schätzt er am meisten den Titel „Präsident des Gremiums für Geschichte und Kultur von Gyodong-do“. Schon seit langem geht alles, was mit Bekanntmachung
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1 Der Daeryong-Markt ist ein Hintergassen-Markt, den die Flüchtlinge aus dem nordkoreanischen Yeonbaek während des Koreakriegs nach dem Vorbild des heimatlichen Yonbaek-Marktes schufen. Dieser Markt mit seinen nostalgischen Wandgemälden, auf dem die Zeit kurz nach Kriegsende stehen geblieben zu sein scheint, hat sich seit der Eröffnung der Gyodong-Brücke im Juli 2014 zu einer Touristenattraktion entwickelt. 2 Beim Sportfest anlässlich des „Tages der Einwohner von Gyodong“ versammeln sich an die 2.700 Ortsansässige. 3 Ji Gwang-sik (75), dessen Familie während des Koreakriegs von Yeonbaek nach Gyodong-do flüchtete, wurde in seinen frühen 20ern Herrenfriseur und führt auch heute noch den in den 1970er Jahren eröffneten Gyodong-Friseurladen. Bis heute bleibt er seinem Prinzip, erst bei Sonnenuntergang zu schließen, treu, selbst wenn keine Kunden mehr zu erwarten sind.
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und Bewahrung der Geschichte und Kultur von Gyodong-do zu tun hat, durch seine Hände. Bald wird im Namen des Gremiums eine Chronik von Gyodong-do herausgegeben werden. Im Hintergrund seines Engagements steht die schmerzhafte Erkenntnis, dass im Namen der Entwicklung die Natur zerstört, die Geschichte begraben und die regionale Kultur unterminiert wurde. Han spricht bedächtig und logisch kohärent über die Geschichte und Kultur von Gyodong-do, wobei er wie ein Geschichtslehrer die notwendigen Jahreszahlen einflicht. Seine Hauptpunkte sind dabei: Erstens, Gyodong-do ist im Vergleich zu anderen Regionen wirtschaftlich und kulturell isoliert. Zweitens, Gyondong-do ist dennoch reich an Geschichte und Kultur, auf die die Insel stolz sein kann. Drittens, die Einwohner tragen die Verantwortung dafür, diese zu bewahren. „Gyodong-do wurde als Kehle zweier Hauptstädte bezeichnet: Gaeseong (auch: Kaesong, heute in Nordkorea), der Hauptstadt des Königreiches Goryeo, und Hanyang (heute Seoul), der Hauptstadt des Königreiches Joseon. Da die Strömung vor Ganghwa-do zu stark war, konnten die Schiffe dort nicht anlegen. Daher wurden alle Frachtschiffe, die von Gaeseong nach Hanyang fuhren, in Gyodong-do kontrolliert, und zwar auch die Frachtschiffe mit den Getreide-Abgaben. Auch ausländische Gesandte mussten erst diesen Checkpoint passieren, bevor sie nach Gaeseong oder Hanyang weiterreisen konnten. Da sich die Insel außerdem im Mündungsgebiet der Flüsse Han-gang und Yeseong-gang befindet, war sie früher zur Verteidigung der Hauptstadtregion militärstrategisch so wertvoll, dass hier das Marinehauptquartier von Gyeonggi-do und später das Marinehauptquartier der Drei Provinzen (Gyeonggi-do, Hwanghae-do, Chungcheong-do) eingerichtet wurde. Heute untersteht Gyodong-do der Verwaltung des Kreises Ganghwa-gun.“ Doch Han hat die Liebe zu seiner Heimatinsel nicht zum Dogma erhoben. Als die Lokalregierung vorschlug, im Rahmen des innerkoreanischen Austauschs auf Gyodong-do einen ca. 6,6 km2 großen Industriekomplex einzurichten, argumentierte Han, dass eine solch „rein profitorientierte Sonderzone kein Fenster des wahren Austauschs zwischen den beiden Koreas darstellt und dass Austausch nur durch gegenseitiges Verstehen und Teilen von Geschichte und Kultur zustande kommen kann“. Als Alternative schlug er vor, die „Insel Gyodong-do, die eine ähnliche Klima- und Bodenbeschaffenheit wie in Nordkorea aufweist, zu einem Stützpunkt des landwirtschaftlichen Austauschs mit dem Norden zu entwickeln und nach Wegen der Koexistenz zu suchen, durch die Kultur und Besonderheiten von Gyodong-do erhalten und gleichzeitig der Lebensunterhalt der Einwohner garantiert werden können“.
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Der Daeryong-Markt und die Partisanen Der Daeryong-Markt geht auf nordkoreanische Flüchtlinge aus Yeonbaek und Gaeseong zurück, die es während des Koreakriegs nach Gyeodong-do verschlug, da die Flucht übers Meer sicherer und schneller war als die über Land. Vor allem ab Dezember 1950, als die Alliierten durch den Kriegseintritt Chinas zum Rückzug gezwungen wurden, kamen Tausende von Flüchtlingen mit dem Schiff über Gyodong-do und Ganghwa-do nach Incheon und Chungcheong-do. Viele junge Leute, die aus Yeonbaek im Norden kamen, ließen sich zwar auch auf Gyodong-do in der Hoffnung nieder, nach dem Krieg als Erste wieder in ihre Heimarorte zurückzukehren, sie hofften aber auch, etwas von den zurückgelassenen Familienmitgliedern, zu hören und ihnen bei der Flucht helfen zu können. Um sich den Lebensunterhalt zusammenzukratzen, eröffneten sie am Straßenrand Buden, in denen sie Stoffe, Gummischuhe, Kleider, Reis-in-Suppe-Gerichte, Alkohol und Buchweizennudeln in kalter Brühe verkauften. Daraus entstand schließlich der heutige Markt. Ji Gwang-sik (75) und seine ganze Familie kamen auf der Suche nach dem Vater, der als erster geflüchtet war und sich in Gyodong-do niedergelassen hatte, auf die Insel. In seinen frühen Zwanzigern wurde Ji Friseur und machte auf dem Markt einen Her-
Um ihre Sehnsucht nach der Heimat zu stillen, stiegen mein Vater und sein vor zehn Jahren verstorbener älterer Bruder bei gutem Wetter auf den im nördlichen Teil von Gyodong-do gelegenen Hügel, um gedankenverloren auf die Kiefern, die auf einem Hügel hinter Honam-myeon, ihrem nur zwei, drei Kilometer von Gyodong-do entfernten Heimatort stehen, zu blicken. 28 KoreAnA Herbst 2016
renfriseurladen auf, den er heute noch betreibt. Im Laufe der Zeit kamen immer mehr Menschen, der Markt wuchs, eine Schule, eine Polizeistation und die lokale Verwaltungsbehörde wurden hier eingerichtet, was den Daeryong-Markt schließlich zum Mittelpunkt der Insel machte. Allerdings blieb das Marktviertel von allen Stadtsanierungsprojekten ausgeschlossen, da sich die Interessenkonflikte zwischen Grundstückseigentümern und Gebäudebesitzern nicht lösen ließen. Als Resultat wurde der Markt, dem immer noch die Atmosphäre der 1960er Jahre und ein Hauch Heimatlosigkeit entströmt, als „Ort, an dem die Zeit stillsteht“ zu einer Tourismusattraktion, die viele Besucher anzieht. In Yeonbaek-gunji , der 1986 vom Bürgerrat herausgegebenen Chronik des Kreises Yeonbaek-gun, wird dokumentiert, dass die von Schülern, versprengten Soldaten und ehemaligen Polizisten organisierte Freiwilligentruppe „Tiger-Brigade“ nach ihrer Eingliederung in die UN-Streitkräfte insbesondere auf Gyodong-do Guerillakämpfe führte. Innerhalb der zweieinhalb Jahre bis zum Waffenstillstand soll die Brigade 2.746 Menschen getötet und über 80.000 Zivilisten gerettet haben. Auf Gyodong-do steht ein Mahnmal zum Gedenken an die gefallenen Partisanen. Doch die Chronik erwähnt mit keinem Wort, dass im selben Zeitraum die Familien von südkoreanischen Überläufern und von Kollaborateuren, die von den Partisanen als links eingestuft wurden, massakriert wurden. Die Wunden, die der Koreakrieg hinterlassen hat, wurden hier wie auch in anderen Regionen der koreanischen Halbinsel ungeheilt zugedeckt. Diese Wunden heilen allmählich, wenn auch nur langsam. Den ersten Platz unter den ausländischen Korea-Besuchern
belegten jüngst Touristen aus China, dem einstigen Kriegsgegner. Durch diesen Wandel ermutigt, sagen heute Menschen über die dunkle Vergangenheit, in der sie im Namen des Anti-Kommunismus als Ideologie kämpften, aus. Die Nationale Kommission zur Aufarbeitung der Vergangenheit für Wahrheit und Versöhnung, die 2005 gegründet wurde und 2010 ihre Arbeit beendete, brachte 2009 ans Licht, dass die auf Gyodong-do stationierten UN-Partisanen 183 unschuldige Zivilisten töteten, weil sie Angehörige mutmaßlicher Kollaborateure waren. Die Geschichte der Ära des Kalten Krieges, die begraben und internalisiert worden war, streckt nun also die 1 Im Dorf Eupnae-ri finden Hand der Versöhnung aus. sich Überreste der alten Stadtmauer von Gyodong, Der „Tag der Einwohner von Gyodie während der Joseondong-myeon“, der 1975 zur Stärkung Zeit zum Schutz gegen des Zusammenhalts unter den InselInvasionen von außen errichtet wurde. Das Dorf war bewohnern ausgerufen wurde, wurde einmal geschichtsträchti2016 zum 41. Mal begangen. Dieses ger Mittelpunkt der Insel, Jahr wurde auch ein großer Sportwettverlor diesen Status dann aber im Zuge der kurz nach bewerb ausgerichtet. Es gibt keinen dem Koreakrieg unterKrieg, bei dem das Volk der Gewinner nommenen umfassenden ist. Das ist ein weiterer Grund dafür, Landgewinnungsarbeiten. 2 Als durch das Waffenwarum die Koreaner, die sich nach stillstandsabkommen die dem Tag sehnen, an dem eine Brücke Fischgründe in den Küstenzwischen Gyodong-do im Süden und gewässern verloren gingen, wurde die Landwirtschaft Yeonbaek-gun im Norden errichtet für die Inselbewohner zu wird, über die Insel nachdenken solleinem wichtigen Wirtten. schaftszweig.
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SPEZIAL 5 DMZ: Ein Blick auf das verbotene Land, erhascht durch Stacheldrahtzäune
Real DMZ PRoject vERMäCHTNIS DES KALTEN KRIEGES IM SPIEGEL DER KuNST Das Real DMZ Project (RMP) ist ein versuch, die mehrschichtigen Bedeutungen der Demilitarisierten Zone (DMZ) und des Grenzgebiets im Lichte der zeitgenössischen Kunst zu interpretieren und dokumentieren. Beginnend mit einer ortsgebundenen Ausstellung im Jahr 2012, für die ein Teil der CheorwonTouristenroute zum Thema „Sicherheit“ in der Provinz Gangwon-do genutzt wurden, wurde das Projekt in den Folgejahren mit diversen experimentellen Ausstellungen und wissenschaftlichen Foren fortgesetzt. Koh Mi-seok Editorial-Verfasserin, Tageszeitung The Dong-a Ilbo
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ie DMZ ist ein paradoxer Ort. Mit dieser militärischen Pufferzone – einem Relikt der Teilung der Nation – in der Mitte, stehen sich die beiden Koreas immer noch mit aufeinander gerichteten Waffen gegenüber. Da der Zutritt verboten ist, wurde die DMZ zwar zu einer ökologischen Schatzkammer mit seltenen Tieren und Pflanzen, sie ist aber gleichzeitig auch die gefährlichste Grenzzone der Welt, in der es jederzeit zu militärischen Auseinandersetzungen kommen kann. Gleichzeitig gehen die Bewohner der am nördlichsten gelegenen Dörfer Südkoreas, die sich in der Zivilen Kontrollzone befinden, ganz normal ihren Alltagsarbeiten nach und bestellen die Felder. Das Real DMZ Project (RMP) fokussiert über die politisch-militärischen Implikationen der DMZ hinaus auf diesen widersprüchlichen Charakter. Kim Sun-jung, Kuratorin von SAMUSO: Space for Contemporary Art, in deren Hän-
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den Konzeption und Durchführung des RMP-Projekts lagen, erläutert die Hintergründe: „Bei den Waffenstillstandsverhandlungen 1953 saßen die USA, die Vereinten Nationen, Nordkorea und China als Verhandlungspartner am Tisch, Südkorea war nicht vertreten. Mit Blick auf die Vergangenheit, in der wir in dieser uns betreffenden Angelegenheit keine führende Rolle spielen konnten, hoffte ich, dass das Projekt dabei helfen könnte, bei der Neuinterpretation der Bedeutung der DMZ eine führende Rolle zu spielen“. Ich traf Kim, um zu erfahren, wie die teilnehmenden Künstler die DMZ wahrgenommen hatten.
Claims of Victory (2015) von Magnus Bärtås ist eine Videoinstallation, die die unterschiedliche Art und Weise des Gedenkens an den Koreakrieg im Kriegsmuseen Pjöngjang bzw. Kriegsmuseum Seoul beleuchtet
Die Teilung Koreas neu interpretiert Koh Warum ausgerechnet die DMZ? Was hat Sie einen Ort des Konfliktes als Schauplatz für ein Kunstprojekt wählen lassen? Kim 2008 organisierte ich mit dem japanischen Künstler Tatsuo Miyajima eine Ausstellung zum Thema „Grenze“. Teil des Events war, Menschen zu fotografieren, denen die Zahlen 3 und 8, die für die am 38. Breitengrad entlang verlaufende innerkoreanische Grenze stehen, auf den Körper gemalt worden waren. Die Fotos wurden in der Grenzzone aufgenommen, z.B. vor dem Imjingak-Pavillon in der Stadt Paju, dem Taepung-Observatorium in Yeoncheon usw. Bei meinen empirischen Sozialstudien im Vorfeld der Ausstellung wurde mir bewusst, dass selbst ich als Koreanerin kaum an der DMZ interessiert war oder Genaueres darüber wusste, was mich zum Nachdenken brachte. Danach plante ich ein 10-Jahres-Pro-
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jekt mit dem Ziel, Dokumentierungen und künstlerische Arbeiten über die DMZ zusammenzutragen. Von Beginn wurde neben der Teilnahme koreanischer Künstler auch die Einbeziehung ausländischer Künstler erwogen und Materialsichtung und Studien wurden entsprechend geplant. Auch wurde der Blickwinkel ausgeweitet auf Themen wie verschiedene Sichtweisen der DMZ als militärische Grenze, die gesellschaftspolitische Situation als Hinterlassenschaft der Teilung, Umweltprobleme usw. Im Artsonje Center in Seoul finden ergänzend zum DMZ-Projekt vor Ort verschiedene Events wie Performances, Künstlerdialoge, Workshops u.ä. statt. Die Hauptkulisse des Projektes befindet sich im Kreis Cheorwon, Provinz Gangwon-do in Südkorea. 1945, als direkt nach der Befreiung Koreas von der japanischen Kolonialherrschaft die Grenzlinie entlang des 38. Breitengrades gezogen wurde, geriet Cheorwon unter die Verwaltung der sowjetischen Besatzungszone. Nach dem Waffenstillstandsabkommen 1953 wurden alle Einrichtungen der kommunistischen Regierung, darunter das Hauptquartier der nordkoreanischen Arbeiterpartei,
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südkoreanischem Territorium einverleibt. Cheorwon, das heute geteilt in beiden Teilen Koreas liegt, umfasst ein Drittel der Gesamtfläche der DMZ. Während des Koreakriegs war Cheorwon zur Sicherung der mittleren Frontlinie strategisch bedeutsam und bildete zusammen mit Pyeonggang und Gimhwa das sog. „Eiserne Dreieck“, eins der blutigsten Schlachtfelder des Koreakrieges. Da Cheorwon im Herzen der koreanischen Halbinsel liegt, prosperierte es einst als Logistik- und Verkehrsknotenpunkt, doch der Krieg ruinierte die Region fast vollständig.
Austausch mit den Ortsansässigen Koh Welche Veränderungen hat das Projekt im Laufe der Zeit erfahren? Kim Im ersten Jahr befanden sich die meisten Ausstellungen in schwer zugänglichen Teilen der Grenzzone wie einem Teilstück der Cheorwon-Touristenroute zum Thema Sicherheit oder tief in einem der Infiltrationstunnel. Sie liefen nur kurze Zeit und waren auch nicht so einfach zu erreichen. Anders als bei den meisten Ausstellungen, bei denen fertige Werke nur zusammengestellt werden müssen,
wurden die meisten Exponate speziell für die RMP angefertigt. Dafür brauchten die Künstler aber eine gewisse Zeit, um sich mit der DMZ vertraut zu machen. Angesichts der langen Vorbereitungsphase erschien es schade, die Werke dann nur so kurz auszustellen. Im Zuge der jährlich vorgenommen Modifikationen und Ergänzungen veränderte sich dann der Charakter des Projekts immer mehr von einer schwer erreichbaren Ausstellung in einer Region, für die es einer Zugangsgenehmigung bedarf, zu einer für jedermann leicht zugänglichen Ausstellung. Bedauernswert war, dass ein von der Kommunalregierung unterstütztes Projekt die Einwohner dieser Region nicht hinreichend berücksichtigte, weshalb wir die Ausstellung 2015 nach Dongsong-eup verlegten, das oft von den dortigen Bewohnern und Wehrdienstleistenden auf Urlaub besucht wird. Koh Daraus ist die Absicht zu entnehmen, stärker in das Alltagsleben der Menschen im Grenzgebiet eindringen zu wollen, anstatt sich nur auf die eigentliche Grenze zu fokussieren. Kim Für ein öffentliches Kunstprojekt an einem öffentlichen Ort spielt die Kontinuität eine große Rolle. Genau deshalb belassen wir es nicht bei einem einmaligen Event, sondern versuchen im Laufe der Jahre die Kommunikation mit den Einwohnern zu intensivieren. Das Real DMZ Project 2015: Lived Time of Dongsong fand an verschiedenen Orten wie dem Marktplatz, der katholischen Kirche, am Busterminal und in leer stehenden Einrichtungen von Dongsong statt. Durch die Verlegung der Ausstellung aus dem Bereich der Zivilen Kontrollzone an einen Ort mit kommerziellen und kulturellen Einrichtungen wurde die Kommunikation mit den Einwohnern ausgeweitet. Koh Verfolgt das Residency Program in
„Südkorea erweckte den Eindruck, die DMZ zu einer Touristenattraktion unter dem Thema ‚Krieg’ entwickeln zu wollen, während Nordkorea quasi gleich das ganze Land in einen Krieg-Themapark verwandelte.“– Ingo Niermann (Schriftsteller, RMP-Teilnehmener) 32 KoreAnA Herbst 2016
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3 1 Kuratorin Kim Sun-jung (ganz rechts) unterhält sich mit Teilnehmern des Real DMZ Project neben den Ruinen eines im Koreakrieg zerstörten Eislagers aus der japanischen Besatzungszeit. 2 Der Cellist Lee Ok-kyung bei einer Stegreif-Sound-Performance von Broken Sky , die sie während des Real DMZ Project 2014 in einer verlassenen Reismühle in Yangji-ri, einem Dorf in der Zivilen Kontrollzone im Kreis Cheorwon, gab. 3 Ice Cream Hill (2014-2015), eine Video-Installation von Aernout Mik, porträtiert Teilung und Konflikt zwischen den beiden Koreas anhand der Geschichte einer Gruppe junger Leute, deren ursprünglich fröhlicher Ausflug zum Gipfel Sapseul-bong in der Nähe der DMZ durch ein Gefühl der Anspannung beeinträchtigt wird.
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einem Dorf der Zivilen Kontrollzone dasselbe Ziel? Kim 2014 renovierten wir ein leer stehendes Haus im Dorf Yangji-ri und starteten das Yangji-ri Residency- Programm, in dessen Rahmen in- und ausländische Künstler und Forscher vor Ort aktiv sind. Bislang gab es an die 10 Teilnehmer. Yangji-ri ist ein Dörfchen, für das in den 1970er Jahren an die jenseits der Grenze lebenden Nordkoreaner gerichtete Propaganda geschaffen wurde. Zurzeit hat es 75 Haushalte und rund 130 Einwohner. Anfangs gestaltete sich das Miteinander von Dorfbewohnern und Künstlern etwas schwierig, aber mittlerweile haben sie sich soweit angefreundet, dass die Bewohner den Künstlern sogar beim Anbau von Nahrungsmitteln helfen. Ein argentinischer Künstler veranstaltet z.B. mit den Dorfbewohnern Barbecue-Partys und filmt sie für sein Video-Projekt.
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Bemerkenswerte Werke Koh Welche Werke ausländischer Künstler sind besonders stark in Ihrer Erinnerung geblieben? Kim Ice Cream Hill des niederländischen Künstlers Aernout Mik. Es ist ein für das Projekt in Auftrag gegebenes VideoWerk, dessen Produktion ein ganzes Jahr beanspruchte. Die Metapher „Ice Cream“ bezieht sich darauf, dass ein Berg im erbarmungslosen Artilleriefeuer wie Eis zu schmelzen schien. Es zeigt, dass „ein Ort mit einem wunderschönen Hügel eine schwere historische Bedeutung birgt.“ Der Schwede Magnus Bärtås sorgte für Aufsehen mit Claims of Victory , einer Videoinstallation, die das in zwei Museen – dem War Memorial in Seoul und dem Victorious Fatherland Liberation War Museum in Pjöngjang – aufgenommene Videomaterial kombiniert und so die unterschiedliche Darstellungsweise des Konflikts porträtiert. Während das Pjöngjanger Museum vor dem Hintergrund der von 40 Künstlern
gefertigten Wandmalereien reale Kriegsbeute-Exponate wie Panzer und Jeeps zeigt, bietet das Seouler Kriegsmuseum digitale Dioramen mit Computerspiel-ähnlichen Spezialeffekten. Bärtås, inspiriert von der unterschiedlichen Darstellungsweise, betonte diesen Kontrast, indem er seine Aufnahmen auf zwei dicht an dicht aufgestellte Bildschirme projizierte. Der deutsche Schriftsteller Ingo Niermann hat basierend auf seinen Besuchen in Nord- und Südkorea unter dem Titel Solution 264-274: Drill Nation „elf Szenarien für die wiedervereinte koreanische Halbinsel“ geschrieben. Er hatte im Rahmen des RMP -Projekts 2014 das erste Kapitel des Buches vorgelesen, an dem er damals noch schrieb. Es kam 2015 heraus. Folgende Bemerkung, die Niermann während eines Interviews machte, blieb mir unver-
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unterschiedlicher Blickwinkel von innen und außen Koh Das Projekt behandelt zwar die koreaspezifische Sondersituation, aber es ist zu spüren, dass man dabei versucht hat, neben Regionalität auch Universalität zu erreichen. Kim Grenzen wie die DMZ, die das Produkt eines komplizierten Geflechts von kriegerischen Auseinandersetzungen und internationaler Politik sind, dürften ein Gegenstand des Interesses sein, der viele Menschen auf der Welt anspricht. In Vietnam verlief bis zur Wiedervereinigung 1975 eine DMZ entlang des 17. Breitengrads. Deutschland war nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Fall der Berliner Mauer in Ost und West geteilt. Die DMZ zwischen Syrien und Israel und die zwischen dem Irak und Kuwait waren Ergebnis von Beschlüssen des UNO-Sicherheitsrats. Sei es physisch oder psychisch: Das Thema „Grenze“, alles, was Menschen oder Territorien teilt, ist allgegenwärtig. Das sieht man jetzt, nach dem Ende des Kalten Krieges, auch wieder am eskalierenden Konflikt um die Flüchtlinge. Koh Gibt es Unterschiede zwischen den
DMZ-Interpretationen von Künstlern aus dem Inland und Künstlern aus dem Ausland? Kim Die koreanischen Künstler, die in ihrer Schulzeit eine anti kommunistische Erziehung erhalten haben, bemühen sich ganz bewusst, Gewohntes neu zu betrachten. Die ausländischen Künstler interpretieren die DMZ aus ganz individuellem Blickwinkel und nähern sich dem Thema aus viel breiterer Perspektive. Da diese Künstler aber von vornherein Interesse an der „Grenze“-Thematik im Kontext von Staat, Nation, Ideologien usw. haben, überlegen sie, wie sie die DMZ mit ihrem besonderen Interessenfeld in Verbindung bringen können. Auch Korea-spezifische Merkmale wie die Militärkultur sind für sie interessant. Betrachtet man das Ganze nur von innen, erfasst man das große Bild nicht richtig. Um alle Dimensionen der DMZ, die sich zwischen „kaltem Krieg“ und „heißem Frieden“ befindet, zu verstehen, bedarf es einer internationalen Sichtweise, einer Sichtweise von außen.
gessen: „Südkorea erweckte den Eindruck, die DMZ zu einer Touristenattraktion unter dem Thema ‚Krieg’ entwickeln zu wollen, während Nordkorea quasi gleich das ganze Land in einen Krieg-Themapark verwandelte.“ Koh Was interessiert die ausländischen Künstler, die die DMZ ja meist nur aus den Nachrichten kennen, besonders, wenn sie sie hautnah erleben? Kim Das ist von Künstler zu Künstler unterschiedlich. Manche interessieren sich für das Ökosystem der DMZ, deren ökologische Bedeutung bekannt ist. Andere konzipieren Zukunftsvisionen wie z.B. ein Haus, in dem Nord- und Südkoreaner zusammen leben, oder Installationen, deren Komponenten Nord- und Südkoreaner gemeinsam zusammengesetzt haben. Koh Könnten Sie bitte auch einige der
Arbeiten koreanischer Künstler vorstellen? Kim Die koreanischen Künstler regen an, über die Koexistenz von vergangener Geschichte und gegenwärtigem Leben, von Spannung und Alltagsleben in der DMZ nachzudenken. Lim Min-ouk hat zum Gedenken an die 300 Menschen, die nach Kriegsende an der Stelle des Cheorwon-Wasserwerks ermordet worden sein sollen, 300 Objekte als Monumente installiert und eine interaktive Performance mit Besuchern durchgeführt. Koo Jeong-a schuf aus Basalt, dem charakeristischen, aus Lava entstandenen Gestein der Cheorwon-Region, eine Installation auf dem Platz des Friedens. Der Fotojournalist Noh Suntag präsentierte dokumentierende Aufnahmen, die z.B. die Rückenansicht von Touristen beim Besuch eines Infiltrationstunnels
zeigen. Aber die Exponate sagen mehr als tausend Worte. In diesem Sinne hoffe ich, dass mehr Menschen zur DMZ kommen, um zu sehen, zu spüren und sich zu fragen, wie und warum das DMZ-Projekt ein regionales Problem auf internationaler Ebene behandelt. Mit dem DMZ-Projekt erschließt Kim Sunjung Wege der Zusammenarbeit zwischen visueller Kunst, Architektur, Musik, Humanwissenschaften und Sozialwissenschaften. 2016 wird es keine einmalige RMP -Ausstellung geben. Statt dessen bereitet Kim für 2017 als ständige Ausstellung das Pavillion Project vor. Auch ist sie entschlossen, das Projekt über die urspünglich geplanten 10 Jahre hinaus fortzusetzen. Das Real DMZ Project will ein Foschungsplattform zur Vertiefung des Verständnisses der modernen Geschichte Koreas und der Teilung der koreanischen Halbinsel sowie ein experimentelles Kunstfestival an einer welthistorisch bedeutsamenen Stätte des Kalten Krieges sein. Letztendlich zielt es darauf ab, „tiefgründiger Deuter der DMZ“ zu werden, der durch die Kombination von regionalen und globalen Sichtweisen Visionen für Weltfrieden und Koexistenz aufzeigt. Werden diese Ziele erreicht, wird das Projekt nicht nur Gelegenheit geben, über die DMZ als physische Grenze, sondern auch über die unsichtbaren Grenzen in unseren Köpfen nachzudenken.
Zur Foto-Installation To Survive vs. Once Arrived (2012) von Noh Sun-tag gehört eine Sammlung von Fotos, aufgenommen vom Dach des Friedensobservatoriums in Cheorwon, von wo aus man einen Panoramablick auf das Pyeonggang-Plateau in Nordkorea hat. Die Aufnahme eines „Fotografieren verboten“-Schildes und die der Rückenansicht eines Soldaten sind genau an der Stelle zu sehen, an der sie gemacht wurden. Der Fotograf kommentiert: „Im Süden ist das Grenzgebiet zu einer bei Koreanern und ausländischen Besuchern gleichermaßen beliebten Touristenattraktion geworden. Was wäre die Pflicht derjenigen, die diesen befremdlichen Ort besuchen? Hinschauen, fotografieren.“
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INTERvIEW
cartoonist KiM botonG
Park Seok-hwan Cartoonkritiker, Professor, Korea University of Media Arts Fotos Ahn Hong-beom
Geliebt von den botonG (Gewöhnlichen)-Menschen Der Cartoonist Kim Botong zog mit seinem Erstlingswerk Amanza, einem in Pastelltönen gehaltenen Webtoon mit schlichten Zeichnungen, über Nacht internationale Aufmerksamkeit als Nachwuchstalent auf sich. Der letzte Satz der Hauptfigur, eines Kranken mit Krebs im Endstadium, lautet: „Lebe, und zwar blendend!“ Diese kurze Botschaft enthält wohl alles, was der Cartoonist der Welt sagen möchte. 36 KoreAnA Herbst 2016
n einer TV-Serie brüllt die Hauptdarstellerin: „Ich bin eine Krebspatientin! (Amhwanja)!!“ Nach der Ausstrahlung postete jemand ihm Zuschauerforum: „Was bedeutet denn ‚Amanza’?“ Die sich wie ein Lauffeuer verbreitende Frage sorgte für Lachstürme: Der Zuschauer hatte nicht „Amhwanja“, sondern „Amanza“, ein Unsinnswort, verstanden. Doch einige konnten nicht mitlachen: „Amhwanja“ und ihre Angehörigen. Kim Botong war einer von ihnen. Kim Botong ist immer noch ein Newcomer in der Cartoon-Branche. 2013 veröffentlichte er seine erste Cartoonserie im Internet, drei Monate vor seinem 34. Geburtstag. Sein Debüt-Cartoon Amanza handelt von einem jungen Mann in den Zwanzigern mit Krebs im Endstadion. Obwohl Kim die Geschichte eines auf den Tod wartenden Patienten erzählt, konnte er mit seinen heiteren, in Pastellfarben gehaltenen Zeichnungen die Aufmerksamkeit vieler Cartoonfans auf sich ziehen. 2014 erhielt Kim vom Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus für dieses Werk den Preis „Koreanische Cartoons Heute“. Die Veröffentlichung in Japan und den USA machte ihn über Nacht international berühmt. Das Nachfolgewerk beschäftigte sich mit dem koreanischen Militär. Die unter dem Titel D.P. Dog Days in einer Tageszeitung veröffentlichte Cartoonserie behandelt durch den Protagonisten, der für die Fahndung nach Deserteuren zuständig ist, das Problem der Menschenrechtsverletzungen im koreanischen Militär. Die ziemlich direkte Thematisierung eines gesellschaftlichen Problems ließ kaum auf Beliebtheit beim breiten Publikum hoffen. Doch als die Serie 2015 auf der Webtoon-Seite Lezhincomics veröffentlicht wurde, läuteten in der koreanischen Gesellschaft, die der Thematik bis dahin kaum Beachtung geschenkt hatte, die Alarmglocken. Parallel dazu veröffentlichte Kim auf derselben Webseite die interaktive Cartoonserie Beratungsservice – nach meiner Art. Es war ein Event-ähnlicher Service, bei dem die Leser durch soziale Medien wie Twitter mitteilten, was sie auf dem Herzen hatten, und Kim dann Ratschläge in Cartoon-Form gab. So wurde Kim vom erzählenden Cartoonisten zu einem Cartoonisten, der dem Publikum sein Ohr leiht.
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vom Angestellten zum Cartoonisten Kim Botong hatte als Teenager und in seinen Zwanzigern nichts mit Cartoons zu tun. Als Teenager konzentrierte er sich aufs Pauken und in seinen Zwanzigern bekam er eine Stelle bei einem Großunternehmen, ganz so, wie sein Vater es sich gewünscht hatte. Sein drittes Lebensjahrzehnt begann er als Teil einer Riesen-Geschäftsorganisation. Seine Position war zwar das Ergebnis harter Arbeit, doch besonders stolz war er nicht darauf. Sein Geschäftsanzug
Der Cartoonist Kim Botong posiert in einer Hundemaske in seinem Studio.
begann ihm die Luft abzuschnüren und der Stress, den sein Vorgesetzter ihm bereitete, wog schwerer als die Freude über einen gemeinsam mit den Kollegen erzielten Erfolg. Etwa zu der Zeit diagnostizierte man bei seinem Vater Magenkrebs. „Bildung bedeutete meinem Vater alles. Er hielt mich immer zum Lernen an und wollte mich auf einer Stelle bei einem angesehenen Unternehmen sehen. Schon in der Mittelschule merkte ich, dass ich einiges Zeichentalent besaß und liebte Cartoons. Aber ich hätte nicht einmal davon zu träumen gewagt, daraus einen Beruf zu machen.“ Selbst als sein Vater auf dem Sterbebett lag, musste Kim an den Firmenabendessen teilnehmen und anschließend im Karaoke für Stimmung sorgen. Er hasste die Situation, in die er sich gezwungen fühlte, auch wenn ihn niemand offen zwang, und er hasste sich selbst dafür, dass er das mit sich machen ließ. Doch er wagte nicht, seinem sterbenden Vater zu gestehen, dass er nicht länger zur Arbeit gehen wollte. Erst nach dem Tod seines Vaters kündigte er, dann aber sofort, und machte sich auf die Suche nach einer neuen Arbeit. „Um ehrlich zu sein, bereute ich die Kündigung schon in dem Moment, als ich sie eingereicht hatte. Ich war mir so sicher, den Job nicht länger ertragen zu können, doch als ich mich dann fragte, wovon ich denn jetzt leben sollte, schnürte mir Panik den Hals zu. Ich schaute mir alle möglichen Jobs an und erzählte meiner Familie auch mal, dass ich zur Law School gehen wolle. Selbst als ich dann Glück hatte, mit dem Zeichnen von Cartoons etwas Geld zu verdienen, dachte ich nur daran, es für die Law School-Gebühren zu sparen.“ Als Kim auf der Suche nach einer neuen Arbeit war, griff er eines Tages zu Druckbleistift und Notizblock, die gerade vor ihm lagen, und begann zu zeichnen. Die nächsten Monate verbrachte er mit nichts anderem als Zeichnen. Etwa zu der Zeit meldete er sich auf Twitter an und knüpfte Kontakte zu Menschen, die aus völlig anderen Welten als seiner bis dahin gewohnten kamen. Darunter ein Komponist, der gute Texte vertonen wollte und für den er dann Liedtexte schrieb; und ein berühmter Comiczeichner, der auf Kim aufmerksam wurde, als der die Gesichter seiner Twitter-Follower zu zeichnen begann. Dieser Kontakt brachte ihm dann die Gelegenheit, seine eigenen Cartoons zu zeichnen. Choi Gyu-seok, Vater der berühmten Webtoon-Serie Die Ahle , schlug Kim vor, Cartoons zu zeichnen und sie auf Twitter zu veröffentlichen. Kim machte sich mit dem Gedanken an die Arbeit, einfach eine als Smartphone-Lektüre geeignete Geschichte zu zeichnen, oder einen Brief an seinen verstorbenen Vater zu schreiben. Doch seine Geschichte, die er aus der Sicht eines fiktiven jungen Krebspatienten erzählte, war erfolgreicher als erwartet. Kaum hatte er die Tür hinter seiner alten Arbeitswelt zugeschlagen, öffnete sich ihm eine neue und Kim ist mittlerweile zu einem aufgehenden Stern am Cartoon-Himmel aufgestiegen, doch fühlt er sich immer noch wie jemand, der am Rand steht. KoreAnisCHe KuLtur und Kunst 37
Hinter einer Maske „Botong“ ist Kims Künstlername. Das Wort bedeutet so viel wie „nichts Besonderes“ oder „etwas Gewöhnliches“. Kim entschied sich für ein Pseudonym, weil er zwischen seinem jetzigen Künstlerleben und dem Angestelltenleben davor einen Trennstrich ziehen wollte. Da er aber sein Gesicht nicht ändern kann, versteckt er es bei öffentlichen Auftritten stets hinter einer Maske. Ein weiterer Grund dafür ist das ihm aufgedrückte Image, jemand zu sein, der „wegen eines Traums seinen Arbeitsplatz einfach aufgegeben hat“; irgendwie empfindet er seinen früheren Arbeitskollegen gegenüber, die immer 2 noch fleißig derselben Arbeit nachgehen, Schuldgefühle. „Letztes Jahr wurde ich in den #BlueRoom von Twitter Korea eingeladen. Das ist ein Studio, in das Prominente eingeladen werden, um locker über Livestream und Chats mit Twitter-Nutzern zu kommunizieren. Anfangs lehnte ich ab. Ich hatte Angst, dass Leute, die mich noch von früher kennen, mein jetziges Ich nach den Kriterien von früher beurteilen würden. Ich dachte auch, dass diese Art der Kommunikation nicht dazu beitragen könne, meine Cartoons verstehen und schätzen zu lernen. Die Organisatoren ließen dann für mich eine Kopfmaske nach der Vorlage einer meiner Hundefiguren anfertigen. Seitdem trage ich bei Interviews immer eine Maske. Bei öffentlichen Auftritten in Japan fühle ich mich etwas freier und verzichte darauf, da mich dort keiner persönlich kennt.“ Kim Botong macht aber keineswegs den Eindruck eines exzentrischen Cartoonisten-Typs, der sich von der Außenwelt abschottet. Auffällig sind sein ordentlicher Haarschnitt, sein durchtrainierter Körper, das deutliche Maß an Rücksichtnahme und Respekt anderen gegenüber – wohl während seiner Zeit als Angestellter trainierte Qualitäten – und seine Bescheidenheit. „Es gibt immer noch mehr Leute, die meine Cartoons nicht kennen, als Leute, die sie kennen, weshalb ich sie stark zu promoten versuche. In den sozialen Netzwerken bin ich auch sehr aktiv. Ich treibe viel Sport und achte auf meine Ernährung. Für Langzeit-Serien ist eine gute geistige Verfassung wichtig, weshalb ich nicht so oft Leute treffe.“
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Suche nach Glück á la Kim Botong Nachdem 2015 in Japan die übersetzte Version von Amanza (jap.: Gankanja) online veröffentlicht wurde, ist Kim in Japan sogar bekannter als in Korea. Dank seiner Popularität wurde die japanische Version auch als Buch veröffentlicht und Kim wurde zu dem von der The Japan Foundation und der japanischen Präfektur Okayama organisierten Artist-In-Residence Programm eingeladen. Daher wird er eine Weile zwischen seinen Ateliers in Korea und Japan pendeln und seine nächste Cartoonserie konzipieren. Die englische Version von Amanza ist in den USA online erhältlich und wird vom Personal der Krebsabteilungen in Krankenhäusern als Hilfsmaterial genutzt. „Als Amanza in Japan herauskam, habe ich als Künstlernamen „Futsu“, das japanische Wort für „botong“, verwendet, aber meine Nationalität verschwiegen. Das entfachte
„Bei Amanza war ich bemüht, eine schmerzhafte Geschichte auf doch irgendwie tröstliche Weise zu erzählen, doch bei D.P. Dog Days konnte ich keins der Probleme des Militärssystems in eine Richtung drehen, die mit der Realität fertig werden hilft.“ dann heiße Diskussionen unter den Netizens. Ich war überrascht, als jemand kommentierte, dass ich Koreaner sein müsse, da in der Szene, in der der Protagonist seiner Familie von der Krebserkrankung erzählt, ein koreanischer Jjigae-Eintopf auf dem Tisch zu sehen ist. Da auch in Japan die Zahl der Krebs-Todesfälle hoch ist, konnten viele die Geschichte gut nachvollziehen. Auch D.P. Dog Days soll in Japan veröffentlicht werden, aber da es hier um ein für das koreanische Militär spezifisches Problem geht, weiß ich nicht, wie es ankommen wird.“ In dem noch geteilten Korea muss jeder gesunde junge Mann in seinen Zwanzigern, einem der schönsten und zugleich verwirrendsten Lebensabschnitte, eine gewisse Zeit beim Militär verbringen. Kim diente bei der Militärpolizei in einem Team, das nach Deserteuren fahndete, die nach dem Urlaub nicht zur Truppe zurückkehrten. Anders als bei der Amanza-Serie über den Krebspatienten fußen diese Geschichten auf den eigenen Erlebnissen des Zeichners. „Ich wollte mehr über die Deserteure selbst, die sich zur Fahnenflucht gezwungen sahen, als über die Fahndung nach ihnen erzählen. Ich wollte über die Menschenrechtsverletzungen, die damit im Zusammenhang stehen, erzählen. Deshalb gibt es da einige Dinge, die die Zuschauer verstören könnten. Bei Amanza war ich bemüht, eine schmerzhafte Geschichte auf doch irgendwie tröstliche Weise zu erzählen, doch bei D.P. Dog Days konnte ich keins der Probleme des Militärssystems in eine Richtung drehen, die mit der Realität fertig werden hilft. Viele denken, dass gewisse Dinge beim Militär
1 Die Waldszenen aus Amanza , Kim Botongs Erstlingswerk, hauchen dem traurigen Kampf des jungen Krebspatienten etwas Kraft ein. 2 D.P. Dog Days , das auf Kims wahren Erlebnissen aus seiner Wehrdienstzeit, als er in einer für die Fahndung nach Deserteuren zuständigen Militärpolizei-Einheit diente, beruht, wurde nach der Veröffentlichung als Zeitungs- und Online-Serie in vier Buchbänden herausgegeben. 3 Kim arbeitet mit seinen beiden Assistenten in einem kleinen Studio in Ilsan, Provinz Gyeonggi-do. Er überlegt sich die Anschaffung eines Cintiq-Grafiktabletts, um jederzeit zu Hause arbeiten zu können.
einfach unvermeidlich sind, aber gerade diese schweigende Akzeptanz führt zu Desertationen.“ Kim thematisiert die Menschenrechtsverletzungen beim Militär aber nicht nur in seinen Cartoons, sondern befasst sich z.B. auch in öffenlichen Vorträgen damit. Auf die Frage, ob er nicht ein unlösbares Problem aufs Tapet bringe, antwortete er: „Wenn ich meinen Teil tue und andere ihren – dann könnten sich die Dinge doch allmählich verändern, oder nicht?“ „In meiner nächsten Serie möchte ich mich mit dem koreanischen Schulsystem befassen. Immer mehr Schüler nehmen sich das Leben. Deshalb möchte ich über Monster in der Schule erzählen. Das können Schüler, Lehrer, Eltern oder auch einfach nur das Umfeld sein.“ In Amanza versetzt Kim die Hauptfigur, die unter der Behandlung leidet, während sich die Krebszellen ausbreiten, manchmal in eine andere Welt. In dieser Welt namens „Der Wald“ wird der Held, der nicht weiß, wer er ist, oder wie er dahin gekommen ist, Zeuge von Waldzerstörungen. Die Geschichte pendelt zwischen der Realität des Patienten bei seinem schmerzhaften Kampf gegen die Krankheit und den Abenteuern des jungen Helden beim Kampf gegen die Verwüstung hin und her. Im langsam sterbenden Wald kämpft er, seine Krankheit völlig vergessend, für die Rettung des Waldes. Die Waldszenen, die dem traurigen Kampf im Krankenhaus etwas Kraft einhauchen, sind Fantasy-Stil á la Kim Botong, der Amanza so wertvoll macht. Wie wird wohl sein Held, der die Monster in den Schulen zurückschlägt, aussehen?
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KuNSTKRITIK
LEE JUNG-SEOB KUNST ALS DOKUMENTIERUNG DER MACHT DER WAHRHEIT Chung Jae-suk Kulturredakteurin, Tageszeitung JoongAng Ilbo
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Family on the Road (1954). Öl auf Papier, 29,5 x 64,5 cm Eine Familie bricht im Morgengrauen zu einer Reise auf. Die Sonne ist noch nicht völlig aufgegangen, weshalb es immer noch dämmrig ist. Das Bild spricht von der Hoffnung des Künstlers, eines Tages wieder mit seiner Familie vereint zu sein.
Lee Jung-seob ist wohl unter den koreanischen Malern des 20. Jhs der berühmteste und auch der beliebteste. Doch nach dem explosiven Anstieg des allgemeinen Interesses an diesem Künstler in den 1970er Jahren gelangten die meisten seiner Werke in den Besitz von Privatsammlern, sodass die allgemeine öffentlichkeit oder Kunstforscher selten die Gelegenheit hatten, Lees Gesamtwerk an einem Ort zu besichtigen. Nun aber bietet sich diese Gelegenheit: Das Nationalmuseum für Moderne und Zeitgenössische Kunst (MMCA Seoul) veranstaltet zum 100. Geburtstag und 60. Todestag Lees die erste große Retrospektive seines Werkes unter dem Titel The 100th Anniversary of the Birth of Korean Modern Masters Lee
Jung-seob 1916~1990. KoreAnisCHe KuLtur und Kunst 41
ee Jung-seob erfreut sich beim koreanischen Publikum so großer Beliebtheit wie der Held eines Romans oder Films. Seine dramatische Lebensgeschichte, geprägt von künstlerischer Genialität, unglücklicher Liebe, Nomadendasein und frühem Tod, ist längst zur Legende geworden. Lee, der 1916 geboren wurde und 1956 mit nur 40 Jahren einen einsamen Tod starb, führte ein ärmliches Leben, das aber auch seine freudvollen Seiten hatte. Nach seinem Tode stieg sein Stern am Himmel der zeitgenössischen Kunst auf. Choi Yeol, Kunsthistoriker und Autor von Lee Jung-seob, eine kritische Biografie: Auf der Suche nach der Wahrheit hinter dem Mythos (2014), erklärt, wie Lee zu einem Maler des Volkes werden konnte: „Was die Menschen, denen der Koreakrieg Wunden geschlagen hatte, brauchten, war eine reine Seele, die die desolaten
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Zeiten erträglicher machen konnte, und es war Lee Jung-seob, der diesem Bedürfnis am ehesten gerecht wurde. Als reine Seele von explosiver Genialität zu neuem Leben erweckt, wurde Lee zum Symbol der Unschuld.“
Dokumentierung einer herumwandernden Seele Lee Jung-seob wurde 1916 im Kreis Pyeongwon-gun, Provinz Pyeongannam-do (heute Nordkorea), geboren. Wie ein Nomade zog er von Ort zu Ort und lebte in über zehn Städten, darunter Pjöngjang, Tokio, Seogwipo auf der Insel Jejudo, Busan, Tongyeong und Seoul. Seine Bilder sind durchdrungen von Schwermut und Durst nach Liebe, aber auch von einem Gefühl der Leere und Unschuld, die wohl daher rühren, dass sie Aufzeichnungen seines Nomadendaseins sind. Lee verkehrte auch mit vielen Schriftstellern und
die dichterische Künstlerseele, die ihm aus diesen Kontakten wuchs, ermöglichte ihm die Sublimierung des Schmerzes seines Nomadentums. Er bemerkte einmal: „Kunst ist eine Dokumentierung darüber, wie die Macht der Wahrheit den Sturmwind besiegt.“ Die Retrospektive, die vom 3. Juni bis zum 3. Oktober 2016 in der Deoksugung-Zweigstelle des Nationalmuseums für Moderne und Zeitgenössische Kunst (MMCA) stattfindet, zeigt ca. 200 Werke und 100 Materialien. Diese Leihgaben von etwa 60 Eigentümern, darunter auch dem Museum of Modern Art in New York, geben einen breit gefächerten Überblick über Leben und Schaffen des Künstlers: Zu sehen sind ca. 60 von Lees repräsentativsten Ölmalereien z.B. aus den Serien Bull und Family on the Road , dazu Stanniolpapier-Bilder, Zeichnungen, Illustrationen auf Postkarten und Briefen sowie verschiedene Dinge aus Lees
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persönlichem Besitz. Die Bilder auf den Postkarten und Briefen, die Lee an seine Familie schrieb, von der er aufgrund von bitterer Armut und Krieg lange getrennt leben musste, übermitteln eine herzzerreißende Familiengeschichte und im weiteren Sinne auch die tragische Geschichte des in zwei Teile gerissenen koreanischen Volkes. Bedenkt man, dass Lee die meisten Werke in den 1950er Jahren in einer Zeitspanne von fünf Jahren schuf, kann man über die Leidenschaft des Schaffens, die der Künstler inmitten von Armut und Leid der Nachkriegszeit entwickelte, nur staunen. Selbst im letzten, ihm noch verbliebenen Jahr seines Lebens, als er unter Magersucht, Geisteskrankheit und Hepatitis litt, legte er den Pinsel nicht aus der Hand. Und selbst im Angesicht des Todes blieb sein Lebenswille ungebrochen und er hoffte weiterhin auf ein Wiedersehen mit seiner geliebten Frau und den beiden Söhnen, die er nach Japan geschickt hatte, damit sie Krieg und finanzieller Not entkommen konnten. Folgende Passage eines Briefes, den er 1954 seiner Frau schrieb, erlaubt einen Blick in sein Herz: „Ein Künstler, der nicht mit der ihm teuren und geliebten Frau eins zu werden vermag, kann niemals gute Kunstwerke hervorbringen. Es gibt zwar auch allein Lebende, die Kunst schaffen, aber Ago-Lee [Lees Spitzname; Zusammensetzung aus ‚ago’ (Jap.: Kinn) und ‚Lee’: Langes-Kinn-Lee ] gehört nicht zu ihnen. Ich betrachte mich da mit ehrlichem Blick. Kunst ist Ausdruck grenzenloser Liebe. Erst ein Herz gefüllt mit wahrer Liebe kann Unschuld und Reinheit erlangen. Hab bitte unerschütterliches Vertrauen in den großen Künstler Jung-seob, dessen Herz beim Malen einzig und allein für dich schlägt. Ich hoffe, dass du in Tokio mit größtem Selbstwertgefühl und Elan stets gesund und heiteren Gemüts bleibst.“ Lee Jung-seob bezeichnete sich selbst gern als „ehrlichen Maler“. Die Ehrlichkeit seiner Gefühle kommt durch die Kinder zum Ausdruck, die in vielen seiner Werke dargestellt werden. Vielleicht projizierte er sich in diese Darstellungen von Jungen, um
seinem harten, erbärmlichen Alltag zu entfliehen. Das sanfte Gesicht des Künstlers schiebt sich über das Bild der Jungen, die wie auf der Suche nach einem weit entfernten Traum über die Leinwand zu schweben scheinen.
Kreationen auf Stanniolpapier Diskutiert man über Lees Schaffenswelt, werden v.a. seine auf Stanniolpapier gemalten Bilder angesprochen. Lee war zwar ein leidenschaftlicher Raucher, aber wichtiger als die Zigaretten war für ihn das Silberpapier in den Schachteln. Da er kein Geld für Malereibedarf hatte, wurden diese Folien zu seiner Leinwand. Die meisten seiner Stanniolpapier-Werke, die aus seinen Jahren in Busan, wohin er bei Kriegsbeginn flüchtete, stammen, sind von solch beispielloser Originalität in der internationalen Kunstgeschichte, dass Stanniolpapier-Malerei als ein von Lee kreiertes Genre gelten könnte. Für diese Bilder wurden auf dem Stanniolpapier mit einer Ahle Darstellungen eingeritzt, das ganze Papier übermalt und die Farbe anschließend wieder abge-
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1 Cockfighting (1955). Öl auf Papier, 28,5 x 40,5 cm Der Kampf der beiden Hähne teilt die Leinwand diagonal in zwei Hälften. Lee malte zuerst die Grundformen in den drei Primärfarben, überstrich diese mit Dunkelgrau und kratzte die Oberfläche dann vor dem Trocknen der Farbe mit schnellen Bewegungen mit einem breiten Handmeißel auf. 2 Lee Jung-seob posiert für ein Foto auf einer Ausstellung, die er zusammen mit drei Künstlerkollegen 1954, kurz nach Ende des Koreakriegs, in der südlichen Hafenstadt Tongyeong hielt. 3 Two Children (1950er). Gravur auf Stanniolpapier, 8,5 x 15,5 cm Für seine Stanniolpapier-Werke verwendete Lee Jung-seob eine innovative Technik, die an die Intarsien-Technik von Seladon der Goryeo-Zeit oder die Silberintarsien auf Metallkunsthandwerk erinnert.
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wischt, sodass sie nur in den eingeritzten Stellen haften blieb. Das Endprodukt war eine zweidimensionale Zeichnung aus eingekerbten Linien, die durch die Unebenenheit der Oberfläche versunken oder erhöht wirkten und durch das Glitzern der Silberschicht an künstlerischem Reiz gewannen. Es ist bekannt, dass Lee an die 300 Stanniolpapier-Bilder fertigte, die meisten 9cm x 15cm groß und gefüllt mit Darstellungen. Sie erfassen das Wesentliche einer Form oder Gestalt mit nur wenigen Linien. Lee Jung-seob zeichnete oft nackte Kinder auf Stanniolpapier, wobei die direkte und kühne Linienführung seine verzweifelte Sehnsucht nach der Familie widerspiegelt. Er bemerkte einst, dass die Stanniolpapier-Bilder Entwürfe für geplante Wandmalereien seien. Um Lees Wünsche zu ehren, wurden von diesen Bildern Gigapixel-Aufnahmen gemacht, vergrößert und als Wandmalerei auf eine Wand von Ausstellungshalle 2, die den Stanniolpapier-Werken gewidmet ist, projiziert.
Formexperimente mit allen möglichen Materialien Kernthema, das sich durch Lees ganzes Werk zieht, ist die Liebe zu seiner Frau und den beiden Söhnen. Das ist auch einer der Gründe, warum seine Werke so viele Menschen unabhängig von Geschlecht und Alter ansprechen und so geliebt werden. Als Lee während seines Studiums an der japanischen Kunstschule Bunka Gakuin die Japanerin Yamamoto Masako (koreanischer Name: Lee Nam-deok) kennenlernte und sich in sie verliebte, brachte er auf rund 90 Postkarten seine Liebe so unermüdlich zum Ausdruck, bis die beiden schließlich den Bund fürs Leben schlossen. Die Illustrationen wie In Mythology oder Man and Woman, die eine ganze Postkartenhälfte einnehmen, wirken fantastisch und surrealistisch. Kaum größer als eine Handfläche, strömen sie dennoch kraftvolle Energie aus und bilden wie die Stanniolpapier-Malereien ein unabhängiges Genre. 1952, mitten im Koreakrieg, schickte Lee seine Familie nach Japan und streif-
te danach einsam von Region zu Region, wobei er jedoch nie vergaß, seinen Lieben zu schreiben. In rund 70 Briefen brachte er auf 150 Seiten und mit reizvollen Illustrationen seine tiefe Liebe zum Ausdruck. Die Illustrationen sind dabei nicht nur wichtiges Material zur Erforschung der Verbindungen zwischen Lees Leben und Werk, sondern auch eigenständige Kunstwerke, geprägt von der Harmonie zwischen freier Handschrift und improvisierten Skizzen. „Ich werde fleißig malen, damit ich bald eine Ausstellung eröffnen und Bilder verkaufen kann. Dann werde ich mit viel Geld und Geschenken zu euch kommen. Wartet also bitte bis dahin gesund und munter auf mich“, so Lees rührende Bitte. Malmaterialien scheinen für Lee Jung-seob keine große Bedeutung gehabt zu haben. Einmal in die Arbeit vertieft, stürzte er sich in neue gestalterische Experimente. Einer im April 2016 beendeten Studie zufolge sind von den rund 540 erhaltenen Werken Lees 140 Ölgemälde und 160 Farbzeichnungen. Die Retrospektive zeigt auch fünf von Lees berühmten Bullen-Gemälden. Der Bulle war quasi Lees Alter Ego und geistiges Konzentrat seiner Kunstwelt. Er hatte eine Vorliebe für weiße Bullen, die für ihn ein Symbol der traditionell in Weiß gekleideten alten Koreaner und der ihnen eigenen Geduld und Hartnäckigkeit waren, mit denen sie schwere Zeiten überwanden. In einem Bild macht ein bis auf die Rippen abgemagerter Bulle einen kräftigen Schritt, stampft auf und marschiert entschlossen voran. Die unerschrockene Pinselführung, mit der Lee mit nur ein paar Strichen die mächtige Gestalt des Bullen einfängt, lässt die Intensität seiner Energie spüren. Wie einer chinesischen Kalligraphie entströmt dem Bild die vitale Energie, die allen Entitäten des Universums innewohnt. Bei der Ausstellung des MMCA sind fünf Werke der Bull-Serie zu sehen. Das repräsentativste darunter ist Yellow Bull von
Lee Jung-seob zeichnete oft nackte Kinder auf Stanniolpapier, wobei die direkte und kühne Linienführung seine verzweifelte Sehnsucht nach der Familie widerspiegelt. 44 KoreAnA Herbst 2016
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1 Three Children with Fish (1950er Jahre). Öl auf Papier, 27 x 36,4 cm. 2 Bulle (1953-54). Öl auf Papier, 32,3 x 49,5 cm In der Bulle-Serie von Lee Jung-seob wird dieses Werk oft als das beeindruckendste bewertet.
1953/54, ein Ölgemälde, das in einer Art Nahaufnahme einen rötlich-gelben, brüllenden Bullen vor einem roten Sonnenuntergang zeigt. Die realistische Darstellung der riesigen Augen, des beim Brüllen weit aufgerissenen Mauls und der tiefen Falten an den eingefallenen Seitenpartien des Kopfes sind überwältigend. Choi Yeol erklärt die Bedeutung des Bullen wie folgt: „Lee, der in seinen jungen Jahren ein wohlhabender, nach dem Fantastischen und Mystischen suchender Purist war, wurde durch den Krieg zu einem Künstler mit einem realistischen Verständnis der Welt und des Geistes seiner Zeit. Sein Humanismus, der gegen Massentötung, Unmoral und Armut gerichtet war, war doch der
menschliche Wert, der in der damaligen Realität allen vorangestellt werden sollte. Lee entdeckte diesen Wert in seiner Welt und der Familie. Entsprechend war seine Bull -Serie aus den 1950ern ein Produkt der Zeit, das sich aus der Schnittstelle zwischen Nation und Familie ergab.“
Die Legende geht weiter Lee Jung-seob fand am 6. September 1956 im Rotkreuz-Krankenhaus im Seouler Stadtviertel Seodaemun einen einsamen Tod. Der Leichnam des Malers, der im Krankenhaus als „ohne Angehörige“ registriert war, wurde erst vier Tage später von einem Freund, der ihn besuchen wollte, mitgenommen. Im Gegensatz zum einsamen Ende seines tragischen Lebens waren die Ausstellungen seiner Werke stets ein Erfolg und äußerst gut besucht. Die Sonderausstellung zu seinem 30. Todestag, die im Juni 1986 im Ho-Am Kunstmuseum in
Seoul eröffnet wurde, musste aufgrund der nicht enden wollenden Besucherströme verlängert werden und lockte an die hunderttausend Interessierte an. Auch die im Januar 1999 eröffnete Sonderausstellung in der Gallery Hyundai in Seoul erfreute sich ähnlich hoher Besucherzahlen. Der Dichter Ku Sang (1919-2004), der Lee stets als guter Freund durchs Leben begleitet hatte, gedachte des Künstlers mit folgenden Worten: „Ich kenne keinen anderen Künstler, bei dem Kunst und Mensch, Kunst und Wahrheit dermaßen deckungsgleich waren. Lee behandelte alle Menschen in seiner Umgebung ohne Unterschied mit warmherziger Menschlichkeit. Aber auch alles andere Leben, seien es nun Tiere wie Vögel und Fische oder Pflanzen wie Bäume und Gras, überschüttete er mit tiefer Herzlichkeit und hielt ihr harmonisches Miteinander mit frischen, energischen Pinselstrichen fest.“ KoreAnisCHe KuLtur und Kunst 45
HÜTER DES TRADITIONELLEN ERBES
AN DER SANDAM ÜBER DIE EWIGKEIT SINNIEREN Heo young-sun Dichterin, Direktor, Jeju 4.3 Research Institute Fotos Ahn Hong-beom
Auf der vulkaninsel Jeju-do mit ihrem reichen Gesteinsvorkommen repräsentieren die als „Sandam“ bekannten Steinmauern um die traditionellen Hügelgrabstätten eine einzigartige Kultur für die verstorbenen, während die Hofmauern „Jipdam“ und die Feldgrenzmauern „Batdam“ Teil der Kultur für die Lebenden sind. Doch die traditionellen Sandam, die wie „Land Art“ einst über alle Hügel verstreut waren, werden im Zuge der Entwicklung immer häufiger beschädigt oder verschwinden gar. Das ist auch der Grund, warum Kim yu-jeong, Leiter des Jeju Kulturforschungszentrums, sich um die systematische Erforschung und Bewahrung der Sandam-Kultur bemüht. 46 KoreAnA Herbst 2016
ie strömende Lava hat eine Insel aus Stein geboren: Jeju-do, die „Insel des Feuers“, bedeckt mit Feldern aus unzähligen Schichten von Stein. Der Stein, der das Leben der Inselbewohner hart gemacht hat, hat auch ihre Kultur geprägt. Die Batdam-Feldgrenzmauern mäandrieren wellenartig durch die Landschaft. Die Oreum-Flankenvulkane gleichen die Hänge herunterfließenden Wasserläufen. Zwischen den Hanglinien der Oreum und den Batdam-Feldgrenzmauern sind Grabhügel mit Sandam-Grabstättenmauern zu sehen. Betrachten wir das einmal aus der Vogelperspektive: Die Sandam-Mauern, im Frühling geschmückt von einem Meer gelber Rapsblüten am Fuße des Berges Halla-san. Die einsamen Grabhügel im Winter mit dem perfekten Kontrast zwischen dem groben, schwarzen Basaltgestein und dem weißen Schnee. Was für eine beeindruckende „Land Art“! Welch Inbegriff der Jeju-eigenen Ästhetik! Jeder, der geboren wird, muss einmal sterben. Die Sandam sind eine Art steinerne Grenze zwischen Leben und Tod. Ein Zeit und Raum transzendierender Platz zum Ausruhen für Natur und Mensch, für Lebende und Tote. Sie sind Tugend der Bescheidenheit, die die Begrenztheit des menschlichen Daseins zum Ausdruck bringt. Sie sind Stein auf Stein gesetzte Liebe und Fürsorge für die Toten. Wo gibt es schon ein Leben, das nicht auf einem hartem Stein steht?
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Der Trost der Sandam Kim Yu-jeong bezeichnet die Sandam als „Zaun für die menschliche Seele“. Er erklärt: „Schauen Sie sich einmal die Scharen von Sandam an, die sich wie fließendes Dämmerlicht über die ganze Insel legen. Wie gigantisch sie sind! Die quadratischen Pyramiden der ägyptischen Pharaone stoßen ihre Energie gen Himmel aus. Als gigantische, himmelwärts strebende Einzelmonumente sind sie von beeindruckender Imposanz und gelten als großartigste Grabstätten der Welt. Doch richtet man den Blick einmal auf Jeju-do, stellt man fest, dass der Berg Halla-san an sich eine gigantische Pyramide ist.“ Schon 20 Jahre lang hat Kim die Steine-fokussierte Bestattungskultur der Jeju-Inselbewohner mit seinen Fotos dokumentiert. Er analysierte sie unter ästhetischen, naturwissenschaftlichen und historischen Aspekten und veröffentlichte die Ergebnisse in Buchform, darunter Schöne koreanische Bildhauerarbeiten: Kinderstatuen an Grabstätten; Die Sandam-Grabstättenmauern von Jeju-do; Die Hofbeamtenstatuen vor den Königsgräbern. Kim liebt seine einsame, melancholische Arbeit. Warum machte er sich auf die Suche nach diesen „Zäunen für die Toten“? Welche Werte entdeckte er dabei? Es war das Schicksal, das Kim auf diesen Weg führte. Schon als Junge, dessen Maltalent sich früh offenbarte, fürchtete er den Tod nicht. Sein Heimatort Moseulpo ist ein Hafenstädtchen mit vom Meer geprägten volkstümlichen Sitten und Bräuchen und gezeichnet von den Wunden der modernen Geschichte. Während der japanischen Besatzungszeit wurden hier für die Kaiserliche Japanische Armee ein Flugzeughangar und ein Flugfeld gebaut. Und nach der Befreiung war der Ort Schauplatz des durch den Ideologiekonflikt zwischen Linken und Rechten verursachten Jeju-Aufstands, der mit dem Massaker vom 3. April 1948 endete und zu den größten Tragödien des Landes zählt. Zehntausende verloren das Leben, Kinder wurden zu Waisen, Obdachlose starben in den Straßen. Kim wollte diese Orte des Todes unbedingt mit eigenen Augen sehen. Schon mit 14 war er mit dem Tod in Berührung gekommen: Er war einer der Totenbahrenträger, als ein Junge im Viertel starb.
Der von Jeju-do stammende Kunstkritiker Kim Yu-jeong studiert die sog. Sandam, die um Grabstätten angelegten Mauern wie z.B. die Doppelmauer, auf der er hier sitzt. Sie umgibt eine Grabstätte in Jocheon-myeon im Kreis Nord-Jeju.
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1 Die aus dem heimischen Basaltstein gehauenen Kinderstatuen, die an den Gräbern Wache stehen, sind nur auf der Vulkaninsel Jeju-do zu finden. 2 In Jocheon-myeon, Kreis Nord-Jeju, weiden Pferde an einer um eine Grabstätte errichtete Mauer.
Es war seine Großmutter, die ihn in die Welt der Sandam führte. Als sie, die ihren ältesten Enkelsohn abgöttisch liebte, starb, half er nicht bei der Trauerfeier, sondern dokumentierte mit der Olympus-Kamera im Haus die gesamten siebentätigen Trauerfeierlichkeiten. Es war 1981, er war 18 Jahre alt. Danach vergaß er das alles für eine Weile. Im Frühling seines 36. Lebensjahres, als er als professioneller Kulturaktivist arbeitete, fühlte er sich von Menschen in seinem Umfeld so stark verletzt, dass er sich eines Tages eine Lunchbox packte und in die Berge ging. Auf einer Sandam im Schatten sitzend, opferte er nach altem Gosurae-Volksritual zum Verbannen von Unheil von dem mitgebrachten Reiswein und sprach: „Wie flüchtig das Leben doch ist. Warum habe ich mich so aufgeregt? Derjenige, der dort ruht, wird in seinem Leben wohl auch so manche Freude und Trauer gehabt haben.“ Als er so trinkend auf der Sandam-Mauer saß und und diesen „steinernen Zaun für eine menschliche Seele“ betrachtete, fühlte er sich unversehens getröstet. Ihm wurde warm ums Herz und er sah den Weg, den er gehen sollte, vor sich. Diesen Moment auf der Grabmauer, als ihm ein Stromschlag durchs Herz zu fahren schien, sollte er nie vergessen. „Nach dem Regen trieb der Wind Nebelschwaden durchs feuchte Schilfgras, das rhythmisch zu rauschen begann. Bevor ich michs versah, kamen mir die Tränen“, erinnert er sich. Zu der Zeit war eins der Themen in der koreanischen Gesellschaft die Frage der „Koreanischheit“ in der Kunst. Auch Kim dachte intensiv darüber nach, was traditionelle Kunst ausmacht. Er fand die Urform der traditionellen Kunst, nach der er gesucht hatte, in den Sandam-Mauern und der gestalterischen Ästhetik der schlichten, steinernen Kinderstatuen Dongjaseok in der Grabstätte. Darin entdeckte er die hingebungsvollen Bemühungen der koreanischen Menschen, trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten schöne Ruhestätten für die toten Seelen ihrer Vorfahren zu schaffen, mochte ihr Leben auch sonst noch so mühevoll sein. Sein Herz begann, schneller zu schlagen. Kaum hatte er morgens die Augen aufgeschlagen, ging er in die Berge. Bei seinen Forschungen traf er viele Steinmetze, von denen er viel lernte. Es dauerte nicht lange, und die Steinmetze begannen ihn von sich aus zu kontaktieren und über interessante Grabstätten zu informieren. Er eilte dann dorthin, maß die Sandam-Mauern eine nach der anderen aus und fertigte von den inneren und äußeren Strukturen Zeichnungen an, um dann das Datenmaterial nach Formen zu klassifizieren und zu analysieren. Nach solch langjährigen Forschungen besitzt Kim jetzt genügend handwerkliche Fertigkeit, um selbst eine Sandam zu errichten.
Grabstätten in Feldnähe Eines Tages, als der Monsunregen die Wälder auf den Hügeln von Jejudo durchnässt hatte, folgte ich Kim Yu-jeong in die Berge. Die Hügel-
In den Sandam entdeckte er die hingebungsvollen Bemühungen der koreanischen Menschen, trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten schöne Ruhestätten für die toten Seelen ihrer Vorfahren zu schaffen, mochte ihr Leben auch sonst noch so mühevoll sein. 48 KoreAnA Herbst 2016
spitze in dem an einem Hang des Hallasan-Bergs gelegenen Dorfes Gyorae-ri schillerte grünlich. Im nassen Wald war es still. Ich fragte mich, wo in diesem Gebüsch wohl ein Grab sein möge, doch Kim schritt entschlossen voran. Die Grabstätte war völlig von Unkraut überwuchert. Kim erklärte, dass er es beim Vorbeigehen im Gefühl gehabt hätte, dass hier eine Grabstätte sein müsse. War er jetzt ein halber Schamane geworden? Er erzählte, dass ihn beim Herumwandern auf verlassenen Waldwegen urplötzlich die Intuition packe und er eine Sandam finde. Die viereckige Mauer, die sich auf abschüssigem Gelände befand, war mit Treppenstufen ausgestattet, die Kim vorsichtig hinunterstieg, um über die Steinmauer steigend die Grabstätte zu betreten. Als er den hoch wuchernden Adlerfarn zur Seite schob, kam eine Dongjaseok-Kinderstatue zum Vorschein, deren runde Augen mit Moos bedeckt waren. Rechts und links des Grabhügels standen jeweils zwei Dongjaseok-Statuen, die der verstorbenen Seele als Freund und Diener zur Seite standen. Der von Wind und Regen verwitterte Grabstein verriet, dass der Verstorbene Kim hieß und vor ca. 140 Jahren mit 49 verstorben war. Der Eingang der Sandam war nach Osten gerichtet. Ob der Verstorbene wohl auch gerade dem sanften Rauschen der Kiefern und des Regens lauschte? Kim erklärte: „Die Formen von Grabstätten und Sandam sind recht verschieden, aber hier haben wir es mit einer sehr typischen Form
mit voller Ausstattung zu tun: Kinderstatuen, Hofbeamtenstatuen, oktagonale Grabstätten-Markierungssäulen und ein Altar für den Erdgott. Das steil abfallende Gelände wurde mit Steintreppen versehen, um dem Verstorbenen einen weiten Ausblick zu geben. Hinten die Berge, vorne das Wasser: Er hat einen freien Blick nach vorn und das Wasser kann gut abfließen.“ Die Grabstätte war von einer Doppel-Sandam eingeschlossen. Während eine Einzel-Sandam eher als eine symbolische Begrenzung dient, wird bei einer Doppel-Sandam der Zwischenraum zwischen den Mauern mit Kieselsteinen gefüllt, um die Grabstätte besser vor Kühen oder Pferden zu schützen. Bei Doppelwand-Sandam gibt es auch diverse Formen wie Rechteck, gleichschenkliges Trapez, etc. Neben der Kim-Grabstätte zog eine andere, imposante Sandam meinen Blick auf sich. Dort lagen die Zwillingshügel für einen Mann namens Bu und dessen Frau nebeneinander. Diese Sandam hatte sogar eine Olle-Pforte für die Seelen. Ein Paar koreanische Gartenhortensien reckte seine bläulich-lilafarbenen, wasserbenetzten Köpfe aus den Steinritzen, als ob sie um den Tod des Ehepaares trauern würden. „Die Trauerkultur ist eine Art tragisches Fest für die Lebenden, geboren aus ihren herzinnigsten Wünschen“, bemerkte Kim. Früher waren die Sandam nichts weiter als Mauern, die man um eine Grabstätte zog, um sie vor Kühen und Pferden zu schützen.
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Die in ihren steinernen Einfriedungen geborgen liegenden Hügelgräber von Jeju-do schaffen mit ihren Mauern herrliche Muster, die in die sanft gewellte Landschaft gemeißelt zu sein scheinen.
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Doch mit der Zeit wurde sie zu einer Art Gedenkmal für die Verstorbenen, das auch etwas über den Status der Familie aussagte. Läuft man durch die Fluren von Jeju-do, stößt man überall auf Sandam, von kleinen, schäbigen bis hin zu großen, imposanten. Kim erklärt: „Grabstätten auf landwirtschaftlicher Nutzfläche anzulegen, ist ein Brauch, der auf dem Festland nicht zu finden ist. Wenn die Gräber nahe bei den Feldern liegen, kann man sich bei der Arbeit leicht mal um sie kümmern. Die Sandam-geschützten Grabstätten der Vorfahren an einem Ende des Feldes zu haben, ist auch eine Art Versicherung für die eigene Zukunft. Bei den Grabstätten auf dem Festalnd steht der Grabhügel im Mittelpunkt, doch bei denen auf Jejudo sind Grabhügel und Grabstattmauer unzertrennliche Teile der letzten Ruhestätte.“
Kinderstatuen namenloser Steinmetze Die namenlosen Steinmetze, die Kim bei seinen Feldforschungen traf, waren bei der Arbeit seine Lehrer, die Dongjaseok-Kinderstatuen unterschiedlichsten Aussehens schufen: Runde Gesichter und Augen, der unschuldige Ausdruck der Trauben-ähnlichen Augen, Baumblätter-große Hände, die den Körper umschlingen, Meersalz-gesättigte Steingesichter, die Gesichter ausdrucksvoll, als ob sie zu Leben erwachen wollten, die stark betonten Nasen, die lächelnden Lippen, die disproportional klein wirkenden Handflächen, das zum traditionellen Zopf geflochtene Haar, die rasierten Köpfe usw. All diese unterschiedlich aussehenden Jungen- und Mädchenfiguren verschwinden langsam. Kim Yu-jeong weiß um die Schmerzen und den Fleiß, die es Generationen unbekannter Steinmetze gekostet hat, dem Vulkangestein Leben einzuhauchen, und betrachtet es als Segen, dass auf den Feldern und Bergen von Jeju-do immer noch solche Steinskulpturen zu finden sind. Er sagt: „Die Schönheit der Dongjaseok lässt sich kategorisieren in intensive Lebendigkeit, Naivität, Schönheit des regionalspezifischen Basalt-Natursteins, Humor, Losbrechen vom Gewohnten. Gewagte Auslassungen einzelner Elemente lassen eine modern anmutende gestalterische Ästhetik erkennen, und das Material, der Basaltstein von Jeju-do, bietet unendliches Potential für abstrakte Ästhetik. Bei diesen Statuen hat das Material die Form bestimmt.“ Doch schon seit geraumer Zeit werden die Statuen von Grabräubern beschädigt und von der Insel geschmuggelt, was äußerst bedauernswert ist. Es passierte sogar schon mal, dass Kim auf einer Ausstellung eine ihm bekannt vorkommende Dongjaseok entdeckte und an die Grabstätte zurückbringen ließ. Er konnte den wahren Sachverhalt beweisen, weil er immer alle Statuen mit Fotos und Abmessungen registriert.
©Sou Je-chel
Bewahrung der Sandam Für Kim war eine Grabstätte am Donggeomi-Flankenvulkan Inbegriff der Sandam-Ästhetik von Jeju-do, aber die Sandam-Mauern, die sich inmitten einer atemberaubenden Landschaft befanden, wurden von weidenden Pferden und Kühen zerstört. Derzeit kommen auch moderne Sandam, bei denen man dem Basaltstein Zement zufügt, auf den Markt, und die Nachfrage nach flachen Gräbern oder Urnengräbern steigt. Früher ein absolutes Tabu, werden die steinernen Skulpturen heute sogar ausgegraben und als Gartendekoration verwendet. „Die Sandam sind von zentraler Bedeutung für die Bewahrung der Einzigartigkeit der ursprünglichen Landschaft von Jeju-do. Bevor diese noch weiter verloren gehen, müssen wir wenigstens einige, in Bezug auf Form und Zeitalter repräsentative Stücke zum Kulturerbe erklären und schützen. Es ist gut möglich, dass sie sonst in zehn Jahren alle verschwunden sind“, betont Kim. Die Grabstätten-Mauern von Jeju-do erzählen von der mühsamen Arbeit der namenlosen Steinmetze, die die Basaltsteine auf dem Rücken transportierten und sorgfältig Stein für Stein aufeinander setzten, und das für nur einen Acht-Kilo-Sack Gerste. Die Mauern atmen den Schmerz von Abertausend Abschieden der Lebenden von den Toten. Diesseits und Jenseits liegen nahe beieinander. KoreAnisCHe KuLtur und Kunst 51
VerlieBt in korea
DaRcy Paquet FAHNENTRäGER DES KOREANISCHEN INDEPENDENT-Films
kim hyun-sook Leiterin von K-MovieLove
©FILM Pas Mal
Filmkritiker darcy paquet hat in diesem Jahr zum dritten mal in Folge die von ihm ins leben gerufenen Wildflower Film awards korea organisiert. die awards, bei denen die koreanischen indie-Filme mit Wildblumen, die selbst „auf kargem Boden üppig aufblühen“ verglichen werden, demonstrieren, dass paquet einen konkreten Weg gefunden hat, seine zwanzig Jahre währende leidenschaft für den koreanischen Film bedeutungsvolle Früchte tragen zu lassen. 52 KoreAnA Herbst 2016
ir trafen uns an einem regnerischen Juni-Nachmittag am Ausgang einer U-Bahnstation im nördlichen Teil des Seouler Altstadtbereichs. Darcy Paquet hielt einen Regenschirm mit der Aufschrift „Waiting for the Snow“ in der Hand. Er hatte gerade im Indie Space, einem auf Independent-Filme spezialisierten Kino in der Nähe, den gleichnamigen Film gesehen und den Regenschirm als Werbegeschenk erhalten. Er führte mich durch das Gewirr enger Gassen zu einem Café mit einem traditionellen koreanischen Eingangstor und einem kleinen Garten. Da seine Stimme leise und seine koreanische Aussprache nicht perfekt war, saßen wir bei der Unterhaltung so nahe beisammen, dass sich unsere Nasenpitzen fast berührt hätten.
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Die dritten Wildflower Film awards Ich fragte Paquet zunächst nach dem Film, den er sich angeschaut hatte. „Ich mochte den ersten Film von Regisseur Jang Hee-chul Beautiful Miss Jin. Deswegen hatte ich mir seinen Namen gemerkt und mir den Film am heutigen letzten Spieltag angeschaut. Aber ich war der einzige Zuschauer. Wahrscheinlich haben weniger als tausend Leute den Film gesehen. Bei 30.000 Besuchern hätte man die Produktionskosten einspielen und den Mitarbeitern einen Bonus zahlen können. Ich finde es schade, dass die Leute nur in die Blockbuster-Vorstellungen strömen.“ Wir kamen automatisch auf die Wildflower Film Awards zu sprechen, deren Direktor Paquet ist. Sie wurden im Frühling 2014 ins Leben gerufen, um die mit niedrigem Budget produzierten Independent-Filme zu fördern. Im April 2016 fand die dritte Preisvergabe statt. Mit dem Preis werden vielversprechende Filmemacher für exzellente Filme ausgezeichnet, deren Produktionskosten unterhalb einer Milliarde Won (etwa 800.000 Euro) liegen. Die Wildnis, in der die „Wildflower“ wächst, passt gut zur Kargheit, in der die Indie-Filme gedeihen müssen. „Lange habe ich an einen solchen Preis gedacht, aber ich hätte nicht gedacht, dass ich ihn auf den Weg bringen würde. Ich habe viele Indie-Filme gesehen, die als schön und kreativ bewertet wurden, aber dann einfach von der Bildfläche verschwanden. Ich dachte immer, dass sie unbedingt neu bewertet werden sollten. Wenn Preise vergeben und der Fokus auf die Preisverleihungszeremonie gerichtet würde, könnte man die Aufmerksamkeit des Publikums gezielt steuern. Als die Leute mich dann drängten, es doch selbst in die Hand zu nehmen, habe ich mir schließlich ein Herz gefasst. Aber dann hätte ich mittendrin fast aufgegeben, da die nötigen Gel-
Darcy Paquet, ein in Korea lebender Filmkritiker aus den USA, spielte in dem 2012 von Lim Sang-soo gedrehten Film The Taste of Money einen Amerikaner, der die Schwarzgeld-Übergabe von einer Chaebol-Konglomeratenfamilie an einen Politiker arrangiert.
der nicht zusammenkamen. Jetzt ist die Situation viel besser, da wir von verschiedenen Seiten wie z. B. von der Filmverleih-Firma SHOWBOX unterstützt werden.“. Die Wildflower Film Awards haben deutlich an Bekanntheit und Anerkennung gewonnen. Paquet erinnert sich, wie außer sich vor Freude er war, als ihn ein Professor anrief und erzählte, dass einige seiner Studenten der Filmwissenschaft gezielt Filme für die Wildflower Film Awards drehen wollten. Wenn mehr finanzieller Spielraum entsteht, möchte er sich als erstes gegenüber dem Töpfer Lee Ha-lin, der bisher 30 Trophäen angefertigt hat, erkenntlich zeigen.
Vom englisch-dozenten zum Filmexperten Darcy Paquet war die letzten 20 Jahre in diverse, auf den koreanischen Film bezogene Arbeiten vertieft. In meinem Umfeld gibt es viele junge Westler, die über Filme von Regisseuren wie Kim Ki-duk, Bong Joon-ho und Park Chan-wook Korea lieben lernten und schließlich hierher kamen, um hier zu leben. Sie unterrichten an Universitäten Filmkurse, stellen koreanische Filme auf ausländischen Filmfestivals vor oder produzieren selbst Filme. Und Darcy Paquet dürfte derjenige sein, mit dem das alles begann. Als Paquet 1997 zum ersten Mal nach Seoul kam, um an der Korea University Englisch zu unterrichten, bat er in seinem Bekanntenkreis um Tipps für interessante koreanische Filme. Aber alle winkten ab und meinten: „Es gibt nichts Sehenswertes.“ Wer hätte geahnt, dass damals gerade eine große Welle in der koreanischen Filmwelt heranzuschwappen begann! Paquet sah sich Filme wie The Contact, Christmas In August, Swiri, Green Fish, The Quiet Family, An Affair, Girls’ Night Out und No3 an und es war um ihn geschehen. „Es war perfektes Timing. In den fünf Jahren nach meiner Ankunft in Korea kamen massenhaft hervorragende Filme heraus, sodass man sogar von einer Renaissance des koreanischen Films sprechen könnte. Namhafte Regisseure wie Hong Sang-soo, Kim Ki-duk und Kim Ji-woon debütierten alle in der Zeit.“ Paquet, der Dostojewski und Tschechow liebte, hatte am Carleton College in Minnesota russische Literatur studiert. Anschließend wollte er an der Indiana University in Russischer Literatur promovieren, wechselte dann aber auf einen Master-Studiengang in Angewandter Linguistik. Durch die schicksalhaften Freundschaften, die er an der Graduiertenschule mit koreanischen Kommilitonen schloss, bekam er nach dem Abschluss die Gelegenheit, an der Korea University als Englisch-Dozent zu arbeiten. Ursprünglich wollte er nur kurz in Korea bleiben und danach in die Tschechische Republik ziehen. Doch dann lenkten koreanische Filme sein Schicksal in andere Bahnen. Das Korean Film Council, ein von der Regierung unterstütztes Fördergremium, hörte, dass es einen Amerikaner gebe, der koreanische Filme liebe, und beauftragte Paquet, Pressemitteilungen, PR-Material u.ä. auf Englisch zu verfassen. Das war der Beginn, der schließlich dazu führte, dass Paquet seine eigene WebseiKoreAnisCHe KuLtur und Kunst 53
te (koreanfilm.org) eröffnete und sich dadurch erstmals bewusst wurde, dass sehr viele Menschen etwas über koreanische Filme wissen wollten. „Ich habe hauptsächlich Filmkritiken geschrieben und hochgeladen. Es dauerte nicht lange, bis ich an die 30.000 Seitenaufrufe hatte. Pro Tag gab es 7.000 Seitenbesucher, v.a. im Diskussionsforum ging es hoch her.“ Dank der Webseite erhielt er die Gelegenheit, regelmäßig koreanische Filme in der US-Zeitschrift Variety und in dem britischen Magazin Screen International vorzustellen.
camp der Korea University, das seit 2009 jeden Sommer stattfindet, unterrichtet Paquet über sechs Wochen insgesamt 40 Stunden. Sein Plan für dieses Jahr ist, sich anhand von Aimless Bullet, des 1961 von Yu Hyun-mok produzierten Werks, das als Klassiker des koreanischen Films bezeichnet werden kann, mit der Theorie des Regisseurs auseinanderzusetzen. Er überlegt, in dem Kontext auch auf Meisterwerke des koreanischen Films aus den 70er und 80er Jahren wie Chil-su and Man-su zurückzublicken. Seit 2007 ist Darcy Paquet beim Internationalen Filmfestival im spanischen San Sebastián als Delegierter Koreas aktiv. Seit 2002 nimmt er auch am Udine Far East Film Festival (FEFF) in Italien als Berater oder Podiumsdiskutant teil und bemüht sich, mehr koreanische Filme vorzustellen. 2012 kuratierte er die Retrospektive koreanischer Filme aus den 70er Jahren, in deren Rahmen 10 Werke von Regisseuren wie Yu Hyun-mok, Ha Gil-jong, Im Kwontaek und Kim Ki-young gezeigt wurden. „Unter dem Titel The Darkest Decade wurden koreanische Filme vorgestellt, die unter der Militärdiktatur produziert wurden. Bei den Vorführungen gab es Erklärungen zu den gesellschaftspolitischen Umständen der Zeit wie Zensur etc. Die Filme wurden fünf Tage lang zwei Mal pro Tag gezeigt und zogen ein großes Publikum an.“
untertitelung und unterrichten Derzeit beschäftigt sich Paquet hauptschächlich damit, englischsprachige Untertitel für koreanische Filme zu verfassen, beim Internationalen Sommercamp der Korea University zu unterrichten und bei der Auswahl koreanischer Filme für die Programmgestaltung ausländischer Filmfestivals zu helfen. Schon lange verfasst er Untertitel für koreanische Filme. Bisher sind etwa 150 Filme durch seine Hände gegangen. Wegen einer Sehnenscheidenentzündung an seinem rechten Arm musste er einige Zeit pausieren, nahm die Arbeit jedoch 2014 mit Ode to My Father wieder auf. Im März dieses Jahres war er hochbeschäftigt, da The Handmaiden von Park Chan-wook und The Wailing von Na Die Kraft koreanischer Filme: das Publikum Hong-jin auf den Internationalen Filmfestspielen von Cannes präVor 20 Jahren prognostizierte Darcy Paquet, dass Filme made in Korea, einem Land in einer fernen Ecke der Welt, einmal auf der sentiert werden mussten. Weltbühne im Rampenlicht stehen würden. Doch heute sagt er Zurzeit arbeitet er an zwei Filmen von Hong Sang-soo. Einer der genau das Gegenteil: „Ehrlich gesagt, begeistern mich koreanische Filme, Right Now, Wrong Then, war bereits fertig untertitelt, aber Filme heutzutage nicht mehr so wie früher. In den letzten fünf JahHong lehnte die Untertitel mit der Begründung ab, dass Stimmung und Nuancen nicht richtig erfasst worden seien, sodass die Arbeit ren gab es keinen Film, der mich wirklich bewegt hätte. Vor einigen schließlich bei Paquet landete. Tagen habe ich mir The Wailing angeschaut und per SNS kommen„Jeder Regisseur bevorzugt einen etwas anderen Stil. Park Chantiert, dass es die beste Produktion der letzten fünf Jahre ist.“ Laut wook will z.B. alle Dialoginhalte seiner Analyse konnte Regiswiedergegeben haben, auch seur Na Hong-jin sein Talent wenn die englische Übersetfreier entfalten, da der Film in Zehn koreanische Indie-Filme, die Darcy Paquet empfiehlt Zusammenarbeit mit 20th Cenzung etwas unnatürlich klingen The World of us (2016), Regie: Yoon Ga-eun mag. Hong Sang-soo mag lietury Fox entstand. A Midsummer’s Fantasia (2015), Regie: Jang Kun-jae „In Korea ist das ganze System ber einen natürlichen und einA Girl at My Door (2014), Regie: July Jung viel zu stark und starr, sodass fachen Stil. Bei Aufträgen für 10 Minutes (2014), Regie: Lee Yong-seung ich meine Zweifel habe, ob Hong, der gut Englisch spricht, The Russian Novel (2013), Regie: Shin Yeon-shick überhaupt noch ein neuartisetzen wir uns schon mal Juvenile Offender (2012), Regie: Kang Yi-kwan zusammen und ich schlage ihm ger Film herauskommen kann. The Winter of That year Was Warm (2012), Regie: David Cho spontan einige Übersetzungen Selbst wenn die Ideen gut sind, The Journals of Musan (2011), Regie: Park Jung-bum Daytime Drinking (2008), Regie: Noh Young-seok vor, von denen er dann die trefwird der Film erst gar nicht Sundays in August (2005), Regie: Lee Jin-woo produziert, wenn er nicht nach fendste Version auswählt.“ Kassenschlager riecht. Alle Beim Internationalen Sommer-
„Korea verfügt über eine enorme Kraft, die ihresgleichen sucht: das Publikum. In keinem anderen Land gibt es einen so hohen Anteil an Inlandsproduktionen auf dem Markt wie in Korea. 54 KoreAnA Herbst 2016
Filme werden nach dem gleichen Strickmuster gedreht, sodass die kommerziellen Filme von heute alle ähnlich und langweilig sind.“ Doch Paquet erwähnte nicht direkt das Problem des sog. Bildschirm-Monopols von Großunternehmen, das größte Streitthema in koreanischen Filmkreisen. Das lag zum einen wohl an dem ihm eigenen Charakterzug der Vorsicht, zum anderen aber wohl auch an der Besorgnis, Sponsoren für die Wildflower Film Awards zu verprellen. Seine Meinung, dass nur Indie-Filme ein Ausweg für den koreanischen Film sein können, schien unerschütterlich. In Korea werden künstlerisch hochwertige Filme als Flops bewertet, wenn sie die Investitionskosten nicht einspielen können. Daher haben die Regisseure, die keinen Kassenschlager produzieren konnten, größere Schwierigkeiten, Unterstützung für ihr nächstes Projekt zu finden. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, schuf Paquet die Wildflower Film Awards. Die preisgekrönten Filmemacher werden zumindest die Chance haben, an ihrem nächsten Werk arbeiten zu können. „Es gibt wohl in jedem Land auf der Welt Probleme in den Filmkreisen. Korea verfügt jedoch über eine enorme Kraft, die ihresgleichen sucht: das Publikum. In keinem anderen Land gibt es einen so hohen Anteil an Inlandsproduktionen auf dem Markt wie in Korea. Ich bitte Sie, sich mit geringem Budget produzierte Indie-Filme anzuschauen. Sie werden sehen, wie originär und künstlerisch erfrischend diese Filme sind.“
Frau und Kinder In seinem zweiten Jahr in Korea lernte Darcy Paquet Yeon Hyeon-sook kennen, die er vor der Hochzeit drei Jahre lang traf. Das Ehepaar hat zwei Söhne, die eine öffentliche Schule in Mia-
dong, einem der älteren Stadtbezirke Seouls, besuchen. Der Ältere wird im nächsten Jahr zu seinen Großeltern in die USA gehen, um dort die Schule zu besuchen. Als sie miteinander gingen, sahen sich Paquet und seine Frau viele Filme zusammen an und übersetzten auch gemeinsam den Film Memories of Murder. Doch seine Frau, die mit der Erziehung zweier Kinder alle Hände voll zu tun hat, hat das Interesse am Film verloren. „Das Wichtigste in einer Beziehung zwischen Mann und Frau ist, nach der Heirat die Unterschiede, die zwischen ihnen bestehen, zu akzeptieren und zu verstehen. Auch Menschen, die in derselben Nachbarschaft geboren und aufgewachsen sind, sind verschieden. Wie verschieden müssen dann wir beide sein? Es hat mit uns wohl bisher so gut geklappt, weil wir das von Anfang an immer bedacht haben.“ Dass Paquet sich viele koreanische Filme angesehen hat, hat sicher dazu beigetragen, Korea, die koreanische Kultur und die koreanischen Frauen besser zu verstehen. In sieben Filmen ist er auch als SchauDarcy Paquet, Direktor spieler aufgetreten, darunter in Almost der Wildflower Film Awards, posiert in Che , und The Taste of Money . Da er Spaß Anschluss an die am 7. daran hat, ein Gefühl für den Schauplatz zu April 2016 abgehaltene bekommen und mit der Crew zusammen3. Preisverleihungszeremonie zusammen zuarbeiten, nimmt er die meisten Filmanmit Oh Dong-jin (ganz gebote an. Eines Tages möchte er zusamrechts), Filmkritiker men mit einem koreanischen Drehbuchauund Vorsitzender des Awards-Lenkungsaustor eine Vorlage für einen Film über koreschusses, sowie mit anische Politik schreiben, am liebsten mit Awards-Unterstützern für die Kamera. Fokus auf den Wahlen.
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uNTERWEGS
Fliegende Gummischuhe des Friedens , eine Kunstinstallation auf dem den Fluss Imjin-gang in Paju entlangführenden DMZ Öko-Museum-Trail, nutzt den mit Stacheldraht bewehrten Maschendrahtzaun entlang der Zivilen Kontrollzone als „Ausstellungsraum“. Die Sehnsucht der Menschen, einen Fuß auf nordkoreanischen Boden setzen zu dürfen, kommt in den Blumen in den Hunderten, in Richtung Norden gerichteten Schuhen, die in den Zaunmaschen stecken, zum Ausdruck. Die gemeinsam von Seong Yeon-gwi und Yang Si-hoon geschaffene Installation wurde bei einem 2010 abgehaltenen Hochschulwettbewerb als herausragend bewertet.
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Schreiben Sie viele gute gedichte, biS zum tag der Wiedervereinigung gwak Jae-gu Dichter Fotos ahn hong-beom
Der Fluss Imjin-gang entspringt in den Bergen in der mittelöstlichen Region der koreanischen Halbinsel, fließt von dort 244 km in südwestliche richtung durch die südlichen grenzgebiete nordkoreas, um dann entlang der demilitarisierten Zone nach südkorea zu fließen, wo er seinen lauf mit dem han-gang vereint, um schließlich im Westmeer zu münden. die Fähranlegestelle imjin-naru in paju, provinz gyeonggi-do, war vor der teilung koreas ein strategischer knotenpunkt des Binnentransportverkehrs.
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er Wind ist schwanger vom schweren Duft der Wildblumen. Mit zwei alten Freunden laufe ich am Flussufer entlang. Anfang der 1970er Jahre besuchten wir die gleiche Oberschule, betrachteten das Leben mit den gleichen Augen, d.h. durch die Brille der Poesie: Wir alle schrieben Gedichte. Noch heute ist es mir schleierhaft, wie alle drei von uns im Alter von 17 oder 18 dazu kamen, Gedichtschreiben als Lebensaufgabe und berufliche Beschäftigung anzunehmen.
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„Das ist kein Gedicht!“ In der Oberschulzeit trafen wir uns zweimal pro Woche, um über Poesie zu diskutieren. Einmal sprachen wir über die Neuveröffentlichungen etablierter Dichter, ein anderes Mal waren es unsere Eigenproduktionen, die wir diskutierten. Damals machten wir seltsame Erfahrungen: Die Gedichte aus unserer Feder wirkten auf uns viel schöner als die, die die anerkannten Dichter in den literarischen Zeitschriften veröffentlichten. Die Diskussionen wurden nichtsdestoweniger hitziger, wenn wir über unsere eigenen Gedich-
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te sprachen. Wenn wir unsere eigenen Werke gegenseitig analysierten, kam uns fast automatisch über die Lippen: „Das ist doch kein Gedicht!“ Egal, wie schön oder tiefgründig-geheimnisvoll ein Gedicht sein mochte, das war immer das Standardurteil. Eines Tages las einer der Freunde sein jüngstes Werk vor. An diesem Gedicht hatte er mit mehr Leidenschaft als jemals sonst gearbeitet. Aber ich sagte zu ihm: „Das ist doch kein Gedicht! Schrecklich! Es stinkt nach Althergebrachtem. Sag mir, wieso das ein Gedicht sein soll!“ Er stöberte in seiner Schultasche, die neben ihm lag, herum. Was er schließlich herauszog, war ein Militärmesser. Am Abend vor unserem Diskussionstag, nachdem er Leib und Seele in dieses Gedicht hatte fließen lassen, hatte er sich das Messer auf einem Markt in der Stadt Gwangju besorgt und sich somit seiner Meinung nach bestens auf die Diskussion vorbereitet. Er hatte sich geschworen:„Wenn es jemanden geben sollte, der zu behaupten wagt, dass sei kein Gedicht, kündige ich ihm die Freundschaft auf!“ Wir sprangen auf und flohen aus dem Klassenzimmer. Das Militär-
2 1 Der Militärpatrouillen-Weg, der seit 1971 für Zivilisten gesperrt war, wurde in einen die Ufer des Imjin-gang entlang führenden Öko-Trail verwandelt und erstmals seit 45 Jahren der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht. Jeder, der im Voraus bucht, kann im Rahmen der festgelegten Zeit unter sachkundiger Führung einen Blick auf die hinter den Stacheldraht-bewehrten Zäunen verborgenen Landschaften werfen. 2 Im Joseon-Reich war die Fähranlegestelle Imjin-naru eine wichtige Haltestation auf dem Weg von der Hauptstadt Hanyang (Seoul) nach Uiju am Fluss Amnok (Yalu) weit im Norden an der Grenze zu China. Heute ist es ein gottverlassener Ort in der Zivilen Kontrollzone, an dem nur ab und zu einige Fischerboote aus der Gegend anlegen. 3 Von der obersten Plattform des 7 km südlich von der Militärischen Demarkationslinie gelegenen Observatoriums im Imjingak Park in Paju sind die über den Imjin-gang führende Brücke der Freiheit, die Nord- und Südkorea verbindet, sowie die Berge und Felder in Nordkorea zu sehen. Imjingak ist 53km von Seoul und 22km von Gaeseong entfernt.
messer schwingend, rannte er uns hinterher. Beim Anblick von rennenden Schülern, die von einem anderen mit gezücktem Messer bedroht wurden, informierte ein Passant die Polizei, sodass wir schließlich auf der Polizeiwache landeten. Ein Polizist fragte meinen Freund: „Warum sind Sie Ihren Freunden mit einem Militärmesser hinterhergejagt?“ „Sie haben gesagt, dass mein Gedicht kein Gedicht sei.“ Der Polizist verstand die Antwort nicht und fragte erneut: „Warum haben Sie sie mit einem Messer in der Hand verfolgt?“ „Sie haben gesagt, dass mein Gedicht kein Gedicht sei, sondern Müll.“ Der Polizist schüttelte den Kopf. In dem Moment erschien unser Beratungslehrer. Der Polizist zeigte ihm das Protokoll, das er gerade geschrieben hatte, und sagte: „Der Junge behauptet, dass er seine Freunde mit dem Messer in der Hand verfolgt hat, weil sie sagten, sein Gedicht sei kein Gedicht. Glauben Sie, dass das Sinn macht?“ Der Lehrer las das Protokoll langsam durch und antwortete kurz: „Ja, das macht Sinn.“ Wir wurden unter der Bürgschaft unseres Lehrers mit einer Verwarnung freigelassen. Und wir schrieben bis zum Schulabschluss weiter Gedichte.
Der herzzerreißende Weg am Flussufer Jetzt laufe ich gemeinsam mit diesen Freunden am Fluss entlang. Mehr als vierzig Jahre sind wie im Fluge vergangen. Die Zeit machte einen der Freunde zum Arzt, der andere Freund und ich geben an der Hochschule Veranstaltungen über Dichtkunst. Wenn man überlegt, welche Qualitäten einen Menschen zum guten Dichter machen, so könnte der Arztfreund als bester Dichter von uns dreien gelten. Vor zwei Jahren ereignete sich eine Tragödie im Meer vor Korea. Die Fähre Sewolho sank, 304 Menschen verloren ihr Leben. 250 davon waren Oberschüler auf Klassenfahrt. Unser Arztfreund schrieb Abend für Abend ein Gedicht, eins für jede der toten Seelen, 304 insgesamt. Wenn er nach der Arbeit aus der Praxis nach Hause kam, schrieb er im Kampf mit der absoluten Trauer bis tief in die
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Weiße Gummischuhe sind auf dem mit Stacheldraht bewehrten Mashendrahtzaun arrangiert. Es müssen Hunderte von Paaren sein. Im jedem Schuh steckt eine frisch erblühte Wildblume. Die Schuhe stehen für den Herzenswunsch der Menschen, einen Fuß auf nordkoreanische Erde, das ihnen verbotene Land, setzen zu dürfen. Nacht Gedichte. Sie werden in diesem Herbst veröffentlicht. Der andere Freund brachte 1986 Imjingang (Der Fluss Imjin-gang), eine Sammlung epischer Gedichte, heraus. Sie erzählen die Geschichte von Kim Nak-jung, eines jungen Mannes in seinen Zwanzigern, der im Juni 1955 über den Imjin-gang nach Nordkorea ging, aber im Juni des folgenden Jahres wieder zurückkehrte. 1954, ein Jahr nach Ende des Koreakriegs, legte Kim Nak-jung einen Plan für die Wiedervereinigung vor, den sog. Entwurf für eine unabhängige Gemeinschaft von Jugendlichen für die Wiedervereinigung . Dieser Entwurf beinhaltete, dass Jugendliche unter 20 ein Gemeinwesen gründen sollten, in der es keine staatsbürgerliche Zugehörigkeit zu Süd- bzw. Nordkorea gebe. Damit dieses Gemeinwesen autonom geführt werden könne, sollte es von beiden Koreas unterstützt werden. Die Regierung Lee Seung-man im Süden verwarf den Vorschlag als unrealistisch und romantisch und erklärte Kim zum Geisteskranken. Sein Leben riskierend überquerte Kim im Regen den Imjin-gang, um auch im Norden seinen Vorschlag zu unterbreiten. Doch die Reaktion dort war nicht viel anders: Die nordkoreanischen Machthaber beschuldigten Kim der Spionage und schickten ihn schließlich in den Süden zurück, wo er fünf Mal zum Tode verurteilt wurde und 18 Jahre im Gefängnis saß. Das sanft fließende Wasser des Imjin-gang bewahrt diese Tragödie der Geschichte, die das Leben eines jungen Mannes durchzog. Der Weg, den wir entlanglaufen, wurde im März 2016 als „Kultur- und Ökopfad am Imjin-gang“ der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der 9,1 km lange Trail führt vom Imjingak-Pavillon bis zum Yulgok-Feuchtgebietpark. Am Straßenrand blühen Blumen, die ich nie zuvor gesehen habe. Von allen, die ich kenne, weiß mein Freund, der Imjingang herausgebracht hatte, am meisten über Pflanzennamen, was ihn zum idealen Wanderpartner für diesen Weg macht. Wir laufen auf der südlichen Seite des Stacheldrahtzauns, der die beiden Koreas trennt. Der Wind weht sanft und der Fluss, in dessen Wasser sich der Himmel spiegelt, ist blauer als blau. Nach etwa zwei Kilometern treffen wir am Grenzzaun auf eine Kunst-Installation: Hunderte von weißen Gummischuhen stecken in den Maschen des Zaunes. Und in jedem Schuh blüht eine Blume. Die Schuhe stehen für den Herzenswunsch der Menschen, einen Fuß auf nordkoreanische Erde, das ihnen
DMZ
70km
Kreis yeoncheon-gun Seoul
Kreis Yeoncheon-gun
Fluss Imjin-gang taepung-observatorium Pyeonghwa (Frieden) Feuchtgebiet Berg Gunja-san Fähranlegestelle Imjin-naru
Brücke der Freiheit, Imjingak Stadt Paju
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Die sehenswerten Orte in der Stadt Paju und im Kreis yeoncheon-gun
Faction , ein großformatiges Gemälde von Han Sung-pil am DMZ Öko-Museum-Trail, zeigt eine Szene aus der Vorstellung eines südkoreanischen Soldaten, der seine Hand einem teilnahmslos dastehenden nordkoreanischen General ausstreckt, während auf dem Schild des nordkoreanischen Grenzgebäudes Panmungak in der Joint Security Area plötzlich statt „Panmun-gak“ (Nordkoreanischer Pavillon) „Tongil-gak“ (Wiedervereinigungspavillon) zu lesen ist.
verbotene Land, setzen zu dürfen. Alle, die den Imjin-gang entlang laufen, haben wohl diesen einen Wunsch, der schmerzt und schmerzt. Am 30. Juni 1983 startete der öffentlich-rechtliche Rundfunk- und Fernsehsender KBS eine Kampagne zur Suche nach Familienmitgliedern, die von ihren Angehörigen im Zuge der Kriegswirren getrennt worden waren. Die Sendung, die bis zum 14. November 138 Tage lang über insgesamt 453 Stunden und 45 Minuten live ausgestrahlt wurde, brachte 10.189 Menschen wieder zusammen. Sie wurde 2015 in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen. Die Live-Aufnahmen sind lebendige Aufzeichnungen über eine grausame, menschengemachte Tragödie, und über den Schmerz der Liebe, die kein Werk der Literatur so ergreifend beschreiben kann.
„Nie hätte ich gedacht, das noch zu erleben!“ Im April 1999 setzten wir drei unseren Fuß auf nordkoreanischen Boden. Im November 1998 wurde das Geumgangsan-Gebirge für Touristenreisen geöffnet. Als unser Schiff im Morgengrauen im
Hafen Jangjeonhang vor Anker ging, fehlten mir die Worte. Die vor unseren Augen liegende Erde des Nordens lag in einem bräunlichen Licht. Alles, auch Berge, Schiffe und Gebäude erschienen in diesem Licht. Als wir für die Einreiseformalitäten das Zollgebäude betraten, hämmerten unsere Herzen bei dem Gedanken, wie wir die Landsleute im Norden, denen wir bald begegnen würden, begrüßen sollten. Wir überlegten uns einige Möglichkeiten, aber nichts schien passend. Zu dem Mann, der meine Einreisedokumente prüfte, sagte ich dann: „Nie hätte ich gedacht, das noch zu erleben!“ Er nickte kurz angebunden. Unsere Führerin zum Gujeongbong-Gipfel im Geumgangsan-Gebirge hatte liebliche Wangen, die leicht pfirsichfarben geschminkt schienen. Ich wollte sie gern ansprechen, erinnerte mich dann aber an die Warnung, das zu unterlassen. „Die Azaleenblüten sind so lieblich, als ob man Rouge aufgetragen hätte“, murmelte ich hinter ihrem Rücken. Sie antwortete: „Sie sind wirklich schön, nicht wahr?“ So begann unser Gespräch. Sie fragte: „Was machen Sie, Kamerad?“ „Ich schreibe Gedichte.“ Nie zuvor in meinem Leben hatte mein Herz dermaßen geklopft, wenn ich sagte, was ich beruf-
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lich machte. „Schreiben Sie viele gute Gedichte.“ Das war alles, was sie sagte. Kein Abschiedsgruß, an den ich mich erinnern kann, vermag diesen zu überbieten. Nachdem wir etwa 7 km Trailstrecke hinter uns haben, erreichen wir die Fähranlegestelle Imjin-naru. Diese Anlegestelle war in der Joseon-Zeit (1392-1910) ein wichtiger Knotenpunkt auf der Route von der Hauptstadt Hanyang (heute Seoul) nach Uiju in der Provinz Pyeongan-do an der koreanisch-chinesischen Grenze. In der Zeit der Drei Königreiche (57 v. Chr.-668 n. Chr.) trafen hier die Grenzen der drei Reiche Goguryeo, Baekje und Silla zusammen, weshalb es oft zu entscheidenden Schlachten kam. Im Koreakrieg war das Gebiet strategisch bedeutsam und wurde von den Truppen aus Nord und Süd abwechselnd erobert und aufgegeben. An der Fähranlegestelle sind rund zehn Holzboote festgemacht. Es sind Fischerboote, die die Einheimischen nutzen. Zutritt zur Anlegestelle, die von Stracheldrahtverhau umgeben und von Militärposten bewacht ist, haben nur die Anwohner. Ich hatte mir die Anlegestelle viel größer vorgestellt, da sie an einem wichtigen Punkt auf der alten Landstraße in Richtung Uiju liegt, aber es ist
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nur ein Sandstrand von der Größe eines Volleyballplatzes. Ein Fährenanleger ohne Fähre ist auch kein Fährenanleger mehr. Am Yulgok-Feuchtgebiet-Park endet der Ökopfad.
Observatorium und Peonghwa-Feuchtgebiet-ökopark Am zweiten Tag besuchen wir das Taepung-Observatorium in Yeoncheon. Es liegt am Imjin-gang, 65 km von Seoul und 140 km von Pjöngjang entfernt, und ist 264 m hoch. Erst nachdem wir uns ausgewiesen haben, dürfen wir hinein. Auf dem Gelände gibt es eine evangelische und eine katholische Kirche sowie eine buddhistische Dharma-Halle. Das Ehrenmal zum Gedenken an die jungen Panzerbrigadiere, die im Koreakrieg kämpften, fällt ins Auge. Während wir in unseren Oberschultagen über Gedichte diskutierten, drangen andere Gleichaltrige mit Panzern ins Feindgebiet ein. „Zusammengeschweißt wie Stahl rücken wir vor. / Wir sind die 57. Kompanie, die Jugend-Panzerbrigade“ – so ein Ausschnitt aus dem Lied der jungen Panzerbrigadiere, das auf dem Ehrenmal eingraviert ist. Für diese jungen, unbekannten Soldaten, die sich ohne Namen und Kennnummer opferten, legen wir eine Schweigeminute ein.
1 Ein Feld voller Wildblumen im Pyeonghwa-Feuchtgebiet-Ökopark am Imjin-gang im Kreis Yeoncheon. Die hinter dem Parkgelände zu sehende, im Mai 2016 eröffnete Galerie Yeongang, für die die Ausstellungshalle zur Sicherheit (Security Exhibition Hall) umgebaut wurde, ist die erste, innerhalb der Zivilen Kontrollzone der DMZ gelegene Kunsteinrichtung. Die Außenmauern des Gebäudes sind mit der Installation Türen des Friedens (Doors of Peace) von Han Sung-pil und Cho Sang-gi verkleidet. 2 Im Zuge der Annäherung zwischen den beiden Koreas wurde 1998 eine Seeroute ins nordkoreanische Geumgang-Gebirge eingerichtèt, 2003 wurde eine Landroute eröffnet. Das Projekt wurde jedoch 2008 ausgesetzt.
Dann bleiben wir vor dem Ehrenmal zum Gedenken an die 36.940 amerikanischen Kriegsgefallenen, die unter der UNO-Flagge kämpften, stehen. Ihren Traum von einer besseren Welt und einem erfüllten Leben mussten 36.940 Seelen am Fuße eines Berges auf der koreanischen Halbinsel begraben. Was für ein Leben sollten die, die übrig geblieben sind, führen, um das Opfer dieser Seelen zu würdigen? Wir betreten das Observatorium. Von hier sind die nordkoreanischen Wachposten zu sehen. Die Militärische Demarkationslinie, die den Süden vom Norden trennt, ist nur 800 m entfernt, die nächste nordkoreanische Grenzwache nur 1.600 m, sodass dieser Ort selbst in der DMZ an vorderster Front liegt. Die Landschaften nördlich und südlich des Imjin-gang könnten unterschiedlier nicht sein: Berge und Felder auf der nördlichen Seite sind von einem rötlichen Braun. Kein Wald, kein einziger Baum ist zu sehen. Erst als einer der Wachposten uns erklärt, dass die kahlen, breiten Flächen in Wirklichkeit nordkoreanische Maisfelder sind, wird uns klar, um was es sich handelt. Mein Herz tut weh. Wie mussten sich die Menschen fühlen, die so nah an der Grenze Mais anpflanzen? Bei klarem Wetter sollen auf dem Feld arbeitende Nordkoreaner mit bloßem Auge zu erkennen sein. Am Tag unseres Besuchs ist niemand zu sehen. Alles, was wir verschwommen durchs Teleskop sehen können, ist das nordkoreanische Dorf Ojang-dong. Auf dem Norigoji-Gipfel, der sich vor uns erhebt, sollen während des Kriegs pro Quadratmeter 4.500 Geschosse niedergegangen und den Gipfel um 5 m verkleinert haben. Wir machen uns auf zum nahe gelegenen Pyeonghwa-Ökopark, dessen Feuchtgebiete sich am Ufer des Imjin-gang befinden. In diesem künstlich angelegten Park überwintern Hunderte von Rotkronenkranichen. Das Körpergefieder dieser allgemein als „hak“ bekannten Kranichart ist reinweiß, nur die Krone weist einen karmesinroten Fleck auf. Dieser rund 10 kg schwere und 1,40 m große Vogel mit einer Flügelspannweite von 2,40 m gilt in Korea als Glücksbringer. Sein Erscheinen bedeutet, dass etwas Gutes geschehen wird. Das Beste, was den Koreanern widerfahren könnte, ist die Wiedervereinigung. Dass die Koreaner für die Rotkronenkraniche am Ufer des Imjin-gang, einem Ort mit tiefen Kriegswunden, ein Habitat eingerichtet haben und darum bitten, dass die Vögel jedes Jahr hierher zurückfinden mögen, ist eine Art Totemismus. Das Rathaus in Yeoncheon hat im Feuchtgebiet einen „Langsamen Kranich-Postkasten“ aufgestellt. Wenn jemand heute einen Brief schreibt, wird er erst in einem Jahr verschickt. Der Langsame Postkasten bringt das geduldige Warten auf die Rückkehr der Kraniche im folgenden Jahr zum Ausdruck. Vielleicht steckt dahinter aber auch die sehnsüchtige Hoffnung der Menschen, dass innerhalb des nächsten Jahres plötzlich Frieden im Lande Einzug halten möge. Ich nehme mir auch eine Postkarte. Was soll ich schreiben? Mir kommt wir der Abschiedsgruß im Geumgangsan-Gebirge in den Sinn: „Schreiben Sie viele gute Gedichte, bis zum Tag der Wiedervereinigung.“
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©Nam Dong-hwan
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RuND uM ZuTATEN
REIS
Kim Jin-young Geschäftsführer, Traveler’s Kitchen Fotos Shim Byung-woo
UND WAS MAN ALLES DARAUS MACHEN KANN Am besten schmeckt Reis im September, wenn der Reis der neuen Ernte auf den Tisch kommt. Dann ist eine Schüssel frisch gekochter Reis einer guten Sorte quasi die „Hauptattraktion“ auf einer traditionellen koreanischen Esstafel. 64 KoreAnA Herbst 2016
ährend einer langen Auslandsreise vermisst wohl jeder einmal den gewohnten Geschmack der Heimat. Mir kommen dann immer sehr schlichte Speisen in den Sinn: gut gereifter Chinakohl-Kimchi, die Sojabohnenpastensuppe Doenjangguk und eine Schüssel wohlgekochter Reis. Auf Reisen esse ich auch ab und zu lokale Reisgerichte. Aber das sind meist nur ungewöhnliche Begegnungen mit ungewohntem Reis.
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Japonica und Indica Reis lässt sich grob in die Sorten Japonica und Indica einteilen. In Korea, Japan und Teilen Chinas wird Japonica verzehrt, in den übrigen Regionen meistens Indica. Der Unterschied zwischen den beiden Sorten liegt in der Stärke-Zusammensetzung der Reiskörner. Reisstärke enthält Amylose und Amylopektin. Je höher der Amylopektin-Anteil, desto klebriger ist der Reis. Indica-Reis, der einen hohen Amylose-Anteil hat, stammt von einer großwüchsigen Reispflanze, deren Körner länglich und leicht zerbrechlich sind. Gekocht ist deren Klebrigkeitsgrad niedrig. Japonica-Reis stammt hingegen von einer kleinwüchsigeren Pflanze mit hohem Amylopektin-Gehalt, deren Körner kleiner, runder, dicker und fester sind. Gekocht sind sie deutlich klebriger. Unter den international weit verbreiteten Reisgerichten wird für das italienische Risotto, den Pilaw im Nahen Osten und den pfannengerührten Reis in Südostasien Indica verwendet, während für das koreanische Bibimbap (Reis mit verschiedenen Gemüsen gemischt) und das japanische Sushi Japonica gebräuchlich ist. Es lässt sich nicht genau sagen, seit wann Reis das Hauptnahrungsmittel der Koreaner ist. Aber anhand von wilden Reissamen, die bei Ausgrabungen prähistorischer Siedlungen gefunden wurden, lässt sich vermuten, dass auf der koreanischen Halbinsel seit der Altsteinzeit vor fünfzehntausend Jahren Reis gesammelt und verzehrt wurde. Reis: Kernbestandteil einer koreanischen Mahlzeit Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass auf dem Esstisch der Koreaner Reis die Hauptrolle spielt und Beilagen eher Nebenrollen einnehmen. Es drängt sich die Vermutung auf, dass die fermentierten Pasten und Soßen, die sog. Jang wie die rote Chilipaste Gochu-jang, die Sojabohnenpaste Doen-jang, die Sojasoße Gan-jang etc. und andere fermentierte Speisen wie Chinakohl-Kimchi und eingelegte Gemüse entwickelt wurden, um den Geschmack des Reises zu ergänzen. Erst durch die Harmonie von Haupt- und Nebenspeisen wird ein perfektes Mahl geschaffen. Frisch gekochter Reis, ein Fisch- oder Fleischgericht, dazu eine Suppe oder ein Jjigae-Eintopf, Kimchi und eingesalzene Meeresfrüchte, sowie einige weitere grundlegende Beilagen wie geröstete Seetangblätter ergeben eine üppige Mahlzeit. Ein solches Arrangement von Speisen ist als Baekban (Table d’hôte) bekannt und oft auf der Speisekarte koreanischer Restaurants zu finden. Daher empfehle ich Gästen aus dem Ausland, die unsicher bei der Wahl der Speisen in koreanischen Restaurants sind, Baekban zu bestellen. Natürlich können sie auch getrost Gerichte wie Bulgogi (in Sojasoße marinierte, gebratene Rindfleischscheiben) oder Kimchi-Jjigae-Eintopf bestellen, die sie vielleicht längst einmal probieren wollten, denn diese Hauptgerichte werden ohne Aufschlag zusammen mit den Baekban-Beilagen serviert. Auch in den 24-Stunden-Läden an der Straße – v.a. in denen in Hotelnähe – kann man den leckeren Geschmack koreanischen Reises entdecken, Stichwort „Fertigreis“. Dieser vorgekochte, steril verpackte Reis duftet nach etwa 3-minütiger Erwärmung in der Mikrowelle so aromatisch wie frisch gekochter Reis. In letzter Zeit sind Fertigreis-Produkte komplett mit Toppings und Soßen auf den Markt gekommen, sodass eine Mahlzeit mit Minimalauf-
Hauptnahrungsmittel der Koreaner ist Reis der Sorte Japonica, deren runde Körner beim Kochen aneinander kleben.
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wand zubereitet werden kann. In Gästehäusern, die mit Kochgelegenheiten ausgestattet sind, gehören solche abgepackten Fertigreisgerichte schon lange zur Grundausrüstung kostenbewusster Reisender und auch in vielen Haushalten erfreuen sie sich wegen der bequemen Zubereitung großer Beliebtheit. Zudem steigt das Exportvolumen von Fertigreisprodukten beständig.
Dekikatessen und Konfekt aus Reis Früher weichten die Mütter schnell ein, zwei Tassen Reis in Wasser ein, wenn jemand in der Familie Anzeichen von Grippe und Gliederreißen zeigte, um für den Kranken, der ein normales Gericht aus Reis und Beilagen nur schwer verdauen konnte, Reisbrei zu kochen. Dafür werden Meeresfrüchte oder Fleisch sowie Gemüse fein gehackt und zusammen mit dem aufgequollenen Reis kurzgerührt, wobei einige Tropfen Sesamöl hinzugefügt werden. Anschließend wird die Mischung unter gelegentlicher Zugabe von Wasser unter häufigem Umrühren so lange geköchelt, bis sich alle Zutaten zu einem geschmackvollen und bekömmlichen Reisbrei – „Juk“ auf Koreanisch – vermischt haben. Juk ist ein traditionelles Slow-Food-Gericht. Bei stark beeinträchtigter Verdauungsfunktion kann der Brei auch ohne Zutaten nur auf Reisbasis als sog. „Weißer Reisbrei“ zubereitet werden. Juk, ursprünglich für Kranke gedacht, ist bei den Koreanern von heute mittlerweile zu einem beliebten Health-Food geworden, da eine Portion wenig Kalorien enthält, sättigend ist und eine ausbalancierte Nährstoffzufuhr garantiert. Durch die Verwendung unterschiedlicher Zutaten verwandelt sich dieses einfache Reisbrei-Gericht quasi endlos zu gesunden, vollwertigen Mahlzeiten wie Pinienkern-Juk, Seeohren-Juk, Kimchi-Juk, Jujuben-Juk, Thunfisch-Juk usw. Die auf Juk spezialisierten Restaurants und Hersteller von Instant-Juk machen sich beständig Gedanken über neue Varianten dieses gesunden Essens. Auch das traditionelle, aus Reis hergestellte koreanische Konfekt Hangwa, das früher nur an Fest- und Feiertagen oder bei der Ahnenverehrungszeremonie serviert wurde, steht heutzutage als zu Kaffee oder Tee gereichter Snack im Rampenlicht. Ein repräsentatives Beispiel für Hangwa ist Gangjeong. Die knusprig-leichten, im Mund zerbröselnden Gangjeong sind aufwändig in der Herstellung: Fermentierter Klebreis wird zu Mehl gemahlen, das dann mit Wasser zu Teigstreifen von Länge und Umfang eines Mittelfingers verarbeitet wird. Diese Teigwürstchen werden nach dem Trocknen frittiert, wobei der Teig ähnlich wie der
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1 Weißer Reis gemischt mit roten Bohnen oder einfach geschältem braunem Reis wird heutzutage als gesündere Alternative zu weißem Reis bevorzugt. 2 Gangjeong, ein kalorienarmer süßer Snack, ist eine Variante des koreanischen Konfekts Hangwa, der aus fermentiertem Klebreis, Sirup oder Honig und gepoppten Getreidekörnern hergestellt wird. Gangjeong, die normalerweise hauptsächlich an Festtagen und bei den Ahnenritualen aufgetischt wurden, sind heute eine jederzeit beliebte Knabberei. 3 Wird ein Baby 100 Tage alt, bereitet die Familie nach altem Brauch den weißen Reiskuchen Baekseolgi zu, der mit den Nachbarn geteilt wird, um dem neuen Erdenbürger ein langes und gesundes Leben zu wünschen. Für den Kuchen wird Reis in Wasser eingeweicht, fein gemahlen und gedämpft.
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Reis lässt sich grob in die Sorten Japonica und Indica einteilen. Für das italienische Risotto, den Pilaw im Nahen Osten und den pfannengerührten Reis in Südostasien wird Indica verwendet, während für das koreanische Bibimbap (Reis mit verschiedenen Gemüsen gemischt) und das japanische Sushi Japonica gebräuchlich ist.
westliche Blätterteig schichtweise aufgeht. Die frittierten Stücke werden dann mit dem Getreidesirup Jocheong glasiert und in verschiedenen Sorten gepoppter oder gerösteter Getreidekörner gewendet. Das Resultat ist Gangjeong, ein dekoratives Konfekt, originär in Geschmack und Textur. Die Herstellung beansprucht mindestens zwei Wochen. Heutzutage kombiniert man die Fermentierungsmethoden für traditionelles koreanisches Konfekt mit westlichen Konfektsorten, sodass neue Fusion-Gangjeong entwickelt werden, die außen süß und weich, innen aber knusprig sind. Der koreanische Reiskuchen Tteok ist eine weitere auf Reisbasis hergestellte Spezialität, die in den unterschiedlichsten Sorten und Formen daherkommt. Als symbolträchtige Ritualspeise, die für Segen und die besten Wünsche für ein bestimmtes Ereignis steht, ist Tteok bei feierlichen Anlässen wie Geburtstagen und Hochzeiten, aber auch bei Beerdigungen und Ahnenverehrungsriten nicht wegzudenken. Auch heute noch wird der weiße Reiskuchen Baekseolgi (wörtlich: schneeweißer Reiskuchen) gedämpft, wenn ein Neugeborenes die ersten, früher kritischen 100 Tage nach der Geburt überstanden hat, und mit den Nachbarn geteilt, um den Wunsch nach einem langen und gesunden Leben des neuen Erdenbürgers auszudrücken. Bei Firmengründungen oder Ladeneröffnungen verteilt der Besitzer den mit roten Bohnen garnierten Reiskuchen Sirutteok, der Glück bringen soll. Zum koreanischen Erntedankfest Chuseok besuchen die Koreaner zudem jedes Jahr die Gräber der Ahnen, wo sie zusammen mit anderen Speisen aus dem Reis der neuen Ernte gemachte Songpyeon , halbmondförmige, gefüllte Reiskuchen, darbringen – ein über Jahrhunderte tradierter Brauch, der für die Koreaner, für die Reis die grundlegende Quelle ihrer physischen und geistigen Lebenskraft ist, bis heute bedeut3 sam ist. KoreAnisCHe KuLtur und Kunst 67
LIFESTyLE
WIEDERBELEBuNG vON KLEINBuCHHANDLuNGEN IM ZEITALTER DER KuLTuRELLEN DIvERSIFIKATION Kleinbuchhandlungen sind wieder in. Die Idee der Inhaber dieser mit wenig Kapital betriebenen Kleinbuchhandlungen, nicht nur Bücher, sondern auch Kultur anzubieten, findet in der öffentlichkeit großen Anklang. Außerdem wurden in letzter Zeit auch Bücherstuben eröffnet, in denen man bei einem Bier oder Cocktail schmökern kann, und die sich gerade deshalb bei Büroangestellten auf der Suche nach einem Ort zum Ausruhen und Erholen nach Feierabend steigender Beliebtheit erfreuen. Baik Chang-hwa Buchkuratorin, Little Bookshop in the Forest
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us dem stillen Garten der Buchhandlung erklingt plötzlich Kinderlachen. Beim Blick aus dem Fenster entdecke ich ein Mädchen mit einer pinkfarbenen Spange im Haar und in einem pinkfarbigen Tutu, das schön wie eine Blume lächelt. Die Stimme der Mutter, die dem Mädchen auf einer Holzbank im Schatten ein Bilderbuch vorliest, klingt sanft. Etwas später kommt das Kind in die Buchhandlung, um ein Bilderbuch über eine Baletttänzerin, die in genau so einem pinkfarbenen Tutu wie ihrem tanzt, zu kaufen und dann an der Hand der Mutter den Buchladen zu verlassen. Alle Besucher, die an diesem Nachmittag am Wochenende in der Buchhandlung sind, schauen Mutter und Tochter mit warmem Blick nach.
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Schrumpfende verlagsindustrie, schließende Buchhandlungen Die von mir betriebene Buchhandlung „Little Bookshop in the Forest“ ist, wie der Name schon sagt, ein kleiner Buchladen in einem umgebauten Haus am Waldrand in der Nähe eines abgelegenen Dörfchens. Als ich im rund 35.000 Einwohner zählenden Kreis Goesan-gun, Provinz Chungcheongbuk-do, in einem Dörfchen mit weniger als 100 Seelen meinen Buchladen aufmachte, fragten sich alle, warum ich das ausgerechnet in einem gottverlorenen Nest auf dem platten Land mache, wo sich doch selbst in den Großstädten immer mehr Buchhandlungen gezwungen sehen, zu schließen. Doch jetzt, zwei Jahre nach der Eröffnung, kommen im Schnitt über 500 Leute pro Monat aus allen Ecken des Landes und sogar aus Seoul hierher und der Umsatz steigt stetig, sodass sich der Buchladen als Geschäftsbetrieb stabilisiert. Heutzutage, wo es immer mehr Online-Buchhandlungen gibt und die Bestellung übers Internet gang und gäbe geworden ist, überrascht es auch mich immer wieder, wie unerwartet viele Menschen einen Ausflug zu meinem kleinen Buchladen am Wald machen, um in einer angenehmen Atmopshäre Bücher aus unserem Angebot zu wählen. Laut dem 2016 vom Verband des Koreanischen Buchhandels herausgegebenen „Handbuch der Buchhandlungen“ lag die Zahl der ausschließlich auf Bücher spezialisierten Läden Ende 2015 bei 1.559. Verglichen mit noch vor 10 Jahren 2.103 Buchläden (2005) ist ihre Anzahl um 544 gesunken. Und im Vergleich zu 1998, als die Zahl der Buchhandlungen in Korea mit 5.378 auf einem Rekordhoch lag, wurde innerhalb von 20 Jahren ein Rückgang um 70% verzeichnet. Mit der rasanten Verbreitung von Online-Buchhandlungen nach der Millenniumwende sahen sich die großen Offline-Buchhandlungsketten zu Reduzierungen gezwungen und viele kleinere und mittelgroße lokale Buchläden mussten schließen. Tatsächlich gibt es sogar in 6 der landesweit 226 untersten lokalen Selbstverwaltungseinheiten keine einzige Buchhandlung mehr, während in 43 nur noch ein einziger, aber ebenfalls in der Existenz bedrohter Buchladen zu finden ist. Angesichts dieser ernsten Situation regte sich dann schließlich der Ruf nach Rettung der bedrohten Verlags- und Vertriebsindust-
rie und die Regierung brachte diverse diesbezügliche Fördermaßnahmen auf den Weg. Eine repräsentative ist die 2014 eingeführte Buchpreisbindung, die die Ermäßigungsrate für Bücher auf 15% begrenzt, um die Wettbewerbsfähigkeit kleinerer Verlage und lokaler Buchhandlungen zu erhöhen und damit letztendlich der Leserschaft zum Vorteil zu dienen. 2016 ist die Preisbindung zwei Jahre in Kraft und die öffentliche Meinung ist deutlich in Für und Gegen gespalten. Sicher ist jedoch, dass die Preisbindung für Leute wie mich, die lokale Kleinbuchhandlungen betreiben, einen positiven, existenzsichernden Effekt hat.
Räume, die mit Stereotypen brechen Es ist sicherlich nicht nur der Einführung der Buchpreisbindung zu verdanken, aber der rückläufige Trend in Bezug auf die Zahl der Buchhandlungen hat sich seit 2013 abgeschwächt. Vielmehr ist die Wiederbelebung der lokalen, einst vom Bankrott bedrohten Buchläden in den letzten zwei, drei Jahren das heißeste Thema in Buchhandelskreisen. An vorderster Front dieser Wiederbelebung steht Thanksbooks. Diese Buchhandlung wurde vor fünf Jahren in Hongdae-ap eröffnet, dem für seine Jugendkultur bekannten Seouler Viertel vor der Kunsthochschule Hongik Universität, und ließ in der von Modeläden, Restaurants, Cafés und anderen Unterhaltungs- und Konsummöglichkeiten geprägten Gegend den neuen Wind der Buchlektüre wehen. „Ich dachte, es wäre schön, wenn es eine lokale Buchhandlung gäbe, in der Büroangestellte nach Feierabend auf dem Heimweg kurz vorbeischauen können“, sagt Lee Ki-seob, der Besitzer von Thanksbooks. Und wie Lee gehofft hatte, erwacht seine Buchhandlung nach 18.00 Uhr zu vollem Leben. Mit einem kleinen Café, in dem man etwas trinken kann, und einer Galerie, in der Künstler des Viertels ausstellen dürfen, ist die Buchhandlung im Hongdae-Viertel zu einiger Bekanntheit gekommen. Einzigartiges Markenzeichen ist aber die raffinierte Art, wie die Bücher zur Schau gestellt werden. Die Regale sind gefüllt mit Büchern, bei denen Edierung und Design ins Auge stechen, Büchern, die so urban und verfeinert anmuten, dass sich städtische Büroangestellte und fachkundige Hipster in ihren Zwanzigern und Dreißigern unwillkürlich davon angezogen fühlen. BOOK BY BOOK in Sangam-dong in Seoul ist eine Buchhandlung, die mit dem gängigen Stereotyp noch entschlossener aufräumte. Mit dem neuen Konzept einer Buchhandlung, in der man bei einem Bier entspannt in Büchern stöbern kann, rührte sie an einen weichen Punkt im Herzen junger Leute. Die besondere Attraktion sind aber verschiedene Vortragsveranstaltungen, Autorenlesungen und andere Events. Fast jeden Abend ist hier etwas los, unter anderem auch „Buchkonzerte“. „Ich bin gern hier, weil überall die dynamische Energie der Jugend zu spüren ist. Kaum ist ein neues Buch herausgekommen, gibt es auch schon eine Autorenlesung. Und die Musiker, die hier kleine KoreAnisCHe KuLtur und Kunst 69
1 ©Little Bookshop in the Forest
Konzerte geben, haben einen so individuellen Touch und präsentieren so niveauvolle Darbietungen, dass ich ihnen die ganze Zeit zuhören möchte. In der Hoffnung, dass solch gemütliche Stadtviertel-Buchhandlungen noch viele Jahre offen bleiben und nicht verschwinden, bestelle ich jetzt weniger online und kaufe meine Bücher gezielt hier“, so Kim Su-hyun, eine Hausfrau, die in dem Viertel wohnt. Orte wie die Chaekbar (Buchbar) in Yeonhui-dong, wo man beim Lesen einen vom Besitzer höchstpersönlich gemixten Cocktail schlürfen kann, und B+ , wo Bier und Hauswein zur Lektüre serviert werden, machen unter Angestellten als Geheimtipps zum Relaxen nach Feierabend die Runde. Daneben gibt es Buchhandlungen wie Booktique in Nonhyeon-dong und seit kurzem auch in Seogyo-dong, das sich zum „urbanen Unterschlupf für Bücher und Menschen“ proklamiert, und freitags ab 22:00 Uhr die „Nachtbuchhandlung öffnet“, was speziell für Büroangestellte im Vorfeld des Wochenendes ein attraktives Angebot ist.
Gemeinschaften mit ähnlichen vorlieben Der allgemeine Trend zur Wiederbelebung von Kleinbuchhandlungen in Korea weist folgende Merkmale und Richtungen auf: Allen voran steigt die Zahl von Buchhandlungen, die als Mehrzweck-Kulturraum fungieren. Auch früher fanden zwar schon Events wie Autorenlesungen und -gespräche in den Buchhand70 KoreAnA Herbst 2016
1 Im Garten von Little Bookshop in the Forest im Kreis Goesan-gun, Provinz Chungcheongbuk-do, verbringen die Teilnehmer eines eintägigen Café-Events einen entspannten Nachmittag bei einer Tasse Kaffee, serviert von einem Barista in einer mobilen Kaffee-Bar. 2 Mit seinem gemütlichen Café und der Galerie ist Thanksbooks im Seouler Hongdae-Viertel zu einer bekannten, trendy Buchhandlung geworden. Es ist der perfekte Ort, um sich nach einem anstrengenden Tag im Büro auf dem Nachhauseweg etwas zu entspannen.
lungen statt, doch handelte es sich dabei v.a. um PR-Events im Rahmen der Marketing-Kampagnen für Neuerscheinungen oder um einmalige Veranstaltungen. Jetzt etablieren sich die Buchhandlungen in den einzelnen Stadtvierteln jedoch als Kernstandorte für diverse Kulturveranstaltungen. Dazu gehören z.B. Konzerte von Indie-Musikern oder Kurse von jungen Kunsthandwerkern, die zwar nicht berühmt sind, aber mit Freude ihrem Metier nachgehen. Auch finden dort gleichzeitig verschiedene Kurse und Ausstellungen in einer ganzen Bandbreite von Künsten wie Kalligraphie, Zeichnen, Fotografie etc. statt. Diese Buchläden entwickeln sich zu wichtigen Gemeinschaftsräumen, in denen die Menschen auf Kunst als Kultur im Alltag treffen können. Ein weiterer Trend, der großen Anklang findet, sind Themen-Buchhandlungen. Es sind Concept Stores, die sich auf Themen wie Reise, Literatur, Bilderbücher usw. spezialisieren. Dabei werden aber z.B. in Reise-Buchhandlungen nicht nur Bücher verkauft. Die Rucksackreisenden, die es in solche Läden zieht, organisieren
Sie suchen nach Dingen, die klein und schlicht sein mögen, aber für sie bedeutsam sind, nach Orten, die ihnen Zuflucht vor dem geistlosen Lärm der Welt bieten und wo man einander mit sanfter Stimme Verständnis und Anerkennung entgegenbringen kann, nach solchen Räumen und Gleichgesinnten suchen sie.
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hier auch ihre Treffen oder planen gar gemeinsam sog. Fair-Travel-Gruppenreisen, bei denen es um die Verbesserung der Lebensbedingungen der ländlichen Bevölkerung im Zielland geht. Außerdem bieten Reise-Buchhandlungen mehr als nur Reisehandbücher: Auch Romane, Essays, Fotobände und unabhängige Publikationen mit Reise-Bezug gehören zum Sortiment. Zudem haben viele, auf unabhängige Publikationen spezialisierte Buchhandlungen aufgemacht. Unabhängige Publikationen sind das Gegenstück zur kommerziellen Massenpublikation auf Basis von Massenproduktion und -distribution. Heutzutage, wo jeder dank Internet und digitalen Endgeräten zum Autor werden kann, verfassen immer mehr Menschen eigene Bücher, bei denen Text, Layout, Fonts und Illustrationen ihren eigenen Vorstellungen entsprechen. Die so hergestellten Bücher werden in einer limitierten Auflage von 100 bis 500 Bänden publiziert und über das landesweite Netzwerk der auf unabhängige Publikationen spezialisierten Buchhandlungen an den Leser gebracht. Die Kleinbuchhandlungen sind eine Antwort auf die wachsende Nachfrage nach kleinen Gemeinschaftsoasen für Menschen gleichen Geistes, die gleichzeitig den Bedarf beflügeln. Die Menschen, die der Uniformiertheit der modernen Gesellschaft mit ihrer Massenproduktion und ihrem Massenkonsum müde sind, haben jetzt begonnen, nach einer individuellen Note in Bezug auf ihre Hobbys zu suchen. Sie suchen nach Dingen, die klein und schlicht sein
mögen, aber für sie bedeutsam sind, nach Orten, die ihnen Zuflucht vor dem geistlosen Lärm der Welt bieten und wo man einander mit sanfter Stimme Verständnis und Anerkennung entgegenbringen kann, nach solchen Räumen und Gleichgesinnten suchen sie. Diese Menschen schaffen jetzt Orte mit Büchern nach ihrem Geschmack und suchen nach solchen Orten. Die Attraktion kleiner Buchhandlungen liegt vor allem in den Menschen, die es hierher zieht. Es sind Räume, die die verloren gegangene „Seele“ und „Verbundenheit“ des von der Anonymität der Online-Medien erschöpften und vereinsamten modernen Menschen wieder zurückbringen, Räume, die sich in den Lücken einer zu enormen Ausmaßen gewachsenen Industrie, in der nur noch die Produkte sichtbar sind, gebildet haben. In diesen kleinen Räumen sind es die Menschen, die an erster Stelle sichtbar sind und durch das Produkt „Buch“ zueinander sprechen. Gerade hierin liegt der Grund für die Existenz der Kleinbuchhandlungen und ihr Schlüssel zum Erfolg. Laura J. Miller, die Autorin von Reluctant Capitalists , formuliert es so: „Der Einkauf in einer unabhängigen Buchhandlung ist eine politische Entscheidung“. Das stimmt durchaus. Der Kauf eines Buches in einer Buchhandlung, die zum Viertel gehört und auf die dortige Gemeinschaft abgestimmt ist, statt in einem der Kettenläden oder Online-Buchhandlungen lässt auch erkennen, ob man selbst ein lesender Bürger ist oder nur ein Konsument. In einem Zeitalter, in dem man bequem mit ein paar Mausklicks von zu Hause aus Bücher mit verschiedenen Ermäßigungen kaufen kann, ist die Entscheidung, zur örtlichen Buchhandlung zu gehen und dafür unter Umständen noch eine beachtliche Summe für die Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln aufzuwenden, sicherlich mehr als eine einfache Konsumhandlung. Lee Ki-seob von ThanksBooks betrachtet das Phänomen aus der Sicht der kulturellen Diversifikation als durchaus positive Erscheinung: „Bisher herrschte in unserer Gesellschaft nicht nur im kulturellen Bereich, sondern in allen Bereichen eine starke Tendenz zur Uniformiertheit vor. Ich glaube, dass die kulturelle Diversifikation, die sich vor dem Hintergrund der Konjunkturschwäche und des Niedrigwachstums bemerkbar macht, ein allgemeines, nicht nur auf die Verlags- und Buchhandelsbranche beschränktes Phänomen ist. Einige werden über die Hürden von Versuch und Irrtum stolpern und untergehen, andere werden überleben und als neue Triebkraft in der Gesellschaft fungieren.“ KoreAnisCHe KuLtur und Kunst 71
REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATuR
REZENSION
WÄRE ES MÖGLICH, ZU BEWEISEN, DASS ICH DERSELBE WIE DAMALS BIN?
„Ich laufe gern durch die Straßen von Seoul. von Jongno bis Dongdaemun, von yeongdeungpo bis Hongdae und vom Rathaus bis Gwanghwamun – ich bin über die Jahre viel gelaufen.
Plaza Hotel ist eine der Geschichten, die sich in dieser Zeit in mir angehäuft haben.“ – Kim Mi-wol Choi Jae-bong Journalist, Tageszeitung The Hankyoreh Fotos Lee Jun-ho
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ie Erzählung Plaza Hotel von Kim Mi-wol wurde erstmals 2011 in Seoul, Nachtwanderer (2011) veröffentlicht, einer thematischen Sammlung von Erzählungen verschiedener Schriftstellerinnen. Allen Geschichten ist gemeinsam, dass sie an diversen Orten in Seoul spielen. Schauplatz von Plaza Hotel ist das Hotel gegenüber dem Rathaus im Zentrum von Seoul. Erzählt wird von einem Ehepaar Mitte dreißig, das ungewöhnlicherweise den Urlaub nicht in einem Ferienort im In- oder Ausland, sondern in einem Hotel mitten in der Großstadt Seoul verbringt. Diese Art und Weise, Urlaub zu machen, wird schon seit einigen Jahren wie „eine Art reguläres, jährlich stattfindendes Programm“ fortgesetzt, doch das Plaza Hotel, das die beiden diesmal gewählt haben, hat für sie eine ganz besondere Bedeutung. Die Erzählung springt hin und her zwischen der Studienzeit des Erzählers, als er seine Frau kennen lernte, und der Gegenwart mehr als zehn Jahre später. In der Gegenwart, die nach den geschilderten Begebenheiten im Sommer 2009 anzusiedeln ist, blicken die Eheleute vom Fenster des Plaza Hotels auf das Daehanmun-Tor des Deoksugung-Palastes hinunter und unterhalten sich über den Gedenkaltar für Präsident Roh Moo-hyun, der dort vor einigen Monaten stand. Präsident Roh nahm sich knapp ein Jahr nach dem Ende seiner Amtszeit, als die Staatsanwaltschaft die Korruptionsvorwürfe gegen Mitglieder seiner Familie untersuchte, das Leben. Damals errichteten die Bürger, die ihn unterstützt hatten, aus eigener Initiative einen Gedenkaltar, und die Frau des Protagonisten stand fünf Stunden in der Schlange der Kondolierenden. Als der Protagonist das Hotel verlässt, um ein Feuerzeug und Kaffee zu besorgen, sieht er auf dem Platz vor dem Rathaus eine Gruppe von Demonstranten, die als Zeichen des Protests das buddhistische Sambo-Ilbae-Ritual durchführen, bei dem auf jeden dritten Schritt ein Großer Kotau folgt. Bei den Protestierenden handelt es sich um die Hinterbliebenen der fünf Opfer
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der „Yongsan-Katastrophe“, die ums Leben kamen, als die Polizei im Seouler Stadtteil Yongsan das Dach eines im Rahmen der Stadtsanierung zum Abreißen bestimmten Gebäudes stürmte, auf dem sich die von der Zwangsräumung betroffenen Mieter verschanzt hatten (Sept. 2009). Während der Demonstration bricht ein Sturmregen los. „Ideale Temperatur, ideale Luftfeuchtigkeit, idealer Sauberkeitsgrad, idealer Service – das Gefühl, ideal bedient zu werden.“ Der angenehme Service und Komfort, mit dem das Hotel das Ehepaar gegen eine beträchtliche Summe verwöhnt, und die Situation der Hinterbliebenen und Protestler, die ohne Schirm und Regenmäntel im herabprasselnden Regen demonstrieren, steht in symbolischer Komprimierung für die Realität Koreas, wo Kapital und Demokratie sowie die sog. Konservativen und Liberalen oft aufeinander prallen. Die Autorin erzählt vom Urlaub des Ehepaares im Kontext der politisch-sozialen Konstellation Koreas im Jahr 2009 und vor dem Hintergrund des Massakers von Gwangju im Jahr 1980, einer der großen Tragödien der modernen Geschichte Koreas. Die Tatsache, dass das Hotel, in dem das Ehepaar wohnt, sich ganz in der Nähe eines Demonstrationsortes aus der Studienzeit des Erzählers befindet, steht in Verbindung mit einem weiteren Motiv der Erzählung. Yun-seo, die Studienkollegin und Freundin des Protagonisten, die „wie Schneewittchen“ aussah, hört zufällig, wie ein älterer Mann, der die Kundgebung in aller Ruhe betrachtet, kommentiert: „Was die jungen Studenten denn schon wüssten, dass sie immer wieder auf die Straße gingen, wo sie doch nach dem Uniabschluss, wenn sie erst mal ihren Platz in der Gesellschaft gefunden hätten, sowieso alles vergäßen. Dass die ganze Demonstriererei nur den Verkehr behindere, aber dass sich die Welt dadurch nicht ändere.“ Und tatsächlich ist der Protagonist nach dem Studium ein Teil der Mainstream-Gesellschaft geworden und finanziell so gut situiert, dass er seine Urlaubstage in einem feinen Hotel in der Stadtmitte verbringen kann.
Hat er tatsächlich die unverfälschte Leidenschaft seiner Studienzeit verloren, wie der ältere Mann prophezeite? Statt sofort auf diese Frage zu antworten, macht die Autorin einen kleinen Umweg. Und am Ende der Erzählung fragt sich der Protagonist: „Ob sie mir wohl glauben würde, wenn ich ihr heute, mehr als zehn Jahre später, davon erzählte? Würde sie sich überhaupt noch an die Begebenheiten von damals erinnern? Wäre es möglich, zu beweisen, dass ich derselbe bin wie damals, wir dieselben sind wie damals?“ Im Schlussparagraphen verbirgt sich eine Art Wende. Die Frage, die der Protagonist sich selbst stellt, bezieht sich zwar in erster Linie auf ein in seinen Jugendjahren geplatztes Date an Heiligabend, beinhaltet aber die Möglichkeit einer doppelten Deutung: Versteht man „wir von damals“ nicht nur bezogen auf das jugendlich frische Dating junger Menschen, sondern auch bezogen auf die Jungstudenten, die bei Straßendemos Blöcke bildeten oder auf der Flucht vor der Polizei auf die zynischen Reaktionen der älteren Leute trafen, dann ist auch die Interpretation möglich, dass das, nach dessen Beweisbarkeit der Protagonist fragt, nicht nur die reine Liebe schöner, vergangener Tage, sondern zugleich auch die politische Leidenschaft im Streben nach Demokratie ist. Kim Mi-wol, die 2004 debütierte, hat wie viele Schriftsteller ihres Alters meistens die Armut und den harten Kampf der jungen Menschen thematisiert. In ihrem ersten Erzählband Die Führerin der Seouler Höhle (2007) erscheinen Hikikomori-Typen, die abgekapselt von der Außenwelt in Mini-Studentenbuden, winzigen Zimmern oder Halbsouterrain-Einzimmerwohnungen leben. In der Erzählung Plaza Hotel , die Kim mit Mitte dreißig veröffentlichte, also etwa im selben Alter wie das Ehepaar in der Erzählung, blickt die Autorin, auf ihre Jugendjahre zurück und betrachtet ihr gegenwärtiges Ich im Spiegel des Ichs ihrer jungen Jahre.
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Korea
1 Jahr
25.000 Won
6.000 Won
2 Jahre
50.000 Won
3 Jahre
75.000 Won
1 Jahr
US$ 45
2 Jahre
US$ 81
3 Jahre
US$ 108
1 Jahr
US$ 50
2 Jahre
US$ 90
Ostasien
1
Südostasien 2
Europa und Nordamerika 3
Afrika und Südamerika 4
3 Jahre
US$ 120
1 Jahr
US$ 55
2 Jahre
US$ 99
3 Jahre
US$ 132
1 Jahr
US$ 60
2 Jahre
US$ 108
3 Jahre
US$ 144
US$ 9
* Für frühere Ausgaben gelten zusätzliche Gebühren für Luftpostzustellung 1 Ostasien (Japan, China, Hongkong, Macau, Taiwan) 2 Südostasien (Kambodscha, Laos, Myanmar, Thailand, Vietnam, Philippinen, Malaysia, Ost-Timor, Indonesien, Brunei, Singapur) und Mongolei 3 Europa (einschl. Russland und GUS), Naher Osten, Nordamerika, Ozeanien, Südasien (Afghanistan, Bangladesch, Bhutan, Indien, Maldiven, Nepal, Pakistan, Sri Lanka) 4 Afrika, Süd- und Mittelamerika (einschl. Westindische Inseln), Südpazifische Inseln
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84 KoreAnA Herbst 2016
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sUMMer 2016
KOREAN CULTURE & ARTS
ISLANDS OF SINAN
SUMMER 2016 vol. 30 no. 2
SPECIAL FEATURE
Dialogue with Pristine Nature
sinan’s natural riches and Beauty: A Legacy for the Future; intrigue of the ‘Black Mountain’; salt Fields Preserve the time-honored Values of island Culture
Islands of Sinan
koreana@kf.or.kr
vOL. 30 nO. 2
issn 1016-0744