2019 Koreana Spring(German)

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FRÜHJAHR 2019

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST

SPEZIAL

DER WEG IN DIE MODERNE

Korea im frühen 20. Jahrhundert

Jeong-dong: Wiege der Hoffnung auf einen modernen Staat; Erbe moderner literarischer Genies; Durch die Tür der Moderne: Neue Frauen; Popmusik: Hoffnung inmitten der Verzweiflung; Kulturelle Globalisierung: damals und heute

Der Weg in die Moderne

JAHRGANG 14, NR. 1

ISSN 1975-0617


IMPRESSIONEN

Frühlingausf lug unter Blüten Kim Hwa-young

Literaturkritiker, Mitglied der National Academy of Arts


H © NewsBank

eung und Han sind Ausdrücke, mit denen die typische Mentalität der Koreaner am häufigsten und besten beschrieben wird. Heung steht für Lebensfreude und Spieltrieb, die erwachen, wenn Erdenergie und innere Energie des Menschen einander kreuzen; Han bezeichnet aufgestaute Gefühle, die von ungelösten Problemen herrühren. Heung manifestiert sich z. B. als Freude beim Anblick der Blütenpracht des Frühlings. Ungeduldige treten schon Anfang März ans Fenster und schauen nach draußen. Doch erst Ende März erreicht uns die Nachricht, dass die ersten Knospen auf der subtropischen Vulkaninsel Jeju-do springen. Dann wird die Zahl der Züge und Fernbusse Richtung Süden aufgestockt und voller Aufregung werden Reisen geplant. Besonders beliebt sind bei den Frühlingsgenießern die rosa Kirschblüten Beotkkot, gefolgt von den weißen Pflaumenblüten Maehwa und den gelben Asiatischen Kornelkirschblüten Yuchae. Die Frühlingsblütenfestivals starten Mitte März im Maehwa-Dorf in Gwangyang, Provinz Jeollanam-do. Die Wolken leuchtender Pflaumenblüten, die die Dörfer am Ufer des Seomjin-gang in atemberaubendes Weiß hüllen, locken jedes Jahr über eine Million Besucher aus dem ganzen Land hierher. Höhepunkt ist jedoch das Marinehafenfestival Jinhae, ein Kirschblütenfestival, das Anfang der 1950er Jahre zum ersten Mal ausgerichtet wurde. Die zahlreichen, von den japanischen Kolonialherren gepflanzten Bäume um den Hafen wurden nach der Befreiung entfernt, die Kirschbäume auf dem Gelände des koreanischen Marinestützpunktes aber verschont. Später belegten Forschungen, dass die Kirschbäume in Jinhae nicht aus Japan, sondern aus Jeju-do stammen, woraufhin man sich um die Wiederanpflanzung bemühte. Heute ist die Innenstadt von Jinhae jeden Frühling mit Kirschblüten bedeckt, deren Blätter auf die Frühlingsgenießer herabregnen. Nicht weniger bekannt ist die Zehn-Ri-Kirschblütenstraße in Hwagae, Provinz Gyeongsangnam-do, mit ihren mehr als 1.000 Kirschbäumen. Die Bäume wurden rechts und links entlang der in den 1930er Jahren zwischen dem Hwagae-Marktplatz und dem Tempel Ssanggye-sa angelegten Straße gepflanzt. Die die Hügel des Seomjin-gang entlang mäandrierende Straße wird von den Ästen der alten Kirschbäume überwölbt, die einen herrlichen Blütentunnel bilden. Doch auch Stadtbewohner, die nicht zu einer Kirschblütenreise aufbrechen können, müssen nicht auf die Frühlingspracht verzichten. Seoul und alle anderen größeren Städte im ganzen Land werden jeden Frühling in Blütenduft gehüllt. Die Straße Yunjung-ro im Viertel Yeouido und der Seokchon-See in Seoul, der Bomun-See in Gyeongju, der Kreis Gurye am Fuße der Jirisan-Berge und der Dalmaji-Hügel am Haeundae-Strand in Busan zählen zu den bekanntesten, in Stadtgebieten gelegenen Kirschblüten-Reisezielen. Laut Statistik unternehmen im Frühling neun von zehn Koreanern Ausflüge, um die Frühlingsblütenpracht zu genießen, sieben von ihnen planen dabei wenigstens eine Übernachtung ein. Und mindestens einer der sieben folgt der Frühlingsblütenspur bis nach Japan. Der Frühling auf der koreanischen Halbinsel ist kurz und flüchtig. Wenn die Kirschblüten Mitte April abzufallen beginnen, lassen einen die ersten Vorboten der schwülen Sommerhitze schon fast wieder auf kühlere Tage hoffen. Die Flüchtigkeit des Frühlings mag vielleicht ein Hauch von Han sein, den die Blütenpracht und die fröhlichen Feste zurückgelassen haben.


Von der Redaktion

Geschichte: In Erinnerung gerufen für die Zukunft Vor einhundert Jahren gingen Koreaner im ganzen Land auf die Straße, um ihre Freiheit als Bürger eines unabhängigen Staates zu verkünden. Die Nationalflagge schwenkend rief die Menschenmenge „Manse“: Es lebe die Unabhängigkeit! Der friedliche Kampf, der am 1. März 1919 zur Mittagsstunde in Seoul und sechs anderen Städten begann, verbreitete sich im ganzen Land und dauerte zwei Monate lang. Die japanische Obrigkeit antwortete mit Gewalt. Die Angaben sind je nach Quelle etwas unterschiedlich, aber die Historiker gehen davon aus, dass rund zwei Mio. Menschen an der landesweiten Bewegung teilgenommen haben, 7.500 sollen getötet, 16.000 verletzt und 46.900 verhaftet worden sein. Viele starben an den Folgen der brutalen Folter im Gefängnis, darunter auch Yu Gwan-sun, die eine mit Gewehrfeuer unterdrückte Demonstration in ihrer Heimatstadt angeführt hatte. Die 18-jährige Studentin sagte, sie bedauere, dass sie nur ein Leben habe, das sie für das Vaterland opfern könne. Die Unabhängigkeitsbewegung vom 1. März führte zur Einrichtung der Provisorischen Regierung der Republik Korea in Shanghai. Die Unabhängigkeitsaktivisten setzten ihren Kampf in der Heimat und im Ausland fort – einige davon über diplomatische Kanäle, andere durch bewaffnete Aktionen –, bis Korea schließlich am Ende des Zweiten Weltkriegs seine Unabhängigkeit wiedererlangte. Sie trugen auch dazu bei, dass in verschiedenen Regionen der Welt eine koreanische Diaspora entstand. Nicht weniger bedeutsam ist, dass der Geist der Gewaltlosigkeit andere Länder in Asien dazu inspirierte, sich der kolonialen Unterdrückung auf friedliche Weise zu widersetzen. Aus Anlass des 100. Jahrestages der Unabhängigkeitsbewegung blickt Koreana in die Vergangenheit zurück. Die SPEZIAL-Reihe „Der Weg in die Moderne: Korea im frühen 20. Jahrhundert.“ beschäftigt sich vornehmlich mit den Bereichen Kunst und Kultur. Die Geschichten gehen der Frage nach, wie die Koreaner, insbesondere Künstler und Schriftsteller, mit den Wellen des Wandels in einer von Verzweiflung geprägten Zeit fertig wurden. Ahn In-kyoung Chefredakteurin der deutschen Ausgabe

VERLEGER Lee Sihyung REDAKTIONSDIREKTOR Kim Seong-in CHEFREDAKTEURIN Ahn In-kyoung REDAKTIONSBEIRAT Han Kyung-koo Benjamin Joinau Jung Duk-hyun Kim Hwa-young Kim Young-na Koh Mi-seok Charles La Shure Song Hye-jin Song Young-man Yoon Se-young COPY EDITOR Anneliese Stern-Ko KREATIVDIREKTOR Kim Sam LEKTORAT Ji Geun-hwa, Park Do-geun, Noh Yoon-young KUNSTDIREKTOR KIm Ji Yeon DESIGNER Kim Eun-hye, Kim Nam-hyung, Yeob Lan-kyeong LAYOUT & DESIGN Kim’s Communication Associates 44 Yanghwa-ro 7-gil, Mapo-gu Seoul 04035, Korea www.gegd.co.kr Tel: 82-2-335-4741 Fax: 82-2-335-4743 ÜBERSETZER

Ahn In-kyoung Anneliese Stern-Ko Do Young-in Lie Yukyung Eom Yuseong

Preis pro Heft in Korea 6.000 Won Außerhalb Koreas US$9 Detailinformationen zu den Subskriptionspreisen finden Sie auf Seite 88. THE KOREA FOUNDATION BERLINER BÜRO c/o Botschaft der Republik Korea Stülerstraße 8-10, 10787 Berlin, Germany Tel: +49-(0)30-260-65-458 / Fax: +49-(0)30-260-65-52 E-mail: koreana@kf.or.kr

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST FRÜHJAHR 2019 GEDRUCKT FRÜHJAHR 2019 Samsung Moonwha Printing Co. 10 Achasan-ro 11-gil, Seongdong-gu, Seoul 04796, Korea Tel: 82-2-468-0361/5 Published quarterly by THE KOREA FOUNDATION 55 Sinjung-ro, Seogwipo-si, Jeju-do 63565, Korea https://www.koreana.or.kr

“Deoksu-gung” Kim Bom 2010, Acryl auf Leinwand, 162 × 130 cm.

© The Korea Foundation 2019 Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Publikation darf ohne vorherige Genehmigung der Korea Foundation in irgendeiner Form reproduziert werden. Die Meinungen der Autoren decken sich nicht notwendigerweise mit denen der Redaktionsmitglieder oder der Korea Foundation. Koreana ist als Vierteljahresmagazin beim Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus registriert (Reg. Nr. No. Ba-1033, August 8, 1987) und erscheint neben Deutsch auch auf Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Indonesisch, Japanisch Russisch und Spanisch.


SPEZIAL

Der Weg in die Moderne: Korea im frühen 20. Jahrhundert 04

SPEZIAL 1

Jeong-dong: Wiege der Hoffnung auf einen modernen Staat

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SPEZIAL 3

Durch die Tür der Moderne: Neue Frauen Kim Chi-young

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SPEZIAL 5

Kulturelle Globalisierung : damals und heute Jung Duk-hyun

Suh Young-hee

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SPEZIAL 2

Erbe moderner literarischer Genies Song Sok-ze

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FOKUS

Zeitreise in Wörterbüchern Hong Sung-ho

44

HÜTER DES TRADITIONELLEN ERBES

Ein Leben für Pinsel ohne steifen Kern Kang Shin-jae

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VERLIEBT IN KOREA

Geheimnis dreifachen Erfolgs: Ausgewogenheit und Mäßigung Choi Sung-jin

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SPEZIAL 4

Popmusik: Hoffnung inmitten der Verzweiflung Chang Yu-jeong

54 UNTERWEGS

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Auf den Spuren König Jeongjos zur Festung Hwaseong

Seetang Gim: Reich an Geschmack und Nährwert

RUND UM ZUTATEN

Lee Chang-guy

Jeong Jae-hoon

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GESCHICHTEN AUS ZWEI KOREAS

Ein gut gestrickter Wiedervereinigungsplan Kim Hak-soon

66 ENTERTAINMENT Zombies à la Korea Jung Duk-hyun

REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR

Zwischen Mahnung und Faszination Choi Jae-bong

Wenn die Sichel bellt Kim Deok-hee


SPEZIAL 1

Der Weg in die Moderne: Korea im frühen 20. Jahrhundert

Jeong-dong

Wiege der Hoffnung auf einen modernen Staat

Die Thronhalle des Palastes Deoksugung ist von im frühen 20. Jh. erbauten traditionellen Palastgebäuden und Bauten westlichen Stils umgeben. 1897 rief Gojong, der 26. Monarch des Joseon-Reichs, in diesem Palast das Kaiserreich Korea aus und entfaltete rege diplomatische Aktivitäten. 1910 verlor die Nation jedoch ihre Unabhängigkeit.

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Das im Herzen von Seoul gelegene Viertel Jeong-dong (auch: Jeongdong) war der Geburtsort des Kaiserreiches Korea (1897-1910). Dort ließen sich die ersten westlichen Gesandtschaften, christlichen Missionare und die technischen Berater des Kaisers nieder. Die Enklave wurde zum „Schauraum“ der westlichen Modernisierung, die der Kaiser nachzuahmen bestrebt war. Die imperialistischen Ansprüche Japans zerstörten jedoch seinen Traum von der Schaffung eines modernen souveränen Staates. Das Kaiserreich Korea endete 1910 nach nur 13 Jahren. Suh Young-hee Professorin für Moderne Geschichte Koreas, Korea Polytechnic University

© Deoksugung Palace Management Office

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A

ren geleitete Schulen wie Pai Chai Hakdang, Ewha Haktang und Gyeongsin, aus denen heutzutage renommierte Schulen und Universitäten hervorgegangen sind. Besonders hervorzuheben sind dabei die gemeinsamen Anstrengungen der Missionare, Mädchen und Frauen einen grundlegenden Zugang zur Bildung zu ermöglichen. Für die Koreaner repräsentierte Jeong-dong entsprechend alles, was modern und westlich war.

Geburt eines modernen Staates

1897 proklamierte König Gojong (reg. 1863-1907; ab 1897 Kaiser) das Kaiserreich Korea (Daehan Jeguk). Durch diese Proklamation wurde Korea völkerrechtlich als moderner souveräner Staat neu definiert. Gleichzeitig nahm die Ära des 1392 begründeten Joseon-Reichs, dessen Verfall nicht mehr aufzuhalten war, ein Ende. Der 45-jährige König nannte das neue Zeitalter „Gwangmu“, eine Regierungsdevise, die Wiederbelebung und Stärkung des Landes propagierte, und änderte seinen Titel in „Kaiser Gwangmu“. Er strebte nach einem prosperierenden und modernisierten Staat, der in der Lage sein sollte, die Eingriffe Chinas, Japans und Russlands in die koreanische Souveränität abzuwehren.

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1. Köng Yeongchin (erste Reihe Mitte), der letzte Kronprinz von Joseon, bei einem Fototermin (1911) mit hochrangigen Amtsträgern im Seokjo-jeon (Halle aus Stein). In diesem neo-klassizistischen Gebäude empfing der Kaiser ausländische Gesandte. Nach der Annektion durch die Japaner wurde aus dem Bau ein Kunstmuseum. 2. Auf diesem Foto aus dem Jahre 1903 posieren die Leiter ausländischer Gesandtschaften in Hanseong nach einem von dem amerikanischen Gesandten Horace N. Allen (vierter von links) anberaumten Treffen in der US-Gesandtschaft für einen Fototermin. Die amerikanische Gesandtschaft war die erste, die in Jeong-dong eingerichtet wurde. 3. Ein Foto von Kaiser Gojong aus dem 1920 veröffentlichten Fotoalbum der Königsfamilie Yi. Das Foto zeigt Gojong mit kurzem Haar statt Haarknoten. Nachdem der Kaiser 1907 gezwungen worden war, zugunsten seines Sohnes Sunjong abzudanken, ließ er seine Haare kurz schneiden.

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© National Palace Museum of Korea

ls sich Korea in den 1880er Jahren gegenüber dem Westen öffnete, erfuhr Jeong-dong eine grundlegende Veränderung. Hofbeamte und Adlige hatten sich seit jeher in der Nähe des königlichen Palastes Gyeongbok-gung niedergelassen. Gesandte aus westlichen Ländern, die Verbindungen zum Königshof suchten, zog es entsprechend nach Jeong-dong. Der amerikanische Gesandte Lucius Harwood Foote (18261913) war einer der ersten davon. 1882 unterzeichneten Korea und die USA den Friedens-, Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrag und Washington schickte Foote nach Korea, um eine Gesandtschaft einzurichten. Zu diesem Zweck kaufte er 1884 ein von einer Adelsfamilie neu erbautes Haus in Jeong-dong. Footes britische, russische und französische Amtskollegen folgten bald seinem Beispiel. Sie errichteten prunkvolle Gebäude im westlichen Stil, die ihren Reichtum und ihre Macht demonstrierten und sich deutlich vom Domizil Footes, einem bescheidenen, traditionellen Hanok-Haus, abhoben. Das kleine Hanok, das sich auf dem Gelände der Residenz des amerikanischen Botschafters befindet, ist eins der ältesten im Ausland gelegenen Gebäude der US-Regierung, das noch bis heute genutzt wird. Jeong-dong, das sich zum Mittelpunkt diplomatischer Aktivitäten entwickelte, wurde als „Viertel der Gesandtschaften“ bekannt. Bald schon öffneten Hotels und Geschäfte, deren Dienstleistungen auf die Bedürfnisse der Diplomaten und ihrer Gäste abgestimmt waren. Die meisten Ausländer, die nach Seoul zogen, ließen sich in Jeong-dong nieder, wodurch sich der Charakter des Viertels grundlegend veränderte. Zu den Neuankömmlingen zählten auch christliche Missionare. Neben der US-Gesandtschaft richteten sich die Presbyterianische Kirche und die Methodistenkirche ein. Bald darauf folgten moderne Krankenhäuser und von Missiona-


Jeong-dong, das sich zum Mittelpunkt diplomatischer Aktivitäten entwickelte, wurde als „Viertel der Gesandtschaften“ bekannt.

3 © Seoul Museum of History

Gojong beschloss außerdem, den Palast Gyeongun-gung in Jeong-dong zum neuen Kaisersitz umzugestalten. Er verstand sich als aufgeklärter Monarch und förderte beim Palastbau gezielt den westliche Architekturstil, um seine Entschlossenheit zur Modernisierung des Landes zu demonstrieren. Während Junghwa-jeon (Halle der Ausgeglichenheit), der im koreanischen Stil gehaltene Thronsaal, ein Symbol der traditionellen Autorität blieb, standen die neu errichteten Gebäude im westlichen Stil für den Wandel zu einem modernen Land. Zu den neuen Gebäuden gehörte z.B. Jungmyeong-jeon (Halle des kostbaren Lichts), die im hinteren Bereich des Palastgeländes neben der US-Gesandtschaft errichtet wurde. Das ursprünglich einstöckige Gebäude im westlichen Stil, das als kaiserliche Bibliothek diente und zwei Mal den Flam-

men zum Opfer fiel, wurde als zweistöckiges Backsteingebäude neu errichtet. Ab 1904 waren hier die Privatgemächer von Gojong untergebracht. Im September 1905 empfing Gojong im ersten Stock dieses Gebäudes Alice Roosevelt, die Tochter von US-Präsident Theodore Roosevelt, die damals zusammen mit Kriegsminister William Howard Taft eine große diplomatische Entourage durch ganz Asien führte. In der Hoffnung auf Unterstützung der USA für das koreanische Kaiserreich brachte Gojong den amerikanischen Gästen große Gastfreundschaft entgegen und schenkte Alice Roosevelt sogar sein Proträtfoto, das im Flur dieses Gebäudes aufgenommen worden war. Beim Besuch, den die Delegation in Tokio abgestattet hatte, hatte Taft allerdings keine Einwände gegen die Behauptung Japans vorgebracht, dass die

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1. Jungmyeong-jeon (Halle des kostbaren Lichts), die 1899 erbaute kaiserliche Bibliothek, diente Kaiser Gojong ab 1904 als Büro und Residenz. Hier wurde 1905 der Protektoratsvertrag zwischen Japan und Korea unterzeichnet. Das Gebäude befindet sich heute vor der Westmauer des Deoksu-gung.

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2. Ein Foto von Jungmyeong-jeon aus Geschichte des Palastes Deoksu-gung, einem von dem japanischen Kolonialhistoriker Oda Shogo verfassten, 1938 veröffentlichten Werk. Die zweite Etage wurde nach einem Brand im Jahre 1925 bei den anschließenden Renovierungsarbeiten stark verändert.

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© Korea Creative Content Agency

Umwandlung Koreas in ein japanisches Protektorat der Stabilisierung Ostasiens dienen würde. Ein weiterer zweistöckiger Neubau war Dondeok-jeon (Halle der Vertiefung der Tugend). Die Halle wurde 1901 zum Empfang ausländischer Gäste auf der damals bevorstehenden Feier zu Gojongs 40. Thronjubiläum gebaut. Die Veranstaltung wurde zwar letztendlich abgesagt, aber das Gebäude, das Stilelemente von Renaissance und Gotik vereint, wurde mehrfach für Treffen des Kaisers mit ausländischen Gästen sowie für Empfänge, an denen Würdenträger im Frack teilnahmen, benutzt. Seokjo-jeon (Halle aus Stein) ist das größte Gebäude im westlichen Stil, das heute noch auf dem Palastgelände steht. Am Bau waren zwei Briten maßgeblich beteiligt: John

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McLeavy Brown, der damalige Finanzberater des Kaisers, regte den Bau an, und J. R. Harding, ein Ingenieur, der zuvor in Shanghai gearbeitet hatte, wurde mit dem Entwurf beauftragt. Resultat war ein grandioses Gebäude im neoklassizistischen Stil. Trotz der Ebbe in der Hofkasse hegte Kaiser Gojong große Hoffnungen, dass das Gebäude die Modernität des Landes demonstrieren würde. Nach zehnjähriger Bauzeit wurde das Gebäude im Juni 1910 fertiggestellt – zwei Monate vor der Annexion Koreas durch Japan. Das Kaiserreich Korea trieb auch andere Entwicklungsprojekte voran. Geistige Elite und Hofbeamte wurden sich zunehmend der in anderen Ländern fortschreitenden Modernisierung bewusst und erkannten, dass Korea ein Nachzügler in Bezug auf die Industrielle Revolution war. Lee Chae-yeon,


der Oberste Magistrat von Hanseong (alter Name von Seoul), der in der koreanischen Gesandtschaft in Washington gedient hatte, erstellte nach dem Modell der amerikanischen Hauptstadt ein Gesamtkonzept für Stadtentwicklung. Die Hansung Electric Company, in die Kaiser Gojong Geld aus der Hofkasse investiert hatte, wurde mit dem Aufbau der grundlegenden Infrastruktureinrichtungen wie Stromnetz, Fernsprechleitungen, Wasserversorgungsanlagen und Straßenbahnnetz betraut. 1899 wurde die etwa 8km lange erste elektrische Straßenbahnlinie, die vom Seodaemun-Tor im Westen Seouls nach Cheongnyangni im Osten führte, eröffnet. Es war die zweite Straßenbahnlinie in ganz Asien nach der im japanischen Kyoto. 1900 wurden entlang Jong-ro, einer der quer durch die Seouler Innenstadt führenden Hauptverkehrsstraßen, elektrische Straßenlaternen installiert.

Diplomatisches Engagement

Seitdem Gojong in den 1880er Jahren begonnen hatte, eine aufklärerische Politik zu entfalten, war er bereit und willig, die westliche Zivilisation anzunehmen und von Missionaren, Diplomaten und Reisenden neue Informationen zu erhalten. Er sorgte für Telefon- und Stromanschluss im Palast und genoss westliche Kulturgüter wie Kaffee und Champagner. Beim Empfang ausländischer Gesandter trug er eine Uniform, die der des preußischen Kaisers ähnelte, und gab Empfänge westlicher Art sowie Dinnerpartys im französischen Stil. Zur Bewirtung und Unterhaltung ausländischer Gäste engagierte Gojong Antoinette Sontag (1839-1925). Auf dem Stück Land, das Gojong dem Fräulein mit deutschen Wurzeln in Jeong-dong gewährte, betrieb sie das Sontag Hotel. Um seine Modernisierungspolitik voranzutreiben, stellte Gojong an die 200 Ausländer ein, die den Ministerien als hochrangige Berater und Techniker für seine Infrastrukturund Verkehrsprojekte zur Verfügung standen. Diese Berater führten westliche Systeme in Korea ein, vertraten dabei aber auch die Interessen ihrer eigenen Länder. Viele von ihnen wohnten in Jeong-dong und bildeten gemeinsam mit den Diplomaten und Missionaren die Ausländergemeinde des Kaiserreichs Korea. Das Kaiserreich strebte danach, Mitglied der modernen internationalen Gemeinschaft zu werden, und die Gegend von Jeong-dong wurde zum Mittelpunkt außenpolitischer Aktivitäten. Nachdem das Kaiserreich 1887 eine erste ständige diplomatische Vertretung in Washington eingerichtet hatte, entsandte es auch außerordentliche und bevollmächtigte Minister in europäische Länder wie Russland, Frankreich, Großbritannien und Deutschland, wo jeweils eine diplomatische Vertretung eingerichtet wurde. Zudem entsandte Gojong seinen Vertrauten Min Yeong-hwan 1896 als Sonderbeauftragten zur

Krönungsfeier von Zar NikolausⅡ. sowie 1897 zur Feier des 60. Thronjubiläums von Königin Victoria. Das Kaiserreich Korea bemühte sich auch um den Beitritt zu internationalen Abkommen: 1899 trat es dem Weltpostverein bei und 1903 der Genfer Konvention. An der Ersten Haager Friedenskonferenz 1898, auf der Vertreter aus 26 Staaten mit dem Ziel der friedlichen Lösung internationaler Konflikte zusammenkamen, war Korea zwar nicht beteiligt, stellte aber im Februar 1902 unter dem Namen „Kaiserreich Korea“ einen Antrag auf Teilnahme an der Nachfolgekonferenz, um Vorkehrungen gegen Japans Übergriffe auf die Souveränität des Landes zu treffen. Kurz vor Ausbruch des Russisch-Japanischen Krieges im Jahr 1904 sandte das Kaiserreich Korea ein Schreiben an die wichtigsten Weltmächte, in dem es seine Neutralität im Kriegsfall erklärte. Das Schreiben ließ es von einem Boten überbringen, der nach Zhifu in China entsandt wurde, um Japans unablässiger Überwachung seiner diplomatischen Aktivitäten zu entgehen. Zwei Europäer sollen unter der Federführung von Yi Yong-ik, eines engen und treuen Gefolgsmanns von Gojong, den Hofbeamten beim Verfassen der Neutralitätserklärung geholfen haben: Emile Martel, der Französischlehrer der kaiserlichen Familie, und ein belgischer Berater. Vicomte de Fontenay, der stellvertretende Minister der französischen Gesandtschaft, übersetzte die Neutralitätserklärung ins Französische, die dann vom französischen Vizekonsul in Zhifu telegraphisch weitergeleitet wurde. Die Bemühungen waren jedoch vergebens: Mit dem Beginn seines Krieges gegen Russland schickte Japan Tausende von Soldaten nach Korea und leitete die widerrechtliche militärische Besetzung des Landes in die Wege. Die internationale Gemeinschaft verschloss vor diesem Verstoß Japans gegen das Völkerrecht die Augen. Vielmehr erhielt Japan Unterstützung von Großbritannien und den USA, und zwar jeweils über den erneuerten Anglo-Japanischen Allianzvertrag und das sog. Taft-Katsura-Abkommen, die die Interessen der jeweiligen Parteien in China und Korea absicherten. US-Präsident Theodore Roosevelt vermittelte die Aushandlung des Friedensvertrags zwischen Russland und Japan und erhielt dafür als erster Amerikaner den Friedensnobelpreis. Auf die japanische Präsenz in Korea nahm der russisch-japanische Friedensvertrag allerdings keinerlei Bezug. Die USA, Großbritannien und Russland hatten damit de facto Japans Vorherrschaft in Korea anerkannt. 1905, als Japan gestärkt durch die Niederlage Russlands zu einer neuen Weltmacht aufgestiegen war, zwang es Korea den Protektoratsvertrag auf. Kaiser Gojong weigerte sich bis zum Schluss, ihn zu unterzeichnen. Doch nach Drohungen des japanischen Sonderbeauftragten Ito Hirobumi

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unterschrieben schließlich fünf der acht Minister des koreanischen Kabinetts den Vertragstext. Völkerrechtlich war dieses Abkommen ungültig, weil es unter Zwang unterzeichnet wurde. Trotzdem beeilte sich Japan, die Unterzeichnung der internationalen Gemeinschaft zu verkünden und machte Korea zu seinem Protektorat.

Der Souveränität beraubt

An dem Abend, als Ito Hirobumi in Jungmyeong-jeon Gojong zur Unterzeichnung des Protektoratsvertrags zwang, beobachtete der amerikanische Vizekonsul Willard D. Straight von der Gesandtschaft aus, wie sich im Innenhof von Jungmyeong-jeon in der Nähe der Gemächer des Kaisers bewaffnete japanische Soldaten aufstellten. Die Amerikaner waren die ersten, die nach der Bekanntgabe des Vertrages den Abzug ihrer Gesandtschaft beschlossen. Als die anderen Großmächte davon hörten, zögerten sie nicht, ebenfalls abzuziehen. Frankreich, ein militärischer Verbündeter Russlands, bildete das Schlusslicht. Die Unterstützung durch die westlichen Mächte, auf die Kaiser Gojong gezählt hatte, als er das Machtzentrum nach Jeong-dong verlegte und sich auf internationale Diplomatie fokussierte, blieb letztendlich aus. Er musste sich der bitteren Wahrheit stellen, dass nur durch diplomatische Bemühungen zur Sicherung des Beistands der Großmächte die Unabhängigkeit und Souveränität einer schwachen, unschuldigen Nation nicht zu erhalten ist. Trotz allem gab Kaiser Gojong seine Appelle an die internationale Gemeinschaft nicht auf. Über den Arzt und Missionar Horace N. Allen, der als amerikanischer Gesandter in Korea diente, rief er die USA zur Intervention auf der koreanischen Halbinsel auf, doch es gab keinerlei Reaktion. Dann bemühte er sich, über den frisch nach Korea entsandten amerikanischen Missionar und Lehrer Homer Hulbert persönliche Bitt-

gesuche an die USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Russland, Österreich-Ungarn, Italien, Belgien und China zu übermitteln, aber die betreffenden Staatsoberhäupter wollten nicht in die territorialen Ambitionen Japans verwickelt werden. Gojongs Argument, dass der 1905 geschlossene Protektoratsvertrag zwischen Japan und Korea völkerrechtlich ungültig sei, weil er unter Druck unterzeichnet worden war, wurde ignoriert. Auch seine Bemühungen, den Ständigen Schiedshof in Den Haag anzurufen, scheiterten. In einem letzten Versuch entsandte Kaiser Gojong 1907 drei seiner Vertrauten – Yi Sang-seol, Yi Jun und Yi Wi-jong – zur zweiten Haager Friedenskonferenz, auf der vom Juni bis Oktober 1907 Vertreter aus 44 Staaten zusammenkamen. Die Mission wurde geheim gehalten und die drei Beauftragten reisten unbemerkt über Russland nach Den Haag. Ihre Teilnahme an der Konferenz wurde jedoch abgelehnt, sodass sie ihren Aufruf zur internationalen Intervention in Korea nur über die Journalisten, die aus aller Welt zur Berichterstattung angereist waren, übermitteln konnten. Die Weltmächte ignorierten jedoch die Lage des koreanischen Reiches erneut. Nur der amerikanische Missionar Homer B. Hulbert (1863-1949) unterstützte Gojong in seiner verzweifelten Suche nach internationaler Unterstützung und wird bis heute als Freund Koreas erinnert, der dem Land bis zum Ende beistand. Er ruht auf dem Yanghwajin-Ausländerfriedhof in Seoul. Um Gojong für seine eigenmächtige Geheimmission zu maßregeln, zwang Japan ihn einen Monat nach Beginn der Haager Friedenskonferenz zur Abdankung. Die Thronübergabe an den Kronprinzen erfolgte in Jungmyeong-jeon. Sunjong (reg. 1907-1910), der neue und letzte Kaiser des Kaiserreichs Korea, musste in den Palast Changdeok-gung umziehen, während der abgedankte Kaiser im Gyeongun-gung blieb. Dort lebte er bis zu seinem Tode am 21. Januar 1919 in Gefangenschaft. Es kam der Verdacht auf, dass er von den

Die Unterstützung durch die westlichen Mächte, auf die Kaiser Gojong gezählt hatte, als er das Machtzentrum nach Jeong-dong verlegte und sich auf internationale Diplomatie fokussierte, blieb letztendlich aus.

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Die sanft gewundene Straße entlang der Steinmauern des Deoksu-gung strahlt inmitten der Stadthektik wohltuende Ruhe aus. Links ist die Mauer um den hinteren Hof des Palastes zu sehen, auf der rechten Seite liegt die Residenz des amerikanischen Botschafters.


© Getty Images

Japanern vergiftet worden sei. Fünf Wochen später brach die landesweite Unabhängigkeitsbewegung aus, eine der ersten öffentlichen Massendemonstrationen in Asien, die sich gegen die japanische Besatzung richteten.

Das Hinscheiden des Kaisers

Der inzwischen in „Deoksu-gung“ umbenannte Palast Gyeongun-gung, der seinen Herren verloren hatte und leer stand, erfuhr einen systematischen Abbau. Die japanische Regierung verkleinerte das Palastgelände radikal und ließ eine Vielzahl der Gebäude abreißen. Jungmyeong-jeon, wo Gojong residiert hatte, wurde als Gesellschaftsclub an Ausländer vermietet. Dondeok-jeon, das zum Empfang ausländischer Gäste gebaut worden war, wurde abgerissen und durch einen Vergnügungspark für Kinder ersetzt. In den 1930er Jahren entfernte Japan viele weitere Gebäude, um Platz für einen öffentlichen Park zu schaffen. Nur Junghwa-jeon und

Seokjo-jeon blieben verschont. Souveränität und Würde des Kaiserreichs Korea wurden auf diese Weise restlos zerstört. Als Japan Korea 1910 offiziell annektierte, endete damit auch die Jeongdong-Ära. Jeong-dong ist heute zu einem Fleckchen gemütlich-beschaulicher Einsamkeit geworden, einem Refugium inmitten des Lärms und geschäftigen Treibens um das gegenüberliegende Seouler Rathaus. Die erhalten gebliebenen Palastbauten des kurzlebigen koreanischen Kaiserreiches ziehen Geschichts- und Architekturfans an. Jeongdong-gil, die schmale, gewundene Kopfsteinpflasterstraße, die von Gingkobäumen gesäumt entlang der Palastmauer verläuft, lädt die Fußgänger zu einem Abstecher in eine längst vergangene Epoche ein. 1999 ernannte die Stadt Seoul diese einst von Westlern und später von Hofbediensteten eines zum Untergang verdammten Reiches frequentierte Straße zur ersten „Schönen Straße zum Flanieren“.

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Tapgol Park: Inkubator der Unabhängigkeitsbewegung vom 1. März Vor hundert Jahren war Seouls erster öffentlicher Park eine Brutstätte politischen Widerstandes. Er wurde zum Sprungbrett für die koreanische Unabhängigkeitsbewegung vom 1. März, die eine Wende in Koreas Kampf um Souveränität und demokratischen Republikanismus brachte.

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2 © Korea Creative Content Agency

Der im Zentrum von Seoul gelegene Tapgol Park wurde im späten

Mal öffentlich verlesen. Es folgten landesweite Demonstrationen.

19. Jh. zur Bühne für unzufriedene Bürger. 1898 kam es unter Feder-

Obwohl sie gewaltfrei waren, reagierte das japanische Militär mit Mas-

führung der Vereinigung für Unabhängigkeit zu mehreren Bürgerver-

senverhaftungen und Tötungen, die den Widerstand nach rund zwei

sammlungen. Der Bewusstseinswandel nach den politisch-gesellschaft-

Monaten brachen. Trotzdem hatte die Widerstandsbewegung den

lichen Reformen (sog. Gabo-Reformen) hatte es möglich gemacht,

Samen für eine provisorische koreanische Regierung säen können und

dass jeder Bürger – einschließlich der Metzger, der in der traditionellen

inspirierte Volksbewegungen in anderen asiatischen Kolonialländern.

koreanischen Gesellschaft am stärksten geächteten Gruppe – vor dem Publikum sprechen durfte. Nachdem die Redner auf dem Podest ihre

Ein offener Raum für Bürger

Beschwerden und Wünsche vorgebracht hatten, unterstrichen sie ihr

König Gojong schwebte im Rahmen seiner seit 1896 durchgeführten

inbrünstiges Verlangen nach Reformen, indem sie zum nahen Haupt-

Stadterneuerungspolitik die Anlage eines Bürgerparks vor. Um die

tor des Palastes Gyeongun-gung marschierten, um dort dem Kaiser

Jahrhundertwende verwandelte sein nordirischer Finanzberater John

ihre schriftlich formulierten Gesuche vorzubringen. All das nahm je-

McLeavy Brown das fast zwei Hektar große Gelände des ehemaligen

doch ein Ende, als Japan zwischen 1905 und 1910 Korea kolonialisierte

Tempels Wongak-sa in Seouls ersten Park im westlichen Stil. Der von

und schließlich annektierte.

einfachen Privathäusern umgebene, kompakt angelegte Park wurde

1919 erreichte der aufgestaute Widerstand gegen Japan, das Korea

mit Blick auf die 10-stöckige Steinpagode des Tempels, die als Natio-

zu der Zeit mit besonders eiserner Faust unter Einsatz von Militär und

nalschatz Nr. 2 bis heute im Park steht, Pagoda-Park genannt. 1992

Kolonialpolizei regierte, den Siedepunkt. Am 1. März wurde im Tapgol

erfolgte die Umbenennung in „Tapgol Park“. „Tapgol“ bedeutet „Dorf

Park die koreanische Unabhängigkeitserklärung, an deren Zustande-

mit einer Pagode“.

kommen nicht zuletzt die Studenten großen Anteil hatten, zum ersten

Zur Feier seines 40. Thronjubiläums ließ Gojong 1902 dort einen okta-

12 KOREANA Frühjahr 2019


gonalen Pavillon errichten. Im Tapgol Park fand das erste öffentliche

Gyeongun-gung) gefangen gehalten worden. Als Folge seines über-

Konzert eines Orchesters westlichen Stils statt. Mit der Zusammen-

raschenden Ablebens kam in der Hauptstadt das Gerücht auf, dass er

stellung des Orchesters wurde der deutsche Komponist Franz Eckert

von den Japanern vergiftet worden sei, was bald allgemein angenom-

(1852-1916) beauftragt, der zuvor in Japan mit ähnlichen Aufgaben

men wurde. Trauernde aus dem ganzen Land kamen nach Seoul, um

betraut gewesen war. Eckert kam Anfang 1901 nach Seoul, wo er aus-

an der für den 3. März geplanten Beisetzung teilzunehmen.

gewählte Mitglieder der Hofkapelle in westlicher Musik weiterbildete.

Am 1. März, als der Transport der Bahre geprobt wurde, stellte sich

Sie führten für die Ausländer regelmäßig westliche Musik im Park auf.

Han Wi-geon, ein Student der Gyeongseong Medizinischen Hochschu-

Im darauf folgenden Jahr präsentierte Eckert die Nationalhymne des

le, an den Pavillon des Tapgol Parks und verlas als Vertreter der Stu-

Kaiserreichs Korea. Diese auf Tonleiter und Rhythmus der westlichen

dentenschaft die Unabhängigkeitserklärung. Tausende Studenten und

Musik basierende Hymne mit ihrem Text im typisch koreanischen lyri-

Schüler aus öffentlichen und privaten Schulen gingen auf die Straße,

schen Stil wurde am 9. September 1902 anlässlich der Geburtstagsfeier

um gegen die Japaner zu demonstrieren. Die Trauernden, die sich vor

von Kaiser Gojong erstaufgeführt. Die Nationalhymne wurde an Nati-

dem Haupttor des Deoksu-gung versammelt hatten, schlossen sich

onalfeiertagen, bei offiziellen Hofveranstaltungen sowie in Schulen ge-

den Demonstranten an und riefen „Daehan Dongnip Manse!“: Es lebe

sungen und stärkte zusammen mit der Nationalflagge Taegeukgi den

die Unabhängigkeit Koreas!

Patriotismus in der Bevölkerung. Für seine Bemühungen wurde Eckert

So begann die landesweite Bewegung des 1. März (Samil Undong),

mit dem Taegeuk-Orden 3. Klasse ausgezeichnet. Nach seinem Tod im

der größte und heftigste Widerstand gegen die japanischen Besatzer.

Jahr 1916 wurde er auf dem Yanghwajin-Ausländerfriedhof in Seoul

Durch die Beteiligung von Schülern, Studenten und Bürgern wurde die

beigesetzt.

Bewegung vom 1. März, die anfänglich hauptsächlich von Intellektuel-

Der Inhalt der Nationalhymne lässt sich wie folgt zusammenfassen:

len wie im Exil lebenden koreanischen Aktivisten, Studenten im Ausland

„Möge Gott Kaiser und Herrscherhaus ewig schützen und helfen, sei-

und Vertretern der Religionsgemeinschaften organisiert und angeführt

nen Ruhm in alle Welt zu tragen.“ Nach der Annexion Koreas durch

wurde, zu einer öffentlichen Volksbewegung.

Japan 1910 wurde die Nationalhymne verboten und durch die 1880

Damit wurde ein weiteres Kapitel der modernen koreanischen Ge-

ebenfalls von Eckert komponierte japanische Nationalhymne ersetzt.

schichte im Tapgol Park geschrieben. Einfache Bürger, die das Joch der

Die koreanische Nationalhymne wurde von den Unabhängigkeits-

Klassengesellschaft abgelegt hatten und erste Schritte in der Entwick-

kämpfern, die in Hawaii, China und Russland Zuflucht gesucht hatten,

lung hin zu modernen Bürgern wagten, kamen hier zusammen, um

weiterhin gesungen, wenn auch mit leichten Abwandlungen in Text

gegen die japanische Kolonialherrschaft zu protestieren und die Unab-

und Melodie.

hängigkeit ihres Landes zu fordern. Als Resultat wurde im April 1919 in Shanghai die Provisorische Regierung der Republik Korea gegründet.

Präludium zur Beisetzung des Kaisers

Sie verkündete eine auf demokratischen Republikanismus gestützte

Am 21. Januar 1919 verschied Kaiser Gojong plötzlich im Alter von 67

Verfassung, die zum Eckstein für die 1948 ausgerufene Republik Korea

Jahren. Nach seiner von Japan erzwungenen Abdankung war er von

werden sollte.

der japanischen Kolonialregierung im Palast Deoksu-gung (früher:

3

1. Ein Abschnitt des Trauerzugs von Kaiser Gojong, der am 21. Januar 1919 verschied. Das Gerücht, dass der Kaiser von japanischen Agenten vergiftet worden sei, entfachte die Unabhängigkeitsbewegung vom 1. März.

© Independence Hall of Korea

2. Ein Erinnerungsfoto des Militärorchesters des koreanischen Kaiserreiches, aufgenommen 1902 nach einer Vorführung im oktagonalen Pavillon im Tapgol Park. Erste Reihe Mitte: Franz Eckert (mit Filzhut). 3. Die von 33 Repräsentanten des koreanischen Volkes unterzeichnete Unabhängigkeitserklärung wurde am Mittag des 1. März 1919 im Tapgol Park verlesen. Es folgten landesweite Proteste gegen die japanischen Besatzer.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 13


Gunsan und Modernisierung unter Kolonialherrschaft Während der japanischen Kolonialherrschaft nutzte die japanische Regierung den Hafen Gunsan, um den Reis aus der Honam-Region (Gwangju und die Provinzen Jeollanam-do, Jeollabuk-do), nach Japan zu schiffen. So wurde die Stadt Gunsan zum Schauplatz wirtschaftlicher Ausbeutung durch Japan, aber paradoxerweise zugleich zum Symbol der Modernisierung.

Gunsan war damals eine natürliche Wahl für die Reisausfuhr. Der Ha-

länger nach eigenem Belieben ins Land kommen und Handel treiben

fen liegt am Fluss Geum-gang, ein Stück stromaufwärts von seiner

zu lassen.

Mündung ins Westmeer. Fruchtbare Felder erstrecken sich entlang des

In der Hoffnung auf höhere Zolleinnahmen öffnete das Kaiserreich

malerischen Flusslaufes. Der Export von koreanischem Reis nach Japan

Korea 1899 den Hafen der Stadt Gunsan. In Gunsan gab es bereits zur

begann in der Joseon-Zeit mit dem Vertrag von Ganghwa-do (1876),

Joseon-Zeit einen Speicher für Getreide-Abgaben und der Hafen diente

dem ersten einer Reihe ungleicher Verträge, zu deren Unterzeichnung

im Zuge der von der Regierung verfolgten Ziele der Industrialisierung

Korea gezwungen wurde. Der Vertrag ermöglichte die unbegrenzte

zur Erlangung wirtschaftlicher Prosperität und des Aufbaus eines star-

Ausfuhr von Reis und Getreide sowie zollfreien Handel. Die koreanische

ken Militärs als Verschiffungszentrum für Getreide aus Honam.

Regierung, die die Ernsthaftigkeit der dadurch verursachten Probleme

Nach der Öffnung des Hafens florierten in Gunsan eine Weile Kommis-

zu spät erkannte, konnte sich zwar durch ein zusätzliches Handelsab-

sionsgeschäfte und Handelsunternehmen. Die koreanische Regierung

kommen das Recht sichern, den Getreideexport unter bestimmten

räumte einigen Händlern wie den Kommissionären Sonderhandels-

Bedingungen zu verbieten, doch Japan beschwerte sich jedes Mal dar-

rechte ein. Diese wiederum zahlten im Gegenzug für die Begünsti-

über und forderte Entschädigung.

gungen, die ihnen ermöglichten, sich zu modernen Kooperativen und

Während der mehr als 30 Jahre nach der Öffnung des Hafens bis hin

Handelsunternehmen

zum Beginn der japanischen Kolonialherrschaft bestand der Großteil

zu entwickeln, Steuern

des bilateralen Handels aus koreanischem Reis und japanischen Baum-

an den Hof.

wollstoffen. Die meisten der maschinengefertigten Stoffe, die in den

Als jedoch nach dem

Fabriken in den neuen Industriegebieten Japans hergestellt wurden,

Russisch-Japanischen

wurden nach Korea ausgeführt. Mit dem aus Korea „exportierten“ Reis

Krieg (1904-1905) Ja-

wurden die Arbeiter in diesen Fabriken zu niedrigen Preisen versorgt.

pans ausbeuterische

1

Absichten noch un-

Plünderung der Reiskammer

verhohlener wurden,

Unter dieser Handelsstruktur degenerierte Korea zur Kornkammer Ja-

hatte die Modernisie-

pans und zum Absatzmarkt für Investitionsgüter. Die Folge waren ein

rungspolitik des kore-

chronischer Nahrungsmittelmangel und ein starker Reispreis-Anstieg.

anischen Kaiserreichs

Die Bauern, die gezwungen waren, den noch unreifen Reis in der ma-

e i n E n d e . Mi t d e r

geren Zeit im Frühling zu Schleuderpreisen zu verkaufen, standen in

Einrichtung des Amtes

der Erntezeit im Herbst vor leeren Reiskammern. Die Leiden der Armen

des japanischen Gene-

wie der Bauern oder der städtischen Kleinhändler verschlimmerten

ralresidenten strömten

sich durch die galoppierende Inflation. Der Donghak-Bauernaufstand,

die Japaner auf die

der 1894 in der Honam-Region ausbrach und sich landesweit ausbrei-

koreanische Halbinsel.

tete, war teilweise auch auf Japans Plünderung der Reisbestände und

Die koreanischen Kom-

den wirtschaftlichen Ruin der Bauern nach der Zwangsöffnung der Hä-

missionäre und andere

fen zurückzuführen. Die Bauern forderten, ausländische Händler nicht

Händler in Gunsan © Gunsan Modern History Museum

14 KOREANA Frühjahr 2019


2 © Gunsan Modern History Museum

schlossen sich zwar zu Kooperativen zusammen oder eröffneten Firmen, um den japanischen Händlern entgegenzutreten, waren aber den Japanern finanziell nicht gewachsen. Nach der Annexion Koreas durch Japan kam das Kommissionsgeschäft unter die Kontrolle des Amtes des japanischen Generalgouverneurs, der koreanische Handelsunternehmen in Gunsan verbot. In der Folge fielen die meisten der im Hinterland des Gunsaner Hafens gelegenen Anbauflächen an den Flüssen Geum-gang, Mangyeonggang und Dongjin-gang in die Hände der Japaner. Der von ihnen produzierte Reis wurde zur Ausfuhr nach Japan zum Seeumschlagplatz Gunsan gebracht. Laut der Statistik des Amtes des japanischen Generalgouverneurs wurden 1914 40,2 % des gesamten koreanischen Reisexports über Gunsan verschifft, gefolgt von Busan mit 33,5 % und Incheon mit 14,7 %. Eine Zeitlang befanden sich 80 % des gesamten Areals von Gunsan in japanischer Hand. Die vielen landwirtschaftlichen Betriebe im Besitz der Japaner wurden stark von Großunternehmen wie Fujimoto, Okura und Mitsubishi finanziert. Sie zielten darauf ab, Profite zu machen, während die Arbeit von den koreanischen Pachtbauern erledigt wurde.

Spuren der Modernisierung Andererseits wurde Gunsan aber auch zu einem Symbol der Moderni-

3 © yeomirang

1. Ein 1926 anlässlich des Baubeginns der dritten Hafenanlage errichteter Turm aus 800 Sack Reis. Das Projekt, in dessen Rahmen drei Getreidespeicher mit einem Fassungsvermögen von 250.000 Sack Reis gebaut wurden, wurde 1933 abgeschlossen. 2. Diese Aufnahme aus den 1910er Jahren zeigt Arbeiter beim Reistransport vor der Verschiffung der Ladung nach Japan. Japan beutete die koreanischen Arbeiter aus und plünderte die Reisvorräte des Landes, indem es die koreanischen Pächter die Pacht in Form von Ernteanteilen zahlen (Sharecropping) ließ. Der 1899 eröffnete Hafen Gunsan war der Hauptverschiffungshafen für Reis aus der Honam-Region. 3. Im alten Stadtzentrum von Gunsan, wo in der Kolonialzeit an die 10.000 Japaner lebten, sind bis heute über 100 Häuser im japanischen Stil erhalten. Viele wurden in Cafés oder Touristenunterkünfte verwandelt. Die Häuser sind als Filmkulissen beliebt.

Hafen zudem ein schwimmender Hafendamm angelegt. In der Umgebung des Hafens öffneten Reispolierfabriken, die den koreanischen Reis nach dem Geschmack der Japaner weiß schliffen, auch Brauereien entstanden. Bis heute sind viele historische Entwicklungsspuren aus der Kolonialzeit erhalten, sodass die ganze Stadt Gunsan ein Freilichtmuseum der modernen Geschichte ist. Dazu gehören z.B. einst von Japanern bewohnte herrschaftliche Häuser, der japanische Tempel Dongguk-sa sowie das Gebäude der damals von Japan betriebenen Joseon Bank und der 18. Bank. Während der japanischen Kolonialherrschaft öffnete zudem ein Kino mit Tatami-Fußboden, wo auch

sierung. Für einen effektiven und zügigen Reistransport wurde bereits

Theaterstücke aufgeführt wur-

früh ein modernes Verkehrsnetz aufgebaut. Koreas erste Asphaltstra-

den. Die berühmte koreanische Bäckerei Lee Sung Dang, vor der die

ße, die Gunsan mit Jeonju verband, wurde 1908 angelegt, 1912 ent-

Leute heute Schlange stehen, wurde 1945 eröffnet. Ursprünglich war

stand eine Eisenbahnverbindung zwischen Iksan und dem Hafen

in diesem Gebäude die Bäckerei Izumoya untergebracht, die seit den

Gunsan. Entlang dieser Strecke wurde an den wichtigsten japanischen

frühen 1910er Jahren von einer japanischen Familie betrieben wurde.

Bauernhöfen eine Bahnstation errichtet, um den Reis leicht per Eisen-

Es heißt, dass die Spezialität von Lee Sung Dang, ein Teilchen mit einer

bahn zum Hafen transportieren zu können. Mit Blick auf die großen

Füllung aus roten Bohnen, von einer ähnlichen japanischen Teilchenart

Gezeitenunterschiede an der Westmeerküste wurde am Gunsaner

beeinflusst worden sein soll.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 15


SPEZIAL 2

Der Weg in die Moderne: Korea im frühen 20. Jahrhundert

Erbe moderner literarischer Genies Moderne und Kolonialherrschaft überlappten sich in Korea zum großen Teil. Insbesondere für empfindsame, intellektuelle Literaten, die oft den soziokulturellen Wandel anführten, war das moderne Zeitalter eine grausame Zeit. Trotz ärmlicher Verhältnisse und Krankheit war jeder bemüht, auf seine eigene Weise Zeugnis von den Härten des Zeitalters abzulegen. Song Sok-ze Schriftsteller 1

1. Kim Yu-jeong debütierte 1933 mit der Erzählung Regenschauer. Seine humorvollen und satirischen Kurzgeschichten spielen in Dörfern auf dem Land. 2. Park Nok-ju (1906–1979) veröffentlichte 1924 ihre erste Pansori-Platte bei Columbia Records. Es folgten unzählige weitere Platten bei verschiedenen Labels. Park wurde von dem Schriftsteller Kim Yu-jeong heiß, aber vergeblich umworben. 3. Yisang arbeitete nach Abschluss der Gyeongseong Oberschule für Technik, Abteilung Architektur, im Jahr 1929 zunächst als Bauzeichner. 1930 veröffentlichte er seinen ersten Roman Der 12. Dezember. Seine Gedichte und Erzählungen sind durchdrungen von Überlegungen über das Ich. 4. Park Tae-won debütierte 1926 mit dem Gedicht Ältere Schwester. Park, der als Dichter begann, wechselte in den 1930er Jahren zur Prosa. Das Foto zeigt ihn mit einer kurzen Pagenfrisur mit kurzem Pony, wie sie im Tokio seiner Zeit in Mode war. 16 KOREANA Frühjahr 2019


2

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KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 17


D

urch Tradition und Kultur Koreas verlief stets eine Goldader namens Komik und Satire. Kim Yu-jeong (1908-1937) („Kim Yujong“ in der deutschen Übersetzung des Erzählbandes Kamelien (2013, Edition Delta, Stuttgart)) war ein außergewöhnlicher Schriftsteller, der dieses Gold schürfte und geschickt in seine Werke einfließen ließ. Sie spielen oft vor ländlicher Kulisse und sprühen vor Humor und naiver Arglistigkeit, die sich hinter scharfsinniger Weisheit und Satire verbergen. Gefüllt mit herrlichem Dialekteinschlag sowie unerwarteten Wendungen nimmt die Handlung einen absurden Verlauf, wobei ein Hauch Unzüchtigkeit und Vulgarität das Ganze umso amüsanter macht. Allen voran sind es aber interessante Werke, bei denen es im Wesentlichen darum geht, die elenden gesellschaftlichen Umstände und das miserable Leben der Zeit darzustellen. Tatsächlich schrieb Kim viele seiner Werke, während er gegen Armut und seine Krankheit kämpfte. Als Schwindsüchtiger ohne Hoffnung auf Genesung brachte Kim seine Werke heraus, als würde er Blut aus seinem verfallenden

Körper spucken. Im Frühling 1936, als er schwer krank darnierderlag, prognostizierte der Arzt, dass er den kommenden Herbst wahrscheinlich nicht überleben würde. Es war um diese Zeit, als er in einem Zeitschrifteninterview auf die Frage, was er in dieser Welt hinterlassen möchte, antwortete: „Nun, ich würde schon sehr gern etwas hinterlassen, doch von mir wird wohl nur der Tuberkelbazillus zurückbleiben.“ Andererseits äußerte er auch einmal den Wunsch, dass er „wie der Vollmond hoch in die Luft aufsteigen und dort den Rest seines Lebens einfach mit Altwerden verbringen möchte“. Seinem Wunsch entsprechend leuchtet sein Name hell wie der Vollmond am Horizont der modernen koreanischen Literatur. Seine Erzählungen sind wie realistische Miniaturmalereien, die mikroskopisch die bedrückende Realität beschreiben, die in den 1930er Jahren in den Bauerndörfern herrschte. Im Mittelpunkt der derb-komischen Handlungen, die in einem karikaturhaften, „heimatlichen“ Stil erzählt werden, stehen die bittere Realität der ländlichen Gemeinden im kolonialisierten Korea und seine Menschen, die fürs nackte Überleben oft den letzten Rest Moral aufgeben mussten. Kims Erzählung Frühling, ach Frühling (1935. Die deutschen Titel stammen aus dem oben genannten Erzählband.) z.B. ist nicht einfach nur eine Liebesgeschichte, sondern fokussiert vielmehr auf die ausbeuterischen Beziehungen zwischen Landbesitzern und Pachtbauern. Das Bohnenfeld (1935) ist zwar oberflächlich betrachtet eine lustige Geschichte, schildert aber die düstere Realität eines Lebens ohne Hoffnung, in der sich Freunde und Ehepaare ständig in die Haare geraten. In der Erzählung Regenschauer (1935) hat der Protagonist keinerlei Skrupel, seine Frau zu einem wohlhabenden Nachbarn zu schicken, um irgendwie Geld für seine Spielsucht aufzutreiben, sei es durch Prostitution oder Diebstahl.

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Die jungen Künstler von Gyeongseong

© Kim Yu-jeong Literature Village

18 KOREANA Frühjahr 2019

Da die Handlung der meisten seiner Werke auf dem Lande spielt, nehmen viele an, dass Kim Yu-jeong ein Schriftsteller mit volkstümlichem Empfinden war. Tatsächlich ist er in einem Bergdorf in der Provinz Gangwon-do geboren, zog aber bereits als Kind nach Seoul (damals: Gyeongseong) und verbrachte mehr Zeit in der Hauptstadt als in seinem Heimatdorf. Er unterschied sich daher in nichts von den aus Städten stammenden Literaten seiner Zeit mit ihrer Sturm-undDrang-Leidenschaft, ihrer Romantik, ihrer Verzweiflung und ihrem Liebesleid. Kim, der an der Hochschule Literatur studierte, mochte besonders James Joyce und dessen Roman Ulysses. Einmal gestand er „ein romantisches Erlebnis in einem fahrenden Auto“.


1. Nach dem Abschluss der Oberschule im Jahr 1929 lebte Kim Yu-jeong mit seiner zweitältesten Schwester Kim Yu-hyeong zusammen. Auf dem Foto ist Kim links zu sehen, seine Schwester in der Mitte und sein Neffe Kim Yeong-su rechts. 2. Porträt eines Freundes (1935) von Gu Bon-ung. Öl auf Leinwand, 62 × 50 cm. Dieses von seinem engen Freund Gu Bon-ung gemalte Portät bringt Yis rebellischen Charakter und seine Persönlichkeit gut zum Ausdruck.

© National Museum of Modern and Contemporary Art, Korea

Kims Familie gehörte der aristokratischen Yangban-Schicht an und besaß ein großes Haus in einem Viertel in der Nähe des Königspalastes Gyeongbok-gung. So zog die Familie zwischen ihrem Heimatort in der Gangwon-Provinz und der Hauptstadt hin und her. Nachdem Kim mit sieben zuerst seine Mutter und mit neun dann auch seinen Vater verloren hatte, besuchte er in Seoul die Grund- und Sekundarstufe. In seiner Schülerakte aus der Sekundarschulzeit steht, dass er von „schlichtem Charakter“ und 5 Cheok (ca. 1,51 m. Die Genauigkeit der Angabe ist nicht gewährleistet.) groß war, seine Familie elf Personen, darunter einen Bruder, zählte und über ein Vermögen von 50.000 Won verfügte. Das Familienvermögen wurde jedoch von seinem älteren Bruder, der den Großteil geerbt hatte, allmählich verschleudert. Für ein besseres Verständnis dieser Zeit lohnt es sich, Kim mit seinem Zeitgenossen Yisang (1910-1937) zu vergleichen. Der Dichter Yisang verbrachte seine Kindheit und frühen Erwachsenenjahre im Herzen Seouls in der Nähe des Gyeongbok-gung, wo auch Kim Yu-jeong lebte. Yisang ist im Viertel Seochon am Fuße des Berges Inwangsan westlich des Gyeongbok-gung geboren und zwar in dem Jahr, als das Kaiserreich Korea seine Unabhängigkeit verlor. In den 1920/30ern, als die Hauptstadt im Banne des Modernismus stand, lebte Yisang im Stil eines typischen „Modernisten von Gyeongseong“. In einer kurz vor seinem Tod verfassten Erzählung, in der er sein Leben thematisierte, schrieb Yisang sogar, dass er „noch nie eine Reispflanze zu Gesicht bekommen“ habe. Als ehemaliger Bauzeichner, der einst im Amt des japanischen Generalgouverneurs gearbeitet hatte, nutzte er häufig den städtischen Raum und die Bauwerke von Gyeongseong als Motive für seine Werke. Yisang hatte ein ausgeprägtes Nationalbewusstsein als Koreaner und widersetzte sich der Kolonialherrschaft, was z.B. in seiner Vorliebe, im Alltag die traditionelle Tracht Hanbok zu tragen, zum Ausdruck kam. Seine Frau erinnerte sich, dass Yisang bei ihrem ersten Treffen in einem braunen Durumagi (traditionelles mantelartiges Gewand) erschien. Und als sie frisch verheiratet waren, hätte er sehr mit Unmut reagiert, wenn ihn japanische Polizisten anhielten und einer Leibesvisitation unterzogen, nur weil er einen Hanbok trug. Diese Aussagen widersprechen in der Tat dem bekannten Port-

2

rät, das einen dekadent aussehenden Yisang mit zerzaustem Haar und einer Tabakpfeife im Mund zeigt, und seiner berühmt-berüchtigten Exzentrizität und Neigung, Konventionen zu ignorieren.

Leidenschaft des Sturm und Drang

Auch Kim Yu-jeong sagte einst, dass er im Alltag „JoseonKleidung“ trage. Beide Männer sind zudem für ihre Liebesaffären bekannt. Kim warb um die Gunst von Park Nok-ju, die später zu einer Meistersängerin des traditionellen epischen Sologesangs Pansori wurde, während Yisang mit einer Gisaeng (professionelle Unterhalterin) namens Geum-hong zusammen war, mit der er ein Kaffeehaus führte. Kim Yu-jeong war Oberschüler, als er sich auf den ersten Blick in Park Nok-ju verliebte, die zu der Zeit bereits eine berühmte Pansori-Sängerin und Gisaeng war. Er umwarb sie leidenschaftlich und schickte ihr zahlreiche Liebesbriefe. Park lehnte ihn jedoch mit Hinweis auf ihren unterschiedlichen gesellschaftlichen Status ab. Sie sagte, dass sie Männern nicht mehr traue und bat ihn, zu gehen und sich keine Hoffnungen zu machen. Es heißt, dass Kim am nächsten Tag heftig schluchzend vor Parks Haustür gesehen wurde.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 19


Danach studierte Kim an der Yonhi-Hochschule (heute: Yonsei Universität) Geisteswissenschaften, wurde aber wegen wiederholten unentschuldigten Fehlens zwangsexmatrikuliert. Anschließend besuchte er die Bosong-Hochschule (heute: Korea Universität), bis ihn schließlich sein gebrochenes Herz sowie seine chronische Rippenfellentzündung und Hämorrhoiden wieder zurück in seinen Heimatort führten. Bald schon verkehrte er mit Glücksspielern, Rabauken und Hausiererinnen, die Alkohol und Liebesdienste feilboten, bis sich seine Gesundheit weiter verschlechterte und aus der Rippenfellentzündung Tuberkulose wurde. Während seiner Genesungszeit eröffnete er eine Abendschule, wo er die Dörfler unterrichtete und versuchte, das Leben in der rückständigen Landgemeinde zu verbessern. Zu dieser Zeit begann er ernsthaft mit dem Schreiben. 1933 veröffentlichte er mithilfe des Schriftstellers An Hoe-nam, einem alten Schulfreund, seine Erzählung Die Vagabundin und schlug damit den Weg zum Schriftsteller ein. Yisang wiederum unterhielt eine lebenslange Freundschaft mit dem Maler Ku Pon-ung (1906-1953) und dem Schriftsteller Pak Taewon (1910-1986). Yisang und Ku, die in benachbarten Vierteln aufwuchsen, waren als „exzentrischer schwindsüchtiger Dichter und buckliger Maler“ ein bekanntes Duo. Dank Ku lernte Yisang außerdem die Gisaeng

Geum-hong kennen und eröffnete das Kaffeehaus Jebi (Schwalbe). Ku malte das Bild Porträt eines Freundes, das Yisang mit einer Tabakpfeife im Mund zeigt. Yisangs Frau Byeon Dong-rim war zudem die jüngere Schwester von Kus Stiefmutter. Nach Yisangs Tod heiratete Byeon den Maler Kim Whanki und nannte sich fortan Kim Hyang-an. Yisang illustrierte Pak Taewons Roman Ein Tag im Leben des Schriftstellers Kubo, der ab August 1934 anderthalb Monate lang in der Tageszeitung Joseon Jungang Ilbo in Fortsetzungen veröffentlicht wurde. Auf Paks Hochzeitsfeier schrieb er ins Gästebuch „Absage eines Besuches strengstens verboten!“, da er befürchtete, dass er Pak nach seiner Heirat nur noch selten zu Gesicht bekommen würde. Yisang und Pak waren in dem 1933 in Seoul gegründeten Literaturzirkel Gruppe der Neun aktiv. Der Name geht darauf zurück, dass die Zahl der Mitglieder trotz einiger Wechsel konstant bei neun blieb. Die Gruppe, die angesichts der Welle der proletarischen Literatur nach einer reinen, von Ideologien unbeeinflussten Literatur strebte, genoss in literarischen Kreisen hohes Ansehen und zog sowohl etablierte als auch vielversprechende neue Autoren an. Obwohl sich der Zirkel nach einigen Jahren auflöste, setzten alle Mitglieder ihre kreativen Aktivitäten fort und bereicherten den Boden der modernen und zeitgenössischen koreanischen Literatur.

© Kim Yu-jeong Literature Village

20 KOREANA Frühjahr 2019

Kim Yu-jeongs im Dezember 1935 in der Zeitschrift Jogwang (Morgenlicht) veröffentlichte Erzählung Frühling, ach Frühling (links) erzählt auf lustige Weise vom Konflikt zwischen einem jungen Mannes, der bei der Familie seiner Frau lebt, und seinem Schwiegervater, der ihn wie einen Diener behandelt. Die im Mai 1936 ebenfalls in Jogwang publizierte Kurzgeschichte Kamelien (rechts) beschreibt in humorvollem Stil die Liebesgeschichte eines jungen Pärchens.


Yisangs literarische Welt, die die innere Unsicherheit der unter dem Kolonialjoch lebenden Intellektuellen thematisierte, unterschied sich deutlich von der Kim Yu-jeongs, der die Verarmung der Bauerngemeinden als Hauptmotiv seiner Werke nutzte. Trotzdem verstand der eine die künstlerische Seele des anderen. Fesseln der Armut und Schwindsucht

Nachdem die Japaner die Abendschule zwangsgeschlossen hatten, wusste Kim Yu-jeong nichts mit sich anzufangen und seine Lebensumstände verschlechterten sich. Mit seiner Gesundheit ging es immer weiter bergab, und da vom Familienerbe fast nichts mehr übrig geblieben war, musste er auf Kosten seines Onkels oder seiner Schwestern leben. Trotz seines schlechten Gesundheitszustandes widmete er sich verstärkt dem Schreiben, um Geld zu verdienen und finanziell unabhängiger zu werden. Im Januar 1935, zwei Jahre nach seinem Debüt, wurden seine Erzählungen Regenschauer und Die Goldmine bei den jährlichen Frühjahrs-Literaturwettbewerben der Tageszeitungen The Chosun Ilbo und Joseon Jungang Ilbo preisgekrönt. Damit wurde er schlagartig zu einem aufsteigenden Stern am Literaturhimmel. Wenig später trat Kim der Gruppe der Neun bei, wo er Yisang, kennenlernte. Die beiden hatten viele Gemeinsamkeiten: Yisang litt fast sein ganzes Leben lang an Lungentuberkulose, woran auch Kim erkrankt war. Kim war als Kind verwaist, während Yisang sich von seinen Eltern trennen musste und von seinem ältesten Onkel väterlicherseits adoptiert wurde. Und auch ihre bittere Armut verband sie. Zu Yisangs bekanntesten Werken gehören die Gedichtserie Mogelperspektive (1934), die zunächst bei Joseon Jungang Ilbo veröffentlicht, dann aber eingestellt wurde, da die Leser sie als übermäßig abstrus empfanden, und seine Erzählung Flügel (1936), die anhand des Protagonisten und dessen müßiggängerischem Leben das widerspruchsvolle Identitätsgefühl der modernen Intellektuellen thematisiert. Yisang literarische Welt, die die innere Unsicherheit der unter dem Kolonialjoch lebenden Intellektuellen thematisierte, unterschied sich deutlich von der Kim Yu-jeongs, der die Verarmung der Bauerndörfer als Hauptmotiv seiner Werke nutzte. Trotzdem verstand der eine die künstlerische Seele des anderen. Kim, dessen Tage gezählt waren, setzte seine Besäufnisse fort und schrieb die Nächte durch, bis er schließlich im Sommer 1936 eine buddhistische Einsiedelei aufsuchte, um sich auszukurieren. Als er mit dem Rauchen und Trinken aufhör-

te und sich an einen geregelten Tagesablauf hielt, verbesserte sich sein Gesundheitszustand für kurze Zeit. Es heißt, dass Yisang ihn damals dort aufgesucht und vorgeschlagen hätte, gemeinsam Selbstmord zu begehen. Kim, der seinen Oberkörper entblößte, um sein abgemagerte Brust zu zeigen, lehnte mit den Worten ab, dass in ihm „die Hoffnung auf ein Morgen brenne“. Yisang betrachtete den schwer atmenden Kim eine Weile und verabschiedete sich dann mit der Mitteilung, dass er nach Japan aufbrechen werde. Daraufhin soll Kim in lautes Schluchzen ausgebrochen sein. Trotz seiner tödlichen Krankheit widmete sich Kim Yujeong die letzten zwei, drei Jahre seines Lebens dem Schreiben. So konnte er an die 30 Erzählungen, über 10 Essays, einen unvollendeten Roman sowie die Übersetzung eines Romans hinterlassen. In einem Brief an Ahn Hoe-nam vom 18. März 1937 schrieb er über seinen Zustand: „Mein Körper wird Tag für Tag schwächer. Ich kann mich nicht einmal mehr aufsetzen. Nachts leide ich unter Schlaflosigkeit und liege voller Verbitterung über die qualvolle Zeit da.“

Vorzeitiger Tod

Dennoch brachte er seine Liebe zum Leben zum Ausdruck, als er schrieb: „Ich möchte wirklich wieder aufstehen können! Ich fechte jetzt meinen letzten Strauß mit meiner Krankheit aus. Ich brauche dringend Geld. Mir fehlt Geld. Ich habe vor, 100 Won aufzutreiben. Ich hoffe, dass du aus Liebe zu einem Freund etwas Unterstützung leistest.“ Einen geballten Willen zur Genesung an den Tag legend plante er, mit dem Geld Hühner und Schlangen für stärkende Gerichte und Tonika zu kaufen. Er verschied jedoch am frühen Morgen des 29. März, noch bevor er ein Antwortschreiben erhalten konnte. Rund drei Wochen später, am 17. April, verstarb Yisang in einem Krankenhaus in Tokio ebenfalls an TB. Der japanische Arzt, der Yisangs Lunge untersuchte, soll gesagt haben, dass „in der Brust dieses Mannes so gut wie nichts mehr ist, das noch als Lunge bezeichnet werden könnte“. So erlosch nacheinander das Lebenslicht zweier literarischer Genies in ihren 20ern.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 21


Eine von Yisangs Illustrationen für Pak Taewons Roman Ein Tag im Leben des Schriftstellers Kubo.

lesungen. Dieser Künstlertreffpunkt diente auch als Versammlungsort der Gruppe der Neun, einem Kreis von Schriftstellern, die nach reiner Literatur strebten, und dem auch Pak angehörte.

Auf der Jagd nach Geld Kubo verlässt das Kaffeehaus und geht zum Rathaus, wo er beim Anblick des schräg ge-

Seoul in den 1930er Jahren Ein Spaziergang mit dem Schriftsteller Kubo

genüberliegenden Haupttors des Deoksu-Palastes denkt, wie sehr dieser armselige, alte Palast den Betrachter doch deprimiere. Dann läuft ihm ein Freund aus alten Grundschulta-

Ohne bestimmtes Ziel verlässt Kubo jeden Tag gegen Mittag mit Notizbuch

gen über den Weg, aber als der schäbig ge-

und Spazierstock in der Hand das Haus, um in der Stadt herumzustreifen. Ein solcher Tag wird in Ein Tag im Leben des Schriftstellers Kubo beschrieben, einem autobiografischen und metafiktionalen Kurzroman von Pak Taewon (1909-1986). Kubo war Paks Pseudonym. Der Roman wurde ab August 1934 über anderthalb Monate in der Tageszeitung Joseon Jungang Ilbo in Fortsetzungen veröffentlicht. Die Illustrationen stammten von Paks Dichterfreund Yisang. Begeben wir uns anhand des Romans auf eine Entdeckungsreise in die Stadtlandschaft von Seoul im Zeitalter der frühen Moderne.

kleidete Freund ihn nur kalt grüßt und sofort weitergeht, fühlt er sich verletzt und einsam. In der Hoffnung, dass er sich von Menschen umgeben besser fühlen würde, geht Kubo in die Wartehalle des Hauptbahnhofs Gyeongseong. In der Menschenmenge fällt sein Blick auf eine alte, kranke Frau, einen aus dem Land angereisten Händler und ominöse Männer, die Regierungsschnüffler zu sein scheinen. Ihn überkommt ein Gefühl des

Kubos Mutter kann ihren Sohn kaum verste-

Joseon Bank, wo er aussteigt. Er geht in ein

Entfremdetseins und der Trauer, was seine

hen, der mit 26 immer noch unverheiratet

Kaffeehaus voller Menschen, die Kaffee oder

Einsamkeit nur noch weiter verstärkt. Ihm

und ohne anständigen Job ist und sich nur

Tee trinken, rauchen, reden oder der Musik

© Korea Creative Content Agency

mit dem Schreiben beschäftigt. Dabei hat er

lauschen. Menschen wie er, die um zwei Uhr

doch sogar in Japan studiert. Auch heute ig-

nachmittags nichts Besonderes zu tun haben.

noriert Kubo wieder die Sorgen seiner Mutter

Die meisten sind jung und „ihre Augen, fast

und verlässt das Haus. Ohne bestimmtes Ziel

bar jeden Glanzes und unstet, klagen über

überquert er die Straßenbahngleise, wirft

Schwermut und die Strapazen des Lebens“.

einen Blick auf das Hwasin-Kaufhaus, das er

Kubo betrachtet das Bild, das über seinem

schließlich betritt. Dort betrachtet er etwas

Kopf an der Wand hängt, und denkt, dass er

neidisch ein junges Paar, das mit einem klei-

glücklich wäre, wenn er genug Geld hätte, um

nen Kind auf den Fahrstuhl wartet, und fragt

in den Westen oder zumindest nach Tokio

sich plötzlich, wo er wohl sein Glück finden

reisen zu können.

könnte.

Das Kaffeehaus, ist der Nangnang Parlour.

1

1931 eröffnet, war es das erste, von einem

Junge Menschen in der kolonisierten Stadt

Koreaner geführte Kaffeehaus in der Haupt-

In Jong-ro [eine von Seouls Ost-West- Haupt-

ersten Stock als Atelier. Jeden Freitag wurden

verkehrsstraßen], nimmt Kubo die nächste

hier die Neuerscheinungen der Plattenfirma

stadt. Der Inhaber, ein Maler, nutzte den

Straßenbahn. Sie bringt ihn zum Dongdae-

Victor Records gespielt, gelegentlich gab es

mun [Osttor], und wieder zurück bis zur

Solo-Ausstellungen von Malern oder Dichter2

22 KOREANA Frühjahr 2019


wird bewusst, dass er in einem Zeitalter des

mit ihm eine Schüssel Seolleongtang (Rin-

Goldrausches lebt, in dem sogar Literaturkriti-

derkraftbrühe) essen und verabschiedet sich

ker und Dichter von einer Goldmine träumen.

dann von ihm. Danach wandert er wieder al-

Auch hier begegnet er wieder zufällig einem

leine die Straße von Gwanghwamun entlang.

Klassenkameraden aus der Mittelschulzeit.

An ihm vorbei gehen ein zehnjähriges Kind,

Als er sieht, dass der ungehobelte Sohn eines

das ein Frühlingslied singt, und zwei betrun-

Pfandleihers in Begleitung einer schönen

kene Männer, die die Arme um die Schultern

Frau ist, schließt er einfach darauf, dass die

verschlungen das Susimga (Volkslied voller

Beziehung der beiden auf einem Handel von

Trauer und Sorgen) singen. Als ein junger

Sex und Geld basiere und die beiden dadurch

Mann mit Studentenkappe an der Seite einer

auf ihre eigene Art und Weise Lust und Glück

jungen Frau an ihm vorbeigeht, gibt Kubo der

genießen.

Liebe der beiden seinen Segen.

Als nächstes ruft Kubo einen Freund an, der

Auf der Straße begegnet er den Neffen eines

Dichter und Journalist einer Zeitung ist, und

Freundes, die er mit einer Wassermelone als

trifft ihn in einem Kaffeehaus. Sein Freund

Geschenk nach Hause schickt. Danach macht

beschwert sich, dass er wegen des Geldes

er sich wieder auf den Weg zum Nangnang

jeden Tag Berichte über Mörder und Brand-

Parlour, wo er mit einem Freund verabredet

stifter schreiben müsse, und äußert sich dann

ist. Als er einen Postboten, der Telegramme

zu Kubos Werken. Die beiden unterhalten

ausliefert, vorbeiradeln sieht, verspürt Kubo

sich noch eine Weile über James Joyce, aber

plötzlich das Verlangen, ein Telegramm zu

kaum haben sie das Kaffeehaus verlassen,

erhalten, das ihn bewegt. Einen Moment lang

nimmt sein Freund die Straßenbahn, um zum

fühlt er sich sehr zufrieden, als er sich vor-

Abendessen nach Hause zu eilen.

stellt, wie er Tausende von Postkarten kauft, die er in einer Ecke des Kaffeehauses an seine

Einsamkeit bei Dämmerung

Freunde schreibt.

Kubo läuft in Einsamkeit versunken an der

3

1. Das 1931 gebaute Kaufhaus Hwasin war Koreas erstes modernes Kaufhaus. Es wurde 1987 im Zuge von Straßenverbreiterungsarbeiten abgerissen. 2. Der 1900 als 33m² großer Holzbau errichtete Bahnhof Gyeongseong [Seoul] wurde 1925 durch ein Backsteingebäude ersetzt. Neben dem Bahnhof in Tokio war es einer der größten Bahnhöfe in Asien. 3. Nangnang Parlour wurde 1931 von Yi Sun-seok eröffnet, einem Künstler, der die Ueno Art School in Tokio abgeschlossen hatte. Das in der Nähe des heutigen Westin Chosun Hotels gelegene Kaffeehaus war ein beliebter Treffpunkt der „Modern Boys“.

Kreuzung Jong-ro herum und geht an der

Jong-ro am frühen Morgen

dortigen Polizeiwache in ein kleines Kaffee-

Kubo betritt das Kaffeehaus und lauscht still

eine Art Geisteskrankheit sei, und behauptet,

haus, das einem Freund gehört. [Es ist das

Tschaikowskis Valse sentimentale, gespielt

dass womöglich jeder auf dieser Welt geis-

Café Schwalbe, das der Dichter Yisang mit

von Mischa Elman. Ein Lebensversicherungs-

teskrank sei, nur seien die Symptome jeweils

seiner Geliebten Geum-hong, von 1933-1935

vertreter, der an einem anderen Tisch in Ge-

etwas anders.

führte.] Er fragt nach dem Besitzer und er-

sellschaft teures Bier trinkt, erkennt ihn und

Als sie sich nach draußen begeben, ist es

fährt, dass dieser ausgegangen sei, aber bald

bittet ihn herüber. Widerwillig schließt Kubo

schon zwei Uhr früh, aber Jong-ro ist trotz

zurückkommen werde. Kubo beschließt, auf

sich der Runde an. Als dann jedoch literari-

des Regens noch voller Menschen. Urplötzlich

ihn zu warten. In diesem Kaffeehaus, das laut

sche Werke nur anhand ihres kommerziellen

sieht Kubo das „kleine, einsame und traurige

einem Zeitschriftenartikel von damals „wegen

Wertes beurteilt werden, ist Kubo unange-

Gesicht“ seiner Mutter vor sich, die wohl bis

seiner Glasfassade außergewöhnlich“ ist, sol-

nehm berührt. Gerade da kommt sein Freund

zu seiner Heimkehr kein Auge zutun können

len die Gäste beim Kaffee- oder Teetrinken

und die beiden verlassen das Kaffeehaus.

wird. Als sein Freund ein Treffen für den

durch die Glasfront die vorbeigehenden Neu-

Die beiden Männer – der eine ein armer

nächsten Tag vorschlägt, erwidert Kubo, dass

en Frauen in Strümpfen und hohen Schuhen

Dichter, der andere ein armer Schriftsteller

er ab jetzt zu Hause bleiben und schreiben

betrachtet haben. Während er auf seinen

– heben einen im Café Jongno [vermutlich

wolle und eilt heim. Der junge Mann, der am

Freund wartet, erinnert Kubo sich an eine

das Café Angel, damals ein angesagter

Nachmittag zuvor beim Verlassen des Hau-

Kommilitonin, in die er sich während seiner

Treffpunkt]. Kubos Freund, der an einer Ge-

ses nur an sein eigenes Glück gedacht hatte,

Studienzeit in Tokio verliebt hatte.

schmacksstörung leidet, weiß nicht, wie sein

macht sich jetzt Gedanken über das Glück

Als sein Freund schließlich kommt, geht Kubo

Getränk schmeckt. Kubo meint, dass es wohl

seiner Mutter.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 23


SPEZIAL 3

Der Weg in die Moderne: Korea im frühen 20. Jahrhundert

Durch die Tür der Moderne Neue Frauen Die „Neuen Frauen“, die eine Bildung westlichen Stils genossen, befreiten sich von den diskriminierenden Tabus und Einschränkungen des Konfuzianismus. Diese Frauen, die von einer Welt träumten, in der sie den Männern gleichgestellt waren und ihren Ehepartner selbst wählen konnten, führten neue Frisuren- und Kleidertrends an, aber ihre kühnen Unternehmungen endeten oft tragisch. Kim Chi-young

Professorin für Didaktik des Koreanischen, Daegu Catholic University

24 KOREANA Frühjahr 2019


FĂźr die Frauen aus Joseon, die nicht einmal alleine ausgehen durften, brachte das neue Zeitalter Bildungschancen und das Recht, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Aber die neue Freiheit fiel ihnen nicht in den SchoĂ&#x;. Ihre Bestrebungen, ihr Leben nach modernen Vorstellungen zu gestalten, gingen oft mit harter Kritik und Frustration einher.

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 25


C

hae Manshik (1902-1950), ein besonders für seine satirischen Romane bekannter Schriftsteller, debütierte 1924 mit einer Erzählung, die die Begegnung mit einer jungen Frau im Zug schildert. In dieser Auf drei Pfaden betitelten Erzählung geschieht nichts, was aus heutiger Sicht bemerkenswert wäre, es kommt lediglich zum mehrmaligen Blickkontakt zwischen dem Protagonisten und einer „weiß und schlicht gekleideten Studentin“. Doch zur damaligen Zeit war es noch äußerst unüblich, dass sich ein junger Mann und eine junge Frau längere Zeit in unmittelbarer Nähe aufhielten. Daher diente der Zug als neuer, moderner Raum, der eine solche Begegnung ermöglichte, in der Literatur oft als Bühne der Handlung. Zudem war die Studentin in dieser Geschichte eine der sog. „Neuen Frauen“, denen man im Alltag sonst kaum begegnete. Der Protagonist beschreibt sie wie folgt: „Ihr Bolero-Oberteil war weiß, ihr Rock war weiß, ihre Unterkleid war weiß, ihre kniehohen Strümpfe waren weiß und auch ihr gepudertes Gesicht war weiß. Nur ihre hohen, spitzen Stöckelschuhe und ihr reizendes Haar, das in einem locker geflochtenen Zopf herunterhing, waren rabenschwarz.“ Die Beschreibung der Erregung des jungen Mannes, der sich in nächster Nähe zu einer der wenigen Studentinnen in der koreanischen Gesellschaft der Zeit befand, und seines Herzklopfens, wenn ihre Blicke einander trafen, brachte Chae Anerkennung als Schriftsteller ein. Bis zu Beginn der 1920er Jahre, als dieser Roman veröffentlicht wurde, war es äußerst ungewöhnlich, dass ein Mann und eine junge Frau räumlich einander so nahe waren. Es war schon ein sehr außergewöhnliches „Ereignis“.

Bildung für Mädchen und Frauen

In der koreanischen Fernsehserie Mr. Sunshine (2018), die im JoseonReich und anschließenden Kaiserreich Korea der Jahrhundertwende spielt, legt die Protagonistin, Tochter einer adligen Yangban-Familie, ihren Tschador-artigen Übermantel, den Edelfrauen damals in der Öffentlichkeit trugen, ab und lernt in einer von einer Westlerin geleiteten Schule Eng© All That Book

1. Süße sechzehn (1926) war ein äußerst populärer Liebesroman von Gang Eunhyeong, Lektor und Verleger bei der Buchhandlung Daeseong. In der frühen Moderne verbreitete sich das Konzept von freier Liebe schnell, sodass Liebe und Romantik zu beherrschenden Romanthemen wurden. 2. Die Melodie des Frühlings von Kim Inseung. Öl auf Leinwand, 147,2 × 207 cm.

1

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Kim In-seungs repräsentatives, auf zwei große Leinwände gemaltes Werk zeigt eine Gruppe Frauen, die eine Cello-Aufführung genießen. Es wurde 1942 auf der 21. Chosen [Koreanischen] Kunstausstellung präsentiert.

lisch. Noch bis in die 1910er Jahre hinein war es extrem selten, dass koreanische Frauen eine Schule besuchten. 1886 eröffnete die amerikanische Missionarin Mary F. Scranton (1932-1909) im Seouler Innenstadtviertel Jeong-dong Ewha Haktang, Koreas erste moderne Bildungseinrichtung für Frauen. Aber noch bis in die 1910er Jahre konnte die Schule kaum Schülerinnern gewinnen. Die Lehrerinnen gingen von Tür zu Tür und versuchten die Eltern davon zu überzeugen, ihre Töchter in die Schule zu schicken, wo sie kostenlosen Zugang zur Bildung bekommen konnten. Die Lage änderte sich schließlich, als bekannt wurde, dass die Ehwa-Schülerinnen aktiv an der Unabhängigkeitsbewegung vom 1. März 1919 teilgenommen hatten. Danach stiegen die Anmeldezahlen dermaßen rasant, dass die Schule nicht alle Bewerberinnen aufnehmen konnte. Doch das bedeutet nicht, dass die Gesamtzahl der Schülerinnen deutlich zugenommen hätte. Laut der Statistik des Amtes des japanischen Generalgouverneurs betrug 1923 die Zahl der Schülerinnen in den sieben öffentlichen und privaten Sekundarschulen 1.370, was nur 0,6 % der gesamten weiblichen Bevölkerung ausmachte. Im tertiären Bildungsbereich war der Frauenanteil mit 0,03 % noch geringer. Die wenigen jungen Frauen, die eine Schule besuchten, zogen entsprechend große öffentliche Aufmerksamkeit auf sich. Schon bald entwickelten sie eine distinktive Identität als „Neue Frauen“, die v.a. durch ihr Aussehen herausstachen: Mit wadenkurzen Röcken, spitzen, hochhackigen Schuhen, schwarzen Sonnenschirmen und trendigen Frisuren brachten sie ihr Ich-Bewusstsein zum Ausdruck. Der traditionelle schwarze Hanbok aus weißem Bolero-Oberteil und – mit Blick auf Hygiene und Beweglichkeit – auf Wadenlänge gekürztem Rock wurde in den meisten Mädchenschulen als Schuluniform eingeführt und zum Symbol der Schülerinnen von damals. Der schwarze Sonnenschirm, der zunächst den traditionellen Umhang in Form des Hanbok-Rocks, mit dem Frauen Haar und Gesicht umhüllten, ersetzte, nahm im Laufe der Zeit hellere Farben an und wurde zum modischen Accessoire. Daneben entwickelten sich


auch Schuhe, Socken, Gürtel, Schals, Taschentücher und Brillen zu trendigen Modeartikeln, die den gesellschaftlichen Status dieser Neuen Frauen offenbarten. Insbesondere die Frisur wurde zum bestimmenden Kennzeichen. Die Trends wandelten sich von der japanischen Hisashigami-Frisur (japanische Pompadour-Frisur) mit seitlich aufgebauschtem Haar und Dutt am Hinterkopf, über die davon abgewandelte Version der Teure-Frisur (Dutt mit Seitenscheitel), bis hin zu Mitte der 1920er Jahre neu in Mode gekommenen traditionellem Hängezopf und Ansteckzöpfen. Hinzu kam der gewagtere Bob als Symbol der Emanzipation der Frau. Bubikopffrisuren, von den Neuen Frauen aus Geld-, Zeit- und Hygienegründen befürwortet, wurden von vielen Männern, die weibliche Schönheit nicht zuletzt über die Haartracht definierten, verabscheut. Indem sie anders aussahen und anders lebten, wollten sich die Neuen Frauen als anders als das „Alte“ definieren. Gekürzte Röcke und Stilettos waren nicht nur modischer Dekor, sondern kulturelle Manifestation ihres Verlangens, nach eigenem Willen Liebesbeziehungen einzugehen, eine moderne Familie zu gründen, die in einem kultivierten Haushalt mit Klavier lebt, gleiche Rechte wie der Ehemann zu genießen und die nächste Generation auf Grundlage modernen Gedankenguts zu erziehen. Die Gesellschaft akzeptierte ihre Wünsche jedoch nicht ohne Weiteres. Mit ihrer zunehmenden Präsenz an den Hochschulen und der verstärkt auf ihren modischen Stil gerichteten Aufmerksamkeit wurde auch die Kritik immer lauter. Zeitungen und Zeitschriften kritisierten v.a. ihre „Extravaganz und Eitelkeit“ scharf. Da damals ein Paar Damenschuhe fast so viel wie zwei Säcke Reis gekostet haben soll, ist kaum zu leugnen, dass stilvolles Aussehen ins Geld ging.

Bewunderung und Kritik

Ab Mitte der 1920er Jahre hatten sich Frauen nicht nur Zugang zur Bildung verschafft, sondern auch zu Musikkonzerten, Vortragsveranstaltungen und Theatern. Entsprechend versuchten die Bildungsinstitutionen, sie durch strenge Regeln unter Kontrolle zu bringen. Es

2 © Bank of Korea

wurde ihnen z.B. verboten, ohne Erlaubnis Kinos oder Musikkonzerte zu besuchen. Bei solchen Besuchen hatten sie zudem stets in Begleitung eines Familienmitglieds, einer Kommilitonin bzw. Mitschülerin zu sein. Der Besitz von Zeitschriften sowie Büchern, die keine Lehrbücher waren, musste der Schul- bzw. Hochschulleitung gemeldet werden. Für diejenigen, die nicht zu Hause leben konnten, war das Wohnheim der Schule bzw. Hochschule meist die einzige Wahl, da es gegen Sitte und Anstand verstieß, als junge Frau alleine in einer privaten Pension zu wohnen. Sogar der Briefverkehr wurde strengstens reguliert. Es war um diese Zeit, dass sich die vage Bezeichnung „Punggi mullan (Verfall der öffentlichen Sitten)“ verbreitete. Ab und zu fand diese Beschreibung auch etwas merkwürdige Anwendung, so z.B. auf extravaganten Kleidungsstil, den Besuch von Cafés oder Restaurants oder Unterricht-Schwänzen, um ins Kino zu gehen. Der schlimmste Verstoß war allerdings ein Date. Sich ohne elterliche Erlaubnis mit einem Kommilitonen zu treffen galt als „Missetat“, die mit Exmatrikulation bestraft werden konnte. Diesem restriktiven Regelwerk lag der allgemeine Gedanke zugrunde, dass Mädchen unreife Wesen von schwachem Geiste seien, die vor Versuchungen und ihrem impulsiven Wesen geschützt werden müssten – eine Vorstellung, die in der männerorientierten Sichtweise wurzelte, dass für eine ledige Frau Jungfräulichkeit oberstes Gebot zu sein hatte. Diese strengen Vorschriften waren zum Teil auch darauf zurückzuführen, dass die von den Neuen Frauen repräsentierte Moderne eine von Extravaganz und Zurschaustellen geprägte Zeit war. Die männlichen Intellektuellen der 1920/30er Jahre waren daran gescheitert, aus eigener Kraft einen modernen Staat aufzubauen, weshalb sie sich der von den Kolonialherren angeführten Modernisierung unterwerfen mussten. Unter solchen Umständen schienen Ideale und Lebensweise, nach der die Neuen Frauen strebten, weit entfernt von der düsteren Realität zu sein. Die Männer, die mit ihrem Versagen, die Modernisierung des Landes zu lenken, zu kämpfen

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 27


Indem sie anders aussahen und anders lebten, wollten sich die Neuen Frauen als anders als das „Alte“ definieren. hatten, betrachteten die Neuen Frauen mit Bewunderung und Verachtung: Sie standen für den Geist der Moderne, aber auch für deren ausschweifende und frivole Kehrseite.

Selbstmord aus Liebe

Im Korea der Vormoderne lag die Entscheidung über Heiratsangelegenheiten ausschließlich bei den Eltern. Die Einführung des Neologismus „Yeonae“ (jap. Übersetzung für „love“) löste in Korea eine Sensation aus, da das Wort für die im Westen übliche freie Partnerwahl im Gegensatz zu den von den Familien arrangierten Eheschließungen stand. Das Konzept verbreitete sich schnell und setzte sich als gesellschaftlicher Trend durch. Liebe wurde als edle Emotion betrachtet, die Unterschiede in sozialem Status, Vermögen und Bildung überwand, und diente als konzeptueller Mechanismus zur Bestätigung der Selbstbestimmtheit des Individuums. Das führte seltsamerweise dazu, dass „Liebe“ mit „ein aufgeklärtes Leben leben“ gleichgesetzt wurde. Doch als die jungen Intellektuellen mit dieser „neuen Ideologie“ der Liebe in Kontakt kamen, waren die meisten schon mit einer Frau verheiratet, die die Eltern für sie ausgewählt hatten. Sie wollten jedoch die Fesseln der Konvention ablegen und mit einer Frau ihrer Wahl leben. Es kam sogar zur Gründung von „Scheidungsclubs“ und zu einer Bewegung zur Annulierung von arrangierten Ehen. Erwies sich eine Scheidung als unmöglich, entschieden sich viel fürs Zusammenleben mit der Geliebten. Der Glaube, dass Liebe und freie Eheschließung Ausdruck eines aufgeklärten Lebens seien, diente als Rechtfertigung dafür, die Ehefrau zu verlassen und mit der Frau seiner Wahl, die als „second“ bezeichnet wurde, unverheiratet zusammenzuleben. Das brachte für beide Frauen großes Leid. Angesichts der Unvereinbarkeit von Realität und Ideal versuchten die jun-

1 © Gwangju Speer Girls’ High School

28 KOREANA Frühjahr 2019

gen Menschen, die Reinheit ihrer Gefühle durch Akte intensiver Leidenschaft zu beweisen. In Extremfällen führten flammende Erwartungen und ungestüme Leidenschaft sogar zum Selbstmord. So griffen ab Mitte der 1920er Jahre Doppelselbstmorde aus unerfüllbarer Liebe wie eine Epidemie um sich. 1923 sorgte die Geschichte von Gang Myeong-hwa, die Rattengift einnahm und auf den Knien ihres Geliebten starb, für Schlagzeilen. Gang, eine Gisaeng (professionelle Unterhalterin), hatte sich in Jang Byeong-cheon, einen jungen Mann aus reicher Familie, verliebt, die jedoch vehement gegen diese Verbindung war. Jang war sogar einmal mit der Geliebten nach Japan geflüchtet, wurde aber von den dort studierenden Koreanern kritisiert, Schande über das koreanische Volk zu bringen. Als Jang seiner großen Liebe dann aber in gleicher Weise in den Tod folgte, wurde der Name Gang Myeong-hwa zum Inbegriff der reinen Liebe. In den Jahrzehnten darauf bot ihre Liebesgeschichte reichlich Stoff für Romane, Lieder und Filme. Für noch mehr Schlagzeilen sorgte der gemeinsame Selbstmord des Dramatikers Kim U-jin und der ersten Gesangskünstlerin Yun Simdeok, die 1926 auf der Überfahrt von Shimonoseki nach Busan gemeinsam ins Wasser sprangen. Beide waren 29 Jahre alt. Kim war ein Vorreiter des modernen koreanischen Theaters, der auch bei der Gründung des von in Tokio studierenden Koreanern organisierten Verbandes der Theaterkünste mitgewirkt hatte. Yun, die sich einen Namen als erste koreanische Sopranistin gemacht hatte, war eine prominente Persönlichkeit. Der Doppelselbstmord einer gefeierten Sängerin, die bereits in mehrere Liebesaffären verwickelt gewesen war, und eines talentierten Dramatikers mit Frau und Kindern wurde allgemein aufs Schärfste verurteilt. Anders als bei der Gisaeng Gang zeigte die Öffentlichkeit kein großes Verständnis für Yun. Die Selbstmorde junger Liebespaare – unabhängig davon, ob sie in der Öffentlichkeit Bedau-


1. Schülerinnen der Jennie Speer Gedenkschule für Mädchen, die für ihre Teilnahme an der Unabhängigkeitsbewegung vom 1. März inhaftiert wurden, posieren nach ihrer Entlassung für ein Foto. Die Zahl der Mädchen, die eine Schulbildung genossen, war zwar landesweit niedrig, aber die meisten von ihnen engagierten sich im Unabhängigkeitskampf. Die Schule wurde 1908 in Gwangju, Provinz Jeollanam-do, von dem amerikanischen Missionar Eugene Bell gegründet. 2. Kim U-jin begann während seines Studiums der englischen Literatur an der Waseda Universität in Tokio mit dem Schreiben und Aufführen von Bühnenstücken. Schiffbruch ist ein autobiografisches Theaterstück, das Kim 1926, im Jahr seines Selbstmordes, verfasste. Es beschreibt einen jungen Dichter, der zusammenbricht, als seine westlichen Ideen in Konflikt mit den konfuzianischen Wertvorstellungen seiner Familie geraten. 3. Yun Sim-deok war eine gefeierte Sängerin und Schauspielerin. Als erste Koreanerin, die westliche Musik studiert hatte, wurde sie mehrfach eingeladen, bei Konzertveranstaltungen in Gyeongseong zu singen. Sie soll den Text zu ihrem äußerst populären Lob des Todes geschrieben haben, nachdem sie beschlossen hatte, aus Verzweiflung über eine hoffnungslose Liebe aus dem Leben zu scheiden.

ern und Bewunderung oder Kritik und Vorwürfe auslösten – wurde zu einem großen gesellschaftlichen Problem. Von Mitte bis Ende der 1920er Jahre gab es Tage, an denen die Zeitungen sogar über drei bis vier Selbstmorde berichteten. Es war das tragische Resultat des Konflikts zwischen der Sehnsucht nach Freiheit und harten, gesellschaftlichen Realitäten. Die ersten Werke der modernen koreanischen Literatur, die sich wegen ihrer Thematisierung von Liebe und Romanzen großer Beliebtheit erfreuten, schilderten verschiedentlich motivierte Tode junger Männer und Frauen der Zeit. In der Erzählung Yun Gwang-ho (1918) von Yi Kwang-su begeht der Protagonist Selbstmord wegen unerwiderter Gefühle, in An dem Abend (1920-1921) von Bang Jeong-hwan wegen Betrugs durch die Geliebte und in dem Roman Wonne (1923) von Na Do-hyang als Wiedergutmachung der Fehler. Der Tod diente dazu, die Reinheit des eigenen Herzens vor dem Ideal romantischer Liebe unter Beweis zu stellen, war aber auch Ausdruck des Widerstandes gegen den Konflikt zwischen Ideal und Realität. Konfrontiert mit den Problemen der Realität, die ihren Glauben an die perfekte Liebe zerstörte, manifestierten junge Erwachsene ihre Subjektivität als Individuum auf die verzerrte Weise der Selbsttötung.

2

3 © The JoongAng Ilbo

Ein unvollendeter Traum

In Der Pflock meiner Mutter (1980), einer autobiografischen Erzählung von Park Wan-seo (1931-2011), wird die Ich-Erzählerin vom Herzenswunsch ihrer Mutter, dass aus ihr eine „Neue Frau“ werden möge, geplagt. „Was ist denn eine Neue Frau?“, will die Tochter wissen. Die Mutter beschreibt zunächst das Aussehen: Eine Neue Frau trage ihr Haar eher im Hisashigami-Stil frisiert statt traditionell als Dutt; sie trage einen schwarzen Rock, der ihre Waden unbedeckt lasse, spitze, hochhackige Schuhe und eine Handtasche. Dem jungen Mädchen, das lieber eine feuerrote Stoffhaarschleife, ein gelbes Jeogori-Oberteil und blumenbestickte Schuhe tragen möchte, gefällt das überhaupt nicht. Deshalb hakt sie weiter: „Was macht eine Neue Frau denn?“ Die Mutter, die auf diese Frage zunächst etwas verlegen dreinblickt, erwidert: „Eine Neue Frau ist so gebildet, dass sie weiß, wie die Welt funktioniert und kann alles erreichen, was sie sich vornimmt.“ So die Zukunft, die sich die Mutter für ihre Tochter erträumt, für deren Bildung sie eigens die Familie von einem Nest auf dem Lande in die Hauptstadt umziehen ließ, wo sie mit Näharbeiten ihren Unterhalt bestreitet. Und so sah vielleicht auch die Zukunft aus, die sich Frauen, die die traditionellen Geschlechterrollen in Frage stellten, erhofften und erträumten, als die koreanische Gesellschaft im Zuge der Modernisierung zum ersten Mal in Kontakt mit der westlichen Kultur kam und einen drastischen Wandel in Alltagsleben und Denkweise erfuhr. Nach der Befreiung von der japanischen Kolonialherrschaft und der raschen Erholung von den Verwüstungen des Krieges hat Korea ein atemberaubendes Wirtschaftswachstum und gesellschaftliche Entwicklung erreichen können. Wie nahe sind die Frauen von heute wohl den Träumen ihrer Mütter gekommen?

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SPEZIAL 4

Der Weg in die Moderne: Korea im frühen 20. Jahrhundert

Popmusik Hoffnung inmitten der Verzweiflung Die populäre Musik begann sich zu Beginn des 20. Jhs zu verbreiten, als in Korea ausländische Firmen erstmals kommerzielle Schallplatten produzierten und die Zahl der Haushalte, die sich den Luxus eines Grammophons leisten konnten, stieg. Die frühe koreanische Popmusik, die sich in die vier Genres Jazz, Manyo (Lustige Lieder), Sinminyo (Neue Volkslieder) und Yuhaengga (Schlager) einteilen lässt, spiegelt das Bild der Gesellschaft und den damals herrschenden Zeitgeist wider.

© Museum of Old Roads in Mungyeong

Chang Yu-jeong Professor, Fakultät für allgemeine Bildung, Dankook University

2

018 war das heißeste Thema in der koreanischen Musikszene die Boygroup BTS, die über Korea hinaus weltweit eine Reihe von Popmusik-Rekorden brach. Die bemerkenswerteste Leistung ist wohl, dass 2018 gleich zwei ihrer Alben Platz eins der Billboard 200-Charts belegten, ein Novum nicht nur in der koreanischen Musiklandschaft, sondern auch bei fremdsprachigen Alben überhaupt. Es ist einfach erstaunlich, dass BTS und andere koreanische Popkünstler in den letzten Jahren eine derart beeindruckende Popularität auf der ganzen Welt gewonnen haben. Wer hätte das vor einem Jahrhundert zu prophezeien gewagt, als eine einheimische Form der Popmusik in einem Volk aufzukeimen begann, das unter dem Joch der japanischen Kolonialherrschaft in Traurigkeit und Selbstverachtung lebte?

Grammophone und kommerzielle Alben

Populäre Musik und das Konzept des Massenpublikums kamen in Korea zu Beginn der Moderne auf. Das heißt nicht, dass es keine Lieder gegeben hätte, die sich im vormodernen Korea breiter Beliebtheit erfreuten. Zum Beispiel stellte der

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amerikanische Missionar und Pädagoge Homer B. Hulbert, Text und Noten des koreanischen Volkslieds Arirang in einem „Koreanische Vokalmusik“ betitelten Essay vor, das 1896 in der Februarausgabe von The Korean Repository, der ersten englischsprachigen Zeitschrift in Korea, erschien. In seinem Artikel schrieb Hulbert: „Für den durchschnittlichen Koreaner kommt Arirang derselbe Stellenwert in der Musik zu wie Reis beim Essen.“ Obwohl das in diesem Artikel erwähnte Arirang eine der zahlreichen Versionen dieses Volksliedes ist und sich von dem bekannteren Bonjo Arirang (Standard Arirang) unterscheidet, wird hinreichend deutlich, wie beliebt das Lied 1896 war. Es gab also Lieder, die bereits vor dem Aufkommen populärer Musik im heutigen Sinne gut ankamen. Was die modernen Popsongs von diesen Liedern unterscheidet ist die Tatsache, dass sie durch Massenmedien und Plattenindustrie verbreitet wurden. Da das Ziel kommerzieller Musikaufnahmen letztendlich der Gewinn ist, ist Popmusik sowohl ein kommerzielles Produkt als auch eine Kunstform. Daher gehört das in Hulberts Artikel beschriebene Arirang nicht zur populären Musik. Die Geburtsstunde der koreanischen Musikindustrie schlug 1907, als das amerikanische Musiklabel

Die Noten von Arirang, die zusammen mit dem Essay Koreanische Vokalmusik von Homer B. Hulbert in der Februar-Ausgabe 1896 von The Korean Repository veröffentlicht wurden.


Columbia Records die erste kommerzielle Platte in Korea veröffentlichte. Es war ein Album von Han In-o, einem bekannten Sänger traditioneller Lieder aus der Region Gyeonggi-do, und Choe Hong-mae, einer Gisaeng (professionelle Unterhalterin). Bald darauf stieß auch der US-Schellackplatten- und Grammophonhersteller Victor Records auf den koreanischen Markt vor, sodass die Aufnahmen berühmter Künstler und Sänger der Zeit in rascher Folge veröffentlicht wurden. Grammophone spielten eine entsprechend wichtige Rolle bei der Verbreitung populärer Musik. Bevor in Korea der Tonrundfunk in den späten 1920er Jahren aufkam, hatten Grammophone im Alltagsleben der Oberschicht allgemeine Verbreitung gefunden.

instrumenten und Noten zurück und gründete die The Korean Jazz Band. Ende der 1920er Jahre waren v.a. Jazz-Songs, die das Genießen propagierten, bei den modernen Stadtmenschen äußerst beliebt. Der v.a. durch Filme und Schallplatten beeinflusste Jazz-Trend wurde jedoch nicht von allen positiv betrachtet. So verspottete z.B. ein Intellektueller dieses Jazz-Phänomen, indem er kommentierte: „Diese modern girls und boys schwingen doch nur, verloren in irgendwelche frivolen Fantasien, ihre Hintern“. Unter den Musikern, die damals für Plattenfirmen aufnahmen, gab es jedoch nicht wenige, die ernsthaft bemüht waren, durch Nachahmung westlicher Jazzmusiker authentische Jazzmusik spielen zu lernen.

Ruhiges Zuhören (1934) von Kim Kichang. Tinte und Farbe auf Seide, 159 × 134,5 cm. Hintergrund des Gemäldes, das eine modernisierte Familie der 1930er Jahre darstellt, bildet das hübsch dekorierte Empfangszimmer eines Arztes, der in der Nachbarschaft des Künstlers wohnte.

Jazz-Boom

Wie die meisten neuen Kulturerscheinungen geht auch die moderne koreanische Popmusik auf die Begegnung zwischen einheimischer und ausländischer Kultur sowie deren Konkurrenz und Koexistenz zurück: traditionelle koreanische Musik, westliche Musik und japanische Musik. Es ist zwar schwer, die komplizierte Wechselwirkung zwischen diesen drei Musikstilen im Einzelnen auszumachen, aber je nach vorherrschender Richtung entwickelte sich ein jeweils anderes Genre: Jazz, Manyo (Lustige Lieder), Sinminyo (Neue Volkslieder) und Yuhaengga (Schlager). Diese Klassifikation war nicht von Anfang an eindeutig, aber ab den 1930er Jahren, als sich ein regelrechter Popmusik-Markt herauszubilden begann, wurde jeder Song in eines dieser Genres eingeteilt. Vor allem unterscheiden sich die damaligen JazzSongs vom heute gängigen Jazz-Verständnis. Damals verstand man unter „Jazz“ nicht nur den amerikanischen Jazz, sondern die gesamte westliche Popmusik bis hin zum lateinamerikanischen Pop. Die ersten Kontakte mit westlicher Musik und Instrumenten kamen über christliche Kirchenlieder und westliche Kapellen zustande. Mitte der 1920er Jahre gewann die westliche Musik zunehmend an Einfluss und löste einen Jazz-Boom aus. 1926 brachte Baek Myeong-gon, der Sohn einer wohlhabenden Familie aus der Region Jeolla-do, eine koreanische Fußballmannschaft zu einem Auswärtsspiel in Shanghai. Er kehrte mit Jazz© Woonbo Cultural Foundation

KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 31


Der Jazz-Boom der späten 1920er Jahre ebnete den Weg für eine Flut von Jazz-Songs in den 1930er Jahren. Anfänglich waren es hauptsächlich Adaptionen westlicher oder japanischer Lieder wie Dinah (ursprünglich von Bing Crosby). Original koreanische Songs wie z.B. Dabangui pureun kkum (Blaue Träume im Kaffeehaus) kamen ab Mitte der 1930er Jahre heraus.

Mitgefühl vs. Sarkasmus

Die als „Manyo“ bekannten Comic Songs waren ein Genre, das nicht über seinen musikalischem Stil, sondern über seine humorvollen Liedtexte klassifiziert wurde. „Manyo“ geht auf „Mandam“ zurück, eine Art Stand-up-Comedy, die normalerweise von einem Duo aufgeführt wird. In ganz ähnlicher Weise waren die Manyo-Liedtexte darauf angelegt, zwei verschiedene Arten des Lachens auszulösen: ein scherzhaftes und ein spöttisches. Während das Erstere warm war und Anteilnahme bekundete, war das Letztere kalt und enthielt Kritik. Seoul gugyeong (Seoul besichtigen), ein von den 1950er bis in die 1970er Jahre äußerst beliebtes Lied, war eine Conversion des Songs Yukwaehan sigol yeonggam (Der lustige alte Mann vom Land), 1936 gesungen von Gang Hong-sik. Das Lied erzählt auf humorvolle Weise von einem Alten, der zum ersten Mal mit dem Zug nach Seoul fährt und dort in allerlei Schwierigkeiten gerät. Der Text reizt einerseits zu herzhaftem Lachen, lässt andererseits aber auch Mitleid mit dem Alten aufkommen, der von einem Problem ins nächste stolpert. Vielleicht erinnerte der Alte die Zuhörer an sich selbst, an das eigene hilflose Treiben im Strom der Moderne. Auf der anderen Seite wird in Eongteori daehaksaeng (Der schlampige Student), 1939 von Columbia Records veröffentlicht, der Student von nebenan verspottet, der seine Vorlesungen schwänzt und den ganzen Tag Billard spielt oder Mädchenröcken hinterherjagt. Der Spott ergießt sich nicht nur über den Studenten von nebenan, sondern über alle verwöhnten Studenten der damaligen Zeit. Der satirische Ton des Liedes amüsierte die Zuhörer, sensibilisierte aber zugleich auch für gesellschaftliche Probleme. Bedenkt man, dass Satire besonders unter politischer Unterdrückung und Zensur gedeiht, spiegelt das Lied die harsche Realität der Koreaner in

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Das Leben ging trotzdem weiter und Kultur erblühte selbst inmitten tiefster Verzweiflung, wodurch Lieder entstanden, die den Grundstein für die heutige musikalische Vielfalt legten. jenen Tagen wider, die von den japanischen Kolonialherren unterdrückt und ausgebeutet wurden. Sinminyo (neue Volkslieder) waren, wie schon der Name besagt, eine Gattung einheimischer populärer Lieder, in denen traditionelle Elemente durch die Adaption bestimmter Aspekte der traditionellen koreanischen Musik und der Volkslieder bewahrt wurden. Indem z.B. die Refrains von traditionellen Liedern entlehnt und einheimische Musikinstrumente oder alte Gesangsstile verwendet wurden, verbanden die Sinminyo lokale Musiktraditionen auf verschiedenste Weise. Ein frühes Beispiel dafür ist das Titellied des 1926 unter der Regie von Na Woon-hyu erschienenen und äußerst beliebten Films Arirang.

Trost in unruhigen Zeiten

Mitte der 1930er Jahre debütierten viele Gisaeng als Sängerinnen. Diese professionellen Unterhalterinnen, die in speziellen Gisaeng-Schulen und

The Korean Jazz Band, fotografiert nach ihrer ersten Aufführung beim Radiosender Gyeongseong Broadcasting Station (JODK) im Sommer 1929.


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© Korea Record Archive at Dongguk University © Korea Creative Content Agency

-Agenturen in Gesang und Tanz ausgebildet worden waren, waren gewissermaßen „bühnenfertige“ Entertainerinnen. Sie beherrschten die traditionellen Gesangsstile, sodass sie sich im Sinminyo-Singen auszeichneten. Das Publikum dieser Zeit liebte diese Lieder wegen ihres ureigenen, an ihr innerstes Empfinden rührenden „Joseon-Dufts“ ganz besonders. Das erklärt wohl auch, warum Wang Su-bok, eine Gisaeng, die 1933 eine Plattenaufnahme gemacht hatte, bei einem 1935 von der Kulturzeitschrift Samcheolli veranstalteten Beliebtheitswettbewerb unter allen Teilnehmern den ersten Platz belegen konnte. In dieser Zeit kamen auch die sog. „Trott-Lieder“ auf, deren Bezeichnung auf den Foxtrott zurückgeht, einen Gesellschaftstanz, der den Rhythmus dieser Lieder beeinflusst haben soll. Die damals als „Yuhaengga“ (wörtlich: populäre Lieder) bezeichneten Trott-Lieder wurden von der japanischen Popmusik beeinflusst und wiesen deren formale Merkmale auf: Zweiertakt-Rhythmus, Moll-Tonarten und Pentatonik. Die japanische Popmusik, die diese Songs beeinflusste, war jedoch nicht rein japanischer Herkunft. Japan hatte die westliche Kultur und damit auch die westliche Musik bereits sehr früh angenommen und aus dem Aufeinandertreffen von japanischer und westlicher Musik hatte sich das japanische Musikgenre Enka (eine Art Ballade) entwickelt. Anfangs wurde dieses Genre „Ryukoka“ (populäre Lieder) genannt. Erst in den 1960er Jahren wurde es in „Enka“ umbenannt und als populäre Musik im traditionellen Stil behandelt. Da Japan im Zuge der Neudefinierung und Festigung seiner Identität als Nation dem Enka-Genre den Status der traditionellen Musik verlieh, könnte man die japanischen Enka als eine „erschaffene Tradition“ bezeichnen. Obwohl die Trott-Lieder in Korea mit Hinweis auf die japanischen Einflüsse lange stigmatisiert

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wurden, haben sie bis heute überlebt. Sie erfreuen sich bis heute allgemeiner Beliebtheit im Volk, weil sie in engem Bezug zu Leben und Gefühlen der Menschen in unruhigen Zeiten stehen. Es wird vermutet, dass die Bezeichnung „Trott“ in den 1950er Jahren zum ersten Mal für ein Popmusik-Genre verwendet wurde. Zu den beliebtesten Schlagern aus den Hochzeiten des Trott gehören Tahyang sari (Ein Leben fern der Heimat), das von der Wehmut erzählt, in einem fremden Land zu leben, und Mokpo-ui nunmul (Die Tränen von Mokpo), das eine Art passiver Widerstand gegen die japanische Kolonialherrschaft darstellt. Diese Lieder, die von trübseligen und sorgenvollen Leben erzählen, spendeten den Menschen von damals Trost. Die „Moderne“ war in Korea ein anderer Name für Verzweiflung, da sie nicht aus freiem Willen und selbstbestimmt geschaffen wurde. Das Leben ging trotzdem weiter und Kultur erblühte selbst inmitten tiefster Verzweiflung, wodurch Lieder entstanden, die den Grundstein für die heutige musikalische Vielfalt legten. In diesem Sinne ist die koreanische Popmusik wie eine Blume, die in der Finsternis der Moderne erblühte und den betrübten Seelen Trost spendete.

1. Corean Song, 1907 von Columbia Records veröffentlicht, ist eine einseitige Schallplatte mit Volksliedern aus der Provinz Gyeonggi-do, gesungen von Han In-o. 2. Die Tränen von Mokpo von Yi Nan-yeong, 1936 von Okeh Records herausgebracht, tröstete die in einem kolonialisierten Land lebenden Koreaner. Das Lied ist bis heute beliebt. 3. Das erste Ensemble, 1940 veröffentlicht, ist eine Kompilation der Lieder von Sängern mit Exklusivvertrag mit Okeh Records. Okeh Records, die erste, von einem Koreaner gegründete Plattenfirma, startete 1932.

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SPEZIAL 5

Der Weg in die Moderne: Korea im frühen 20. Jahrhundert

Kulturelle Globalisierung damals und heute

Nachdem Korea gemäß dem Japanisch-Koreanischen Freundschaftsvertrag von 1876 (auch als „Vertrag von Ganghwa-do“ bekannt) seine Häfen öffnen musste, erfuhr das Land abrupte soziokulturelle Umwälzungen. Ein Jahrhundert später läutet die Welle der kulturellen Globalisierung ein Zeitalter der „zweiten Aufklärung“ ein. Heutzutage, anders als vor über einem Jahrhundert, nutzen die Koreaner proaktiv digitale Medien, um ihr kulturelles Potential weltweit zu propagieren. Jung Duk-hyun Populärkulturkritiker

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ymbolischer Höhepunkt der koreanischen Popkultur-Contents 2018 dürfte wohl die erfolgreiche TV-Serie Mr. Sunshine gewesen sein. Die Serie spielt zur späten Joseon-Zeit (13921910) im Kaiserreich Korea (gegr. 1897) des späten 19. Jhs, als vermehrt amerikanische, französische und japanische Schiffe in den Gewässern des als „Einsiedlerreich“ bekannten Joseon aufkreuzten. Sie hinterließ einen tiefen Eindruck, da sie ein neues Licht auf die namenlosen Kämpfer der Freiwilligentrupps warf, die ihr Leben bei der Verteidigung ihres Landes gegen die ausländischen Invasoren ließen. Was Mr. Sunshine über die Einsätze der Freiheitskämpfer hinaus Bedeutung verleiht, ist die Thematisierung der entstehenden Risse in der Gesellschaft, die die Einführung neuer Kulturprodukte aus dem Westen verursachte, sowie die damit einhergehende Bewusstseinsveränderung in allen Schichten der Gesellschaft. Während bis dahin die meisten Filme und TV-Serien über das späte Joseon sich eines anti-japanischen Narrativs bedienten, markierte Mr. Sunshine eine deutliche Wende. Die Serie schuf die Straßen der Hauptstadt Hanyang (das heutige Seoul) mit ihren westlichen Hotels, französischen Bäckereien, japanischen Pubs und Maßschneidereien nach und porträtierte den Alltag der normalen Bürger. Im Mittelpunkt der Serie steht eine starke, mutige Protagonistin, die einen ihrer adligen Herkunft widersprechenden Weg wählt. Verlobt mit einem von ihrer Familie ausgewählten Mann, verliebt sie sich in einen Mann namens Eugene Choi. Choi wurde als Sklave geboren und flüchtete in jungen Jahren nach Amerika, um dann einige Jahrzehnte später als Offizier der US-Marineinfanterie in der amerikanischen Gesandtschaft in Korea zu dienen. Die Heldin lernt heimlich von einem niedriggeborenen Jäger den Umgang mit dem Gewehr und jagt als Scharfschützin pro-japanische Kollaborateure. Damit verkörpert sie die unabhängigen, proaktiven Frauen der Aufklärungszeit, die sich dafür entschieden, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

© The Chosun Ilbo

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1. RM bei seiner im Namen von BTS am 24. September 2018 vor der 73. UNO-Generalversammlung gehaltenen Rede anlässlich des Starts von Generation Unlimited, einer neuen, weltweiten Initiative des Kinderhilfswerks UNICEF. Die BTS-Botschaft „Finde deine Stimme“ fand Beifall bei Jugendlichen in aller Welt. 2. Eine Szene aus BTS World Tour: Love Yourself in Seoul, dem Konzertfilm, der am 26. Januar 2019 in 3.800 Kinos in 95 Ländern zu sehen war. Es ist der zweite Konzertfilm von BTS nach Burn the Stage: The Movie.

2 © Big Hit Entertainment

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Ein auf Retro-Stil spezialisiertes Fotostudio in Sangyeok-dong, Daegu, das Look und Stimmung des späten Joseon-Reichs um die Wende zum 20. Jh. nachempfindet, ist ein heißer Renner unter jungen Leuten. Aufgrund der großen Resonanz wurden Filialen in Seoul and Busan eröffnet.

Contents mit globaler Anziehungskraft

Mr. Sunshine hat darüber hinaus noch symbolische Bedeutung in dem Sinne, als dass die Serie ein neues Paradigma für die kulturellen Contents setzt, die in der heutigen, über digitale Netzwerke verbundenen Welt der kulturellen Globalisierung verlangt werden. Die Dreharbeiten für die Serie, die mit einem Budget von sage und schreibe ca. 43 Mrd. Won (rd. 34 Mio. €) produziert wurde, konnten bereits vor der Ausstrahlung der ersten Staffel fertiggestellt werden, was im Rahmen des derzeitigen koreanischen TV-Serien-Produktionssystems kaum vorstellbar gewesen wäre. Möglich wurde dies durch Netflix, das 70 % der gesamten Produktionskosten übernahm. Die globale Medienplattform strahlte die Serie zudem zeitgleich zu Korea auf der ganzen Welt aus. Auf diese Weise veränderte Netflix die Produktions- und Konsumparameter koreanischer Serien völlig.

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Die koreanische Content-Industrie befindet sich derzeit an einem neuen Wendepunkt. Die Zuschauer teilen Inhalte aus der ganzen Welt in Echtzeit über globale Plattformen wie Netflix und YouTube. Die Kulturindustrie Koreas steht daher an der Schwelle zu einer „Zeit der neuen Aufklärung“ und muss sich entscheiden, ob sie weiter auf dem Weltmarkt expandieren oder sich mit dem heimischen Markt zufriedengeben will. Betrachtet man Mr. Sunshine aus dieser Perspektive, erscheint der historische Hintergrund der Serie umso bedeutsamer. Die Wende zum 20. Jahrhundert ist in der Geschichte Koreas zwar eine sehr spezifische Periode, enthält aber auch Elemente, die ausländische Zuschauer nachvollziehen können. So ist z.B. das romantisierte Verlangen nach Freiheit, Frieden und Liebe, das während dieser Zeit aufkam, ein universelles Thema, das über Nationalität und Rasse hinausgeht. Daher konnte die Serie ein breiteres Publikum anlocken und größeren Zuspruch erhalten. Diese einzigartige Zeit in der koreanischen Geschichte, in der Tradition und ausländische Kultureinflüsse aufeinander prallten, bietet den idealen Hintergrund zur Beflügelung der Vor© Studio Sankyeok stellungskraft eines Produzenten. So spielt z.B. auch der Film The Good, the Bad, the Weird von Kim Jee-woon in derselben Zeit. Der Regisseur interpretierte das Western-Genre auf koreanische Weise. Die im Film verwendeten imaginativen Elemente wurden durch die Konvergenz unterschiedlicher Kulturen der Zeit inspiriert, was Unterhaltungswert und Filmqualität erhöhte.

Neue Standards

Ein eklatantes Beispiel für die „zweite, neue Aufklärung“ ist das BTS-Phänomen. BTS, auch als Bangtan Boys bekannt, ist in kurzer Zeit zu internationalem Starruhm gekommen. Durch die aktive Nutzung von Social-Media-Plattformen wie YouTube kommuniziert die Boy-Band mit Fans auf der ganzen Welt und hat auf diese Weise eine „BTS ARMY“ rekrutiert, eine mächtige Fangemeinde, die alle Grenzen von Nationalität und Sprache überschreitet. Schlüssel für ihren globalen Erfolg sind Musik und Tanz, die universelle Sprache der Menschheit. Interessanterweise stieß die globale BTS-Begeisterung auf eine anachronistische Gegenreaktion in Japan. Das Bandmitglied Jimin wurde zur Zielscheibe der Kritik rechtsgerichteter japanischer Gruppen, weil er ein T-Shirt mit Fotos der amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki trug, daneben stand ein Text zum Gedenken an die Unabhängigkeit Koreas. Ein Foto, das Jimin in dem Shirt zeigt, zirkulierte in den sozialen Medien, wo es sofort Kontroversen auslöste, die


Blickt man auf das späte Joseon-Reich von vor hundert Jahren zurück und denkt über die damals gemachten Erfahrungen nach, wird deutlich, wofür sich Content-Produzenten von heute entscheiden müssen.

Das Poster von Mr. Sunshine, einer der größten TV-Hitserien von 2018. Die Serie beleuchtet die Kämpfe der namenlosen „Armeen der Gerechten“ im Kaiserreich Korea und beschreibt proaktive, unabhängige Frauen. Ebenfalls zu sehen sind die ersten modernen Einrichtungen in Seoul wie z.B. Hotels im westlichen Stil, Bäckereien und Schneidereien.

schließlich zu einer Entschuldigung der Management-Agentur der Band führte. Abgesehen von dem mangelnden Feingefühl des jungen Stars bei der Wahl seiner Kleidung bestätigte dieser Vorfall das sich wandelnde Paradigma des kulturellen Konsums im Zeitalter der globalen Vernetzung. Die Forderung des japanischen rechten Flügels, alle K-Pop-Gruppen aus den populären japanischen TV-Sendungen zu verbannen, erwies sich im heutigen, von digitalen Medien beherrschten Zeitalter, in dem Fans auf der ganzen Welt in Echtzeit reagieren, als anachronistisch. Der Vorfall zeigt auch, dass das Zeitalter der neuen Aufklärung neue globale Standards für kulturelle Contents erfordert, die über veraltete Konzepte wie nationale und regionale Grenzen hinausgehen. Die heutige Zeit des globalen Kulturaustauschs verlangt nach Werten, die die Menschen in aller Welt teilen und nachvollziehen können, nach Werten wie Freiheit, Frieden und Koexistenz, die über Konfrontation und Wettbewerb stehen.

Neue Herausforderungen

Bohemian Rhapsody, die Filmbiografie über die britische Rockband Queen und ihren Leadsänger Freddie Mercury, ist ein weiteres Beispiel für die sich verändernde Landschaft der neuen Aufklärung und des Kulturkonsums im Zeitalter der neuen Medien. Der Film, der alle Kassenrekorde für Musikfilme brach, sorgte in Korea für noch größere Furore als in Großbritannien, dem Heimatland der Band. Sein Erfolg beruht auf den sog. „Sing-Along-Screenings“, einem neuen Kinoerlebnis, bei dem das Publikum die Hit-Songs von Queen mitsingt und dazu tanzt. Die Content-Form ändert sich dergestalt, dass die Kreierer zwar die Inhalte produzieren, aber die Konsumenten sie vervollständigen. So wie erst das Mitsingen und Tanzen von ARMY die Auftritte von BTS vervollständigt, so war es die leidenschaftliche Resonanz des Publikums, die Bohemian Rhapsody zum perfekten Filmerlebnis machte. Die Einbindung der Konsumenten verleiht dem kulturellen Konsum unabhängig von Sprache und Land eine neue Bedeutung. Mit dem Aufkommen neuer Medienplattformen bauen immer mehr TV-Stars sich eine Zweitkarriere als Ein-Personen-Mediengestalter auf. Mittlerweile übertreffen Star-Youtuber wie Buzzbean, Banzz und Ssin herkömmliche TV-Prominente an Einfluss und Popularität. Contents-Kreierer, die durch YouTube Starruhm erlangten, schafften den Sprung ins Fernsehen, wo sie in Unterhaltungssendungen und Werbespots auftreten. Umgekehrt versuchen sich erfahrene TV-Stars zunehmend am Erstellen von persönlichen Livestreams, was einen Machtwechsel hin zu den neuen Medien andeutet. Die durch die neuen Medientechnologien geschaffenen digitalen Netzwerke haben ein durch kulturelle Globalisierung geprägtes Zeitalter der zweiten, neuen Aufklärung eingeläutet. Blickt man auf das späte Joseon-Reich von vor hundert Jahren zurück und denkt über die damals gemachten Erfahrungen nach, wird deutlich, wofür sich die Contents-Produzenten von heute entscheiden müssen. Die Türen stehen bereits weit offen und der Weg ist klar vorgezeichnet. Sie werden nun nach Wegen suchen müssen, ihre eigene Kultur zu bewahren und gleichzeitig die universellen Werte der Menschheit zu verfolgen.

© Studio Dragon

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FOKUS

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Zeitreise in Wörterbüchern Wörterbücher spiegeln durch die darin aufgelisteten Wörter und deren Definitionen kulturelle und soziale Veränderungen wider. Die Sonderausstellung Wörterbücher in Korea: eine neue Perspektive im National Hangeul Museum bot eine bedeutungsvolle Gelegenheit zu betrachten, wie sich die koreanischen Wörterbücher nach Anbruch der Moderne in den letzten über 140 Jahren entwickelten und wie sie Gesellschaft und Kultur der einzelnen Epochen definierten und festhielten. Hong Sung-ho Redakteur, Wirtschaftszeitung The Korea Economic Daily

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1. Wörterbücher in Korea: Eine neue Perspektive lautete der Name einer Sonderausstellung, die vom 20. September 2018 bis zum 3. März 2019 im National Hangeul Museum zu sehen war. Ein Besucher betrachtet die Wörterbücher und den sich darin widerspiegelnden Wandel soziokultureller Trends. 2. Das Manuskript des ersten koreanischen Wörterbuches, das Ju Si-gyeong (1876–1914) 1911 zusammen mit seinen Studenten zu kompilieren begann. Nur Teile des Originalmanuskripts sind noch erhalten. 3. Die letzte Fassung des Wörterbuchs der koreanischen Sprache, das ab 1929 über einen Zeitraum von 19 Jahren von der 1921 gegründeten Gesellschaft für Koreanische Sprache kompiliert wurde. Das Manuskript wurde 1942 von der japanischen Polizei beschlagnahmt und nach der Befreiung im Jahr 1945 in einem Lager des Seouler Hauptbahnhofs entdeckt.

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2 useum l Hangeul M © Nationa

m 29. August 2010 kündigte die Oxford University Press an, dass sie ihr Oxford English Dictionary (OED), eines der angesehensten Wörterbücher der englischen Sprache, nicht länger in gedruckter Form herausgeben werde. Die dritte Auflage des OED werde nur noch online verfügbar sein, da die Nachfrage nach den Druckversionen jährlich um zweistellige Prozentsätze zurückgehe. Die erste Lieferung der ersten Ausgabe des OED erschien 1884, die erste vollständige Auflage kam 1928 heraus. Die neueste Ausgabe enthält zehn koreanische Stichwörter, darunter „Taekwondo“, „Kimchi“, „Makkoli“ (unvergorener, naturtrüber Reiswein), „Ondol“ (Fußbodenheizsystem), „Chaebol“ (Konglomerat in Familienbesitz) sowie „Won“ (Bezeichnung für die koreanische Währung). In Korea wurde das Ende der gedruckten Wörterbücher früher als in Großbritannien eingeläutet. 2006 gab das Nati-

© Hange ul Society

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onalinstitut für koreanische Sprache am 9. Oktober, dem Hangeul-Tag (Tag des koreanischen Alphabets), bekannt, dass es die überarbeitete Ausgabe des Standard-Wörterbuch des Koreanischen nur noch in digitaler Form veröffentlichen werde. Seitdem hat das Institut die Dienste seines Online-Wörterbuches ausgebaut und betreibt derzeit das offene, interaktive Wörterbuch „Urimalsaem“, wörtlich „Quelle unserer Sprache“, für das jeder Nutzer neue Einträge und Definitionen vorschlagen kann. Der Übergang von Printausgabe zur Online-Version verläuft parallel zu den Fortschritten in Wissenschaft und Technologie. Die Allgegenwart von Computern und Smartphones im digitalen Zeitalter machte das „Wörterbuch in meiner Hand“ möglich. Die hochmodernen Geräte maximierten Einfachheit und Bequemlichkeit der digitalen Wörterbücher. Vorbei sind die Tage, in denen man auf der Suche nach einem Wort im gedruckten Lexikon herumblätterte und die Bedeutung unterKOREANISCHE KULTUR UND KUNST 39


strich. Interessanterweise standen vor einiger Zeit die Leute Schlange, um einen Blick auf Papierwörterbücher zu werfen. Die Sonderausstellung Wörterbücher in Korea: eine neue Perspektive wurde am 20. September 2018 im National Hangeul Museum auf dem Gelände des Koreanischen Nationalmuseums in Yongsan, im Herzen Seouls, eröffnet. Die Ausstellung sollte Ende Dezember schließen, wurde dann aber aufgrund der äußerst positiven Resonanz des Publikums bis zum 3. März 2019 verlängert.

Historische Manuskripte

Wörterbücher sind nicht nur Schatztruhen voller Wörter. Sie bieten auch Einblicke in die Entwicklung von Nationen und Gesellschaften. Wenn Sie einen Moment innehalten und über die Etymologie von Wörtern nachdenken, werden Sie erkennen, dass Wörterbücher mehr als nur Definitionen enthalten. Sie zeichnen auch gesellschaftliche, kulturelle und historische Entwicklungen in verdichteter Form nach. In dieser Hinsicht bot die Ausstellung die reizvolle Erfahrung einer Zeitreise in die Welt von vor 100 Jahren und zeichnete nach, wie sich Wörterbücher und Wortbedeutungen im Laufe der Zeit verändert haben. König Sejong (reg. 1418-1450), der vierte Regent des Joseon-Reiches (1392-1910), schuf 1443 das neue Schriftsystem Hangeul, das drei Jahre später öffentlich bekanntgege-

ben wurde. Die offizielle Anerkennung dieser Alphabetschrift erfolgte jedoch erst 1894 durch ein königliches Dekret der Joseon-Regierung. Danach wurde die Erstellung von Wörterbüchern der koreanischen Sprache in dieser dunklen, turbulenten Zeit der modernen Geschichte des Landes zu einer Aufgabe von nationaler Bedeutung. Ohne Zweifel verzögerte sich das Projekt jedoch durch die damaligen politischen und gesellschaftlichen Umbrüche erheblich. Das erste, von einem Koreaner kompilierte Wörterbuch des Koreanischen erschien erst in den 1930er Jahren. Weitaus früher hatten aber bereits ausländische christliche Missionare zweisprachige Wörterbücher verfasst: Das erste war das 1880 veröffentlichte Dictionnaire Coréen-Français. Ein koreanisch-englisches Wörterbuch folgte 1890 und ein englisch-koreanisches Wörterbuch im Jahr 1891. Das auf 1878 datierte handschriftliche Manuskript des Dictionnaire Coréen-Français war einer der Höhepunkte der Ausstellung. Dieser im Besitz der Forschungsstiftung für koreanische Kirchengeschichte befindliche Originalentwurf des Wörterbuchs wurde zum ersten Mal zusammen mit der Druckversion öffentlich präsentiert. Bischof Félix-Clair Ridel (1830-1884) von der La Société des Missions Etrangères de Paris (Gesellschaft des Pariser Missionsseminars) brachte das Wörterbuch 1880 in Yokohama, Japan, heraus. Es ist von unschätzbarem historischen Wert, weil es nicht

1. Ein Foto der Mitglieder der Gesellschaft für Koreanische Sprache, aufgenommen am 9. Oktober 1957 als Erinnerung an die Veröffentlichung des Wörterbuchs der koreanischen Sprache. Die 1929 gestarteten Kompilierungsarbeiten mussten wegen der Inhaftierung des Lexikographen ausgesetzt werden. Das Wörterbuch wurde schließlich unter der nachfolgenden Gesellschaft für Hangeul fertiggestellt.

1 © Hangeul Society

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2. Das von Bischof FélixClair Ridel von der La Société des Missions Etrangères de Paris (Gesellschaft des Pariser Missionsseminars) 1880 veröffentlichte Dictionnaire Coréen-Français. Dieses erste zweisprachige Wörterbuch des Koreanischen enthält rund 27.000 alphabetisch geordnete Einträge.


© National Hangeul Museum

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nur das erste französisch-koreanische Wörterbuch, sondern auch das erste zweisprachige koreanische Wörterbuch überhaupt ist. Erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden auch unvollendete Wörterbücher, die zu Ende der Joseon-Zeit, als ausländische Großmächte in koreanisches Territorium eindrangen, von Unabhängigkeitsaktivisten kompiliert wurden. Darunter befand sich eins, das eine weniger bekannte Tatsache über Syng-man Rhee (1875-1965), den ersten Präsidenten der Republik Korea, beleuchtete. Als Rhee gegen Ende der Joseon-Zeit von 1903-1904 wegen seines Versuchs, die Monarchie zu stürzen, im Gefängnis saß, verfasste er den Entwurf des Neuen Englisch-Koreanischen Wörterbuches. Leider schaffte das Wörterbuch es nicht bis zum Druck. Rhee kam über den Buchstaben F nicht hinaus, weil er sich gleichzeitig dem Verfassen der Abhandlung Der Geist der Unabhängigkeit widmete. Heute ist der Wörterbuch-Entwurf im Besitz des Syngman Rhee Institute der Yonsei-Universität. Ein weiteres unvollendetes Wörterbuch stammt von dem Unabhängigkeitskämpfer und Journalisten Soh Jaipil (Philip Jaisohn; 1864-1951). 1896 gründete Soh The Independent, die erste zweisprachige koreanisch-englische Tageszei-

tung in Korea. Zu dieser Zeit setzte sich Soh an den Entwurf eines englisch-koreanischen Wörterbuches, kam aber nur bis zum Buchstaben P. Das per Hand verfasste Rohmanuskript aus dem Jahr 1898 war eine Leihgabe der Indepence Hall of Korea.

Spuren moderner Zivilisation

Die Ausstellung gab auch interessante Einblicke in Bezug auf Veränderungen der Rechtschreibung und der Wortbedeutung. Der Wandel spiegelte die soziokulturellen Entwicklungen Koreas seit der Öffnung des Landes und zeigte, wie sich die Wahrnehmung der Koreaner veränderte. Beispielsweise beschreibt die 1925 erschienene Erzählung Jeonhwa (Telefon) von Yeom Sang-seop (1897-1963), einem führenden Schriftsteller und Journalisten, der für sein wegweisendes Werk Laubfrosch im Präparateraum bekannt ist, wie das Telefon – ein High-Tech-Produkt der damaligen Zeit – den menschlichen Hang zu Prahlerei enthüllte und den unerwünschten Nebeneffekt der Entblößung der Privatsphäre hatte. Das Telefon wurde 1898 in Korea eingeführt. Zuerst hieß es „Deongnyulpung“, nach der chinesischen Transkription

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Im heutigen digitalen Zeitalter, in dem der Einzelne einer enormen, durch Bequemlichkeit und Schnelligkeit nur noch weiter vergößerten Flut an Informationen ausgesetzt ist, verliert man die gesellschaftliche Rolle und Bedeutung von Wörterbüchern leicht aus den Augen. der Aussprache des englischen „telephone“. Die drei chinesischen Zeichen, aus denen sich der Name zusammensetzt, bedeuten wörtlich „Wind, der Tugend verbreitet“. Das Telefon wurde seinem Zweck entsprechend auch „Jeoneogi“ genannt: „Maschine, die Worte überbringt“. In Korea gab es bis in die 1920er Jahre, als die Bezeichnung „Jeonhwa“ aufkam, kein richtiges Wort für den Fernsprechapparat. „Jeonhwa“ setzt sich aus denselben chinesischen Zeichen wie „Denwa“, der bis heute gebräuchlichen japanischen Bezeichnung, zusammen. Allgemeine Anerkennung als Bestandteil des koreanischen Wortschatzes fand das Wort 1938, als der Linguist Mun Se-yeong (1888-?) es in das von ihm kompilierte Wörterbuch des Koreanischen, das rund 100.000 Wörter umfasst, aufnahm. Muns Wörterbuch ist von großer Bedeutung, denn es ist das erste, von einem Koreaner verfasste Wörterbuch der koreanischen Sprache. Es war das Resultat seiner immensen, jahrelangen Anstrengungen, durch die Herausgabe eines Wörterbuches der koreanischen Sprache den unter der japanischen Kolonialherrschaft tief verletzten Nationalstolz der Koreaner

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wieder herzustellen. Denn trotz ihrer historischen Bedeutung konnten die zweisprachigen Wörterbücher, die Ende des 19. Jhs von ausländischen Missionaren verfasst wurden, einem solchen Anspruch nicht gerecht werden. Auch das 1920 vom japanischen Generalgouvernement in Korea veröffentlichte koreanische Wörterbuch ist nicht als nationales Geistesgut zu betrachten, da es vom japanischen Generalgouvernement in Korea veröffentlicht wurde. Die Ausstellung beleuchtete auch, wann Wörter wie „Automobil“, „Fernsehapparat“ und „Elektrizität“ parallel zu den entsprechenden technischen Fortschritten in die koreanische Gesellschaft eingeführt wurden und wie Neologismen entstanden, die gesellschaftliche Trends widerspiegeln. Zu nennen sind z.B. „moderner Junge“, „modernes Mädchen“ und „freie Frau“.

IT-Nation und Hangeul

Die Veröffentlichung des vom Nationalinstitut für koreanische Sprache kompilierten Standard-Wörterbuch des Koreanischen im Jahr 1999 gilt als Meilenstein in der Geschichte der korea-


useum geul M nal Han © Natio

1. Die 1898 erstellte Erstfassung des von dem Unabhängigkeitskämpfer Soh Jaipil kompilierten englisch-koreanischen Wörterbuchs. Soh schaffte es nur bis zum Buchstaben P.

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© Syngman Rhee Institute, Yonsei University

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nischen Lexikografie. Es war das Ergebnis eines achtjährigen Mammut-Regierungsprojekts, das 12 Mrd. Won (rd. 9,3 Mio. €) kostete. Das dreibändige Wörterbuch listet auf über insgesamt 7.000 Seiten ca. 500.000 Einträge, darunter das in Südkorea gesprochene Standardkoreanisch, das in Nordkorea verbreitete Koreanisch, Dialektwörter und Archaismen. Im Laufe der Jahre wurde es zum Standard-Nachschlagwerk für verschiedene, von kommerziellen Verlagen herausgegebene Wörterbücher. Im heutigen digitalen Zeitalter, in dem der Einzelne einer enormen, durch Bequemlichkeit und Schnelligkeit nur noch weiter vergößerten Flut an Informationen ausgesetzt ist, verliert man die gesellschaftliche Rolle und Bedeutung von Wörterbüchern leicht aus den Augen. In diesem Sinne bot die Ausstellung des Nationalen Hangeul Museums eine seltene Gelegenheit, über den Wert von Wörterbüchern als Hilfe zur Orientierung in der Welt und als „geistige Nahrung“ nachzudenken. Sie trug auch dazu bei, sich noch einmal die turbulente moderne Geschichte des Landes und die Exzellenz von Hangeul bewusst zu machen.

2. Deckel-Innenseite und erste Seite des 1938 von Mun Se-yeong verfassten und veröffentlichten Wörterbuchs der koreanischen Sprache. Das rund 100.000 Stichwörter umfassende Werk ist das erste Koreanisch-Wörterbuch, das der vereinheitlichten Hangeul-Orthographie folgt. Eine überarbeitete, um 10.000 Stichwörter erweiterte und mit berichtigenden Anmerkungen versehene Ausgabe kam 1940 heraus. 3. Das unvollendete Manuskript des New English-Korean Dictionary, das Syng-man Rhee, der erste Präsident der Republik Korea, während seiner Inhaftierung von 1904–1905 verfasste.

Trotz vieler Schwierigkeiten und des starken Widerstands konservativer Hofbeamter schuf König Sejong die koreanische Schrift mit Blick auf das einfache Volk, das keinen Zugang zur auf dem klassischen Chinesisch beruhenden Bildung der Zeit hatte. Aus dem Hunmin Jeongeum (Die richtigen Laute zur Unterweisung des Volkes), wie Hangeul ursprünglich hieß, spricht der Pragmatismus des Königs und seine Liebe zum Volk. Das eigenständig entwickelte Alphabet Koreas ist international als eins der aus wissenschaftlicher Sicht fundiertesten und am einfachsten zu lernenden Schreibsysteme der Welt anerkannt. Es ist zudem das einzige Schriftsystem, dessen Erfinder, Erstellungsdatum und Zweck bekannt sind. Aus diesem Grund wurde das Hunmin Jeongeum Haerye, das Manuskript, das die Verkündung des neuen Alphabets beinhaltet und die Anwendung der Zeichen durch Beispiele illustriert, 1997 in die Liste des UNESCO-Weltdokumentenerbes aufgenommen. Jedes Jahr wird der König-Sejong-Alphabetisierungspreis an Organisationen und Personen verliehen, die sich für die Bekämpfung des Analphabetismus einsetzen. Die Preisträger werden am Weltalphabetisierungstag, dem 8. September, bekannt gegeben. Als entscheidender Faktor für Koreas Aufstieg zu einer globalen IT-Nation mit schnellem Internet und mobiler Kommunikation wird immer wieder die einfache und wissenschaftlich fundierte Struktur des koreanischen Alphabets genannt, ein Alphabet, das – wie Sejong sich wünschte – jeder leicht lernen und anwenden kann.

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HÜTER DES TRADITIONELLEN ERBES

Ein Leben für Pinsel ohne steifen Kern Vor der Einführung von Schreib- und Malstiften aus dem Westen waren in ganz Ostasien Pinsel das einzige Werkzeug fürs Schreiben und Malen. Die Herstellung von Pinseln war daher ein Handwerk, das viel Geschick und Erfahrung erforderte. Pinselmachermeister Yu Pil-mu, der nach wie vor der modernen, leichten und bequemen Herstellungsmethode nichts abgewinnen kann und an den mühsamen alten Fertigungstechniken festhält, sagt, die Pinselherstellung sei sein Leben. Kang Shin-jae Freiberuflicher Autor Fotos Ahn Hong-beom

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enn ein Anfänger zu mir kam und ich ihm nach einigem Zögern dann doch einen Pinsel verkauft habe, habe ich es immer bereut. Es dauerte nicht lange, bis der Käufer anrief und mit ernster Stimme berichtete, dass alle seine Kollegen, ja selbst sein Lehrer, meinten, dass es ein ‚schlecht gebundener Pinsel‘ sei. Aus diesem Grund schicke ich die meisten Interessenten einfach weg“, sagt Yu. Pinselmachermeister Yu Pil-mu, Träger des Immateriellen Kulturgues Nr. 29 der Provinz Chungcheongbuk-do, unterscheidet klar und deutlich zwischen seinen handgefertigten Pinseln und denen, die in Geschäften für Kalligrafiebedarf verkauft werden. „Ich kann Ihnen versichern, dass 99% der Pinsel auf dem Markt mit Tierhaaren gemischte Nylonborsten haben. Diese Pinsel haben normalerweise einen Kern aus steifen Kunsthaaren, sodass jeder schnell lernt, damit umzugehen,“ sagt Yu und fügt hinzu, „jeder, der an solche Pinsel gewöhnt ist, ist natürlich perplex, wenn er mit meinen schreibt.“

Pinsel ohne Kern

Ein Pinsel mit steifen Haaren im Inneren sorgt für festen Halt, auch wenn es keine synthetischen Haare sind. Solche Pinsel sind zwar leicht zu führen, aber die Striche sind monoton und ohne originäre Ausdruckskraft. Das bedeutet jedoch nicht, dass starke, steife Tierhaare an sich minderwertig wären. Manche Pinsel bestehen aus den steifen Haaren vom

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Schwanz eines Wiesels oder Pferdes, andere aus weichem Ziegenhaar oder Hühnerfedern und wieder andere haben einen Kern aus steifen Haaren, der von einer Schicht weicher Haare umhüllt ist. Es gibt aber auch Pinsel, die mit bis über zehn verschiedenen Haararten hergestellt werden. Der Benutzer kann je nach Gebrauchszweck und Vorliebe wählen. Yu findet es jedoch besorgniserregend, dass sich die Kalligrafiekultur in Korea in der Praxis dem Standard der populären Pinsel anpasst und damit der Wille, die traditionelle Pinselherstellung in ihrer ursprünglichen Form zu bewahren und an künftige Generationen weiterzugeben, immer schwächer wird. Er sagt, der „kernlose Pinsel“, auf Koreanisch „Musimpil“ sei das Herzstück seiner Arbeit und dieser Pinseltyp sei die Quintessenz des traditionellen Pinsels. Für einen kernlosen Pinsel wird nur eine einzige Naturhaarart bester Qualität verwendet. „Schon seit alten Zeiten wurde der kernlose Pinsel von den Kalligrafen am höchsten geschätzt“, erklärt Yu. „Mit solch einem Pinsel haben sogar erfahrene Kalligrafen Schwierigkeiten mit dem Aufsetzen des Pinsels, wenn sie sich nicht

Pinselmachermeister Yu Pil-mu prüft, ob eine Pinselspitze aus weißem Ziegenhaar fein und spitz zuläuft. Für ihn besteht die Essenz seines Handwerks darin, Pinsel ohne Kern herzustellen, für die nur eine einzige Sorte qualitativ hochwertiger Naturhaare verwendet wird.


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„Wenn ich mir keine Sorgen um meinen Lebensunterhalt machen müsste, würde ich keinen einzigen Pinsel verkaufen wollen.“ 46 KOREANA Frühjahr 2019

eine Zeitlang mit seinem Gebrauch und seinen Eigenheiten vertraut gemacht haben. Da der Pinsel keinen steifen Kern hat, ist er schwer zu kontrollieren. Mit anderen Worten: Da die Spitze empfindlich, weich und geschmeidig ist, erzeugt der Pinsel mit unbeabsichtigten ‚Ausreißern‘ eine quasi unendliche Vielfalt von Ausdruckseffekten. Das Nachgiebigste ist das Stärkste, wie das alte Sprichwort sagt.“ Die über 40 Jahre, die Yu jetzt bereits seinem Handwerk nachgeht, haben ihm tiefe Einsichten in Bezug auf Pinselhaare gebracht. Er weist darauf hin, dass alle Tierhaare für Pinsel verwendet werden können. Zu den Zeiten, als Pinsel noch das einzige Schreibwerkzeug waren, wurden sie aus jeder Art von Naturhaar, das zur Verfügung stand, gemacht: dem Haar von Wieseln, Kaninchen, Schweinen, Rehen, Hühnern und sogar dem von Neugeborenen. Jedoch kann menschliches Haar nach dem ersten Haarschnitt, der die Haarenden stumpf macht, nicht mehr verwendet werden, da die Enden für den Pinsel spitz sein müssen. Das heutzutage am häufigsten verwendete Material ist weißes Ziegenhaar. Die Ziege liefert Haare unterschiedlicher Länge und Textur, die sich für Pinsel von verschiedener Größe und Dicke eignen. Man kann z.B. nur die Rückenhaare, die Barthaare, oder die Haare über den Klauen verwenden. Yu verwendet gerne die Haare von der Innenseite der Hinterbeine. Er hält ein Stück Ziegenhaut mit Fellhaaren hoch: „Sehen Sie, wie die Haare zum Ende hin heller und durchsichtiger werden und sich zu feinen Spitzen verjüngen? Die Farbe weist auf eine dichte innere Struktur hin“, sagt er. „Wie sieht es dann wohl an der Wurzel nahe an der Haut aus? Die Haare sind weniger transparent und weißer, nicht wahr? Das bedeutet, dass die Struktur an Dichte verliert. Die Haare werden schwächer und brechen in Wurzelnähe leichter. Die meisten Pinselhersteller verwenden aber auch diesen Teil, um größere Pinsel herzustellen, die sie dann teurer verkaufen können. Normalerweise schneide ich ein großes Stück des Wurzelteils ab und drücke das abgeschnittene Ende manchmal fast drei Zentimeter tief in die Ferrule, die Haare und Griff verbindet. So kann ich die Lebensdauer des Pinsels verlängern.“ „Andere Pinselmacher mögen mich deshalb ja für verrückt halten“, meint Yu mit einem Lächeln. „Ich bezweifle zwar, dass meine Bemühungen geschätzt werden, aber ich kann trotzdem nicht aufhören, weil ich glaube, dass das, was ich mache, einen Wert hat.“

Traditionelle Techniken bewahren

Der Umgang mit Tierhaaren ist harte Arbeit. Alleine schon die Aneignung der Technik, die Haare aus der Tierhaut zu zupfen, brauche über fünf Jahre Training, erklärt Yu. Das Vorbereiten der Haare beansprucht lange Zeit, aber er scheut


diese Zeit nicht, die an seinen Fingerspitzen schwindend verloren zu gehen scheint. Der nächste Schritt, das Entfernen von Ölrückständen vor dem Zusammenbinden, ist ebenfalls zeitintensiv. Ölrückstände bilden einen Film, der verhindert, dass die Tusche vollständig aufgesaugt wird. Für dieses wichtige Verfahren zur Kontrollierung des Tintenflusses folgt Yu alten Methoden: Die Haare werden mit der Asche verbrannter Reishülsen bestreut und mit Maulbeerbaumpapier umwickelt, bevor sie ein Jahr lang mit einem Dadeumi-Massivstein, auf dem früher Stoffe bearbeitet wurden, gepresst werden, um auch die letzten Ölreste zu entfernen. Haare mit höherem Ölgehalt wie z.B. Marderhund-, Pferdeschwanzund Kuhohrenhaare werden in der Nähe des Haupttores zum Haus begraben, sodass die Leute, die kommen und gehen, häufig auf sie treten. „In den letzten 20 Jahren habe ich mich hartnäckig an diese alte Methode gehalten, die seit mindestens vier Generationen nur mündlich überliefert wird“, sagt Yu. „Die meisten anderen Pinselhersteller verwenden eine Wärmebehandlung zum Ölentfernen, bei der eine dicke, heiße Stahlplatte auf die Haare gepresst wird. Dadurch wird das Öl zwar in weniger als zehn Minuten entfernt, aber die Haare werden dermaßen beschädigt, dass sie brüchig werden und ständig aus dem Pinselkopf fallen. Trotzdem stellt heutzutage diese Methode niemand in Frage.“ Yu hält unbeirrt an der verschwindenden Tradition des Pinselmachens fest. Er begann damit, Pinsel aus Pflanzenfasern statt Tierhaaren zu fertigen. In alten Zeiten waren Pinsel aus Pflanzenfasern ein Ersatz für die teureren Tierhaar-Pinsel. Ein Beispiel dafür ist der mit Kudzuwurzeln hergestellte Pinsel, der in etwa die Weichheit von Schafwolle besitzt, aber besser die schroffen Linien des „fliegenden“ Schriftstils (Bibaek; „Feibai“ auf Chinesisch) zum Ausdruck bringt.

Nachdem Yu Anfang der 1990er Jahre die Kudzu-Pinsel erfolgreich reproduziert hatte, ging er zu Dutzenden von anderen Pflanzenarten über, darunter Schilfgras, Silberhaargras und Palmen. Während es bei der Herstellung mit Tierhaaren im Prinzip nur ums „Wegwerfen und Aussortieren“ geht, steht bei den Pflanzenfasern das „Klopfen“ im Vordergrund, was viel Zeit und Mühe kostet. „Die Fasern müssen in feinste Fädchen gespalten werden. Das geht nur durch unablässiges Klopfen. Um Stärke und Saft restlos zu entfernen und reine Fasern zu gewinnen, muss man die Fasern 5.000 bis 50.000 Mal klopfen“, erklärt Yu. „Aber man darf nur behutsam klopfen, denn ein zu starkes Klopfen könnte die Fasern ruinieren. Bei den Kudzuwurzeln dauert es ganze drei Monate, um sie zu Fäden zu verarbeiten.“ Da es weder Bücher noch schriftliche Aufzeichnungen gab, machte sich Yu auf die Suche nach mündlichen Überlieferungen über die Herstellungstechniken und erforschte die Methoden. Er fragte sich, was er getan hätte, wenn er vor 300 oder 500 Jahren gelebt hätte und fand so die Antworten. „Unsere Vorfahren müssen sehr weise gewesen sein. Jeder war quasi ein Ingenieur oder Wissenschaftler. Selbst ohne die technische Ausrüstung von heute wussten sie alles, was es zu wissen gab. Ich habe das Gefühl, dass es meine Berufung ist, die Spuren unserer Vorfahren nachzuzeichnen.“ 1. Der Pinsel mit einer Ferrule in Form eines buddhistischen Moktak-Holzgongs ist das Ergebnis von zehn Jahren Forschung. Yu weitete sein Kunsthandwerk auf die Herstellung von Pinselstielen aus, um noch hochwertigere Produkte zu schaffen. 2. Yus Werkstatt im Kreis Jeungpyeong-gun, Provinz Chungcheongbuk-do, wird ihm seit 2010 kostenlos von einem Mäzen zur Verfügung gestellt. Seitdem er unter stabilen Bedingungen arbeiten kann, widmet er sich ganz der Erforschung traditioneller Pinsel.

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Den Grundlagen treu bleiben

Nachdem Yu mit zehn Jahren seinen Vater verloren hatte, verließ er mit 13 seine Heimatstadt Chungju und ging nach Seoul, wo er in einer Reihe von Restaurants und Fabriken arbeitete. Als er 1976 in einer Perückenfabrik arbeitete und Aufputschmittel einnahm, um bis spät in die Nacht arbeiten zu können, empfahl ein Verwandter ihn für einen Job in einer Pinselwerkstatt. Heute lacht er über diese harte Zeit und bezeichnet sein Leben als „von haarigen Geistern verfolgt.“ Aber damals war er glücklich, die Perückenfabrik verlassen zu können, um „einer würdigen Arbeit“ wie der Herstellung von Künstlerbedarf nachzugehen. Sein im Schnitt 15-stündiger Arbeitstag bestand nur aus „Aufwachen und arbeiten, essen und arbeiten, bis ich erschöpft war. So verdiente ich mir den Lebensunterhalt.“ Es gab auch Momente, in denen er fast aufgegeben hätte, aber er hielt durch und nach zwölf Jahren machte er sich selbständig, um seine eigenen Pinsel herzustellen. In den frühen 1990er Jahren, als er dachte, jetzt einigermaßen gut von seinem Handwerk leben zu können, nahm Korea diplomatische Beziehungen zu China auf und öffnete damit die Türen für billige und minderwertige chinesische Pinselprodukte, die bald in allen Kalligrafieläden des Landes zu finden waren. Viele Pinselmacher gaben ihr Handwerk auf. Um mit den chinesischen Billigprodukten konkurrieren zu können, wurden die Qualitätsstandards für einheimische Produkte gesenkt. Die Situation hat sich in den letzten fast 30 Jahren nicht gerändert. Seine Entschlossenheit, an den Grundlagen festzuhalten, half Yu, die harten Zeiten zu überstehen. Um den Grundlagen treu zu bleiben, legte er an sich und seine Arbeit strengste Maßstäbe an. Letztes Jahr wurde Yus Handwerkskunst der Pinselherstellung zum Wichtigen Immateriellen Kulturgut seiner Heimatprovinz Chung-

cheongbuk-do ernannt. Es war die erste offizielle Anerkennung seiner lebenslangen Anstrengungen. „Ein guter Pinsel zeichnet sich durch vier Eigenschaften aus: Feste und stabile Mitte des Haarteils, dicht und gleichmäßig gepackter Pinselkopf, gleichmäßig geschnittener Spitzenteil und sich vom Wurzelteil aus verjüngend in eine feine Spitze auslaufende Haare“, erklärt Yu. „Die meisten Pinselmacher sind sich einig, dass ein Pinsel völlig unabhängig von seiner Größe auch für feinste Linien verwendet werden können muss. In den alten Zeiten war der Vollkommenheitsgrad im Kalligrafieren daran zu erkennen, ob jemand mit ein und demselben Pinsel sowohl die großen Zeichen im Hauptbereich einer Kalligrafie als auch die kleinen für die Signatur schreiben konnte. Die konfuzianischen Gelehrten hielten es für unter der Würde eines Edelmanns, beim Verfassen eines Werks den Pinsel zu wechseln. Daraus ist zu schlussfolgern, dass ein Pinsel erst dann ersetzt wurde, wenn es schwierig geworden war, damit kleine Zeichen zu schreiben.“ Yu ist gnadenlos in seiner Kritik von Pinseln, die die Grundstandards nicht erfüllen. Für ihn ist ein Pinsel kein Pinsel, wenn die Spitze sich schon bei geringster Abnutzung abspreitzt, sodass er schon nach wenigen Monaten unbrauchbar wird. Er ist besonders gnadenlos in Bezug auf die Pinsel, die wegen ihrer einfachen Handhabung von den Kalligrafie-Anfängern gelobt und gern verwendet werden. Jedoch gibt er nicht den Nutzern die Schuld, sondern dem Pinsel selbst. „Es gibt fast nichts, was die Leute heutzutage nach einem nur dreimonatigen Computerkurs in einem der privaten Lerninstitut nicht beherrschen“, sagt Yu. „Wie könnte jemand, der auf schnelle Anerkennung als Kalligraf und gutes Abschneiden bei Wettbewerben hofft, meinen Pinseln, für deren korrekte Handhabung man zehn Jahre Übung braucht, überhaupt etwas abgewinnen?“

Wertvolle Pinsel aus hingebungsvoller Hand

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Yu weiß, dass sich heutzutage nur wenige mit Kalligrafie beschäftigen würden, wenn alle Pinsel so schwer zu handhaben wären. Daher legt er seit rund 20 Jahren keinen Wert mehr aufs „Geschäfte machen“. Er, der weder über Wohnbesitz noch sonstiges Eigentum verfügt, lebt zwar in Räumlichkeiten, die ihm ein Förderer kostenlos zur Verfügung gestellt hat, da er sich aber selbst für dieses Leben entschieden hat, gibt es nichts zu bereuen. Er sagt, dass sich ein Pinselmacher ausschließlich auf die Herstellung von Pinseln konzentrieren solle, die Sorge um den Verkauf könne seine Arbeit nur ruinieren. Sobald er darüber ins Grübeln geriet, vertiefte er sich nur noch mehr in sein Handwerk. Seine Hingabe wurde immer stärker und schließlich wandte er sich auch der Her-


stellung von Pinselstielen zu. Yu verarbeitet den Bambus, graviert Schriftzeichen auf den Griff oder schmückt den ganzen Pinselstiel mit Perlmuttintarsien. Außerdem experimentiert er mit völlig neuen Designs, z.B. mit Pfirsichkernen oder Lotussamen, die er stabförmig aneinander klebt. Derzeit überzieht er die Griffe mit Lack, um die Haltbarkeit zu verbessern, und fertigt sogar zum Pinsel passende Haltevorrichtungen. Auf die Frage nach dem Pinsel, den er in den 40 Jahren seiner Karriere besonders in Ehren gehalten hat, meint Yu, darauf könne er keine Antwort geben, da jeder Pinsel von besonderem Wert für ihn sei. „Jeder einzelne meiner Pinsel hat seine eigene Geschichte. Einige können an einem halben Tag erzählt werden, bei anderen würde es Tage dauern“, sagt er. „Wenn ich mir keine Sorgen um meinen Lebensunterhalt machen müsste, würde ich keinen einzigen Pinsel verkaufen wollen. Es mag eine nutzlose, fixe Idee von mir sein, aber schon vor über zehn Jahren habe ich mir geschworen, meine Pinsel nur an diejenigen zu verkaufen, die ihren Wert schätzen können. Dieser Leitgedanke hat mich auch dazu angespornt, meinen Weg weiterzugehen. Ich sage mir immer wieder: Wenn der Pinsel nichts Besonderes ist, dann stammt er nicht von Yu Pilmu. Deshalb wage ich auch zu sagen, dass die Pinsel mein Leben sind. Ich habe mit dem Gedanken durchgehalten, dass ich etwas Wertvolles schaffen werde, wenn ich mich meiner Arbeit mit Leib uns Seele verschreibe, und dass die Menschen das dann auch zu schätzen vermögen.“ Sein Pinsel mit einer Ferrule in Form eines buddhistischen Moktak-Holzgongs ist z.B. das Ergebnis von zehn Jahren Forschung. Er erinnert sich an die Zeit, als diese Idee langsam Gestalt annahm und sein Konzept sich ständig veränderte. Bei seinen Recherchen im Vorfeld dieses ungewöhnlichen Pinsels fokussierte er sich darauf, „einen Pinsel zu schaffen, der sich wie ein Teil des eigenen Körpers anfühlt“. Auch sein an einen Besen erinnernder Reisstrohpinsel mit den groben Borsten ist Ausdruck von Yus Vorstellung von einem Pinsel, aus dem lebendig-dynamische Ausdruckskraft fließt. „Bei jedem Projekt versuche ich mich stets auf die wesentliche Rolle des Pinsels zu konzentrieren. Letztendlich ist es ja Sache des Benutzers, zu entscheiden, wie und zu welchem Zweck er ihn verwenden will. Selbst darüber bestimmen zu wollen, wäre absurd und sinnlos“, sagt Yu. Welche Bedeutung haben dann seine Pinsel für ihn? Als hätte er diese Frage erwartet, antwortet er sofort: In den ersten 30 Jahren habe er sich auf die Pinsel verlassen, doch jetzt habe er oft das Gefühl, dass sich die Pinsel auf ihn verließen. Da wurde klar, warum sich auf seinem Gesicht trotz der jahrzentelangen Nöte und einsamen Kämpfe Zufriedenheit mit dem Errungenen spiegelt.

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1. Yu ist überzeugt, dass sich mit einem hochwertigen Pinsel große und kleine Zeichen gleichermaßen gut schreiben lassen. 2. Damit seine Pinsel länger halten, verwendet Yu nur den dichten, starken Teil des Haares und entfernt einen Großteil des weniger dichten Wurzelteils.

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VERLIEBT IN KOREA

Geheimnis dreifachen Erfolgs

Ausgewogenheit und Mäßigung Dieser Amerikaner versteht mehr von traditioneller koreanischer Literatur und traditionellen alkoholischen Getränken als mancher Koreaner. Man kann durchaus Experte für die Kultur eines fremden Landes werden, ohne sie unbedingt lieben zu müssen. Bei John Frankl scheint das allerdings nicht der Fall zu sein, denn sonst würde er kaum über Koreas „Amerikanisierung“ klagen und sich für die Entwicklung seiner Traditionen einsetzen. Choi Sung-jin Leitender Redakteur, Korea Biomedical Review Fotos Ahn Hong-beom

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ie Koreaner glauben seit jeher daran, dass man in Literatur und Kampfkunst versiert sein muss, um ein „vollständiger Mensch“ zu werden. Manche geben sich aber damit nicht zufrieden und fügen noch hinzu: Sinn für Geschmack. John Frankl scheint alle drei Anforderungen zu erfüllen. Frankl unterrichtet bereits seit zehn Jahren koreanische Literatur am Underwood International College der Yonsei Universität. Aber nicht nur das: Gibt man seinen Namen in einer Suchmaschine ein, erscheinen Dutzende von Treffern für das Brazilian Jiu-Jitsu (BJJ) Institut in Korea. Er ist wohlbekannt in der Kampfkunst-Szene des Landes. Mit „Geschmack“ ist hier der für Alkohol gemeint. Die Koreaner sind berühmte – oder berüchtigte – Alkoholkonsumenten. Aber kaum einer kann es mit Frankls Liebe zu traditionellen Weinen und seinem Wissen darüber aufnehmen. Er bekommt sogar Angebote, unter eigenem Markennamen alkoholische Getränke herzustellen und zu vermarkten. Wie schafft er es, sich in so unterschiedliche Bereiche zu vertiefen, ohne ein Sonderling, ein Kämpfer oder ein Alkoholiker zu sein? Ausgewogenheit und Mäßigung sind wohl die Stichwörter. Frankl kennt die Redewendung: „Jack of all trades but master of none“. Aber diese Beschreibung würde ihn etwas verlegen machen. „Ich möchte kein Goldmedaillengewinner in einer Disziplin sein, sondern ein Bronzemedaillengewinner in dreien“, sagt er. Genauer, in einem doppelten

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Dreierpack: Frankl möchte nämlich ein guter Literat, Athlet und Braumeister sein, aber auch ein guter Professor, Ehemann und Vater. „Um in einer Sache der Beste zu werden, muss man zu viele andere aufgeben“, ist seine Meinung.

Drei Bälle jonglieren

Nehmen wir z.B. Brasilianisches Jiu-Jitsu. 1999 brachte Frankl diesen Sport, eine Abwandlung des japanischen Judo, nach Korea. Seine ersten Schwarzgurt-Schüler haben längst eigene BJJ-Akademien aufgemacht, ebenso die Schwarzgurt-Absolventen dieser Akademien. Die Akademien berufen sich auf seinen Namen, um die Verbindung zu Frankl zu unterstreichen, aber Frankl betont mit Nachdruck, dass er nichts mit deren Leitung zu tun habe und auch kein Geld von ihnen annehme. Er ist auch nicht daran interessiert, ein eigenes Netzwerk von BJJ-Akademien zu gründen. Die beiden BJJ-Trainingshallen in der Nähe seiner Arbeitsstätte besucht er lediglich zum Trainieren und für die Vorbereitung auf Wettkämpfe. Laut Frankl ist BJJ die beste Kampfsportart für die Gesundheit, besser als Karate, Muay Thai oder Taekwondo, die er selbst alle einmal praktiziert hat. „Bei diesen Standkampfsportarten, bei denen hauptsächlich geschla gen und gekickt wird, kann sowohl der Verteidiger als auch der Angreifer verwundet werden“, sagt er. „Bei der Bodenkampfsportart BJJ kann man hingegen durch Klopfen


Professor John Frankl prüft die Krüge mit den von ihm angesetzten alkoholischen Getränken. Die mühsame Herstellung der traditionellen Weine und Schnäpse bereitet ihm ebenso große Freude wie die einzigartigen Geschmackserlebnisse.

auf den Körper des Gegners jederzeit signalisieren, dass man aufgeben möchte, was Verletzungen verhindert.“ Wenn JiuJitsu nicht so sicher wäre, hätte er seiner Tochter, die in der 11. Klasse ist, wohl kaum erlaubt, es zu lernen. Man könnte meinen, dass das Verfolgen von zwei so unterschiedlichen Berufswegen wie Akademiker und Athlet dem einen oder dem anderen bzw. beiden abträglich sein könnte. Frankl sieht das anders: „Für mich dreht sich alles um Balance, das Ausbalancieren von Mentalem und Körperlichem. Meiner Meinung nach verstärkt das eine das andere eher als es zu beeinträchtigen.“ Der Balanceakt lässt ihm keine Zeit, aus BJJ ein eigenes Geschäft zu machen, aber er hat auch kein Interesse daran.

Alkoholische Getränke

Sein Motto des Gleichgewichts und der Mäßigung kommt auch bei der Alkoholherstellung zur Anwendung. 2010 begann er mit der Heimdestillation. Da er einen schmackhafteren Sul (alkoholisches Getränk) herstellen wollte, schrieb er sich für Grund- und Fortgeschrittenenkurse u.a. am Korea Homebrewing Research Institute ein. „Wenn man seinen eigenen Alkohol herstellt, kann man den auf dem Markt verkauften kaum noch trinken“, sagt er. „Ich verstehe nicht recht, warum die Koreaner, die eine wundervolle Tradition der Herstellung exzellenter Weine und Spirituosen haben, sich mit dem billigen kommerziellen Reis-

schnaps Soju zufrieden geben, bei dem alle Marken langweilig und gleich schmecken.“ Nach Frankl wird der Geschmack von selbst hergestelltem Soju zu 90% von den Rohmaterialien bestimmt, den Rest übernimmt die Zeit. „Hat man gut fermentiertes Nuruk (Weizen oder Reis mit Hefepilzen-Kulturen zur Stimulierung der Fermentation) und Qualitätsreis, ist der gute Geschmack des Alkohols so gut wie gesichert“, sagt er. „Geben Sie gedämpften Reis, Nuruk und Wasser in einen atmungsaktiven Krug, lassen sie alles bei Raumtemperatur rund zehn Tage fermentieren und schon erhalten sie ein einzigartiges Getränk. Aromatisieren Sie es je nach Jahreszeit mit Kiefernpollen oder Beifuß – das ist das Tüpfelchen auf dem i.“ Gut fermentierter Wein wird gefiltert, um den klaren Reiswein Cheongju herzustellen. Ungefilterter, milchig-trüber Wein wird „Takju“ oder „Makgeolli“ genannt. Durch Erhitzen von Cheongju erhält man den Reisschnaps Soju. Der Alkoholgehalt wird durch die Erhitzungstemperatur bestimmt und kann 40% oder mehr betragen. „Destilliert man gut geläuterten Cheongju, kann man rund ein Viertel Soju erhalten“, erklärt Frankl. „Traditionell destillierter Soju ist ein qualitativ hochwertiger Alkohol, der nur unter beträchtlichem Zeit- und Geldaufwand hergestellt werden kann.“ Ich probierte zwei Sorten von Frankls selbst gebranntem 40%-igem Soju. Wie bei anderen harten Alkoholsorten,

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darunter auch dem hochprozentigen chinesischen Kaoliang-Schnaps, war der Anfangsgeschmack bitter, der Nachgeschmack hingegen sauber, was typisch für süßen Reis ist. Der unangenehme Nachgeschmack, der beim Trinken hochprozentigen Alkohols oft in die Kehle steigt, fehlte ganz. „Selbst beim Trinken teuren Whiskeys muss man das Gefühl, das in der Kehle hochsteigt, unterdrücken“, sagt Frankl. „Trotz seines hohen Alkoholgehalts rinnt traditioneller koreanischer Soju glatt in den Magen. Soju aus guten Zutaten beschert einem auch keinen Kater, egal, wie viel man davon trinkt.“ Frankl behauptet, dass er eine Nacht ohne besoffen zu werden durchtrinken kann, wenn drei Bedingungen erfüllt sind: guter Alkohol, gute Menschen und eine gute Atmosphäre. Der 51-jährige Professor sagt, er könne durch Alkohol verursachtes gewälttätiges Verhalten nicht tolerieren. „Die Koreaner scheinen Betrunkenen und deren Fehlverhalten gegenüber recht tolerant zu sein und sagen, es sei doch alles nur wegen Sul, erklärt er. „Ich stimme dem nicht zu, denn der Alkohol an sich ist nicht schuld daran. Das Problem sind die Menschen, die ihn trinken.“ In Bezug auf die koreanische Trinkkultur hat Frankl bedeutende Veränderungen festgestellt. „Heutzutage trinken die Koreaner weniger als früher, verbringen auch weniger Zeit mit Trinken und die Atmosphäre ist viel ruhiger. Als jemand, der trinkt und auch braut, sollte ich das wohl eher enttäuschend finden“, meint er mit einem Schmunzeln. Frankl merkt an, dass einige Koreaner ihn, einen Ausländer, der traditionellen koreanischen Alkohol herstellt, anfänglich wohl für einen seltsamen Vogel gehalten haben. Heute wer-

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den aber seine Produkte und sein Know-how nachgefragt. Einige ausländische Freunde, darunter ein Schotte aus der Heimat des Whiskey, sind dem koreanischen Soju und seiner Herstellungsmethode ebenfalls äußerst zugetan. „Der größte Vorteil der koreanischen Alkoholgetränke ist, dass sie mit leicht erhältlichen Zutaten in relativ kurzer Zeit hergestellt werden können“, sagt Frankl. Betonend, dass sie zudem besser als Kaoliang oder Sake sein können, fügt er hinzu: „Die Koreaner müssen stolz auf ihre Produkte sein, Traditionen sammeln und sie mit Geschichten umweben.“ Frankl weist darauf hin, dass viele Koreaner bereitwillig umgerechnet mehrere hundert Euro für eine Flasche schottischen Whiskey und gar an die 1.000 Euro für einen französischen Wein hinblättern, aber zögern, mehr als ein paar Euro für Soju oder Makgeolli zu zahlen. Traditionelle koreanische Weine und andere Alkoholgetränke sollten nicht unbedingt billig sein und die Koreaner sollten von den Chinesen lernen, die sehr teuren Kaoliang herstellen und verkaufen. „Einige der Absolventen des Korea Homebrewing Research Institute betreiben kleine Brauereien und Brennereien und bringen neue Soju- und Makgeollisorten heraus. Der Differizierungsprozess hat also schon begonnen, aber die Popularisierung wird noch länger dauern“, meint Frankl. „Das Zeitalter billiger, schwacher und geschmackloser Weine und anderer Alkoholika wie Soju und Makgeolli, die in jedem Supermarkt und 24-Stunden-Laden zu finden sind, sollte langsam enden und den Weg frei machen für hochwertige Vintage Soju-, Cheongju- und Dongdongju-Produkte (Dongdongju: Takju mit einigen Reiskörnern).“ Manchmal erhält Frankl Angebote, unter seinem Namen


Man könnte meinen, dass das Verfolgen von zwei so unterschiedlichen Berufswegen wie Akademiker und Athlet dem einen oder dem anderen bzw. beiden abträglich sein könnte. Frankl sieht das anders. 1. Professor Frankl, der 1999 Brasilianisches Jiu-Jitsu nach Korea brachte, bei einer Darbietung in dem nach ihm benannten Studio. Wissenschaftler und Athlet zu sein versteht er als Ausbalancieren von Geist und Körper.

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2. Professor Frankl unterrichtet koreanische Literatur am Underwood College der Yonsei-Universität. Er wuchs im kalifornischen Santa Cruz auf und war 1989 zum ersten Mal in Korea, und zwar als Austauschstudent an der Yonsei-Universität, wo er heute unterrichtet.

alkoholische Getränke herauszubringen. Dazu meint er: „Ich bin da etwas zwiegespalten. Wenn ich daraus ein Geschäft mache, kann ich die Alkoholherstellung vielleicht nicht mehr als Hobby genießen. Andererseits ertappe ich mich schon mal dabei, davon zu träumen, meine Produkte in die Regale großer Läden zu bringen.“ Unter dem Strich hält Frankl die Freude an der Herstellung aber wichtiger als die am Verkauf.

Diversität statt Uniformität

John Mark Frankl wurde in Los Angeles geboren, wuchs aber hauptsächlich in Santa Cruz auf. „Während meiner Highschool-Zeit gab es in der Gegend Kaliforniens keine Koreaner. Es gab auch keine christlichen Missionare, die in Korea tätig gewesen waren“, erzählt er. „Irgendwie kam es dazu, dass ich an der Uni Koreanisch als Zweitfremdsprache belegte und fleißig lernte. Es war eins der Fächer, die man unbedingt bestehen musste, um abschließen zu können.“ 1989 kam er das erste Mal nach Korea, und zwar als Austauschstudent der Yonsei-Universität, wo er weiter Koreanisch lernte. Zu der Zeit entwickelte sich sein Interesse an der modernen und zeitgenössischen Literatur Koreas. Frankl bevorzugt Schriftsteller wie Chae Man-shik, Yeom Sang-seop und Hyeon Jin-geon, die in den 1920ern und 1930ern aktiv waren. Sie schrieben unter dem Banner des Realismus und Naturalismus, aber Frankls Vorlieben richten sich nicht auf literarische Genres, sondern auf bestimmte Schriftsteller. Sein Lieblingsautor ist Yisang. Er mag seine Essays, aber nicht seine Gedichte und Erzählungen, die er als „zu esoterisch“ betrachtet. Nach jetzt fast 15 Jahren in Korea gesteht Frankl, dass er das

Land liebt. „Aber wie Sie wissen, gibt es keine hunderprozentig bedingungslose Liebe“, meint er. „Liebt man Korea mit 95% positivem Gefühl, so scheinen doch die restlichen 5% negative Aspekte hervorstechen zu können.“ Was die 95% positiver Gefühle betrifft, erklärt Frankl, dass er die Koreaner für selbstbewusst und offen halte und Korea für Ausländer ein Land sei, in dem man freundlich aufgenommen werde und wo es sich gut leben lasse. Am Anfang hatte er den Eindruck, dass Koreaner eher unzugänglich und nicht besonders freundlich gegenüber Ausländern seien, aber das habe sich deutlich verbessert, meint er. Nach den negativen 5% befragt, nennt Frankl Uniformität oder geringe Individualität. „Wenn ich in Sinchon oder Apgujeong bin, kann ich kaum einen Unterschied zu New York oder Tokio feststellen. Die Koreaner und ihre Städte verlieren ihre Anziehungskraft, ihre unverwechselbare Originarität“, bedauert er. „Natürlich globalisiert sich die Welt, aber leider hat sich Korea zu stark amerikanisiert.“ Auf die Frage, wie er über den Nationalcharakter des koreanischen Volkes denkt, sagt Frankl, dass er nicht an sog. „nationale Züge“ glaubt und Koreanischlehrer nicht versuchen sollten, ihren Schülern mythische Begriffe wie „eine Nation“ oder „reine Blutlinie“ einzutrichtern. Die Koreaner sollten vielmehr unter sich selbst nach Diversität streben und sowohl in Korea als auch im Ausland das Anderssein von ausländischen Menschen erkennen und respektieren. Er fügt hinzu: „Was ich am meisten an Korea mag, ist die breite Vielfalt an Dialekten, Landschaften und Speisen, und das in einem Land, in dem man fast jeden Ort innerhalb von drei Fahrtstunden erreichen kann.“

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UNTERWEGS

Auf den Spuren König Jeongjos zur Festung Hwaseong

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Die Festung Hwaseong, Inbegriff der Architektur der späten Joseon-Zeit, umschließt den alten Stadtkern von Suwon. Die Festung, die 1997 in die UNESCO-Weltkulturerbeliste aufgenommen wurde, zeugt von sorgfältiger Planung und akribischem Design, um Gedanken und Ideale von Jeongjo, des 22. Königs von Joseon (reg. 1776-1800), widerzuspiegeln, der den gesamten Bauprozess genauestens dokumentieren ließ. Lee Chang-guy Dichter und Literaturkritiker Fotos Ahn Hong-beom

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m Frühjahr 1795 war Hanyang, die Hauptstadt des Joseon-Reichs (das heutige Seoul), mit Besuchern aus dem ganzen Land überfüllt. Die überwältigende Nachfrage nach Unterkünften konnte auch durch die zeitweilige Aufhebung der nächtlichen Ausgangssperre und Errichtung provisorischer Zeltlager nicht gedeckt werden. Insbesondere die Händler freuten sich über den unerwarteten Ansturm. Die Besucher waren alle aus einem einzigen Grund gekommen: Sie wollten den königlichen Umzug sehen. Plakate, die die Regierung landesweit hatte aushängen lassen, informierten das gemeine Volk über die Reiseroute und gewährten die einmalige Gelegenheit eines Blicks auf den Herrscher. Den König zu sehen war wie ein Bad im göttlichen Lichterglanz. Die zu diesem Zweck aus der Ferne Angereisten wurden entsprechend „Gwangwang Minin“ genannt: Menschen, die gekommen sind, um das Licht zu sehen. „Gwangwang“ bedeutet heutzutage „Tourismus“.

Die kindliche Pietät des Königs

Gegen sieben Uhr früh am neunten Tag des zweiten Mondmonats im Jahr 1795 entbot König Jeongjo seiner Mutter, Lady Hyegyeong, am Eingang des Palastes Changdeok-gung den Morgengruß, bestieg sein Pferd und begleitete sie zur Hwaseong-Festung, wo sie vier Tage blieben. Anlass war der 60. Geburtstag von Lady Hyegyeong, der in der Festung gefeiert werden sollte, sowie der Besuch der in der Nähe gelegenen Grabstätte von Kronprinz Sado, des Vaters von König Jeongjo. Es wurde an nichts gespart: So erstreckte sich der königliche

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Zug über die Gesamtlänge von einem Kilometer, sodass 5% der 20 km langen Strecke bereits allein durch die Aufstellung des Zuges zurückgelegt war. Trotzdem dauerte es zwei Tage, bis die sich schwerfällig bewegende Kolonne Suwon und damit die Hwaseong-Festung erreichte. Noch nie hatte es im Joseon-Reich ein derart prächtiges Spektakel gegeben! Selbst heutzutage noch erinnern sich viele Koreaner daran als eine unüberbietbare Demonstration der kindlichen Pietät eines königlischen Herrschers aus dem 18. Jahrhundert. Jeongjo rückte im zarten Alter von elf Jahren in der Thronfolge vor, als sein Vater, der 27-jährige Kronprinz Sado, nach acht Tagen in einer Reistruhe, in die ihn dessen Vater, König Yeongjo, wegen angeblicher Blasphemie und Verrat eingeschlossen hatte, starb. Die Geschichtsschreibung legt nahe, dass der Kronprinz geistig krank war und den Palast terrorisierte. Es gab auch Gerüchte, dass er aufgrund von Streitigkeiten zwischen den politischen Fraktionen am Hof einem Komplott zum Opfer fiel. Der junge Jeongjo, der von seinem Großvater zum Adoptivsohn seines Onkels Prinz Hyojang, dem früh verstorbenen Erstgeborenen, bestimmt wurde, lebte die folgenden 14 Jahre in der ständigen Furcht vor einem Attentat: „Ich habe so große Angst, als würde ich auf einem Nadelkissen sitzen, und meine Lage ist so prekär wie Eier, die eins auf das andere gehäuft sind“. Diejenigen, die seinen Argwohn erregt hatten, „laufen mit klappernden Schritten bar jeder Vorsicht oder Ehrfurcht herum“, bemerkte er. 1776 stand Jeongjo nach dem Tod seines Großvaters vor diesen Menschen und gab öffentlich bekannt, dass er der Sohn von Kronprinz Sado sei.


Das Grab dieses vom Unglück verfolgten Kronprinzen liegt auf dem Berg Hwa-san (Blumenberg), rund 10km südlich des Berges Paldal-san. Passend zum Bergnamen ist das Grab reich geschmückt mit zwölf in Lotusknospenform gehauenen Steinen. Das Gelände, einst Sitz des Bezirksamtes von Suwon, galt seit Jahrhunderten als geomantisch gesegnete letzte Ruhestätte für Mitglieder des Herrscherhauses. 1789 verlegte König Jeongjo die Bezirksverwaltung von Suwon an ihren heutigen Standort und das Grab seines Vaters im Kreis Yangju, nördlich von Hanyang, zum Berg Hwasan. Dann nannte er die Grabstätte in „Hyeollyungwon“ um: Garten der reichlichen Vergeltung der Gnade des verstorbenen Vaters. Ganz in der Nähe ließ er als Bitte für das ewige Seelenheil seines Vaters einen Tempel erbauen. So kam es, dass Lady Hyegyeong ihrem Mann 33 Jahre nach seinem Tod erstmals in gebührender Form ihre Ehre erweisen konnte.

Erinnerung an zwei Jahrhunderte

Ein königlicher Zug war ein feierliches und politisch bedeutendes Event, das häufig von den vormodernen Herrscherhäusern in Nordostasien veranstaltet wurde. Der Zug König Jeongjos zur Festung Hwaseong sprengte jedoch jeden bis dahin üblichen Rahmen: Er war der größte seiner Art seit der Gründung des Joseon-Reiches im Jahre 1392 und verschlang das größte Budget. Für die achttägige Reise mobilisierte der Palast 6.000 Menschen und 1.400 Pferde und stellte 100.000. Nyang zur Verfügung (heute rd. 5,4 Mio. €). Rund 120 Handwerker arbeiteten an der Sänfte für Lady Hyegyeong. Sie kostete 2.785 Nyang (heute rd. 155.000 €), ein Betrag, für

den man heutzutage in Korea zwei Luxuslimousinen erstehen könnte. Diese Detailinformationen sind den minutiösen Aufzeichnungen, die damals gemacht wurden, zu verdanken. Dazu gehört das Wonhaeng Eulmyo Jeongni Uigwe (Hofprotokoll über König Jeongjos Reise zum Grab von Kronprinz Sado im Jahr Eulmyo), ein achtbändige Werk, das das Großereignis von der Planungsphase an minutiös dokumentiert. Einmalig sind dabei die 63 Banchado-Illustrationen, auf denen alle Teilnehmer und ihr jeweiliger Platz im Zug zu sehen sind. Kim Hong-do (1745-1806), ein berühmter Genremaler und Hofkünstler, versammelte die talentiertesten Künstler im Lande, um diese Kunstwerke herzustellen. Die Illustrationen sind daher sowohl von hohem dokumentarischen als auch künstlerischem Wert. Eine weitere Darstellung von König Jeongjos Zug zum Grabmal seines Vaters in Hwaseong (Hwaseong Neunghaengdo) findet sich auf einem achtwandigen Paravent, der ein Jahr nach dem Grabbesuch angefertigt wurde, und neben den Hwaseong Neunghaengdo (Zug zum Grabmal von Kronprinz Sado in der Festung Hwaseong) von Kim Deuk-sin et al. c. 1795. Tinte und Farbe auf Seide; jedes Element: 151,5 × 66,4 cm. Der Paravent dokumentiert König Jeongjos Zug zur Festung Hwaseong im Jahr 1795. Anlass war der Besuch der in der Nähe gelegenen Grabstätte seines Vaters, Kronprinz Sado, und der 60. Geburtstag seiner Mutter, Lady Hyegyeong. Der achtteilige Paravent stellt Szenen der achttägigen Reise dar. Die wahrscheinlich von mehreren Künstlern des Königlichen Amtes für Malerei gefertigten, akribischen und in edlen Farbtönen gehaltenen Abbildungen sind Inbegriff der Hofmalerei und ein hervorragendes Beispiel für dokumentierende Malerei. © National Palace Museum of Korea

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Glanzpunkten des Zugs auch eine Detailansicht der fertiggestellten Festung präsentiert. Hier und da sind einige lebendige Szenen zu sehen, darunter Soldaten, die die Menschenmenge unter Kontrolle zu bringen versuchen, Gruppen junger Gelehrter, die zum Zuschauen gekommen sind, Männer, die versuchen, Streitereien zu schlichten, und Straßenhändler, die sich durch die Menge schlängeln, um Yeot (Toffee auf Getreidebasis) und Reiskuchen zu verkaufen. Als 1993 der Roman Das ewige Reich von Yi In-hwa herauskam, begannen viele, sich an die Zeit vor 200 Jahren zurückzuerinnern. Der Roman, der davon ausgeht, dass Jeongjo durch Vergiftung zu Tode kam, wurde zum Bestseller, schon bald folgte ein Film mit gleichnamigem Titel. Anlässlich der Aufnahme der Hwaseong-Festung in die UNESCO-Weltkulturerbeliste erschien eine kommentierte Sammlung der vom König hinterlassenen Aufzeichnungen. Die ursprünglich schwarz-weißen Holzschnitt-Illustrationen des königlichen Zugs wurden koloriert und als hochwertige Kulturprodukte neu veröffentlicht. All das trug dazu bei, dass König Jeongjo seinen Ruf als reformerischer Monarch, der die Renaissance von Joseon eingeleitet hatte, wiedererlangen konnte.

Pontonbrücke für den König

Es war nicht das erste Mal, dass Jeongjo zur Grabstätte seines Vaters pilgerte. Nach der Verlegung besuchte er das Grab jedes Jahr, 1795 also zum sechsten Mal. Dahinter standen tiefgreifendere Überlegungen: Da für jeden Zug zahlreiche

Soldaten mobilisiert wurden, bot sich automatisch die Gelegenheit, deren Wehrtüchtigkeit zu überprüfen und das Verteidigungssystem der Hauptstadt zu inspizieren. Außerdem erforderte die Massenmobilisierung die Anlage neuer Straßen und Brücken, wodurch das Transportnetzwerk des Königreichs erweitert wurde. Der König nutzte also den Zug zum Grab seines Vaters zur Demonstration seiner kindlichen Pietät und zur Bestätigung und Stärkung der politischen Macht des Herrschers. Eins der heikelsten Probleme bei dem Pilgerzug war die Überquerung des Han-Flusses. Der König konnte entweder mit einem Boot übersetzen oder zu Fuß über eine Pontonbrücke gehen. Schließlich entschied er sich für die Pontonbrücke, für die allerdings Hunderte von Booten zum Aneinanderreihen benötigt wurden. Das Problem dabei war der enorme Zeitaufwand für die Bootseigentümer, die während des Baus nicht uneingeschränkt ihrem Broterwerb nachgehen konnten. Jeongjo beabsichtigte daher, innerhalb kurzer Zeit eine möglichst sichere und schöne Pontonbrücke zu bauen und gleichzeitig die Kosten zu minimieren. Basierend auf seinen Erfahrungen mit der Umbettung seines Vaters gab er für den Brückenbau Anweisungen in fünfzehn Kategorien einschließlich Breite des Flusses, Höhe der Boote und ihrer Verknüpfung und forderte eine systematische Herangehensweise und ein durchdachtes Konzept. Nach langen und gründlichen Vorbereitungen wurde 1793 ein Buch mit dem Titel Jugyo Jeolmok (Anweisungen für den 1

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Bau einer Pontonbrücke) fertiggestellt. Dank dieser präzisen Instruktionen konnte im zweiten Monat des Jahres 1795 innerhalb von nur elf Tagen eine funktionale und schöne Pontonbrücke angelegt werden. An der Stelle dieser Pontonbrücke wurde 1917 die Hangang-Brücke, die erste moderne Fußgängerbrücke Koreas, eröffnet. Heute, rund hundert Jahre danach, führen 31 Brücken über den Han-Fluss. Nachdem Jeongjo den Fluss mit so viel Stil überquert hatte, nahm er statt der alten Landroute über den Gebirgspass Namtaeryeong nach Gwacheon eine neue Route, die über Noryang weiter nach Siheung verlief. Die Entfernung war ungefähr gleich. Da sich der Reiterzug aber in fünf, manchmal sogar in elf Reihen bewegte, mussten die Straßen entsprechend breit sein. Es war daher einfacher, eine neue, über flaches Land führende Straße anzulegen, als die Pfade durch die Berge zu verbreitern. Wegen der vielen kleineren und größeren Wasserläufe entlang der Siheung-Route mussten allerdings viele Brücken angelegt werden. König Jeongjos Entscheidung veränderte das Schicksal der beiden Routen grundlegend: Die Siheung-Route wurde weiter ausgebaut, bis sie zu einer der zehn Hauptverkehrsstraßen von Joseon wurde. Heute ist sie der Hauptabschnitt der Nationalstraße 1, die das Zentrum von Seoul mit den südlichen Regionen des Landes verbindet. Im Gegensatz dazu endeten die glorreichen Zeiten der Namtaeryeong-Route und schon bald erinnerten nur noch einige heruntergekommene Tavernen und Legenden an die alte Straße.

Zweck der Festung

Der königliche Zug, der am Haupttor Donhwa-mun des Palastes Changdeok-gung aufbrach, machte in Siheung für eine Übernachtung Halt. Erst am Abend des nächsten Tages passierten alle Teilnehmer das nördliche Tor der Hwaseong-Festung und erreichten die Bezirksverwaltung von Suwon. Der Bau der Festungsmauern hatte ein Jahr zuvor begonnen und die Arbeiten waren noch im Gange. Jeongjo änderte den Namen von Suwon in „Hwaseong“ (Festung des Reichtums, der Langlebigkeit und Mehrung) und stufte sie zu einer höheren Verwaltungseinheit auf. Er richtete auch das 5.000 Mann starke Außenlager der königlichen Wache Jangyongyeong ein. Da Suwon bis heute ein wichtiger Halt auf der Strecke von Seoul in die südlichen Regionen ist, ließen sich seine Maßnahmen als Schritte zur Stärkung des Verteidigungssystems im Umkreis der königlichen Hauptstadt rechtfertigen. Die Hwaseong-Festung war ein uneinnehmbares, mit den neuesten Technologien errichtetes Bollwerk. Entworfen wurde sie von dem Gelehrten Jeong Yak-yong (1762-1836), einem Vertreter der Silhak-Schule des Praktischen Wissens,

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von dem auch die Pläne für die Pontonbrücke stammen. Bei näherer Betrachtung der Planskizzen wird jedoch deutlich, dass der König mehr als nur eine militärische Bastion im Sinn hatte: Wasserläufe wurden durch die Stadt geleitet und ein neues, kreuzförmig angelegtes Straßennetz wurde gebaut, um den Austausch von Menschen und Gütern zu erleichtern, d.h., es handelte sich um eine Mehrzweck-Neustadt. Während seines viertägigen Aufenthalts besuchte Jeongjo das Grab seines Vaters, um diesem seinen Respekt zu erweisen, hielt eine staatliche Prüfung zur Auswahl von Regionalbeamten ab, verfolgte die Wehrübungen der Soldaten und richtete ein Bankett zu Ehren des 60. Geburtstags seiner Mutter sowie ein weiteres Fest für die älteren Menschen in der Region aus. In der neuen Festungsstadt testete und demonstrierte er alles, was er nach vielen Überlegungen geplant und umzusetzen versucht hatte. Es war ein Jahr her, dass er mit den Vorbereitungen für den königlichen Zug begonnen hatte, sechs Jahre, dass er seinen Vater umgebettet hatte, und 20 Jahre, dass er den Thron bestiegen hatte. 1. Yungneung, in Hwaseong in der Provinz Gyeonggi-do gelegen, Die Hwaseong-Festung, ist das gemeinsame Grabmal der deren 4,9 bis 6,2 m hohe Eltern von König Jeongjo: KronMauern sich über eine prinz Sado (1735–1762) und Lady Gesamtlänge von 5,7 km Hyegyeong (1735–1816). erstrecken, wurde 1796 fer2. Das Grabmal von Kronprinz Sado und Lady Hyegyeong ist tiggestellt, ein Jahr nach geschmückt mit Steinen in Blütendem großen Zug des Königs knospenform und umgeben von zum Grab seines Vaters. Der Steinen in Form von Lotusknospen. Daran lässt sich König Jeongjos Bau der gesamten FestungsWunsch ablesen, das Grab seines anlage mit ihren vier impofrüh und unter tragischen Umstänsanten Haupttoren, dem den verstorbenen Vaters wie das Westlichen KommandoGrab eines Königs zu gestalten.

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posten auf der höchsten Erhebung, dem Berg Paldal-san, dem Banghwasuryu-Pavillon und dem kleineren, zu jeder Jahreszeit reizend anzusehenden Hwahong-Tor sowie rund 40 Verteidigungsanlagen inklusive der drei „Gongsimdon“ genannten Warttürme, die eine nur in Hwaseong zu findende, aus Ziegeln und Steinen bestehende Struktur aufweisen, beanspruchte also nur zweiundhalb Jahre. Der neue, nur vorübergehend genutzte Sonderpalast in Hwaseong, den die Besucher heutzutage besichtigen können, wurde während der japanischen Kolonialzeit (1910-1945) beschädigt und später zu verschiedenen Zeiten als Krankenhaus, Polizeistation und Schule genutzt, bevor er schließlich 2003 originalgetreu restauriert wurde. Eine detailgenaue Restaurierung war möglich, weil König Jeongjo den gesamten Bauprozess im Hwaseong Seongyeok Uigwe (Hofprotokoll über die Errichtung der Festung Hwaseong) hatte dokumentieren lassen.

König Jeongjos Modernität

Ich begann den Spuren von König Jeongjo anhand einiger einfacher Fragen zu folgen: Warum legte er die Hwaseong-Festung an? Was für eine Art von Reich wollte er aufbauen? Was ich entdeckte, war ein Regent, der basierend auf kindlicher Pietät und einer soliden Kenntnis des Neokonfuzianismus nach einer tugendhaften, transparenten Staatsverwaltung strebte. Es war die Geschichte eines Monarchen, der die Autorität des Throns stärkte und vom Volk für seine Wohltaten gepriesen wurde. Diese Einschätzung wird

gestützt von Hongjae Jeonseo (Die gesammelten Werke von König Jeongjo) und weiteren von ihm hinterlassenen Schriften. In der Zeit von König Jeongjo waren der Katholizismus und die neokonfuzianische Philisophie des Gelehrten Wang Yangming ebenso verbreitet wie westliche Naturwissenschaft und Technologie im Kontext der Silhak-Strömung des „praktischen Wissens“. Der Neokonfuzianismus galt nicht länger als fortschrittliche Schule oder Wertvorstellung. Für Jeongjo war das Zeitalter der Moderne voller Unsicherheit und Ungewissheit. Seine Modernität hatte aber gerade in dieser Unsicherheit und Ungewissheit ihren Usprung. Basierend auf dem Ideal der „Liebe zum Volk“ versuchte er einen Kompromiss mit dem Wandel der Zeiten einzugehen. Bei seinen Umzügen suchte Jeongjo immer den direkten Kontakt mit den Leuten aus dem einfachen Volk, die nicht lesen und schreiben konnten, und hörte sich ihre Nöte an. Bei jeder dieser Gelegenheiten befasste er sich mit rund 85 Beschwerden. Die Bauarbeiter der Festung Hwaseong versorgte er im Winter mit warmer Kleidung und im Sommer mit Heilkräutern, die die schwüle Hitze ertragen halfen. Seine Berichte über die Bauarbeiten enthalten detaillierte Informationen zu jedem einzelnen Arbeiter: Name und Adresse, Anzahl der Arbeitstage und Gesamtlohn. Wenn Privathäuser abgerissen werden mussten, um Platz für neue Straßen und den Sonderpalast des Königs zu schaffen, gab es eine angemessene Entschädigung, in Zeiten schlechter Ernten wurden die Bauarbeiten eingestellt.

Sehenswürdigkeiten in Suwon 46km

Seoul Suwon

1 Jangan-Tor

2 Hwahong-Tor

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3

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3 Westlicher Kommandoposten der Festung Hwaseong

4 Yungneung

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5 Tempel Yongju-sa

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Der Pavillon Banghwasuryu, der zu den schönsten Baustrukturen der Festung zählt, liegt inmitten einer zu jeder Jahreszeit reizvollen Landschaft. Banghwasuryu, wörtlich „Pavillon zum Blumen schauen und unter den Weiden spielen“, ist eine wunderbarer, aus Holz und Stein gefertigter Bau, der sowohl als militärischer Aussichtsturm als auch zum Genießen der herrlichen Landschaft diente.

© Topic

Obwohl er das Volk durch seine große Wohltaten und seine Betonung der neokonfuzianischen Werte bewegte, vermochte Jeongjo nicht, den Geist der modernen Zeit zu lesen, der die „Entdeckung des Individuums“ und Klassenkonflikte mit sich brachte. Immer wieder betonte er, dass er Hwaseong errichten ließ, um die königlichen Gräber und seinen Sonderpalast zu schützen. Auch diente die Steinbrücke Manan-gyo (Brücke der absoluten Sicherheit), die er auf der Siheung-Route hatte bauen lassen, entgegen der allgemeinen Erwartung hauptsächlich als Fußweg zum Grab seines Vaters und nicht als Brücke für das gemeine Volk. Jeongjos Denken entsprach nicht einmal den Idealen des Gelehrten Shin Gyeong-jun (1712-1781), der im Vorwort seines 1770 erschienenen Buches Dorogo (Übersicht über Wege und Straßen) schrieb: „Da Straßen keine Herren haben, sind nur diejenigen, die sie benutzen, ihre Herren.“ Das ist auch der Grund, warum die Historiker sich immer besonders schwertun, wenn sie König Jeongjo dem „allgemeinen Volksempfinden“ entsprechend mit modernistischem Denken in Verbindung zu bringen versuchen. Im Jahr 1800, nur vier Jahre nach der Fertigstellung von Hwaseong, verstarb Jeongjo und alles wurde wieder wie vor seiner Regentschaft. Jangyongyeong, die Garnison der königlichen Wache, wurde aufgelöst und Hwaseong verwandelte sich wieder in ein normales Landstädtchen. Die Leute bevorzugten den Namen „Suwon“ vor „Hwaseong“. Einhundert Jahre später wurde Suwon zu einer wichtigen Haltestelle auf der Eisenbahnlinie zwischen Seoul und Busan. Entlang der Straße zwischen dem am südlichen Stadtrand gelegenen Bahnhof und dem südlichen Stadttor Paldal-mun entstand

eine neue Innenstadt. Zudem zog die Regierungsverwaltung der Provinz Gyeonggi-do nach Suwon, sodass die Stadt neues Interesse auf sich zog. Diese geographischen Vorteile machten Suwon während des Koreakriegs (1950-1953) zu einem der blutigsten Schlachtfelder. Ein Großteil der Stadt und der Festung wurde durch Bomben und Feuer zerstört. Nach Kriegsende entwickelte sich Suwon jedoch zu einem Zentrum der Textilindustrie, einer der ersten Treiber des raschen Wirtschaftswachstums Koreas. Dank seiner geographischen Vorteile wurde die Stadt zum Produktionsstandort von Samsung Electronics, einem der großen Player der globalen Halbleiterindustrie. Als das UNESCO-Team Suwon im April 1997 besuchte, hielt Professor Nimal de Silva, der die Vor-Ort-Inspektion leitete, eine Fotokopie von Hofprotokoll über den Bau der Festung Hwaseong in der Hand. Er war bereits begeistert von der architektonischen Vielfalt der Verteidigungsanlagen und staunte über die umfangreichen und detaillierten Aufzeichnungen. Das Protokoll spielte eine entscheidende Rolle bei der Entscheidung, der Festung Hwaseong, die im Laufe von nur zwei Jahrhunderten wiederholt beschädigt und restauriert worden war, Welterbestatus zu verleihen. Die Reaktion des UNESCO-Teams auf das Protokoll unterscheidet sich nicht von der Art und Weise, wie die Koreaner von heute gerne über König Jeongjo denken. Denn die von ihm hinterlassenen Aufzeichnungen dienen immer noch als herausragende Ansätze zum Nachdenken über die Bedeutung von Monarchie und Republik, von Vormoderne und Moderne, von Individuum und Staat.

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GESCHICHTEN AUS ZWEI KOREAS

Ein gut gestrickter Wiedervereinigungsplan Pastor Pang In-sung betont, dass die südkoreanischen Kirchen die Nordkoreaner weniger als Zielgruppe der Evangelisation betrachten, sondern an erster Stelle substantielle Hilfe zur Verbesserung ihrer Existenzgrundlage leisten sollten. Kim Hak-soon Journalist, Gastprofessor, Fakultät für Medien und Kommunikation, Korea University Fotos Ahn Hong-beom

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as Reiseziel des philantropischen Pastors ist die zur nordkoreanischen Provinz Hamgyeongbuk-do gehörige Sonderwirtschaftszone Rason, die zwischen China, Russland und dem Ostmeer eingekeilt ist. Zweck seiner jährlichen Besuche ist die Lieferung humanitärer Hilfsgüter, die er in seiner Funktion als leitender Pastor der Open Together Church in Seoul und Präsident von Hananuri, einem der Kirche angeschlossenen Hilfswerk, organisiert. Empfänger sind diejenigen, die der bitteren Winterkälte am schutzlosesten ausgesetzt sind.

Schals und Mikrofinanz

„Auch im schneidenden Eiswind machen wir noch unsere Fahrten zu Kindergärten, Kitas und Waisenhäusern, um eine LKW-Ladung mit etwa 3.000 Schals zu überbringen“, sagt Pang. „Bei extremer Heizbrennstoffknappheit sind die nordkoreanischen Kinder, denen v.a. warme Kleidung fehlt, besonders stark der Winterkälte ausgesetzt. Schals sind daher sehr willkommene Geschenke. Ich glaube, dass die Ein-Meter-Schals die Menschen in den beiden Koreas verbinden.“ Hananuri leistet auch finanzielle Unterstützung in Ryongpyeong, einem Bauerndorf in Rason. Die Hilfsorganisation unterhält einen Entwicklungsfonds, der die Dorfbewohner bei der Anschaffung landwirtschaftlicher Geräte und Hilfsmittel unterstützt, um die Eigenständigkeit des Dorfes zu fördern. Der Fonds folgt dem Modell des Mikrokredit-Programms der Grameen Bank, initiiert von dem bangladeschischen Wirtschaftswissenschaftler, Sozialökonom und Zivil-

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gesellschaftsführer Muhammad Yunus, der dafür 2006 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Hananuri wurde 2007 mit dem Ziel ins Leben gerufen, die Wiedervereinigung der koreanischen Halbinsel auf Basis der Stützsäulen „substantielle Aktivitäten“ sowie „Forschung und Bildung zur Schaffung des Friedens auf der koreanischen Halbinsel“ vorzubereiten. Pangs im Januar 2019 eröffneter Think Tank, das Hananuri Northeast Asia Research Institute, soll ein Win-Win-Entwicklungsmodell für Nordostasien ausarbeiten. Derzeit befasst man sich mit Ryongpyeong als möglichem Prototyp-Modell. Pang hofft, zusammen mit Hananuri sowie seiner Open Together Church, einer kleinen Kirche mit nur etwa 100 Mitgliedern, die protestantischen Megakirchen in Südkorea davon zu überzeugen, ihre Pläne für die Zeit nach der Wiedervereinigung zu überdenken: „Die südkoreanischen Kirchen interessieren sich v.a. dafür, nach der Wiedervereinigung neue Kirchen in Nordkorea zu errichten. Aber sie sollten sich zunächst einmal fragen, wie sie den Nordkoreanern lebensnotwendige Hilfe leisten können.“

SchülerInnen stricken für Nordkorea

2005 kam ein Hananuri-Mitarbeiter auf die Idee, den Nordkoreanern Schals zu schenken. Zu der Zeit waren die Nord-Süd-Beziehungen eingefroren und der private innerkoreanische Austausch so gut wie zum Erliegen gekommen. Pang vertrat jedoch die Meinung, dass der Austausch im Privatsektor trotzdem weiter betrieben werden sollte. Die Idee,


1. Kinder in einer Tagesstätte in der Wirtschaftssonderzone Rason tragen von südkoreanischen Freiwilligen gestrickte Schals. Schals sind nützliche Geschenke im von kalten Wintern heimgesuchten Nordkorea, wo es an Heizbrennstoff mangelt. 2. Junge Freiwillige beim Schal-Stricken im Büro von Hananuri, einer Nicht-Regierungs-Hilfsorganiation. Sie treffen sich jeden vierten Samstag des Monats zum Stricken. Wer nicht kommen kann, dem werden die Strickmaterialien nach Hause geliefert, die fertigen Schals können ans Büro geschickt werden. 1 2

auch am Prinzip des Handstrickens fest, obwohl er weiß, dass es viel einfacher wäre, mit Spendengeldern gekaufte Schals in den Norden zu schicken. Die MitarbeiterInnen von Samsung Display und anderen koreanischen Unternehmen haben sich ebenfalls an der Schalstrick-Kampagne beteiligt. Darüberhinaus kommen Angebote von Interessierten aus z.B. den USA und Kanada. „Jedes Jahr machen 2.000 bis 3.000 Menschen im In- und Ausland mit“, erklärt Pang.

„Dorf-Schatzkammer“ für Eigenständigkeit

Schals zu stricken, fand er erfrischend und originell. „Auch heute denke ich noch, dass es eine wirklich gute Idee war. Selbst alle Nordkoreaner, die in das Projekt involviert sind, haben über die Idee gestaunt“, sagt Pang. Die im Rahmen seiner Kampagne Schals verbinden die beiden Koreas an nordkoreanische Kinder verteilten Schals wurden alle eigenhändig von südkoreanischen Mittel- und Oberschülern gestrickt. Durch die Teilnahme an der Kampagne können die SchülerInnen Leistungspunkte für Freiwilligenarbeit sammeln. Sie kommen jeden vierten Samstag im Monat zum gemeinsamen Stricken im Hananuri-Büro im Seouler Bezirk Jung-gu zusammen. Wer verhindert ist, erhält das Strickmaterial per Lieferservice frei Haus und schickt die fertigen Schals ins Büro. Das Strickmaterial wird durch Spenden finanziert. Kinder und Betreuer in nordkoreanischen Kitas und Kindergärten sind besonders gerührt, wenn sie hören, dass die Schals von südkoreanischen Jugendlichen handgestrickt wurden. Es gibt ihnen wohl das Gefühl, dass die Geschenke wirklich von Herzen kommen. Aus diesem Grund hält Pang

Hananuri wurde erstmals 2009 in Ryongpyeong aktiv, als es mit der Unterstützung von Kitas in Chongjin, Provinz Hamgyeongbuk-do, sowie von Waisenhäusern in der benachbarten Provinz Ryanggang-do begann. 2017 startete Hananuri ein zehnjähriges Projekt, das darauf abzielt, Ryongpyeongs Selbstversorgungskapazitäten in den Bereichen Lebensmittelversorgung, Kinderbetreuung, Wohnraum, Bildung, medizinische Dienstleistungen, Energieversorgung, Selbstverwaltung etc. auszubauen. Der Dorfentwicklungsfonds, der Kern des Projekts, gewährte den insgesamt 48 Haushalten Darlehen in Höhe von ca. 33 Mio. Won (rd. 26.000 €). Das Geld diente dem Kauf von Saatgut, Düngemitteln und landwirtschaftlichen Geräten für die gut 60ha große Anbaufläche. Der Erfolg dieses Selbstversorgungsprojekts hängt davon ab, ob die Dorfbewohner ihre Kredite zurückzahlen können. Der vom Dorf vorgelegte Leistungsbericht 2017 ist beruhigend: Bei Reis und Mais stiegen die Ernteerträge im Vergleich zu 2016 um jeweils rund 60 Tonnen. Der Konsum von Reis und Nudeln pro Haushalt erhöhte sich im Vorjahresvergleich um rund zehn Kilogramm. Die erste Rückzahlung erfolgte am 17. Juli 2018. „Ryongpyeong ist ein Diffusionsmodell, das auf jeden anderen Ort in Nordkorea angewandt werden kann“, betont Pang. Er beabsichtigt, das zurückgezahlte Geld in ein anderes Dorf in Rason zu investieren.

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„Ich glaube, dass die Ein-Meter-Schals die Menschen in den beiden Koreas verbinden.“

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Die Zeit nach der Wiedervereinigung vorbereiten

Hananuri plant zudem in Rason ein Vertretungsbüro zu eröffnen, das Vor-Ort-Projekte managen, Profite reinvestieren und darüber hinaus als Kommunikationsplattform für südkoreanische Unternehmen dienen soll. Mittel- und langfristig werden Projekte in den Bereichen Tourismus, Fremdsprachenerziehung, Transportwesen, Fischzucht, Untergrundressourcen-Entwicklung und Smart City anvisiert und auch Möglichkeiten in den Bereichen Stadtplanung und Landentwicklung ausgelotet. Während des Ryongpyeong-Projekts erfuhr Pastor Pang, dass die meisten Haushalte unter hohen Schulden litten und Kreditzinssätze von 10 bis 30% üblich sind. Viele Nordkoreaner vertrauen den Banken nicht, weil sie bei der 2009 durchgeführten Währungsreform erhebliche Verluste erlitten, da jedermann sein Geld in die neue Währung umtauschen musste, die erlaubte Umtauschmenge aber beschränkt war. Kredithaie machten sich das Misstrauen gegenüber den Banken zunutze, was zu einem beängstigenden Anstieg der Privatverschuldung führte. Um den finanziellen Druck zu reduzieren, plant Pang, dass im Rahmen des Dorfentwicklungsfonds Privathaushalten zinsfreie Darlehen in Höhe von bis zu 85.000 KW (rd. 67 €) gewährt werden sollen. Derzeit belaufen sich die monatlichen Lebenshaltungskosten pro Haushalt auf ca. 50.000 Won (rd. 39 €). Das Institute of Land and Liberty, ein weiterer Think Tank von Hananuri, beschäftigt sich mit dem sog. „Erlassjahr-Wirtschaftssystem“. Die Idee dafür geht auf eine jüdisch-christliche Tradition zurück, nach der Land, Besitz

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und Sklaven im 50. Jahr der Nutzung an den ursprünglichen Besitzer zurückgegeben wurden. Das Institut befasst sich mit der Frage, wie Land und Eigentum in Nordkorea nach der Wiedervereinigung verwaltet werden sollten und welche alternativen Wirtschaftsformen für beide Koreas gelten könnten. Pang meint: „Ich glaube, wir brauchen eine neue Wirtschaftsstruktur für die koreanische Halbinsel, die über die derzeitigen Systeme der beiden Koreas hinausgeht. Wir sollten nach einer neuen, wahrhaften Frieden darstellenden Struktur in der biblischen Tradition des Erlassjahres suchen.“ Während der liberalen Regierung unter Präsident Roh Moohyun (2003–2008) förderte Hananuri gemeinsame Ausstellungen süd- und nordkoreanischer Künstler und bot Jugendlichen aus den beiden Koreas die Gelegenheit, gemeinsam Bäume zu pflanzen. 2007 bereitete es eine Veranstaltung vor, bei der 500 Jugendliche aus Nord und Süd die Demilitarisierte Zone mit dem Fahrrad durchqueren sollten. Mit der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch die konservative Regierung unter Lee Myung-bak im Jahr 2008 wurde das Event jedoch kurzerhand gestrichen. „Das Ministerium für Wiedervereinigung, potentielle Sponsoren und auch die zuständigen nordkoreanischen Stellen zeigten damals großes Interesse an der Veranstaltung. Wir hatten auch schon mit dem nordkoreanischen Verband für nationale Wirtschaftskooperation eine Vereinbarung getroffen, standen also quasi in den Startlöchern. Aber mit der Verschlechterung der innerkoreanischen Beziehungen kam das Projekt schließlich zum Erliegen. Sollte sich in Zukunft noch einmal eine Chance bieten, würde ich die Veranstaltung aber gerne auf den Weg bringen wollen“, sagt Pang. Es sind jedoch nicht nur die widrigen politischen Bedingungen, die Pangs Hilfsprojekte behindern. Hananuris Aktivitäten werden selbst von den südkoreanischen Kirchen nicht richtig verstanden. Einige vergleichen seine Projekte mit dem Versuch, „Wasser in einen Krug mit ausgeschlagenem Boden“ gießen zu wollen. Doch Pang hält daran fest, dass man die Menschen vor Ort und an der Basis unterstützen muss. „Die protestantischen Megakirchen im Süden interessieren sich meist nur dafür, in Nordkorea neue Kirchen zu bauen, sobald beide Koreas wiedervereinigt sind. Aber sie sollten zunächst darauf achten, wie sie den Nordkoreanern substantielle Hilfe zur Verbesserung ihrer Existenzgrundlage leisten können“, betont Pang. „Wenn die Megakirchen und


verschiedene andere christliche Glaubensgemeinschaften und Organisationen nur darum wetteifern, Kirchen zu eröffnen und ihren missionarischen Einfluss auszuweiten, wird noch mehr Chaos in Nordkorea entstehen. Ich hoffe daher, dass die südkoreanischen Kirchen die Nordkoreaner nicht nur als Zielscheibe der Evangelisation betrachten, sondern sie zuerst lieben und dann ernsthaft überlegen, wie beide Koreas friedlich zusammenleben können“.

Bemühungen um Kirchenreform

Pang ist ein Pastor der dritten Generation in seiner Familie. Sein Großvater, Pang Gye-sung, weckte sein Interesse an Nordkorea und der Wiedervereinigung. „Mein Interesse an Wiedervereinigung und Frieden ist immer stärker geworden bei dem Gedanken, dass es der Quintessenz des Evangeliums entspricht, die Nordkoreaner über die Tragödie meiner eigenen Familie hinaus zu lieben“, sagt er. Pang Gye-sung war Pastor in Cheolsan in der nordkoreanischen Provinz Pyeonganbuk-do. Er wurde inhaftiert, weil er sich während der japanischen Kolonialherrschaft (1910-1945) weigerte, an Shinto-Schreinen seinen Respekt zu erweisen. Nach der Befreiung wurde er von den Kommunisten getötet, weil er sich weigerte, an seiner Kirche die Nationalflagge der Demokratischen Volksrepublik Korea anzubringen und dem Nordkoreanischen Bund der Christen beizutreten. Pang In-sung studierte Theologie am King’s College London und an der Fakultät für Theologie und Religion in Oxford. Seine Ordinierung erhielt er in der International Presbyterian Church im Vereinigten Königreich. Danach arbeitete er in London als Hilfsgeistlicher einer koreanischen Kirche in King’s Cross sowie als leitender Pastor einer weiteren koreanischen Kirchengemeinde in Oxford. Nach seiner Rückkehr nach Südkorea im Jahr 1996 leitete er die Seongteo Kirche, erbaut von Protestanten, die sich während der Kolonialzeit geweigert hatten, an Shinto-Schreinen ihren Respekt zu erweisen und dafür im Gefängnis gesessen hatten. Er hat nur noch eine Niere, die andere spendete er einem kranken Mitglied seiner Kirchengemeinde. Diese Entscheidung beruht auf seiner Überzeugung „das tun zu müssen, was man predigt“. 2014 unternahm er einen 40-tägigen Hungerstreik auf dem Gwanghwamun-Platz in der Seouler Stadtmitte, um Gerechtigkeit für die meist jugendlichen Opfer des Sewol-Fährunglücks zu fordern. Neben seinen Unterstützungsprojekten für den Norden und seinem Sozialaktivismus ist Pang für die Befürwortung kleiner Kirchen bekannt. In Zusammenarbeit mit der Vereinigung für Kirchenreform in Korea führt er eine protestantische Reformbewegung an, um die erbliche Nachfolge für kirchliche Verwaltungs- und Führungsposten abzuschaffen.

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1. Eine Hühnerfarm im Dorf Ryongpyong in der nordkoreanischen Sonderwirtschaftszone Rason im Jahr 2018. Hananuri hilft den 48 Haushalten des Dorfes im Rahmen eines Unterstützungsprojekts dabei, zu Selbstversorgern zu werden. 2. Pastor Pang In-sung bringt ein Win-Win-Entwicklungsmodell für das Korea nach der Wiedervereinigung auf den Weg und liefert den Nordkoreanern zudem noch substantielle Hilfe durch Hananuri, eine 2007 gegründete NGO.

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ENTERTAINMENT

1. Kingdom, eine südkoreanische TV-Serie, die im Januar 2019 auf Netflix Premiere hatte, war im Ausland beliebter als auf dem heimischen Markt. Die Fans im Ausland schienen von der schönen Szenerie des Joseon-Reichs mit seiner Kulisse aus Palästen und Festungen fasziniert zu sein. 2. Rampant, das im Oktober 2018 in die koreanischen Kinos kam, brachte durch Verquickung mit Elementen von Historienserien ein neues Genre koreanischer Zombie-Filme auf den Weg. Der Film war jedoch kein Kassenschlager und auch die innovative Handlungslinie wurde nicht gewürdigt.

Bedenkt man, dass die meisten koreanischen Kinobesucher realistische Themen bevorzugen, dann erscheint das zunehmende Interesse der Filmproduzenten an Zombie-Contents eher überraschend. Es wäre noch verfrüht, ZombieFilme als eigenes Genre des koreanischen Films anzuerkennen, aber manche ausländische Produzenten sind bereits auf koreanische Produktionen mit ihrer unkonventionellen Art der Interpretation und Darstellung von Zombies aufmerksam geworden.

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© Netflix

Zombies à la Korea

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Jung Duk-hyun Popkulturkritiker

© Next Entertainment World

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B

is vor kurzem noch werteten koreanische Filmliebhaber Zombie-Streifen als B-Movies für die kleine Schicht von Fans apokalyptischer Schreckensszenarien. Ein einschlägiges Beispiel dafür ist I Am Legend (2007), ein postapokalyptischer US-Horrostreifen über einen Wissenschaftler, der versucht, eine durch ein mutiertes Virus verursachte Seuche, die aus Menschen Kannibalen macht, einzudämmen. In Korea lockte der Film nur 2,46 Mio. Zuschauer in die Kinos, viel weniger als in anderen Ländern. Mit 5,3 Mio. Besuchern schnitt der Zombie-Blockbuster World War Z (2013) zwar deutlich besser ab, war aber noch längst kein Kassenhit. 2016 kam dann Train to Busan in die Kinos, der die Einstellung des koreanischen Publikums gegenüber dem Zombie-Genre schlagartig veränderte. Mit rund 11,6 Mio. verkaufter Tickets rangierte der Film auf Platz 15 der populärsten Streifen in der koreanischen Filmgeschichte und eroberte die Kinos in ganz Asien. Der Reißer, mit dem quasi die Geburtsstunde des koreanischen Zombie-Films schlug, wurde zu einem Hit auf der Streaming-Plattform Netflix. Nach einem Bieterkrieg der Hollywood-Studios um die Filmrechte ist derzeit ein Remake in Vorbereitung.

Eine Interpretation der anderen Art

In Train to Busan verbreitet ein infizierter Passagier einen Zombie-Virus, was ein mörderisches Chaos entstehen lässt. Von Seoul bis zur Endstation Busan, Koreas zweitgrößter Stadt und der einzige noch virusfreie Ort, sitzen die Überlebenden in einer tödlichen Falle. Der Film erinnert an The Host, den Sci-Fi-Monsterthriller und Kassenschlager von 2006, sowie an Deranged (2012) und The Flu (2013), zwei Katastrophenfilme über außer Kontrolle geratene Epedemien. In allen drei Filmen reagieren die zuständigen Behörden nicht schnell und kompetent genug, um die Seuchen einzudämmen, sodass die Bürger schließlich die Dinge selbst in die Hand nehmen. Was Train to Busan von den anderen Filmen abhebt und zum Hit machte, ist die Darstellung der Zombies als arme Kreaturen. Anfänglich erscheinen sie noch als unheimliche, mörderische Wesen, aber dann versucht der Film, um Empathie für die zu Zombies mutierten Passagiere zu werben, indem er sie als unschuldige Opfer des inkompetenten Führungsapparats darstellt. Gerade in diesem Punkt liegt die distinktive Originarität der „koreanischen Zombies“. Train to Busan ist voller Bezüge zur modernen Geschichte Koreas. Der Film spielt in einem KTX-Hochgeschwindigkeitszug, der durch das Land rast und -an den Stationen zwischen Seoul und Busan, wo die Menschen bereits angesteckt sind, Halt macht. Der KTX steht für „Speed Korea“ und damit für die hochgradige Industrialisierung des Landes in kürzester Zeit. Die im geschlossenen Raum des Zugs eingesperrten Zombies beschwören Bilder der Massenbewegungen bzw. Szenen aus der Massenkultur der jüngeren Vergangenheit herauf: die Bürger, die nach Demokratie rufend die Staßen und Plätze besetzten, die Anfeuerungstruppen der Fußball-WM 2002 Korea/Japan auf den Straßen und sogar die Sturmtruppen aus der Diktaturzeit, die die Demokratiebewegung niederschlugen. Auch ausländische Filmemacher versuchten, Zombies aus einer neuen Perspektive zu interpretieren: R, der Zombie-Protagonist in Warm Bodies (2013), tut sein Möglichstes, um ein schönes Mädchen vor seinen Artgenossen zu schützen. Damit unterscheidet sich der Film vom Standardformat früherer

Zombie-Filme, das seit George Romeros Die Nacht der lebenden Toten (1968) weitgehend unverändert beibehalten.

Zombie: ein anderer Name für das hungrige Volk

Eine weitere Neuinterpretation ist der historische Actionfilm Rampant (2018), dessen Handlung vor der Kulisse des Korea der Joseon-Zeit spielt. In Rampant verbreiten sich die Zombies von einem im Hafen vor Anker liegenden fremdländischen Schiff bis in den Königspalast. Bald schon erscheinen überall in die traditionelle Tracht gekleidete Zombies. Der König ist unfähig, die Krise zu meistern, aber sein jüngster Sohn schlägt die Zombies mit genialen Kampfkunsttechniken zurück und besiegt die Ränke schmiedenden Hofbeamten. Auffällig in Rampant ist v.a. der Kontrast zwischen der herrschenden Klasse und den einfachen Bürgern, aus denen Zombies geworden sind. Dahinter steht die Botschaft, dass das Reich nicht von den vom Hunger getriebenen Zombie-Eindringlingen bedroht wird, sondern von der maßlosen Gier der herrschenden Klasse. Damit wird „Zombie“ als Metapher für die hungernden Massen neu interpretiert. Die Serie Kingdom, die im Januar 2019 über Netflix weltweit ausgestrahlt wurde, porträtiert Zombies ebenfalls als Hungernde. Episode eins und zwei wurden im November 2018 auf dem Netflix-Showcase See What’s Next: Asia in Singapur vorgestellt. Reed Hastings, Gründer und CEO von Netflix, kündigte – die zweite Staffel noch vor Freigabe der ersten an: „Ich bin mir sicher, dass diese koreanische Produktion auf der ganzen Welt gut ankommen wird.“ Netflix dürfte wohl deshalb in Kingdom investieren, weil die Fusionstil-Serie zu der von der Plattform verfolgten Strategie passt: Der Streaming-Gigant spricht das Publikum dadurch an, dass er universale Themen mit nationalen oder regionalen Besonderheiten würzt. Kingdom liefert Zombie-Contents, mit denen Zuschauer auf der ganzen Welt etwas anfangen können, bietet aber gleichzeitig eine originär koreanische Interpretation und Gefühle bezüglich der untoten Helden.

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RUND UM ZUTATEN

Seetang Gim reich an Geschmack und Nährwert Gim, getrockneter Seetang, ist seit langem ein wichtiger Bestandteil der koreanischen Küche. Lecker und nahrhaft zugleich ist er zudem eins der wenigen, exportierten Meeresprodukte des Landes, die um Platz 1 konkurrieren. Im Westen, wo Gim einst als „schwarzes Papier“ bekannt war, erfreute er sich ursprünglich keiner besonderen Beliebtheit. Heutzutage wird er aber zunehmend als kalorienarmer und Mikronährstoff-reicher Snack geschätzt. Jeong Jae-hoon Apotheker und Ernährungsjournalist

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an sagt, dass jeder erkennt, was gut schmeckt. Das trifft hundertprozentig auf Seetang zu. Gim, wie Seetang auf Koreanisch genannt wird, gehört zur Gattung der Purpurtange (Porphyra), die rund 70 verschiedene Kaltwasser-Algenarten umfasst. Überall, wo sie wachsen, werden sie wegen ihres exzellenten Geschmacks gern gegessen. Auch an den Küsten von Wales, Schottland und Irland sind Seetang-bedeckte Felsen häufig zu sehen. Laverbread, ein Leckerbissen mit dem Beinamen „Walisischer Kaviar“, wird auch heute noch von den Walisern zum Frühstück gegessen. Für Laverbread werden fein gehackte Steinalgen lange genug gekocht, um Püree daraus machen zu können. Das Püree wird in Hafermehl gewendet und in Speckfett ausgebraten. Laverbread hat also nichts mit Brot zu tun, wird aber wahrscheinlich deshalb als „Brot“ bezeichnet, weil es für die an der walisischen Küste lebenden Menschen ein Grundnahrungsmittel ist. In Korea wird Gim normalerweise in Form der dünnen, getrockneten, papierartigen Blätter gegessen, in die Reis eingerollt wird. Die Gim-Blätter werden mit Sesam-, Perilla- oder Olivenöl bestrichen und mit Salz besprenkelt über dem Feuer geröstet. Das Knusper2 geräusch, das beim Beißen in ein dünnes Seetangblatt entsteht, regt den Appetit an. Gerösteter Gim kann als Garnierung auf Nudeln mit kurzgebratenem Gemüse gesprenkelt oder mit Sesamsalz (geröstete, gemahlene Sesamkörner) vermischt zum Ummanteln von Reisbällchen verwendet werden. Gimjaban, getrocknete, zerkrümelte und mit Soße gewürzte Seetangblätter, ist eine beliebte Beilage, und Gimbugak, mit Klebreisstärke bestrichene, fritierte Gim-Stückchen, wird gern als Snack gegessen. Eine weitere Seetang-Delikatesse ist Gimguk. Für diese schmackhafte Suppe wird roher oder getrockneter Gim in Wasser gekocht, anschließend wird die Brühe gewürzt u n d m i t e i n i g e n Tr o p f e n Sesam- oder Perillaöl abgeschmeckt. Auch in Japan isst man gern dünne, getrocknete Seetangblätter. Seetang ist eine besonders wichtige Zutat für Sushi.

Und Ramen essen die Japaner oft garniert mit einem dicken, gerösteten Seetangblatt. In China wird Seetang in Form von flach gedrückten Bällen getrocknet, von denen dann bei Bedarf Stücke für Suppen oder kurzgebratene Speisen abgerissen werden.

Trio des Geschmacks

I n Ko r e a s a g t m a n z u m S p a ß „ S e e tang-Brösel zur Suppe hinzuzugeben ist wie ein faules Spiel“, was die geschmacksverbessernde Kraft des Seetang hinreichend belegt. Aber für diese gibt es auch einen Grund: Hauptelemente des Appetit anregenden Geschmacks sind die Glutaminsäure (MNG), die Nukleinsäure-Typ-Geschmacksverstärker Inosinsäure (IMP) und Guanylsäure (GMP). Lauch und Kombu-Seetang, die in der ostasiatischen Küche zur Verfeinerung der Geschmacksnote hinzugegeben werden, sowie die in der westlichen Küche oft verwendeten Zwiebeln, Karotten und Tomaten sind reich an Glutaminsäure. Rindfleisch, Hühnerfleisch, Hühnerknochen und Anschovis enthalten reichlich Inosinsäure, während Pilze wie Shiitake-Pilze, Steinpilze und Morcheln reich an Guanylsäure sind. Gim weist alle drei Geschmacksverstärker auf: Glutaminsäure, Inosinsäure und Guanylsäure. Der von diesem Trio erzeugte Geschmack ist nicht das Ergebnis einer einfachen Addition der Geschmacksnoten, sondern ihrer Multiplikation. Durch Zugabe von Inosinsäure wird der Geschmack von Glutaminsäure bereits bei einem Sechzigstel der üblichen Menge wahrnehmbar. Kommt dann noch Guanylsäure hinzu, verstärkt sich die Appetit anre1. Gim ist die am häufigsten produzierte und konsumierte Algenart in Korea. Der ursprünglich tiefschwarze und glänzende Gim nimmt beim Rösten einen Grünton an. Der papierdünne, getrocknete Seetang wird pro Tot verkauft, wobei ein Tot 100 Blättern entspricht. 2. Geröstete Gim-Blätter sind eine bei Koreanern beliebte Beilage. Die getrockneten Blätter werden mit Speiseöl bestrichen, mit Salz besprenkelt, leicht geröstet und und in Rechtecke geschnitten, in die Reis eingewickelt wird.

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gende Note explosionsartig. Gim ist also wahre Kristallisierung des Geschmacks! Darüber hinaus enthält er eine Vielzahl freier Zucker, die für eine angenehm süßliche Note sorgen. „Die Wurzeln sind an den Felsen festgewachsen, aber die Algen haben keine Stiele und verbreiten sich weit über die Felsen. Sie sind dunkelviolett, süß und geschmackvoll.“ Diese Beschreibung von Jachae (violettes Gemüse) findet sich in dem von Jeong Yak-jeon (1758-1816) verfassten Jasan eobo (Handbuch der Meeresbiologie). Jachae, eine Rotalgenart, klebt mit dem wurzelartigen Ende ihres langen, breiten Blattes an Felsen, d.h. die Erklärungen zu Form, Farbe und Geschmack des Seetangs Gim sind korrekt. Die schnell wachsenden Algen haben eine glänzende Oberfläche und eine dunkel-rötliche Farbe, da Pigmente wie Chlorophylle, Carotinoide und Phycobiline Sonnenlicht absorbieren. Beim Rösten dieser Algen werden die Carotinoide und Phycobiline durch die Hitze zerstört, sodass nur noch die Chlorophylle übrig bleiben, wodurch die grüne Farbe sichtbar wird.

Reich an Mikronährstoffen

Auch hinsichtlich der Nährstoffzusammensetzung ist Seetang eine gute Nahrungsmittelzutat. Getrockneter Gim enthält zwar 42 % Protein und 36 % Kohlenhydrate, das ist aber nicht genug, um den Eiweißbedarf zu decken. Der tägliche Verzehr von einem 1

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Gim-Blatt (3 g) stellt nur 2 % der empfohlenen Eiweißzufuhr pro Tag. Dafür ist Seetang reich an Mikronährstoffen. Der Mineralstoffgehalt von Algen ist etwa zehnmal so hoch wie der von auf dem Land wachsenden Pflanzen. Seetang enthält nicht nur hohe Mengen Beta-Carotin, Vitamin C und E, sondern auch Vitamin B12, Eisen und Omega-3-Fettsäure, die bei einer rein vegetarischen Ernährungsweise fehlen können. Er enthält auch genügend Jod, um Eisenmangel vorzubeugen, auch wenn die Menge geringer ist als bei anderen Algensorten. Deshalb galt Seetang in Großbritannien früher als Arzneipflanze. Die walisischen Mütter sollen ihren Kindern gesagt haben: „Iss dein Laverbread, oder du bekommst einen Derbyshire-Hals!“ Die Geschichte beruht auf der Tatsache, dass viele Bewohner der im Herzen des Vereinigten Köigreichs gelegenen Grafschaft Derbyshire wegen Jodmangel an einer Schilddrüsenvergrößerung (Kropf) litten, die auch als „Derbyshire Hals“ bezeichnet wird. In letzter Zeit wird die funktionelle Wirkung von Porphyran, einem in Seetang reichlich enthaltenen Polysaccharid, rege erforscht. Das zwischen den Zellen des Seetangs gelagerte Porphyran spielt eine wichtige Rolle für das Überleben der Pflanze. Seetang gedeiht normalerweise an Küsten mit hohem Tidenhub. Bei Flut muss sich der Seetang vor dem salzigem Meerwasser schützen, bei Ebbe muss er – UV-Strahlen und Luft ausgesetzt – in für ihn unwirtlicher Umgebung überleben. Bei solch extremen Veränderungen des Umfelds kann er sogar bis zu 95 % seiner Feuchtigkeit verlieren. Dann hilft Porphyran, die Feuchtigkeit zu binden, damit die Zellen nicht völlig austrocknen und die Zellwände flexibel bleiben. Gelangt Porphyran in den menschlichen Darm, wirkt es als Ballaststoff, der Krebs vorbeugt und die Immunregulation unterstützt, so Forschungsergebnisse. Zudem geht man davon aus, dass die verschiedenen Antioxidantien, die der Seetang zum Schutz vor den Schäden des durch die UV-Strahlung hervorgerufenen oxidativen Stresses produziert, auch auf den menschlichen Körper eine positive Wirkung haben können.

Entwicklung der Zuchtmethoden

Obwohl Seetang als Nahrungsmittel in Bezug auf Geschmack und Nährwert heraussticht, ist es noch nicht besonders lange her, dass er gezüchtet wird und damit leicht erhältlich ist. Die Seetang-Zucht imitiert im Prinzip die Natur: So wie Seetang in freier Natur an Felsen und Muscheln haftet, werden in den See2


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tang-Farmen die Sporen an Austernschalen oder Reisigmatten angebracht, die mit Hilfe von Stangen im Wattenmeer fixiert werden. Bei Flut versinkt der Zucht-Seetang genau wie der an den Felsen wachsende Seetang im Meerwasser und bei Ebbe wird er der Luft ausgesetzt. Die Bewohner der Küstenregionen von Korea, Japan und China hatten zwar bereits im 17. Jh nach dieser Stützstangen-Methode mit dem Gim-Anbau begonnen, scheiterten aber letztendlich an der Fortpflanzung. Da sie nicht wussten, warum Seetang nach seinem Verschwinden im Sommer zu Herbstende wieder erscheint, mussten sie immer bis Herbst warten, um die natürlichen Conchosporen für die Aussaat zu sammeln. 1949 entdeckte dann die britische Algologin Kathleen Mary Drew-Baker beim Erforschen des Lebenszyklus der Rotalge, dass es sich bei der bis damals als eigene Gattung betrachteten Conchocelis rosea in Wirklichkeit um eine Phase der Entwicklung des Seetangs handelt. Diese Entdeckung führte zu einem Durchbruch bei der Zuchtkeim-Sammlung. Dank der Forschungen von Drew-Baker verbesserte sich nicht nur die Produktivität der Gim-Zucht erheblich, auch das Sammeln der Sporen, das dahin nur im Meer möglich gewesen war, konnte schließlich an Land durchgeführt werden. Die Stadt Uto auf der japanischen Insel Kyushu würdigte ihre bahnbrechende Forschungsarbeit, indem sie Drew-Baker als „Mutter des Meeres“ bezeichnete und eine Gedächtnisveranstaltung ausrichtete. Danach führte die Entwicklung der Methode „des gefrorenen Netzes“ zur Stabilisierung der Massenproduktion von Seetang. Bei dieser Methode werden die Sporen an Netzen befestigt, eingefroren und später bei Bedarf im Meer ausgesetzt. Während sich die Stützstangen-Methode nur für die Zucht in Küstengewässern mit großem Tidenhub eignet, ermöglicht die Entwicklung der Schwebemethode, bei der die Seetang-Matten aneinandergereiht an Bojen befestigt werden, die Tiefseezucht, durch die sich die Ernteerträge weiter erhöhten. Korea, neben Japan und China einer der drei größten Seetang-Produzenten der Welt, liegt beim Exportvolumen auf Platz 1. Koreanischer Gim wird in rund 100 Länder in Europa, Nord- und Südamerika und Afrika exportiert. In jüngster Zeit belegt Gim dank der Entwicklung vielfältiger Arten von Gim-Snacks Platz eins unter Koreas aus dem Meer gewonnenen Exportprodukten. Die Seetang-Zucht ist jedoch nach wie vor eine äußerst arbeitsintensive Sparte und es bedarf eines noch größeren Produktsortiments, um den Ansprüchen des Weltmarkts gerecht zu werden.

Essen für jede Jahreszeit

Gimbap-Rollen erfreuen sich als einfaches Mittagessen oder Pausensnack bei den Koreanern großer Beliebtheit. Für Gimbap wird zuerst dampfender weißer Reis gleichmäßig auf dem Gim-Blatt verteilt. Darauf kommt in die Mitte ein mehrfarbiges Sortiment aus kurzgebratenem Gemüse, Streifen eingelegten Rettichs, Frühstücksfleisch und Omelettestreifen. Anschließend wird das Ganze in das Gim-Blatt eingerollt. Das glänzende, schwarze GimBlatt, der Reis und die Füllzutaten sorgen beim Kauen für ein wunderbares Geschmackserlebnis. Alleine schon der Gedanke, dass der heutzutage bei den Koreanern so beliebte Gimbap das Resultat von jahrzehntelanger Zusammenarbeit sowie Wissens- und Informationsaustausch von Menschen aus verschiedenen Regionen ist, hat etwas Faszinierendes. Dieser Gedanke lässt die Gimbap-Röllchen nur noch besser schmecken!

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© Court Cuisine Research Institute

1. Die Entwicklung der Schwebemethode, bei der Seetang-Matten aneinandergereiht an Bojen befestigt werden, ermöglichte die Tiefseezucht und erhöhte die Ernteerträge. 2. Gezüchteter Seetang kann von Ende November bis Februar mehrmals geerntet werden. Er wird in Fabriken maschinell getrocknet. Die traditionelle, äußerst arbeitsintensive Methode des Trocknens in der Sonne stirbt langsam aus. 3. Für Gimbap-Rollen wird gedämpfter weißer Reis auf ein dünnes Gim-Blatt gegeben, mit einer farbenfrohen Mischung diverser Zutaten belegt und dann zu einer Rolle gedreht. Heutzutage werden phantasievoll gefüllte Gimbap-Varianten aller Art angeboten, was auf einen Wandel in Geschmack und Vorlieben hinweist. 4. Alte Gim-Blätter verlieren bis zum Frühling ihre Frische. Sie werden zu Gimbugak verarbeitet, einem Snack, für den das Gim-Blatt mit Reisstärke bestrichen, getrocknet und anschließend knusprig fritiert wird.

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REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR

REZENSION

Zwischen Mahnung und Faszination Kim Deok-hee, geboren 1979, steht als Schriftsteller sozusagen noch an der Startlinie. In seinem ersten, neun Werke umfassenden Erzählband Nervendruckpunkt (2017) präsentierte er bereits mit wohl konstruierten, exakt formulierten Sätzen und unerwarteten Subversionen das Feinste der Kurzerzählung. Der Titel, von einer der in diesem Band enthaltenen Erzählungen entliehen, lässt den hochfliegenden Ehrgeiz des Nachwuchsschriftstellers erkennen, schon beim allerersten Versuch die Quintessenz von Erzählung und Literatur einfangen zu wollen.

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Choi Jae-bong Reporter, The Hankyoreh

ie Erzählungen in Nervendruckpunkt behandeln sehr unterschiedliche Stoffe und Themen. In diesem Band lässt sich aber nur schwer ein durchgängiges Thema ausmachen, das quasi als Markenzeichen des Autors bezeichnet werden könnte. Zwar birgt thematische Konsistenz die Gefahr in sich, Tautologien zu produzieren, doch kann ein Thema bzw. eine Weltanschauung, mit dem bzw. der sich ein Autor besonders intensiv auseinandersetzt, als ein distinktives Merkmal fungieren, das ihn von anderen Autoren abhebt. Kims Erzählungen sind nicht nur in Bezug auf Stoff und Thema vielfältig, sondern auch hinsichtlich des Genres: Einige sind historische Erzählungen, andere haben SF-Charakter, wieder andere sind im nüchtern-realistischen Hardboiled-Stil verfasst oder weisen Fantasy-Elemente auf. Dies spricht einerseits für die Bandbreite seiner schriftstellerischen Begabung, bedeutet andererseits aber auch, dass er noch keine distinktive Stimme für sich gefunden hat. Dieser Nachwuchsschriftsteller scheint quasi noch auf Sondierungsfahrt zu sein. In seinem Erzählband konzentriert sich Kim mehr auf das „Wie“ als auf das „Was“. Das heißt, es geht dem Autor weniger um das, was er sagen will, als darum, wie er es sagt. Anders ausgedrückt: Kim Deok-hee könnte als Ästhetizist bezeichnet werden. Oben wurde zwar erwähnt, dass seine

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Erzählungen verschiedene Themen und Formen aufweisen, aber trotz dieser Heterogenität lässt sich ein gemeinsames Merkmal feststellen: Streben nach Elaboriertheit. Für die erzählte Welt wird nämlich eine hundertprozentige Vollendetheit angestrebt. Unabhängig vom jeweiligen Stoff versucht Kim durch gründliche Recherchen die Plausibilität zu optimieren sowie einen Stoff und Thema angemessenen Stil zu verwenden. So ist die Titelerzählung Nervendruckpunkt, die die Welt der Männer mit ihren groben Gewalttätigkeiten beschreibt, z.B. im Hardboiled-Stil gehalten. „So wie es nicht möglich ist, in die Vergangenheit zurückzugehen und dort meine Pose und meinen Gesichtsausdruck zu ändern, so sollten alle Sätze vielleicht einfach unverbessert bleiben, dachte ich. Es schien mir besser, mich zu bemühen, weniger aufzukleben und mehr wegzuschneiden. Während ich das tat, grübelte ich darüber nach, was mich dazu gebracht hatte, so etwas zu schreiben.“ Auch im Erzählband-Nachwort des Autors ist Kims Streben nach Perfektion und Ästhetik gut zu erkennen. Dass sein Interesse am „Wie“ das Interesse am „Was“ bei Weitem überwiegt, lässt sich in mehreren Erzählungen feststellen: Die Schilderung von Methode und Körperhaltung beim Erschlagen von Sumpfschweinen mit dem Golfschläger in der Titelerzählung, die Erklärung der korrekten Pinselhalte- und Pinselführungstechnik in Wenn die Sichel


bellt, die Technik des Ruderns in Das Stellnetz oder die Passage in Meridiane, in der die Wichtigkeit von Empathie und Harmonie zwischen Akupunkteur und Akupunktiertem betont wird, verraten ein beträchtliches Fachwissen in den jeweiligen Bereichen. Diese Stellen – letztendlich Metaphern für das Schreiben – sind als Ausdruck des Ich-Verständnisses des Autors als Schriftsteller und als sein literarischer „Wahlspruch“ zu verstehen. Insbesondere die Erzählung Wenn die Sichel bellt ist ein Werk, in dem Begabung, Fähigkeit und literarische Ausrichtung des Autors gut zum Ausdruck kommen. Die Erzählung beginnt und endet mit dem Satz „Ich kann nicht lesen.“ Sie hat zudem den Charakter einer Metaerzählung, da sie das Schreiben an sich thematisiert. Darüber hinaus werden interessante Überlegungen zu Schreiben und Lesen angestellt: Was bedeutet es, lesen und schreiben zu können? Was impliziert die kuriose Lage, zwar schreiben zu können, aber nicht lesen und damit nicht verstehen zu knönnen? Der Protgonist ist ein Sklave, der zwar nicht des Lesens kundig ist, sich aber eine hervorragende Abschreibtechnik angeeignet hat. Sein Vater versucht verzweifelt, das Verlangen des Sohnes, „alles Gesagte, das sich sonst in die Luft verliert, unversehrt einzufangen, und die im Kopf wie Schneeflocken fallenden und sich anhäufenden Gedanken aufzubewahren, bevor sie zu Nichts zerrinnen“, zu unterdrücken. Denn für ihn ist Lese- und Schreibkompetenz der sichere Weg zum Untergang der betreffenden Person und seiner Familie. Da der Vater vehement dagegen ist, verzichtet der Protagonist aufs Lesenlernen und konzentriert sich stattdessen aufs Zeichnen. Seine diesbezügliche Fertigkeit ist hoch entwickelt: „Zeichnete ich eine Sichel, schien sie Gras schneiden zu können, zeichnete ich einen Hund, schien er jeden Moment bellen zu wollen.“ Er vermag sogar Texte mit Schriftzeichen

© Park Jae-hong

„So wie es nicht möglich ist, in die Vergangenheit zurückzugehen und dort meine Pose und meinen Gesichtsausdruck zu ändern, so sollten alle Sätze vielleicht einfach unverbessert bleiben, dachte ich. Es schien mir ratsamer, mich zu bemühen, weniger aufzukleben und mehr wegzuschneiden.“

wie Bilder nachzuzeichnen. Sein Herr, der diese Begabung erkennt, beauftragt ihn mit dem Abschreiben seiner Schriften. Der Protagonist wird zum Skriptor. „Und da er nicht lesen kann, wird er im Gegensatz zu euch Burschen in das, was er abschreibt, auch nichts einfließen lassen, um seine privaten Interessen zu befördern.“ Diese Äußerung des Herrn gegenüber seinen Schülern enthält eine ironische Einsicht in das Schreiben: Sollte in einem Text etwas Persönliches enthalten sein oder nicht? Man kann meinen, dass ein Text eine Art Spiegel sei, der ein Objekt naturgetreu reflektieren solle. Aber auch das Argument, dass das Spiegelbild, egal wie klar der Spiegel auch sein mag, letztendlich nicht der reflektierte Gegenstand selbst, sondern nur dessen bis zu einem gewissen Grade verzerrtes Bild sein könne, wäre nicht unbegründet. Die Beziehung zwischen dem der Schrift mächtigen Herrn und dem leseunkundigen Sklaven, der die Schrift nicht versteht und sie deshalb nur nachzeichnen kann, bietet reichlich Stoff zum Nachdenken, aber keine klare Schlussfolgerung. Nur: Der verzweifelte Appell des Vaters des Protagonisten ist von einer nicht zu überhörenden Dringlichkeit. „Die Adligen können mit dieser Sichel Menschen die Kehle durchschneiden und diesen Hund auf die Jagd schicken. Und das ist noch nicht alles. Es werden Tage kommen, an denen die Sichel zu bellen beginnt und der Hund auf die Feldraine springt und erntet. Dann wird Unordnung über das Land kommen. Wie zur Zeit deines Urgroßvaters.“ Der auf den ersten Blick seltsam anmutende Titel der Erzählung beruht offensichtlich auf dieser Stelle. Das Verhalten des Protagonisten, der zwischen der Mahnung und der Fasziniation hin- und hergerissen zu sein scheint, ist wohl ein Beleg dafür, dass sich der Autor ebenfalls noch nicht festlegen konnte und noch auf Richtungssuche ist.

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