SOMMER 2019
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST
SPEZIAL
TEMPELESSEN
ISSN 1975-0617
JAHRGANG 14, NR. 2
Befreiung von Gier und Täuschung Ein Mahl zum Befreien von der Gier; Mahl mit der ganzen Schöpfung; Soulfood wie bei Muttern in der Heimat; Man ist, was man isst; Ein Mönch und sein Weg des Tees
Tempelessen
IMPRESSIONEN
Die perfekte Kombination Kim Hwa-young
Literaturkritiker, Mitglied der National Academy of Arts
© News1
F
ür die Koreaner, die zu den trinkfreudigsten Völkern der Welt zählen, gehören neben dem Alkohol auch Beilagenspeisen auf den Tisch. Der milchigtrübe Reiswein Makgeolli passt ideal zu Bindaeddeok (Mungobohnen-Pfannkuchen), der klare Getreideschnaps Soju schmeckt am besten zusammen mit Samgyeopsal (gegrillte Schweinebauchscheiben), und zu Bier geht eigentlich nur Chimaek. „Chimaek“, eine englisch-koreanische Wortschöpfung aus „frittiertes Hähnchen“ und „Bier (Chi(cken) + Maek(ju))“, hat es mittlerweile sogar in die Wörterbücher geschafft. Chimaek blickt erst auf eine kurze Geschichte zurück. In den Jahren nach dem Koreakrieg war selbst ein Spiegelei noch ein Festtagsessen, ganz zu schweigen von frittiertem Hähnchen. Erst 1960 hatte die erste Chimaek-Version ihr Debüt, und zwar im Myeongdong Yeongyang Center, einem auf Hähnchen spezialisierten Restaurant im Seouler Innenstadtviertel Myeong-dong, das zu gepfefferten Preisen Hähnchen vom Elektrogrill und Fassbier servierte. Um diese Zeit begann jedoch der Import von Masthühnern und Futtermitteln aus den USA, sodass in den 1970er Jahren in Korea Geflügelfarmen mit Käfigen voller Hühner aufkamen. Auch Shortenings und Speiseöl wurden mittlerweile massenproduziert, ebenso Mehl aus Importweizen. Als bei allen Zutaten die notwendige kritische Masse erreicht wurde, eröffnete 1977 Lims Chicken, die erste koreanische Kette für frittiertes Hähnchen, im Untergeschoss des Shinsegae-Kaufhauses, einem Hub für Fertiggerichte
in der Innenstadt von Seoul. 1984, sieben Jahre später, wurde das erste KFC-Restaurant im nahe gelegenen Viertel Jong-ro eröffnet. Die heute vertraute Chimaek-Kombination kam 2002 auf, als Südkorea gemeinsam mit Japan die Fußballweltmeisterschaft ausrichtete. Erstaunlicherweise erreichte der Außenseiter Korea das Halbfinale, was das ganze Land in einen wahren Freudentaumel versetzte. Begeisterte Fans versammelten sich vor den Megaleinwänden auf den Plätzen und den TV-Bildschirmen in Restaurants und Kneipen und bestellten Chimaek, was sich zu einem nationalen Trend entwickelte. Angetrieben von koreanischen TV-Serien, in denen die Hauptdarsteller Chimaek genießen, breitete sich das Gericht auf andere ostasiatische Länder aus. Die „Chimaek-Sucht“ der Koreaner hat aber auch eine negative Seite: Heißes Frittieröl, kalorienreiche Panade und hoher Salzgehalt von Hähnchen à la Korea regen in Kombination mit Bier Appetit und Durst an, was zu übermäßigem Essen und Trinken führt. Daher wird das Gericht, das die Koreaner in feucht-fröhlicher geselliger Runde am liebsten essen, nicht nur mit schönen Erinnerungen in Verbindung gebracht, sondern auch mit einem erhöhten Risiko, Fettleibigkeit, Gicht, sowie Herz-Kreislauf- und Lebererkrankungen zu entwickeln. Wie dem auch sei: Im ganzen Lande reicht ein kurzer Telefonanruf, um das beliebte Kombi-Set zu relativ günstigen Preisen innerhalb von nur einer halben Stunde bis an die Haustür liefern zu lassen und das Tor zum „Chimaek-Paradies“ zu öffnen.
Von der Redaktion: Im Beitrag „Frühlingsausflug unter Blüten“ der Frühjahrsausgabe 2019 wurde als Name der Gelben Kornelkirsche Yuchae angegeben. Die korrekte Bezeichnung ist Sansuyu. Wir bedauern den Fehler.
Von der Redaktion
Gesunde Ernährung für Körper und Geist Neben Tempelaufenthalten steht heutzutage auch die Tempelküche verstärkt im Mittelpunkt des Interesses. Die jahrhundertealte Ernährungsweise buddhistischer Mönche und Nonnen – ein wesentlicher Aspekt der klösterlichen Traditionen des koreanischen Buddhismus – zieht gesundheitsbewusste Menschen an. Entsprechend werden neben Kochkursen und -vorführungen für Tempelgerichte auch Restaurants, die Tempelessen anbieten, immer beliebter. Das UNESCO-Welterbekomitee, das die vom 7. bis 9. Jh. errichteten Sansa-Bergklöster 2018 als UNESCO-Welterbe anerkannte, begründete seine Entscheidung u.a. damit, dass sie für Ordenspersonen und Laien lebendige Mittelpunkte von Glauben, spirituellen Übungen und Alltagsleben der Klostergemeinschaft sind. Der Alltag in buddhistischen Tempeln ist eng verbunden mit seit über Tausenden von Jahren tradierten Kleidungs- und Ernährungsgewohnheiten. „Tempelessen: Abkehr von Begierden und Selbsttäuschungen“, Die SPEZIAL-Reihe der vorliegenden Ausgabe, beschäftigt sich näher mit den Ernährungstraditionen der buddhistischen Tempel in Korea. Es ist ein Versuch, über den derzeitigen Hype hinaus einen Einblick in die Essenz der koreanischen Tempelküche zu geben. Die hier vorgestellten Tempel, Mönche und Nonnen, aber auch die Autoren wurden sorgfältig ausgewählt. Die Reportage gibt einen Rückblick auf die Geschichte buddhistischer Speisen von ihren Anfängen in Indien über die Weitergabe an die verschiedenen Regionen in Asien bis hin zu ihrer Weiterentwicklung in der heutigen Zeit. Es wäre sehr erfreulich, wenn die Beiträge unseren Lesern die Welt der koreanischen Tempelküche nicht nur in Bezug auf Rezepte und Geschmack näher bringen würden, sondern auch in Bezug auf ihre Bedeutung in der heutigen Welt. „Das Rezept muss einfach sein, dann kann auch unsere Lebensweise einfacher werden“, erklärt die Bhikkhuni Gyeho, die Äbtissin des Tempels Jinkwan-sa [vgl. S. ......]. Es ist zu hoffen, dass einfaches Essen nicht nur hilft, unseren Geist von Qualen zu befreien, sondern auch, unseren gefährdeten Planeten zu retten. Ahn In-kyoung Chefredakteurin der deutschen Ausgabe
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST SOMMER 2019
Published quarterly by THE KOREA FOUNDATION 55 Sinjung-ro, Seogwipo-si, Jeju-do 63565, Korea https://www.koreana.or.kr
Causa – eine entspanntere Zeitebene Choi Seung-mi 2016, Tusche und Farbe auf dickem Reispapier, 45,5 x 27,3 cm.
VERLEGER Lee Sihyung REDAKTIONSDIREKTOR Kim Seong-in CHEFREDAKTEURIN Ahn In-kyoung REDAKTIONSBEIRAT Han Kyung-koo Benjamin Joinau Jung Duk-hyun Kim Hwa-young Kim Young-na Koh Mi-seok Charles La Shure Song Hye-jin Song Young-man Yoon Se-young COPY EDITOR Anneliese Stern-Ko KREATIVDIREKTOR Kim Sam LEKTORAT Ji Geun-hwa, Noh Yoon-young KUNSTDIREKTOR KIm Ji-yeon DESIGNER Kim Eun-hye, Kim Nam-hyung, Yeob Lan-kyeong LAYOUT & DESIGN
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Ahn In-kyoung Anneliese Stern-Ko Do Young-in Lie Yukyung Eom Yuseong
Preis pro Heft in Korea 6.000 Won Außerhalb Koreas US$9 Detailinformationen zu den Subskriptionspreisen finden Sie auf Seite 88. THE KOREA FOUNDATION BERLINER BÜRO c/o Botschaft der Republik Korea Stülerstraße 8-10, 10787 Berlin, Germany Tel: +49-(0)30-260-65-458 / Fax: +49-(0)30-260-65-52 E-mail: koreana@kf.or.kr
GEDRUCKT SOMMER 2019 Samsung Moonwha Printing Co. 10 Achasan-ro 11-gil, Seongdong-gu, Seoul 04796, Korea Tel: 82-2-468-0361/5 © The Korea Foundation 2019 Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Publikation darf ohne vorherige Genehmigung der Korea Foundation in irgendeiner Form reproduziert werden. Die Meinungen der Autoren decken sich nicht notwendigerweise mit denen der Redaktionsmitglieder oder der Korea Foundation. Koreana ist als Vierteljahresmagazin beim Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus registriert (Reg. Nr. No. Ba-1033, August 8, 1987) und erscheint neben Deutsch auch auf Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Indonesisch, Japanisch Russisch und Spanisch.
SPEZIAL
Tempelessen: Befreiung von Gier und Täuschung 04
SPEZIAL 1
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SPEZIAL 3
Ein Mahl zum Befreien von der Gier
Soulfood wie bei Muttern in der Heimat
Mun Tae-jun
Baek Young-ok
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SPEZIAL 2
Man ist, was man isst
Kong Man-shik
Park Mee-hyang
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Ssireum wird UNESCO - Kulturerbe Park Hong-soon
SPEZIAL 5
Ein Mönch und sein Weg des Tees Park Hee-june
SPEZIAL 4
Mahl mit der ganzen Schöpfung
FOKUS
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HÜTER DES TRADITIONELLEN ERBES
Homi Geschmiedet mit Wasser, Feuer und Luft
66 LIFESTYLE Minimalistisch Urlauben Kim Dong-hwan
Kang Shin-jae
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INTERVIEW
Die „Hände“ von Nam June Paik Lim Hee-yun
56
GESCHICHTEN AUS ZWEI KOREAS
Flüchtlinge : Vorreiter des Wandels Kim Hak-soon
44 KUNSTKRITIK Ästhetischer Organismus aus Beton Lim Jin-young
REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR
Ethischer „Zeitunterschied“ im Leben nach Verlust Choi Jae-bong
Die Nützlichkeit der Landschaft
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ENTERTAINMENT
Tourismus in Reality-Shows Jung Duk-hyun
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RUND UM ZUTATEN
Im Kürbis verborgene Zeiten Jeong Jae-hoon
Kim Ae-ran
SPEZIAL 1
Tempelessen: Befreiung von Gier und Täuschung
Ein Mahl zum Befreien von der Gier In koreanischen buddhistischen Tempeln ist Essen ein Mittel zur Reinigung des Geistes. Durch eine Mahlzeit versucht man, innere Ruhe zu finden, indem man Habgier und Obsessionen aufgibt. Das Essen in einem Tempel ist daher gleichbedeutend mit einer asketischen Ăœbung zur Erlangung eines reinen Geistes. Mun Tae-jun Dichter Fotos Ahn Hong-beom
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A
ls kleines Kind begleitete ich meine Mutter oft zu einem rund eine Stunde Fußweg entfernten Tempel. Mutter trug die Getreide, die sie eigenhändig auf den Feldern angebaut hatte, um sie Buddha darzubringen. Vor ihrem Tempelbesuch war sie drei Tage lang sehr wählerisch in Bezug auf das Essen und hatte Fleisch völlig gemieden. Am Tag des Tempelbesuchs stand sie in der Morgendämmerung auf, wusch sich die Haare und reinigte ihren ganzen Körper. Sie wusch sich so peinlich genau, als wollte sie jegliche negative Energie, die sich in ihrem Körper und Geist eingenistet hatte, vertreiben. Im Tempel warf sie sich vor Buddha nieder und flüsterte ihre Bitten. Obwohl ich noch klein war, störte mich die hektische Geschäftigkeit so früh am Morgen nicht. Ein Grund dafür war das Tempelessen. Ich glaube, das erste Essen, das ich im Tempel probierte, war Patjuk, ein dicker Brei aus roten Adzukibohnen. Die Patjuk, zubereitet mit dem Reis, der in der Flüssigkeit von gekochten, zerkleinerten und durch ein Sieb gestrichenen roten Bohnen gekocht worden war, schmeckte köstlich. Insbesondere die im Brei steckenden Klebreis-Klößchen in Form von Wachteleiern schmeckten süß und lecker. Die Erinnerung daran, dass ich eine Schüssel Brei bekam, den ich neben Mutter sitzend aß, ist noch recht deutlich. Patjuk wird in Tempeln gegessen, weil man glaubt, dass seine rötliche Farbe böse Geister sowie negative Energie vertreibt und vor plötzlichen Unglücksfällen schützt. Neben dem Bohnenbrei aßen wir ab und zu auch Guksu (Nudeln) oder Bibimbap (Reis gemischt mit verschiedenen Gemüsen und Kräutern). Doch die Tempelgerichte waren meistens etwas fade für meinen kindlichen Gaumen. Es gab kein Fleisch und das Essen war weder süß noch salzig noch scharf, sodass mir die Zeit, die mit Essen verbracht wurde, lang und langweilig erschien. Es dauerte eine geraume Weile, bis ich einen Geschmack für solch langweiliges Essen entwickelte.
Extreme Einfachheit
Auch als Erwachsener besuchte ich noch sehr oft Tempel. Manchmal, um mit älteren Mönchen zu sprechen, manchmal, um einen Zeitungsartikel über einen bestimmten Tempel zu schreiben, und manchmal, um eine Pause vom Alltag einzulegen und Körper und Geist zur Ruhe kommen zu lassen.
Die Teilnehmer des Templestay-Programms im Tempel Naeso-sa, Kreis Buan-gun, Provinz Jeollabuk-do, bei einer BarugongyangTempelmahlzeit. Landesweit bieten rund 130 buddhistische Tempel Aufenthaltsprogramme an, um einen Einblick ins Alltagsleben der Tempelgemeinschaft zu geben.
Nach meinen Tempelbesuchen hatte ich immer das Gefühl, dass mein Körper und Geist reiner geworden waren, mein Denken sich erweitert hatte und meine weltlichen Begierden weniger geworden waren. Als meine Tempelbesuche häufiger wurden, wurde mir bewusst, dass die Haushaltsarbeiten eines Tempels eine Vielzahl von Aufgaben umfassen, die unter den Mönchen aufgeteilt sind: Einer ist für die gesamte Haushaltsverwaltung zuständig, ein anderer fürs Teekochen, während wieder andere den Gemüsegarten pflegen, sich um das Trinkwasser kümmern, Brennholz sammeln und Feuer anzünden oder die Mahlzeiten zubereiten. Sie alle erfüllen ordnungsgemäß ihre Pflichten. Ich erfuhr auch, dass die Mönche im Großen und Ganzen Selbstversorger sind. So gut wie alle Nahrungsmittel sind Produkte ihrer Hände Arbeit. Im koreanischen Buddhismus ist der Aphorismus überliefert: „Ein Tag ohne Arbeit ist ein Tag ohne Essen.“ Bei einem meiner Tempelbesuche traf ich alle Mönche mit hochgekrempelten Ärmeln bei der Zubereitung von Kimchi an. An einem anderen Tag zerstampften sie gekochte Sojabohnen, formten die Masse zu Meju-Blöcken und hängten sie zum Fermentieren und Trocknen auf. Ich erinnere mich noch, wie überrascht ich war, nachdem ich einen Artikel über die Meditationsräume gelesen hatte, in denen sich die Mönche auf ihre asketischen Übungen konzentrieren. Als ich dann daran dachte, wie übermäßig viel ich besaß und konsumierte, fühlte ich mich schuldig. Jeden Sommer und Winter gehen die Mönche für drei Monate in den als „Seonwon“ bekannten Meditationszentren in Klausur. Während dieser Zeit achten die Tempel besonders darauf, dass sich die Mönche voll und ganz ihren spirituellen Übungen widmen können. Laut dem Artikel sehen die Regeln vor, dass der Kopf kühl und die Füße warm gehalten werden sollen und dass man sich nie ganz, sondern nur zu etwa 80 % satt essen soll. Die festgelegten täglichen Essensportionen überraschten mich ebenfalls: Die Grundnahrungsmittelmenge beträgt nur drei 180mL Maßbecher pro Person. Die Mönche essen Reisbrei zum Frühstück, gekochten Reis zu Mittag und mit verschiedenen Getreidesorten gemischten Reis zu Abend. Als Beilagen gibt es meist Gemüse, gelegentlich Tofu, Gim-Purpurtang und Seetang. Es ist eine extrem einfache Ernährungsweise, die nur aus diesen drei Mahlzeiten besteht.
Ein Geist frei von Gier
Einer der von den Koreanern am meisten respektierten buddhistischen Mönche ist der Ehrwürdige Seongcheol (19121993). Seine Sprüche wie „Betrachte dich einmal selbst rich-
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tig“, „Hilf anderen, ohne dass jemand davon erfährt“ oder „Bete für andere“ sind einfach, klar, aber tiefsinnig. Acht Jahre lang praktizierte er die Meditationsübung „Langes Sitzen ohne Hinlegen“, was bedeutet, dass er sich zum Schlafen nie hinlegte. Noch dazu verließ er ganze zehn Jahre lang nie den Tempelbereich. Als er verschied, hinterließ er nur sein völlig abgetragenes und immer wieder geflicktes Mönchsgewand, ein Paar schwarze Gummischuhe und einen Gehstock. Seine Ernährungsweise war Spiegel seiner Lebensweise. Ein Mönch, der ihm lange zur Seite stand, beschrieb seine Essgewohnheiten wie folgt: „Der Ehrwürdige Seongcheol nahm äußerst schlichte Mahlzeiten zu sich. Er ernährte sich salzlos, weshalb man sich kaum um das Abschmecken des Essens zu kümmern brauchte. Seine einzigen Beilagen waren fünf oder sechs Sprossen Speisechrysantheme, fünf etwa 2-3 mm dicke Möhrenscheiben und eineinhalb Löffel schwarze Bohnen in Sojasoße. Der Hauptteil seiner Mahlzeit bestand aus einer Kinderportion Reis und einer Suppe mit Kartoffeln und Möhren. Zum Frühstück aß er statt festen Reis nur eine halbe Schüssel Reisbrei.“ Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Ehrwürdige Seongcheol beim Essen um Maßhalten und Sich-Zügeln bemüht war. Auch wenn er Blätter, Stängel und Früchte von Pflanzen verzehrte, so beschränkte er doch die Menge und aß sich nie satt. Man fragt sich, ob die Menge reichte, um überhaupt gesund zu bleiben. Er betrachtete jede Mahlzeit als Medizin für seine geistigen Übungen und nahm nur so viel zu sich, wie sein Körper unbedingt brauchte. Für ihn entsprach das Verlangen nach Nahrung dem Denken eines Diebs. Da die Gier nach Essen zudem zu Faulheit führt, war er stets wachsam, um nicht in Versuchung zu geraten. Auf der Säule am Eingangstor der meisten Tempel ist zu lesen: „Lass alles Wissen beim Betreten dieses Tempels hinter dir“. Es ist eine Mahnung, jegliche Beurteilungen, Eitelkeit und irrige Sichtweisen abzulegen. Buddhistische Tempel sind Räume zur Reinigung des Herzens. Wie aber sieht das Herz nach der Reinigung, nach der Umkehr von Irrtümern aus? Es ist tolerant, rein, ehrlich, frei von Gier, großzügig und erfüllt von Respekt für andere Lebewesen. Um dieses Ideal zu erreichen, muss man alles, was mit Nahrung, Obdach und Kleidung zu tun hat, einfach halten. Diese Tradition des koreanischen Buddhismus wurde über lange Zeiten hinweg bewahrt und jedes Mal, wenn die Gefahr eines Verfalls oder Zusammenbruchs bestand, gingen die Mönche geeinten Geistes dagegen vor. Um die ganze Mönchsgemeinschaft wieder in einen Zustand der Reinheit zu versetzen, unterzogen sie sich einer Selbstreinigung. Alltägliche Aufgaben wie Wasser schöpfen, Brennholz hacken und Saat
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aussäen, die die Autarkie der Tempelgemeinschaft sicherten, waren wichtige Übungen der Selbstreinigung.
Regeln für Mahlzeiten
In den Tempeln, wo die Zutaten begrenzt und bescheidene Essensmengen die Regel sind, gelten bestimmte Vorschriften für die Einnahme der Mahlzeiten: Die Mahlzeiten müssen in Stille eingenommen werden, daher herrscht Sprechverbot. Der Fokus liegt ausschließlich auf dem Akt des Essens. In dieser Hinsicht waren das Morgenmahl im Tempel Woljeong-sa in der Provinz Gangwon-do oder im Tempel Hwaeom-sa in der Provinz Jeollanam-do ein ganz besonderes Erlebnis für mich. An einem Morgen, als die kalte Winterluft scharf um meinen Körper peitschte, aß ich meine aus Reis und wenigen Beilagen bestehende Mahlzeit in absoluter Stille. Ich konzentrierte mich völlig aufs Essen und sah meinen nackten Körper und meinen klaren Geist das Essen kauen und annehmen. Und plötzlich dachte ich: „Was bedeutet es, dass ich auf dieser Welt geboren bin und lebe?“ Dabei quollen mir die Tränen aus den Augen. Gye chosim hagin mun (Ermahnungen für Mönch-Novizen), verfasst von dem Mönch Jinul (1158-1210) aus der GoryeoZeit, gibt den Novizen Anweisungen für ein asketisches Leben im Kloster. Es enthält auch Benimmregeln für die Mahlzeiten: „Achte darauf, während des Essens beim Trinken und Kauen keine Geräusche zu machen; sei vorsichtig, wenn du dir von den Speisen nimmst und auf deinen Teller legst; blicke beim Essen nicht auf und schau dich nicht um; sei nicht erfreut oder verdrossen über bestimmte Speisen; iss in Stille und ohne dir profane Gedanken durch den Kopf gehen zu lassen; sei dir bewusst, dass das Annehmen und Aufnehmen von Speisen nur dazu dient, deinen Körper vor dem Verfall zu bewahren und Erleuchtung zu erreichen.“ Für jeden, egal ob Mönch oder Laie, ist eine Mahlzeit in einem Tempel nichts anderes als eine geistige Übung. Gelegentlich werden in den Tempeln auch besondere Speisen für die Mönche zubereitet. Ich hatte mehrmals das Glück, diese Delikatessen probieren zu dürfen. So werden an schwül-heißen Sommertagen z.B. Guksu (Nudeln), Gamja-Sujebi (klare Brühe mit Kartoffel-Einlage) oder Chapssalbap (Klebreis) serviert. Vor allem Guksu ist bei den Mönchen beliebt. Allein schon die Erwähnung des Wortes zaubert ein Lächeln auf ihre Gesichter. Unter den Tempelspeisen, die ich probiert habe, sind mir einige besonders in Erinnerung geblieben: Jjanji, Rettich, der im Herbst in Salz eingelegt und an Sommertagen mit ein wenig kaltem Wasser gegessen wird; Hobangnip-Doenjang-
guk, Suppe auf Sojabohnenpastenbasis mit vor dem ersten Frost gepflückten Kürbisblättern; Beilagen aus getrockneten Rettichblättern sowie in Sojasoße geköchelte oder frittierte Lotus- und Klettenwurzeln. Auch der Geschmack von Nurungji (leicht angebrannter Reis), den ich in einem Tempel bekam und zu Hause in Wasser kochte, ist mir noch deutlich in Erinnerung.
Der Geist des Essens
Neben dem Tempelessen mochte ich auch den Tee, den die Mönche servierten. Als ich an einem Frühlingstag den Tempel Silsang-sa in Namwon, Provinz Jeollabuk-do, besuchte, begrüßte mich ein Mönch, der auf dem Feld arbeitete, ganz herzlich und bot mir eine Tasse grünen Tee mit einer Ume-Knospe an. Der Duft dieses Tees ist mir immer noch in Erinnerung. Heutzutage erfreut sich die Tempelküche immer größerer
Wichtiger Bestandteil eines Templestay ist die Dado-Zeremonie, während der die Teilnehmer beim Teetrinken der Predigt lauschen und anschließend über den Inhalt diskutieren. Es ist eine seltene Gelegenheit, in engeren Kontakt mit den in den Bergtempeln lebenden Mönchen zu kommen.
Beliebtheit. Es ist eine positive Erscheinung, dass man sich bemüht, nicht übermäßig viel zu essen und den übermäßigen Genuss industriell verarbeiteter Lebensmittel zu reduzieren. Es ist auch begrüßenswert, dass auf Tempelküche spezialisierte Restaurants in den Innenstädten eröffnen, dass die Leute die Zubereitung von Tempelspeisen lernen und sie zu Hause nachkochen. Grundsätzlich ist eine Mahlzeit in einem Tempel eine Mahlzeit, bei der die Zutaten so gewonnen werden, dass möglichst wenig Schaden entsteht. Deshalb ist der Verzehr von Fleisch verboten. In den buddhistischen Schriften steht: „Alle Erde und alles Wasser sind meine vergangenen Körper, Feuer und Wind sind meine Essenz.“ Daraus lässt sich die buddhistische Sichtweise auf die Nahrung, die wir zu uns nehmen, ableiten. Wenn ich das Gefühl habe, dass mein inneres Ich einem staubbedeckten Spiegel gleicht, oder wenn die Gier in mir wächst und unersättlich wird, ziehe ich mich von Zeit zu Zeit in einen Bergtempel zurück, um zu meditieren und zu beten. Mit einer schlichten Mahlzeit vor mir gehe ich in mich und betrachte meine gierigen, weltlichen Gedanken, die sich wie Weinranken vor mir ausbreiten. Während ich an einem sauberen Ort in einem Tempel sitze und ruhig nachdenke, lösche ich das Feuer der Gier in mir.
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SPEZIAL 2
Tempelessen: Befreiung von Gier und Täuschung
Mahl mit der ganzen Schöpfung Für buddhistische Asketen liegt der wichtigste Zweck der Aufnahme von Nahrung darin, deren Nährwert zum Teilen ihrer Erleuchtung mit allen Wesen auf der Welt zu nutzen. Deshalb dient Essen nicht der Verzauberung des Gaumens oder der Sättigung des Magens. Das Essen an sich ist vielmehr ein Teil der Askeseübung, die durch das Erbitten von Almosen sowie das gemeinsames Tempelmahl Baru-gongyang praktiziert wird. Kong Man-shik Forscher, Institute for the Study of Jogye-Order, Dongguk University Fotos Ahn Hong-beom
Z
ur Zeit von Buddha Shakyamuni, auf dessen Lehren der Buddhismus beruht, vertraten die Buddhisten einen gemäßigten Standpunkt in puncto Essen, d.h. es wurde keine extreme Askese in Bezug auf Menge oder Geschmack gefordert. Hierin unterschied sich der Buddhismus von anderen indischen Religionen wie dem Brahmanismus, der extreme Abstinenz predigte, oder dem Jainismus mit seinen harten Selbstkasteiungsregeln. Nichtsdestoweniger war es nach frühen buddhistischen Traditionen den Mönchen verboten, nach der Mittagsstunde Essen zu sich zu nehmen, was sie unter Hunger leiden ließ und der ständigen Versuchung aussetzte, die Regeln zu brechen. Um diese Probleme zu lösen, praktizierten sie die Tradition des Almosenbettelns und andere Essrituale.
verringern. Daneben hatten die Mönche aber auch noch ihre eigenen Regeln, mit denen sie die Essensaufnahme kontrollierten. Die Regeln über „Almosenrunde und Mahlzeiten einnehmen“ unter den 13 asketischen Übungen (Dhutanga) schreiben den Bhikkhus, den ordinierten Mönchen, vor, dass sie nach einer Schüssel bzw. einer Mahlzeit pro Tag zu fasten haben und dass sie beim Almosenbetteln das annehmen müssen, was ihnen im ersten Haus, auf das sie treffen – sei es nun reich oder arm – angeboten wird. Es war den Mönchen auch verboten, um Speisen zu bitten, die sie gerne aßen, und mehr als einmal oder übermäßig große Mengen anzunehmen. Sie glaubten, dass geistige Disziplinierung der Schlüssel zur Befreiung von der Gier nach Essen ist und dass diese Disziplinierung nicht auf das Objekt,
Frühe Regeln
Indische buddhistische Mönche, die für ihr tägliches Essen auf Almosen angewiesen waren, nahmen alles an, was der Laienspender ihnen gab. Diese Methode, an Nahrung zu kommen, half ihnen, das Verlangen nach Essen an sich zu
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Eine formelle Klostermahlzeit besteht aus Reis, Suppe, einigen einfachen Beilagen und Wasser, serviert in vier hölzernen Schalen auf einem quadratischen Stück Stoff.
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1. Die für den persönlichen Gebrauch bestimmten Schalen werden zwischen den Mahlzeiten in Regalen aufbewahrt. 2. Die Nonnen im Tempel Bongnyeong-sa in Suwon, Provinz Gyeonggi-do, deklamieren vor der Mahlzeit ihre Gelübde. Während der Mahlzeit deklamieren sie drei weitere Verse, um ihre Speisen mit allen lebenden Wesen im Dies- und Jenseits zu teilen.
1 © Jeondeungsa
i.e. das Essen als solches, zielen sollte, sondern darauf, seine Sinne und sein Bewusstsein über die Ursache des Verlangens nach Essen zu kontrollieren. Eine der heutzutage bekanntesten Übungen dieser Art ist „Achtsames Essen“, das der vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh bekannt gemacht hat.
Arbeit der Mönche
Der ostasiatische Seon-Buddhismus (Zen-Buddhismus) vertritt eine andere Einstellung und Sichtweise in Bezug auf Nahrungsmittel als der frühe indische Buddhismus, der den Mönchen jegliche Nahrungsmittelproduktion einschließlich der Feldwirtschaft untersagte, da dadurch Lebewesen getötet werden können. Auch Kochen und Lagern von Nahrungsmitteln war nicht erlaubt. Im Gegensatz dazu betrachtet der Zen-Buddhismus die produzierenden Tätigkeiten der Asketen als Teil der Übungen im Sinne des Aphorismus „Ein Tag ohne Arbeit ist ein Tag ohne Essen“. Auch das Lagern von Nahrungsmitteln ist gestattet und die Mönche bereiten ihre Mahlzeiten eigenhändig zu. Basierend auf diesen einzigartigen Gedanken bildeten Chinas vegetarische Küche (Sucai), Japans Andachtsküche (Shojin Ryori) und Koreas Tempelgerichte (Sachal Eumsik) unterschiedliche Elemente der ostasiatischen buddhistischen Kultur. Als Zweig der ostasiatischen Zen-buddhistischen Tradition vertritt der koreanische Zen-Buddhismus ähnliche Anschauungen in Bezug auf das Essen. Geschmack und Menge des Essens werden positiv betrachtet, eine Sichtweise, die sich in den Konzepten „Drei Tugenden“ und „Sechs Geschmacks-
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richtungen von Essen“ widerspiegelt. Das Konzept der Drei Tugenden fordert: 1. Nahrungsmittel sollten heilend wirken und die Körperfunktionen stärken. 2. Sie sollten in Bezug auf Hygiene und Genießbarkeit rein sein. 3. Sie sollten in Einklang mit den Mahayana-buddhistischen Vorschriften stehen, die den Verzehr von Fleisch und den fünf scharfen Gemüsesorten Knoblauch, Jungzwiebeln, Koreanischer Wildlauch sowie Rakkyo und Asant verbieten. Dieses Konzept, das eine bejahende Einstellung zum Kochen und einen realistischen Blick auf Nahrungsmittel erkennen lässt, dient als praktisches Regulativ für das koreanische Tempelessen. Das Konzept der „Sechs Geschmacksrichtungen“ geht davon aus, dass alle Nahrungsmittel in eine der folgenden sechs Geschmackskategorien fallen: salzig, süß, sauer, bitter, scharf und sauber-mild. Aristoteles bestimmte vier Geschmacksrichtungen: süß, salzig, sauer und bitter, und die traditionelle chinesische Küche fünf: süß, salzig, sauer, bitter und scharf. Während in beiden Klassifizierungen davon ausgegangen wird, dass die einzelnen Geschmäcker von gleich hohem Wert sind, legt der koreanische Zen-Buddhismus größeres Gewicht auf den sauber-milden Geschmack, da dieser „Grundgeschmack“ die originären Eigenschaften aller Geschmacksrichtungen harmonisiert, um ein gut ausbalanciertes Aroma zu erzeugen. Das nach diesen Regeln zubereitete Essen wird nach dem Ritual Baru-gongyang (formelles Tempelessen) gegessen. Da es sich um ein gemeinsames Mahl handelt, werden die Speisen nicht auf die Vorlieben der einzelnen Mönche
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abgestimmt, sondern es wird mit den je nach Jahreszeit und Bedingungen verfügbaren Zutaten gemäß den oben genannten Tugenden zubereitet. Daher mag es zwar für den einzelnen Mönch schwierig sein, seine individuellen Geschmacksvorlieben zu befriedigen, dafür kommt er in den Genuss einer Mahlzeit aus aromareichen Nahrungsmitteln der Saison, die in guter Luft und mit sauberem Wasser eigenhändig kultiviert wurden.
Der Weg zur Erleuchtung
Zu Baru-gongyang gehört auch der Vorgang, die richtige Menge Essen in die Schüsseln jedes Einzelnen zu geben. Wenn das Essen aufgetischt wird, können die Mönche je nachdem, wie viel sie essen können, entweder mehr verlangen oder etwas aus ihren Schüsseln nehmen. Es ist eine Regel, die in seinen Schalen befindliche Essensportion bis zum letzten Reiskörnchen oder Chilipulverfitzelchen aufzuessen. Auf diese Weise kontrollieren die Asketen ihre Gelüste in Bezug auf Geschmack oder Menge des Essens. Baru-gongyang wird zwar als tägliche gemeinsame Mahlzeit oder religiöses Ritual in allen buddhistischen Kloster- oder Tempelgemeinschaften praktiziert, aber was praktische Ausführung und Inhalt betrifft, weist die koreanische Variante eigene Ideen und Regeln auf. „Baru“, die hölzerne Essschale der Mönche, heißt „Patra“ auf Sanskrit. Der buddhistischen Legende nach schenkten die vier himmlischen Wächter dem Buddha Shakyamuni eine Patra, als sie sahen, dass er nach seiner Erleuchtung kein Gefäß für die ihm von zwei Kaufleuten angebotenen Speisen hatte. Seitdem benutzen die buddhistischen Mönche die Patra als Schüssel zum Almosenbetteln und Essen. Derzeit wird im Theravada-Buddhismus in Südostasien nur eine Schüssel für jede Mahlzeit verwendet. In Korea sind es jedoch vier, und zwar je eine für Reis, Suppe, Wasser und Beilagen. Es gibt u.a. Metall-, Keramik- und Holzschüsseln, aber in Korea werden meistens Holzschüsseln gebraucht. Im indischen Buddhismus ist es üblich, dass die Novizen ihre eigenen Mönchsgewänder und Patras herstellen, aber im ostasiatischen Zen-Buddhismus werden sie als Zeichen der Dharma-Nachfolge von den Leh-
rern an die Schüler weitergegeben. Die zu Beginn des Tempelmahls rezitierten Fünf Verse der Einsicht (Ogwange) zeigen, dass Baru-gongyang nicht nur eine Art und Weise der Einnahme von Mahlzeiten, sondern auch eins der bedeutendsten Tempelrituale ist. Von wo kommt dieses Essen? Wessen harter Arbeit verdanke ich dieses Essen? Ich schäme mich, dass meine Tugendhaftigkeit zu unzulänglich ist, um dieses Essens wert zu sein. Aber ich nehme dieses Essen als ein Heilmittel an, auf dass ich mich von allen Leidenschaften befreien und meinen Körper zu erhalten vermöge, um Erleuchtung zu erlangen.
Eine gemeinsame Mahlzeit
Das Essen, das den Mönchen gegeben wird, ist nicht für sie allein. Nach dem Ogwange-Gebet nehmen sie sieben Reiskörner für wilde Tiere, Vögel und Insekten aus ihren Schüsseln. Das bedeutet, dass das Essen keine individuelle Mahlzeit ist, sondern ein Gemeinschaftsmahl mit allen lebenden Kreaturen. Darüber hinaus wird das Essen nicht nur mit irdischen Lebewesen wie Menschen und Tieren geteilt, sondern auch auch mit Wesen jeseits dieser Welt wie verstorbenen Eltern, Großeltern und Verwandten. Dieses Konzept wird während der Mahlzeit durch das Rezitieren dreier verschiedener Verse (Gatha) für die Toten zum Ausdruck gebracht. Das Essen wird nicht nur mit allen Kreaturen im Reich der Begierde – darunter Menschen, Tiere und Wesen der Unterwelt – geteilt, sondern durch Anrufen der Namen der zehn Buddhas und Bodhisattvas auch mit den Wesen in den höheren Gefilden. Am Ende jeder Mahlzeit werden die Schüsseln, in denen kein Reiskörnchen oder Chilipulverfitzelchen mehr klebt, ausgewaschen, wobei man aber etwas Wasser für die Agwi (Hungergeister) zurücklässt. Nach buddhistischer Überlieferung leiden diese Geister ständig unter Hunger und Durst, aber ihre Kehlen sind enger als ein Nadelöhr, sodass sie nicht einmal ein Reiskorn oder ein Chilipulverkörnchen schlucken können. Damit endet Baru-gongyang mit dem vollständigen Verzehr der Speisen.
Es ist eine Regel, die in seinen Schalen befindliche Essensportion bis zum letzten Reiskörnchen oder Chilipulverfitzelchen aufzuessen. Auf diese Weise kontrollieren die Asketen ihre Gelüste in Bezug auf Geschmack oder Menge des Essens. 12 KOREANA Sommer 2019
Nachdem sie das Essen beendet und die Schalen ausgeschwenkt haben, säubern sie Schalen, Löffel und Stäbchen mit einem Tuch und binden sie mit einem Stoffstreifen zusammen, wobei der Knoten vertikal ausgerichtet wird.
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SPEZIAL 3
Tempelessen: Befreiung von Gier und Täuschung
Soulfood wie bei Muttern in der Heimat In der Einsiedelei bereiten die buddhistischen Nonnen eine Mahlzeit aus Reis und Beilagen mit frischen Kräutern von den angrenzenden Hügeln zu. Yunpil-am, eine Einsiedelei in Mungyeong, Provinz Gyeongsangnam-do, ist seit Langem für ihre bescheidenen, an Hausmannskost erinnernden Tempelgerichte bekannt. Im letzten Frühjahr hatte ich die Gelegenheit, dort mit einer Mahlzeit verwöhnt zu werden, die Labsal für Herz und Seele war. Baek Young-ok Schriftstellerin Fotos Ahn Hong-beom
Eine von den Nonnen der Einsiedelei Yunpil-am in Mungyeong, Provinz Gyeongsangbuk-do, zubereitete Mahlzeit. Sie besteht hauptsächlich aus gewürzten Wildkräutern und Gemüsen, darunter Beifuß, Wasserfenchel, Rapssamen und Hirteltäschelkraut aus den umliegenden Bergen oder vom örtlichen Markt.
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J
edes Jahr, wenn die Frühlingsblumen sprießen, lese ich Fahrradreisen, eine Sammlung von Reiseberichten des Schriftstellers Kim Hoon. Ich habe es schon so oft gelesen, dass sich manche Sätze quasi wie eine Landschaft voller Blumen vor dem Fenster lesen. Passagen wie „Magnolienblüten brechen wie angezündete Laternen auf.“ und „Kamelienblüten fallen auf der Höhe ihrer Pracht so plötzlich wie das alte Königreich Baekje“ sind nicht länger gedruckte Wörter, sonden fühlen sich wie Teile meines Körpers an. Daher war es nur natürlich, dass mir, als ich die blühenden Blumen in der Klause Yunpil-am bewunderte, ein Satz aus diesem Buch in den Sinn kam: „Kornelkirschblüten blühen
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wie eine flimmernde Luftspiegelung.“ Das passiert immer, wenn ich den Frühling in der Luft spüre. Mögen es nun Kornelkirschblüten, Kirschblüten oder Umeblüten sein: Sie alle erscheinen mir nicht wie echte Blüten, sondern wie die Tagträume eines Baums, der einen harten Winter überstanden hat Überall im Hof von Yunpil-am meldeten sich Frühlingsboten: Am Quartier der Nonnen blühten Umeblüten und daneben gelbe Amur-Adonisröschen und violette Asiatische Herzblattschalen. Als ich die Tür des Meditationsraums öffnete, kochte eine Nonne gerade Tee und zerstieß Kaffeebohnen in einem Mörser. Der Kaffee schmeckte reicher und aromatischer als jeder
andere, den ich bis dahin getrunken hatte. Auf meine Frage nach der Kaffeebohnensorte, meinte die Nonne, es sei nichts Besonderes. Erst nachdem ich den gesamten Brühprozess verfolgt hatte, ging mir das Geheimnis seines unverwechselbaren Geschmacks auf. Die Nonne gab eine großzügige Menge gemahlener Bohnen in den Filter, goss aber nur eine winzige Menge Wasser darauf. Da nur alle zwei oder drei Sekunden ein Tropfen in die Tasse fiel, dauerte es gut 30 Minuten, bis die Tasse voll war. Die Extraktionsmethode war ähnlich wie die für Holländischen Kaffee. Sie opferte gerne ihre Zeit, um Besuch mit einer ganz besonderen Tasse Kaffee zu verwöhnen.
Emsige Geschäftigkeit in der Küche
„Wondu“ („Yuantou“ auf Chinesisch) bezeichnet den Mönch, der für den Gemüsegarten des Tempels zuständig ist und die Tempelküche mit Chilis, Lattichen, Gurken, Spinat, Sonnenblumen, Kürbissen und Mangold versorgt. Im Kapitel „Verschiedene kleinere Aufgaben“ des Chixiu Baizhang quinggui (Die Verwaltungsstruktur der Chan-Klöster in der späten Yuan-Zeit), einem buddhistischen Werk, das Klosterregeln beschreibt, steht: „Der Wondu soll Mühen und Anstrengungen nicht scheuen, sondern mit körperlichem Einsatz vorangehen. Er soll die Aussaatzeit nicht verpassen und die Felder bewässern, sodass in der Küche kein Mangel an Gemüsen entsteht.“ Die Nonne sagte mir: „Ich erledige alles auf bequeme und natürliche Art. Kompliziert und schwierig ist nicht mein Stil. Ich schlafe viel und halte mich nicht gerne an irgendwelche starren Regeln. Ich glaube nicht, dass in striktem Schweigen auf einem Kissen zu sitzen die einzige Form der Meditation ist. Es kann auch als geistige Übung angesehen werden, Reis zu kochen, Tee zu machen und sich so um die anderen zu kümmern. Alles, was ich in der Hoffnung tue, dass jeder, der mein Essen isst und meinen Tee trinkt, gesund bleibt und innere Ruhe findet, gehört zu meinen Askeseübungen.“ Die Nonne, deren buddhistischer Name Gonggok ist, war Bäuerin, Mutter und Köchin in einem. Yunpil-am ist neben Gyeonseong-am des Tempels Sudeok-sa
1. Die Ehrwürdige Gonggok, die Äbtissin der Einsiedelei Yunpil-sa, pflückt Gomchwi (Jakobs-Greiskraut) in den Bergen hinter dem Tempel. Dieses für seinen durchdringenden Geruch und distinktives Aroma bekannte Wildgemüse kann roh oder in Sojasoße eingelegt genossen werden. 2. Die Einsiedelei Yunpil-sa ist ein 1380 errichtetes Nonnenkloster am Fuße des Berges Sabul-sa. Die Halle rechts auf dem Bild ist Sabuljeon (Halle der Vier Buddhas). Es gibt dort keine Buddhastatue, weshalb sich die Nonnen während der Andachten in Richtung des Steinbuddhas auf dem Berg Sabul-san verbeugen, der durch ein großes Fenster zu sehen ist.
2
und Jijang-am auf dem Berg Odae-san eines der drei Hauptzentren des koreanischen Seon-Buddhismus (Zen-Buddhismus) für Bhikkhuni (Sanskrit: buddhistische Nonnen). Es ist ein Ort, der sich um Geist und Körper der Bhikkhuni kümmert, die sich Tag und Nacht dem Praktizieren der Übungen widmen. In der von natürlichem Licht erhellten Küche der Einsiedelei, deren Wände mit von der Sonne gemalten Schatten geschmückt waren, herrschte den ganzen Tag lang reges Treiben. Zu jeder Mahlzeit müssen Unmengen Reis, Suppe und Beilagen für Dutzende von Leuten zubereitet werden. Um Buddhas Geburtstag gibt es noch mehr zu tun, da dann besonders viele Menschen die Einsiedelei besuchen. Die Küche war ein dynamischer Ort, erfüllt von den Geräuschen ständigen Schlagens, Zerkleinerns und Mischens. Die einzelnen Körbe waren randvoll mit wilden Frühlingskräutern wie Beifuß, Hirtentäschelkraut, Raps oder Asiatische Pestwurz, die entweder im Garten gepflückt oder auf dem örtlichen, alle fünf Tage stattfindenden Markt gekauft wurden. In einem großen Topf köchelte die Brühe für Nudeln. Man sagt, dass Beifußsuppe um den 20. März, wenn die Blätter noch klein und weich sind, am besten schmeckt. Aus den um diese Zeit gepflückten Blättern kocht die Nonne Beifußtee und aus dem, was übrigbleibt, macht sie Seifen. Nicht nur Beifuß, sondern auch alle anderen Wildpflanzen, die in den Bergen wachsen, sind großartige Zutaten. Aus Maulbeerblättern, Löwenzahn, Mandarinenschalen und den inneren, dünnen Schalen von Esskastanien kann Tee oder Seife hergestellt werden, sie können aber auch gegessen oder auf die Haut aufgetragen werden. Ich musste lächeln, als die Nonne mir erzählte, dass ihr einmal beim Anblick des hellen Mondes die Fußsohlen vor Neugier kitzelten, sodass sie losging, um festzustellen, ob schon einige Gurken reif waren; sie fand
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einen großen Haufen praller Gurken und pflückte gleich 200, um daraus Gurken-Kimchi zu machen. Ich fragte mich, was für ein Leben das ist, ein Leben, in dem das Licht des Mondes Gedanken an Gurken aufkommen lässt. Die Nonne brauchte recht lange, um das Essen zuzubereiten. Das lag hauptsächlich daran, dass die Zubereitung der Nudeln, für die der handgemachte Mehlteig mit dem Nudelholz ausgerollt und mit einem Messer in lange, dünne Streifen geschnitten wurde, recht zeitaufwändig war. Als sie endlich mit dem Essen kam, war es schon weit nach Mittag und mir knurrte der Magen. Neben den Nudeln gab es Beifußreiskuchen, Hirtentäschelkraut und getrocknete Rettichblätter, die mit Sojasoße oder Sojabohnenpaste gewürzt waren. Der Sojabohnenpasteneintopf, der neben der Schale des mit Schwarzen Sojabohnen (Glycine max) oder mit kleinen Schwarzen Sojabohnen (Rhynchosia nulubilis) gekochten Reises stand, erinnerte mich an einen Satz aus Kim Hoons Buch: „Die Brühe des Sojabohnenpasteneintopfs, das Hirtentäschelkraut darin und die Person, die isst, befinden sich in einer ewigen Dreiecksbeziehung“. Aber in diesem Fall umarmt eine Seite die beiden anderen. Es ist also eine friedliche Dreiecksaffäre.
Das ist vielleicht der Grund, warum Sojabohnenpasteneintopf oder -suppe bei Magenverstimmungen hilft. Ich probierte den Rapssalat und die Beifuß-Pfannkuchen. Der knackige Rapssalat verlieh frische Frühlingsenergie. Der Teig für den Pfannkuchen wurde möglichst dünn ausgerollt, um den charakteristischen Kräutergeschmack voll zur Geltung zu bringen. Interessant war auch, dass zum Einrollen Wasserfenchel statt, wie allgemein üblich, Lattich oder Sesamblätter auf den Tisch kam. Ich hatte mitbekommen, wie die Nonne bemerkte „Ich muss den Banausen aus der Stadt mal zeigen, wie Wasserfenchel schmeckt“, weshalb ich annahm, dass Frühlings-Wasserfenchel quasi ein Heilmittel sein müsse. Ich nahm ein Blatt, legte ein Klümpchen Reis mit etwas Würzpaste darauf, rollte alles zusammen und steckte den Wickel in den Mund. Noch bevor ich kauen konnte, erfüllte das Aroma meine Mundhöhle. Die Beilage aus Walnüssen und Mandeln, die leicht in Sojasoße geröstet waren, schmeckte mehr wie ein Snack und ich musste mir einfach immer wieder davon nehmen. Ich aß von den eingelegten gelben Pflaumen. Bissfest und süß, regten sie meinen Appetit an.
Geheimrezepte der Nonnen
Es gibt ein paar Geheimnisse, die mir die Chefköche verrieten, als ich noch als Reporterin über die Restaurantszene berichtete. Dazu gehört z.B., dass man heißes Essen heiß und kaltes Essen kalt servieren soll. Selbst Bordgerichte, die in einer Höhe von über 9.000 m kaum bzw. unmöglich gut schmecken können, sind genießbarer, wenn man sich an folgende Regel hält: „Salat wird kalt serviert, Brot warm und Kaffee heiß.“ Frisch gekochter warmer Reis, in einer Tonschüssel servierter, heißer Sojabohnenpasteneintopf, frische Gemüse, die kurz zuvor gewürzt wurden: In der Einsiedelei Yunpil-am mag die Vorbereitung der Zutaten zwar viel Zeit in Anspruch nehmen, dafür geht das Kochen schnell. Mit anderen Worten: Die Speisekarte fußt auf den Grundprinzipien des Kochens. Doch die wesentlichen Zutaten für ein noch schmackhafteres Essen sind Zeit und Jahreszeit. Nach diesem Prinzip verleiht der lange Prozess des Reifens und Fermentierens Pasten und Kimchi einen tieferen Geschmack und Kaffee ein reicheres Aroma. Es macht daher Sinn, wenn die Ehrwürdige Gonggok sagt, dass nicht nur Sitzen und Meditieren, sondern auch der gesamte Prozess des Pflückens, Röstens und Fermentierens von Teeblättern als Teil der spirituellen Übungen verDie Ehrwürdige Gonggok mischt zarte Beifußsprossen mit Reismehl, bevor die Mischung gedämpft wird. Beifuß-Reiskuchen ist eine beliebte Frühlingsdelikatesse.
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Hausmannskost wie bei Muttern Das Restaurant könnte aus Ha-
sorten“ (Knoblauch, Jungzwiebeln,
pastensuppe. Nichts Spektakulä-
ein großartiges Tempelessen zu
ruki Murakamis Reiseberichten
Koreanischer Wildlauch, Rakkyo,
res also, sondern Seoulfood wie
einem erschwinglichen Preis. Egal
Henkyo Kinkyo (Entfernte Regio-
Asant) nicht zu verwenden und
die von der Mutter mit liebevoller
ob Mittag- oder Abendessen:
nen, nahe Regionen) stammen.
auch künstliche Geschmacksver-
Sorgfalt selbst zubereiteten Spei-
eine Mahlzeit kostet 15.000 Won
Es ist so ein Restaurant, in dem
stärker sind tabu. Außerdem ent-
sen. Der Gondeure-Namul-Bap ist
(rd. 11 €) pro Person. Da das Re-
der Besitzer auf den Kommentar
hält der vegetarische Speiseplan
eine Delikatesse, der auch ohne
staurant von Seoul aus innerhalb
„Herr Ober! Dem Gericht fehlen
weder Fleisch noch Fisch.
die servierten Beilagen schon ei-
einer Fahrtstunde zu erreichen
Frühlingszwiebeln.“ antworten
Da das Restaurant nur saisonale
nen Besuch des Restaurants wert
ist, empfiehlt sich ein Abstecher
würde: „Hinten im Garten gibt
und regionale Zutaten verwendet,
wäre und der als Dessert ser-
zum nahe gelegenen historischen Tempel Silleuk-sa.
es jede Menge. Pflücken Sie so
ist der natürliche Eigengeschmack
vierte Chrysanthementee duftet
viele, wie Sie essen möchten.“ Es
noch intensiver zu spüren. Wenn
ebenfalls angenehm. Der Besitzer
befindet sich in einem so abge-
man langsam kaut und jeden
stellt das ganze Jahr über meh-
legenen Dorf in Yeoju, Provinz
einzelnen Bissen genießt, fühlt
rere Teesorten her und serviert
Gyeonggi-do, dass niemand hier
man sich schon bald angenehm
jeweils den, der am besten zum
ein Restaurant erwarten würde.
gesättigt, obwohl man nicht so
Geschmack der Jahreszeit passt.
Das Geolgujaengine, das schon
besonders viel gegessen hat.
Nachdem das Restaurant 2012 in
seit 25 Jahren Tempelessen ser-
Das Essen wird in zwei Gängen
einer TV-Show vorgestellt wor-
viert, wird jedoch von neun Uhr
serviert. Der erste Gang besteht
den war, setzte ein wahrer Besu-
morgens bis neun Uhr abends
aus gedämpftem Tofu, Salat und
cherboom ein und ein Bekannter
von vielen Gästen besucht.
kalten Kimchi-Nudeln mit dünnen
schlug vor, ein zweites Restau-
„Unser Fokus liegt nicht unbedingt
Lotuswurzelscheiben, der zweite
rant in Seoul zu eröffnen. Es
auf Tempelspeisen, sondern auf
umfasst eine Palette saisonaler,
schloss jedoch nach einem Jahr
gesunden Gerichten nach Haus-
gewürzter Gemüsebeilagen so-
aufgrund steigenden Kosten für
macherart“, sagte der Besitzer.
wie Gondeure-Namul-Bap (Reis
die Zutaten und der Schwierigkei-
Dabei gehört es zu den Grundre-
gemischt mit Gondeure-Bergdis-
ten, frische Qualitätsprodukte zu
geln die „Fünf scharfen Gemüse-
teln) mit Chinakohl-Sojabohnen-
erhalten. Das Restaurant serviert
1. Eine hauptsächlich aus angemachten Gemüsen der Saison bestehende Mahlzeit im Geolgujaengine [Geol-gu-jaeng-i-ne], einem auf Tempelküche spezialisierten Restaurant in Yeoju, Provinz Gyeonggi-do. Die ohne künstliche Aromastoffe zubereiteten Speisen sind bei vielen wegen ihres frischen, natürlichen Geschmacks beliebt. 2. Ein Pfannküchlein, das in diesem Restaurant als Appetizer serviert wird. Für dieses an Crêpes erinnernde Gericht werden gehackte Gemüse der Saison in dünne, aus Ahornmehl hergestellte Teigfladen eingerollt, in Öl gebraten und in mundgerechte Portionen zerteilt.
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dern im wahrsten Sinne des Wortes wahr. Die Speisen verkörperten die Jahreszeit und die frische Energie des Frühlings, die nach Überstehen des harten und bitteren Winters hervorbricht und die Knospen sprießen lässt. In dem Moment war Essen nicht mehr nur Essen: Es war Balsam, der den Körper heilt.
Zufluchtsort für die Seele
Die Ehrwürdige Gonggok rollt einen dünnen Mehlteig aus, der mit einem Messer in lange, dünne Streifen geschnitten wird. Suppe mit handgemachten Nudeln ist eine besondere Dekilatesse für die Nonnen.
standen werden könnte. Sie führte mich zum Fuß eines blühenden Ume-Baums und zeigte mir, woraus sich am besten Tee machen lässt. Es war eine noch nicht aufgeblühte Knospe. Für hochwertigen Tee sind also die Mitte März gepflückten Ume-Blüten am besten. Die geernteten Knospen werden mehrere Tage im Schatten getrocknet und die an der Knospe haftenden jungen Blätter einzeln entfernt, um den grasigen Geschmack zu beseitigen. Taucht man die Knospen einige Minuten in heißes Wasser, erhält man eine Tasse duftenden Umeblütentee. Eine Mahlzeit in der Einsiedelei war eine Entdeckung sowohl der ursprünglichen Form der Zutaten als auch deren Grenzen. Es war eine ganz andere Erfahrung als das stumpfsinnige Essen zum reinen Stillen des Hungers. Und es war auch mehr als nur eine Besuchererfahrung: Es war ein „Erlebnis“, vergleichbar mit der Teilnahme an einem Ritual Angesichts der Speisen auf dem Tisch auszurufen „Wir essen ja den Frühling!“ wäre daher keine poetische Metapher, son-
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Ich habe eine Vorliebe für Geschichten, die im Winter beginnen und im Frühling enden. Das könnte mit einer schmerzhaften Erinnerung an meine Jugend zusammenhängen. Als ich in Varanasi in Indien war, litt ich unter schwerem Durchfall. Es war der 22. Februar 2005, der Tag, an dem sich die Schauspielerin Lee Eun-ju umbrachte. Der Tod meiner Lieblingsschauspielerin machte mich total benommen. Verwirrt stand ich auf, sammelte meine letzten Kräfte, nahm eine Autorikscha und fuhr die etwa 10 km zu dem koreanischen Tempel Nogyawon in Sarnath. Ich, die ich von Geburt an Christin war, beschloss plötzlich, einen buddhistischen Tempel aufzusuchen, weil ich mich daran erinnerte, dass ein Reisender gesagt hatte, es gebe dort koreanische Hausmannskost. Bar jeden Schamgefühls verschlang ich Sojabohnenpastensuppe und Kimchi geradezu. Es mag zwar jetzt banal klingen, wenn ich sage, dass mir diese Mahlzeit die Kraft zum Leben schenkte, aber dank der herzhaften Speisen konnte ich die Reise ins an der Wüste Thar gelegene Jaipur machen. Dort erfuhr ich mit allen Sinnen die wahre Heilkraft des Essens. Manchmal wünsche ich mir, dass ich nicht die lauten Stimmen in meinem Kopf, sondern das, was mein Körper mir sagt, was mein Magen, meine Nase oder meine Zunge mir erzählt, in Erinnerung behalten könnte: „der Magen knurrt“, „der kochende Reis duftet verführerisch“, „die Reiskörner schmecken wohlig süß“ usw. Als ich eines Tages mit verquollenen Augen beim Essen saß, wurde mir klar, dass „Heimat“ wohl nicht unbedingt nur mit einer bestimmten Örtlichkeit verbunden sein muss, genauso wie „Hunger“ nicht immer mit dem rein physischen Bedürfnis nach Nahrung verbunden ist. Bei einem Reiskorn, das umso süßer schmeckt, je mehr man es kaut, und bei einer Schüssel Hirtentäschelsuppe auf Sojabohnenpastenbasis kann man die Heimat fühlen. Die Ehrwürdige Gonggok sagte lächelnd: „Die Berge sind unsere Tempelgärten.“ Hier und da blühten Blumen in der Einsiedelei. Überall in den Bergen und an den Bächen wuchsen wilde Kräuter. Wir alle brauchen eine Heimat, in die wir jederzeit zurückkehren können, einen sicheren Zufluchtsort für unsere müden Seelen. Yunpil-am wird in meinem Herzen immer ein solcher Ort sein.
Tempelküche vom Feinsten 1. Eingelegte Lotuswurzeln, marinierte gegrillte Klettwurzeln, frittierte Pilze in Chilisoße und Mungobohnen-Pfannkuchen (im Uhrzeigersinn von oben links). Diese Appetithäppchen haben einen leichten und sauberen Geschmack. Sie sind Bestandteil eines Menüs, das im Balwoo Gongyang, einem auf Tempelküche spezialisierten Restaurant des koreanischen Jogye-Ordens gegenüber dem Jogye-Tempel in der Seouler Innenstadt, serviert wird. 2. Das moderne Interieur des Balwoo Gongyang, einem mit einem Michelin-Stern ausgezeichneten Restaurant, das verschiedene Wahlmenüs anbietet. 1
Das in der Seouler Innenstadt
heftig, aber jedes Menü wird mit
Spezialität des Hauses ist Mo-
für Tempelessen stattfinden. Die
gegenüber dem Tempel Jogye-sa
einer detaillierten Erklärung zu
deum Beoseot-gangjeong, frittier-
Teilnehmer, die von Mönchen un-
gelegene „Balwoo Gongyang“
Zutaten, Zubereitung und Tisch-
te Pilze, die mit Getreide-Sirup
terrichtet werden, können nicht
wurde 2017 als erstes Tempel-
sitten serviert.
und drei Jahre gereifter Chilipas-
nur etwas über die verschiede-
küche-Restaurant in Asien mit
Die aus dem harten Holz des
te zubereitet werden. Sie sind
nen Zutaten und traditionelle Zu-
einem Michelin-Stern ausge-
Gingkobaums gefertigte, neun-
sowohl scharf als auch süß und
bereitungsmethoden lernen, son-
zeichnet, einen Status, den es
fach lackierte Baru (hölzerne
von einer fleischigen Textur, die
dern auch über die Wurzeln der
jetzt schon drei Jahre in Folge
Schüssel für das Tempelmahl)
selbst Fleischliebhaber anspricht.
1.700 Jahre alten koreanischen
aufrechterhält. Mehr als 35 %
verleiht den Speisen etwas
Die verschiedenen, ohne Knob-
Tempelküche und Achtsamkeit in
der Gäste kommen aus Europa,
Edel-Würdevolles. Einige der
lauch eingelegten Kimchisorten
Bezug auf das Essen.
Nord- und Südamerika, China,
Zutaten wie Sojasoße, Sojaboh-
haben einen erfrischenden
Hongkong und Taiwan. Ohne
nenpaste, Brauner Reisessig,
Endgeschmack und sind knackig
vorherige Reservierung ist es oft
Kaktusfeigen und Tofu werden
bissfest.
schwierig, zur Mittagszeit einen
im Tempel Tongdo-sa, einem
Das Restaurant verwendet zu-
Tisch zu bekommen.
UNESCO-Weltkulturerbe in
dem seltene und einzigartige
Das Restaurant bietet fünf Me-
Yangsan, Provinz Gyeongsang-
Zutaten wie Chinesischen Beifuß,
nüs an: Seon (Meditation: 30.000
nam-do, hergestellt.
Kumquat, Wiesen-Kerbel oder
Won; rd. 23 €), das nur zu Mittag
Höhepunkte des Won-Menüs
Knollen-Ziest, die nur zu bestimm-
serviert wird, Won (Gelübde:
sind die kalten Buchweizen-
ten Jahreszeiten bzw. in ausge-
45.000 Won, rd. 34 €), Maeum
nudeln mit Shiitake-Pilzen und
wählten Regionen wie z.B. der
(Herz: 65.000 Won, rd. 49 €), Hee
pürierter Koreanischer Birne
Insel Ulleung-do heimisch sind.
(Freude: 95.000 Won, rd. 71 €)
sowie die Maultaschen mit
Im ersten Stock des Gebäudes
und Beop (Dharma 150.000 Won,
verschiedenen Bergkräutern,
befindet sich das Korean Temple
rd. 112 €). Die Preise sind ziemlich
Gemüsesorten und Nüssen. Die
Food Center, in dem Kochkurse 2 © Balwoo Gongyang
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SPEZIAL 4
Tempelessen: Befreiung von Gier und Täuschung
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Man ist, was man isst Der Tempel Jinkwan-sa am Fuße des Berges Bukhan-san, der die nördliche Grenze von Seoul bildet, gilt als Hüter der authentischen koreanischen Tempelküche. Weitergeführt wird diese Tradition von der Bhikkhuni (buddhistische Nonne) Gyeho, der Äbtissin dieses Tempels, in dem zur Joseon-Zeit der Königshof buddhistische Bittzeremonien abhielt. Park Mee-hyang Journalistin für Esskultur, The Hankyoreh Fotos Ahn Hong-beom
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S
eoul, 19. April 2019. Entlang des Bergpfads zum Tempel Jinkwan-sa versprühten Wildblumen zarte Frühlingsdüfte. Jinkwan-sa, der auf eine über tausendjährige Geschichte zurückblickt, ist ein Tempel, der dem Jogye-sa, dem Haupttempel des 1. Verwaltungsbezirks des koreanischen Jogye-Ordens, untersteht. Selbst während der Joseon-Zeit (1392-1910), als der Buddhismus unterdrückt und der Konfuzianismus hoch geachtet wurde, suchten die Könige oft diesen Tempel auf. König Taejo (reg. 1392-1398), der Gründer des Joseon-Reichs, ließ im Jinkwan-sa ein Büro für die Ausführung von Suryukjae (Ritual zur Erlösung umherirrender Seelen auf Land und Meer) einrichten. Bei diesem Ritual wurden Buddhas Lehren verlesen und Speisen dargeboten, um umherirrende Seelen und Hungergeister zu trösten. Damit gedachte Taejo der zahlreichen Seelen, die im Zuge der Gründung des Joseon-Reichs ums Leben kamen. Das Ritual, das im Jinkwan-sa bis auf den heutigen Tag in altüberlieferter Form abgehalten wird, wurde 2013 zum Nationalen Immateriellen Kulturgut erklärt. Der Tempel, der während des Koreakrieges (1950-1953) fast völlig niederbrannte, wurde ab 1963 unter Federführung der Ehrwürdigen Bhikkhuni Jinkwan (1928-2016), einer respektierten Anführerin buddhistischer Nonnen in Korea, Schritt für Schritt wiederaufgebaut und konnte sich schließlich einen Namen als repräsentativer Tempel für Nonnen machen. Es war auch die Ehrwürdige Jinkwan, die während der 40 Jahre, die sie den Tempel leitete, die kulinarische Tradition des buddhistischen Rituals Suryukjae weiterführte bzw. modernisierte. Ihre Sammlung buddhistischer Tempelküchenrezepte wurde vollständig an ihre Schülerin Bhikkhuni Gyeho weitergegeben.
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Zutaten aus der Natur
Helles Frühlingslicht fiel auf den Fenstersims des Kochstudios des Instituts für Bergtempelküche auf dem Gelände des Tempels Jinkwan-sa. Angezogen von Klängen, die von einem Moktak-Holzgong zu kommen schienen, betrat ich das Innere. Zu meiner Überraschung stammten die Klänge aber nicht von einem Gong, sondern von dem Messer, mit dem die Ehrwürdige Gyeho auf einem sieben, acht Meter langen Tisch einen Rettich schnitt. Nach ein paar Minuten war der wie ein kleiner Knüppel aussehende Rettich in ein seltsam geformtes Objekt geschnitten, das an einen Stempel mit Griff erinnerte. Die Äbtissin nannte es „Rettich-Ölhand“. Wenn man den Rettichstempel in Sesamöl dippt und damit die Pfanne ausstreicht, zieht das Öl gut ein. Diesen Kniff hatte sie als Kind von ihrer Mutter gelernt. Geboren wurde die Äbtissin, die nach weltlichen Alter jetzt auf die 70 zugeht, in Mukho (heute: die Stadt Donghae) in der Provinz Gangwon-do. Ihre Mutter und Großmutter mütterlicherseits waren beide gläubige Buddhistinnen und exzellente Köchinnen. Wenn ihre Mutter Doenjang-Jjigae (Eintopf auf Sojabohnenpastenbasis) kochte und Memil-Jeonbyeong (Buchweizen-Pfannkuchen) briet, schaute sie ihr über die Schulter. Kochte die Tochter dann die Gerichte, deren Zubereitung sie auf diese Weise gelernt hatte, nach, erntete sie viel Lob.
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1. Die Ehrwürdige Gyeho (ganz rechts), die Äbtissin, und andere Nonnen des Tempels Jinkwan-sa, tunken die Sprossen des Chinesischen Surenbaums in Reispaste, um daraus frittierte Chips herzustellen. Diese Arbeit muss möglichst schnell an einem sonnigen Tag erledigt werden. 2, 3, 4. Die Sprossen und Blätter im Reispastenmantel werden auf einem Weidentablett arrangiert und zum Trocknen auf die sonnige, luftige Vorratskrugterrasse gebracht. Nach Sonnenuntergang lässt man sie in einem bodenbeheizten Raum weitertrocknen.
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 23
Der Buddhismus wurde zu ihrer Bestimmung, als sie in der Oberschule war. Ihr Herz klopfte, als sie zufällig eine Predigt des Ehrwürdigen Bhikkhu Tanheo (1913-1983) hörte. Der Mönch, der sich der Übersetzung der Tripitaka Koreana, des in 80.000 Holzblöcke geschnittenen buddhistischen Kanons aus dem 13. Jh., gewidmet hatte, war bekannt für seine außerordentlichen Kenntnisse der östlichen Philosophie. Trotz des Widerstands ihrer Familie setzte die 18-Jährige ihren Willen durch: 1968 kam sie nach Jinkwan-sa und schwor der Welt ab, um in den buddhistischen Orden einzutreten. Ihre Lehrerin, die Ehrwürdige Jinkwan, war das Licht, das ihr den richtigen Pfad der Askese wies.
Quintessenz der buddhistischen Küche
„Jetzt scheint die Sonne. Wollen wir einmal hinausgehen?“ Kaum hatte die Äbtissin das gefragt, folgten ihr drei, vier Gläubige aus dem Institut nach draußen. Vor der Plattform, auf der Hunderte von Vorratskrügen mit traditionellen Soßen und Pasten in ordentlichen Reihen standen, befand sich ein langer, mit Kunststofffolie bedeckter Tisch, der an die Festtafel in dem dänischen Film Babettes Fest erinnerte. Auf dem Tisch lagen einige flache Bambustabletts von ca. 2 m Durchmesser, daneben stand eine Paste aus gekochtem Klebreis und normalem Reis. Um die zehn Nonnen, die zum Teil noch recht jung aussahen, schlossen sich uns an, um Bugak (mit Klebreisstärke bestrichene, frittierte Gemüse- oder Seetang-Chips) aus den Trieben des Chinesischen Surenbaums (Toona sinensis) zuzubereiten. Die Nonnen, die sich auf beiden Seiten des Tisches gegenüberstanden, begannen nach der Anweisung der Ehrwürdigen Gyeho die Blätter mit dem Reisbrei zu bestreichen. Die jungen, hellbraunen Blätter des Chinesischen Surenbaums haben im März und April Saison. Früher hätte man sich nicht gefreut, auch wenn man eine ganze Menge
umsonst bekommen hätte, aber mit der steigenden Beliebtheit der Tempelküche haben sie eine Neubewertung erfahren. In buddhistischen Tempeln sind sie seit jeher beliebt. Die im Frühling zu Bugak verarbeiteten Blätter waren bis zum Ende des Winters eine bei allen Tempelbewohnern beliebte Beilage bzw. Snack. Diese Quintessenz der Tempelküche wird zubereitet, indem Gemüse oder Seetang mit Klebreisbrei bestrichen, getrocknet und anschließend leicht frittiert wird. Bugak aus den Sprossen des Chinesischen Surenbaums können nur an sonnigen Tagen zubereitet werden: „Sobald die Blätter mit Reisbrei bestrichen sind, müssen sie zum
Im Frühfrühling treibt der Chinesische Surenbaum leicht lila gefärbte Sprossen (oben). In den buddhistischen Tempeln Koreas werden diese entweder frisch und nur einfach gewürzt gegessen, oder durch Frittieren oder Einlegen in Sojasoße haltbar gemacht. Werden die Sprossen in eine leichte, aus Mehl, Salz, Wasser und roten Peperonistreifen zubereitete Teigmasse getunkt und anschließend ausgebraten, kommt ihr einzigartiges Aroma noch voller zur Entfaltung. (unten)
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Aus Löwenzahnblättern, die im Frühling überall zu finden sind, lässt sich mit einer Marinade aus Sojasoße, Ume-Extrakt, Bambussalz, Sesamöl sowie gerösteten, gesalzenen Sesamkörnern ein knackiger, süß-saurer Salat zaubern (oben). Löwenzahn ist dafür bekannt, die Vitalkraft zu stärken und Entzündungen zu lindern (unten).
Trocknen in die Sonne. Scheint die Sonne nicht stark genug, trocknen sie nicht so schnell. Nach Sonnenuntergang werden sie in einem warmen, bodenbeheizten Zimmer ausgelegt und weiter getrocknet. Die Blätter müssen im frischen Zustand getrocknet werden. Nur so verlieren sie nach dem Frittieren nicht an Farbe und Geschmack.“ Die mit dem klebrigen Reisbrei bestrichenen und getrockneten Blätter werden bis zum Frittieren in einem kühlen Lager oder Kühlschrank aufbewahrt. Die auf diese Weise hergestellten Bugak sind besonders knusprig und so delikat aromatisch, als wären sie mit guter Butter überzogen. Sie sind nicht von so intensivem Geschmack, dass sie sofort den Gau-
men betören, haben aber einen ganz eigenen Reiz, der einen nach mehr verlangen lässt. Mit jedem Stück dieser Seelenspeise fühlt man sich unwillkürlich als besserer Mensch. „Der Akt des Essens ist verbunden mit Leben, Harmonie, tugendhaften Taten und Gnade. Was man zu sich nimmt, formt den Körper und die Persönlichkeit“, sagte die Ehrwürdige Gyeho. Ihre Bugak sind mittlerweile im In- und Ausland bekannt, was zum Teil dem amerikanischen Schauspieler Richard Gere zu verdanken ist, der die von der Äbtissin zubereiteten Chips bei seinem Besuch vor ein paar Jahren besonders gern gegessen haben soll. Die Blätter des Chinesischen Surenbaums können aber auf verschiedene Art und Weise zubereitet werden. Die von der Äbtissin daraus zubereiteten Jeon (Sammelbegriff für im Ei-Mehl-Mantel gebratenes Gemüse, Fleisch und Fisch) sind besonders schmackhaft und aromatisch. Dafür werden die frischen Blätter in einen dünnflüssigen Teig aus Salzwasser und Mehl getaucht und in Öl ausgebraten. Dabei beweist die „Rettich-Ölhand“ ihre Nützlichkeit: Bhikkhuni Gyeho strich damit wiederholt die Pfanne aus und als der flache, runde Teig durchscheinend wurde und vor Öl glänzte, erfüllte ein aromatischer Duft die Küche des Instituts.
Rezepte befreit von Gier
Das nächste Gericht, das Bhikkhuni Gyeho zubereitete, war Geotjeori (Salat-Beilage in pikantem Dressing) aus Löwenzahn. Löwenzahn ist vor allem bekannt dafür, die zerstreute körpereigene Energie wieder zu bündeln und Entzündungen zu hemmen. Er ist eine gute Nahrungsquelle und wächst nahezu überall, sei es auf den Feldern oder am Straßenrand. „Löwenzahn, der den harten Winter überstanden hat, ist eine Quelle der Kraft für uns“, erklärte Bhikkhuni Gyeho. Verspeist wer-
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Auch die minimale Verwendung von Gewürzen ist eine asketische Übung, bedeutet es doch, sich von der Begierde, das Essen noch schmackhafter zuzubereiten, befreit zu haben. 26 KOREANA Sommer 2019
den gewöhnlich die Blätter. Sie marinierte den Löwenzahn mit Sojasoße und Maesil-cheong, einem Extrakt aus jahrelang im Tempel fermentierten Ume-Pflaumen. Der fertige Salat hatte einen angenehm süßen Nachgeschmack, dessen Geheimnis im Birnensaft lag. Bhikkhuni Gyeho erklärte, dass sie Birnensaft statt Zucker sowie Pflaumenextrakt statt Essig verwende. Ihre Rezepte sind simpel, doch die danach zubereiteten Gerichte weisen eine tiefe Geschmacksnote auf. Ob nicht vielleicht Sam Kass, der unter Barack Obama Koch im Weißen Haus war und als Berater für Ernährungspolitik diente, oder der renommierte französische Koch Éric Ripert sie deshalb besuchten, weil sie neugierig auf das dahinter steckende Geheimnis waren? Im März 2019 erhielt sie zudem Besuch von Königin Mathilde von Belgien, mit der sie über die psychische Gesundheit von Jugendlichen und die wichtige Rolle, die das Essen dabei spielt, gesprochen haben soll. Als ich sie nach diesen hohen Besuchen fragte, antwortete sie: „Egal ob im Osten oder Westen: Jeder, der beim Kochen ans körperliche Wohlbefinden denkt, vertritt ähnliche Sichtweisen und sucht entsprechend nach einem natürlichen Geschmack. Mit Sam Kass stehe ich immer noch in Kontakt. Auch er mag den gesunden Geschmack.“ Ihre Worte stehen auch in Zusammenhang mit dem jüngsten Vegetarismus-Boom in den USA und Europa, ein Trend, bei dem vielleicht sogar die koreanische Tempelküche eine Rolle spielen könnte. Die Tempelküche kennt so viele verschiedene Namul-Gerichte (Namul: Gemüse und Wildgewäche) wie Pflanzen in den Bergen wachsen. Die jungen Sprossen der Baumaralie (Kalopanax septemlobus) sind in den Tempeln eine ebenso große Frühlingsdelikatesse wie Löwenzahn. Für die Ehrwürdige Gyeho zählen die Sprossen der Baumaralie zusammen mit denen der Japanischen Aralie (Aralia elata) und Beifuß (Artemisia princeps) zu den besten Wildgewächsen der Frühlingssaison. Die Sprossen der Baumaralie, auf Koreanisch auch „Gaedureup“ genannt, helfen besonders bei Magenproblemen, da sie die Verdauung befördern und den Appetit anregen. Sie sind reich an Eisen und Aminosäuren und sollen die Kniegelenke gesund halten. Doch wie frisch die Zutaten auch sein mögen: Erst die richtige Würze bringt den Geschmack wirklich zur Geltung. Bhikkhuni Gyeho verwendet jedoch nur drei Würzmittel: drei bis fünf Jahre lang gereifte Sojasoße, Sesamöl und Sesamsalz (geröstete, gemahlene Sesamkörner gemischt mit Salz). Auch ihre Rezepte sind einfach: Die Baumaraliensprossen werden gesäubert, blanchiert und mit den drei Gewürzen abgeschmeckt. Bhikkhuni Gyeho erklärte: „Das Rezept muss
einfach sein, dann kann auch unsere Lebensweise einfacher werden. Gerichte die nach komplizierten, aufwendigen Rezepten zubereitet werden müssen, machen unser Leben nur entsprechend komplizierter.“ Auch die minimale Verwendung von Gewürzen ist eine asketische Übung, bedeutet es doch, sich von der Begierde, das Essen noch schmackhafter zubereiten zu wollen, befreit zu haben. Laut der Äbtissin sollte man allerdings beim Marinieren von Namul-Beilagen unbedingt auf eines achten: „Beim Schmoren oder beim Einlegen von Gemüsen sollte Sesamöl ganz zum Schluss hinzugeben werden, bei Namul-Beilagen jedoch als erstes.“ Im Leben werden wir durch die kalten Worte anderer verletzt oder taumeln vor Kummer, weil wir mit etwas gescheitert sind. In solchen Momenten tendieren wir dazu, nach „Soulfood“ zu greifen, um unsere verletzte Seele zu trösten. Ob es auch für Bhikkhuni Gyeho, die ihren Glauben lebt, ein solches „Soulfood“ gibt? Sie sagt, sie erinnere sich ab und zu an die Doenjang-Jjigae, die ihre Mutter früher für sie kochte. Deonjang Jjigae, eine Art Eintopf auf Sojabohnenpastenbasis, ist aber wohl nicht nur für sie, sondern für alle Koreaner Seelennahrung.
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Nahrung für die Seele
„Da wir gerade davon sprechen, wollen wir mal Doenjang-Jjigae kochen?“ Bei den Worten der Äbtissin leuchteten die Gesichter der Gläubigen auf. Nachdem sie bereits den zart duftenden Geotjeori-Löwenzahnsalat, marinierte Baumaralien-Sprossen und knusprige Bugak-Chips und Pfannkuchen aus den Blättern des Chinesischen Surenbaums gekostet hatten, musste ihnen das Institut der Äbtissin als Paradies erscheinen. „Wie schmeckt die Doenjang-Jjigae? Ich habe Sojabohnenpaste verwendet, die fünf Jahre lang im Tempel fermentiert wurde.“ Ihre Jjigae war weniger salzig als die meisten, sondern schmeckte wie die kalten Buchweizen-Nudeln nach Pjöngjanger Art leicht und lecker. Die Unterhaltungen zwischen Bhikkhuni Gyeho und den Gläubigen erinnerten an die Gespräche zwischen Buddha und seinen Schülern. „Was ist Ihr Lieblingsgericht, Ehrwürdige Gyeho?“, fragte jemand. „Seungso ist schon lecker,“ antwortete sie, wobei über ihr Gesicht die strahlende Arglosigkeit eines Kindersmönchs und die Schüchternheit eines jungen Mädchens huschten. „Seungso“, das wortwörtlich „Mönchs-Lächeln“ bedeutet, bezeichnet Nudeln.
3 © Jinkwan Temple
1. Die Ehrwürdige Gyeho bei der Zubereitung von Gemüseeintopf auf Basis einer Sojabohnenpaste, die fünf Jahre in ihrem Tempel fermentierte. Sie erbte die Rezepte für die authentischen Tempelgerichte von ihrer Lehrerin, der verstorbenen Ehrwürdigen Jinkwan, die die kulinarischen Traditionen der Tempelriten gepflegt und modernisiert hat. 2, 3. Suryukjae, der Ritus zur Erlösung aller Kreaturen im Wasser und auf dem Land, wird auf dem Gelände des Tempels Jinkwan-sa abgehalten. Während der Joseon-Zeit (1392-1910) zelebrierte der Tempel den Ritus unter Schirmherrschaft des Königlichen Haushalts. Der Tempel führt das als Nationales Immaterielles Kulturerbe gelistete Ritual bis auf den heutigen Tag durch.
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SPEZIAL 5
Tempelessen: Befreiung von Gier und Täuschung
Ein Mönch und sein Weg des Tees Seit jeher spricht man in buddhistischen Tempeln von „Dabansa“: Tee trinken und Mahlzeiten zu sich nehmen. Im allgemeinen Sprachgebrauch bedeutet das Wort „etwas Gewöhnliches“, eine „Allerweltssache“. Daraus lässt sich schließen, dass Teetrinken genau wie Mahlzeiten integraler Bestandteil des Tempelalltags waren. Park Hee-june Präsident des Verbandes für koreanische Teekultur Fotos Ahn Hong-beom
Mönche beim Pflücken von Tee am Tempel Seonam-sa, der am Fuße des Berges Jogye-san in Suncheon, Provinz Jeollanam-do, liegt. Der Tempel gehört zu den wenigen in Korea, der noch den traditionellen Methoden derTeekultivierung folgt.
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n einem Tempel sind bestimmte Regeln zu befolgen, um die Unbequemlichkeiten, die ein Leben in der Gemeinschaft mit sich bringt, zu reduzieren. Vor allem in den traditionellen buddhistischen Tempeln Koreas, die Seon (Zen)-Meditation als Weg zur Erleuchtung praktizieren, steht Tee im Mittelpunkt aller Rituale. Mit dem Darbieten einer Schale Tee beginnt die Morgenandacht und mit einer Schale Tee wird der buddhistischen Patriarchen gedacht. Die Arbeit des Zubereitens und Anbietens des Tees bzw. der damit Beauftragte wird „Dadu“ oder „Dagak“ genannt, wobei „da“ für „Tee“ steht. Der Teeraum heißt „Dadang“, und die Trommel „Dago“ ruft zur Teestunde. Die Teekultur buddhistischer Tempel geht also über den reinen Genuss hinaus. Der geistige Bereich der Seon-Meditation kommt mit der materiellen Sphäre des Teetrinkens zusammen, um in eine neue geistige Welt zu führen, in der Seon und Tee eins sind. Breite und Tiefe des Lebens in eine alltägliche Schale Tee legen: dafür steht „Dado“, der Weg des Tees.
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Pilgerstätte der koreanischen Teekultur
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Will ein Vogel Rast machen, reicht ihm ein einziger Ast. „Ilji-am“ (Haus aus einem Ast), der Name der zum Tempel Daeheung-sa gehörenden Einsiedelei, hat diese Bedeutung. In dieser Einsiedelei, die sich am südlichsten Ende der Koreanischen Halbinsel an den Hängen des Berges Duryunsan im Kreis Haenam-gun, Provinz Jeollanam-do, befindet, lebte vor mehr als 150 Jahren der Ehrwürdige Mönch Choui, der die koreanische Teekultur wiederbelebte. Im Frühling 1830 saß Choui neben der Kohlenpfanne, auf der das Teewasser kochte, als ihn ein Novize fragte, was „Dado“ bedeute. Als Antwort zitierte der Mönch aus seinem Werk Dasinjeon (Über den Geist des Tees): „Tee sollte mit höchster Sorgfalt und Hingabe hergestellt, trocken gelagert und rein zubereitet werden. Der Weg des Tees wird zur Vollendung gebracht, indem man Sorgfalt, Trockenheit und Reinheit anstrebt.“ Dasinjeon ist eine Kompilation von Auszügen aus dem Buch des Tees in Wan bao quan shu (Enzyklopädie der zehntauschend Schätze), zusammengestellt von Mao Huanwen aus Qing-China (1616-1912). Dieser Klassiker enthält alles Wissenswerte über den koreanischen Tee, vom Pflücken der Teeblätter bis hin zur hygienischen Verarbeitung und Aufbewahrung. Im Sommer 1837 wurde der Ehrwürdige Choui zum zweiten Mal nach der Bedeutung von Dado gefragt, und zwar von Hong Hyeon-ju (1793-1865), dem Schwiegersohn von Joseon-König Jeongjo (reg. 1776-1800). Als Antwort darauf verfasste der Mönch Dongdasong (Ode an den koreanischen
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1. Der Ehrwürdige Yeoyeon (rechts) und sein Schüler, der Ehrwürdige Bomyeong, beim Teepflücken auf der Banya Teeplantage im Kreis Haenam, Provinz Jeollanam-do. Als geistige Erben von Zen-Meister Choui, der in der späten Joseon-Zeit den „koreanischen Weg des Tees“ begründete, setzen sie den Weg des Meisters fort. 2, 3, 4. Frisch geerntete Teeblätter werden, sortiert, in einem gusseisernen Kessel geröstet und gerieben. Dieses Prozess wird zwei oder drei Mal wiederholt. Der Ehrwürdige Yeoyeon (ganz rechts) und seine Schüler verarbeiten die Teeblätter, die auf der Banya Teeplantage in der Nähe des Tempels Daeheung-sa, einer UNESCO Welterbestätte, gepflückt wurden.
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Tee). Hierin lobt er, dass der koreanische Tee Geschmack und medizinische Eigenschaften des chinesischen Tees in sich vereine und fügt hinzu: „Dado bedeutet, Teeblätter und Teewasser miteinander in Einklang zu bringen und so den Weg zur Mitte und Richtigkeit zu finden“. Die Einsiedelei Ilji-am, die Choui 1824 baute und in der er über 40 Jahre lang lebte, brannte nach seinem Tod nieder. Dank der wenigen, die sich noch daran erinnern konnten, wo genau sie einmal stand, wurde sie 1980 unter großen Anstrengungen wieder aufgebaut. Dort verbrachte dann ein Mönch 18 Jahre, in denen er sich Anbau, Zucht und Herstellung von Tee widmete: Es war der Ehrwürdige Mönch Yeoyeon. Über den Weg des Tees erfuhr er zum ersten Mal im Tempel Haein-sa, in dessen Orden er eintrat. Zusammen mit den Meistern der Teekultur wie dem Maler Heo Baek-ryeon und dem Unabhängigkeitsaktivisten und Mönch Choe Beom-sul gehörte er zur ersten Generation derer, die die moderne Teekultur in Korea angeführt haben. Den Tee des Ehrwürdigen Yeoyeon nannte Cheo Beom-sul sogar „Banya-Tee“. „Banya“ ist die koreanische Transliteration des Sanskritwortes „Prajña-“, das für umfassende Weisheit steht. In Teebüchern steht meist, dass die Zeit um den 20. April, wenn der Frühlingsregen fällt, am besten für die Teeherstellung geeignet sei. Der Ehrwürdige Choui betrachtete dagegen die Zeit um den den 5. Mai als angemessen, da die Koreanische Halbinsel auf einem höheren Breitengrad liegt als die Hauptanbaugebiete in China. Der Ehrwürdige Yeoyeon hält sich an den Rat von Choui und beginnt erst nach dem 20. April mit der ersten Ernte auf der Teeplantage Banya.
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„Wenn ich dann die vom Frühlingsnebel beglänzte Schale mit Tee gemächlich an meine Lippen führe, schlagen in meinem Herzen Wellen so grün wie ein Bambuswald unter klarem Himmel.“ 1. Ein Mönch beim Einschenken von Tee in der zum Tempel Daheung-sa gehörigen Einsiedelei Ilji-am, die die Tradition von Zen-Meister Choui fortsetzt. Sauberes Wasser kochen, den Tee mit Wasser von optimaler Temperatur aufgießen und ihn dann in eine Tassse gießen – all diese Schritte verlangen Sorgfalt und Konzentration. 1
Banya-Tee-Gemeinschaft
Im Winter 1996 gründeten Sozialaktivisten aus Haenam die Gruppe Namcheon Dahoe, um vom Ehrwürdigen Yeoyeon mehr über Tee zu lernen. Daraus entwickelte sich eine Gemeinschaft für Teekultur, deren Mitglieder zusammen mit dem Mönch den Weg des Tees und des Buddhismus beschritten. 1997 begannen sie mit der Kultivierung eines Teefeldes, aus dem später die Teeplantage Banya werden sollte. Mit dem Tee aus Blättern vom ersten Erntetag der Saison hielt die Gruppe 2004 Dasinje ab, ein Ritual zu Ehren der Teegottheit, das bis heute ausgerichtet wird. Bei diesem Ritual vergegenwärtigt man sich anhand einer Tasse Tee, dass Himmel, Erde, Mensch und alle lebenden Kreaturen im ewigen Kreislauf des Lebens miteinander verbunden sind und dankt dafür. Die Grüntee-Herstellung umfasst Rösten, Reiben und Trocknen. Der Ehrwürdige Choui stellte fünf Arten her, darunter Blatt-Tee und gepressten Tee. Auch der Ehrwürdige Yeoyeon macht je nach Qualität der Blätter verschiedene Tees. Er betont, dass der ausschlaggebende Faktor beim Rösten nicht die Temperatur des Kessels, sondern vielmehr das Wetter zum Zeitpunkt der Ernte sowie der Wassergehalt der Blätter ist. Die Herstellungsweise müsse dementsprechend angepasst werden. Er stellt hauptsächlich Blatt-Tee und gepressten Tee her, die über Holzfeuer in einem gusseisernen Kessel
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2. Templestay-Teilnehmer im Tempel Naeso-sa, Kreis Buan, Provinz Jeollanam-do, bei einer Teezeremonie.
geröstet werden. Seine überdurchschnittliche Expertise, je nach Zustand der Teeblätter die Stärke des Feuers und die Zeit des Röstens zu regulieren, ist Resultat des Besuchs verschiedener Produktionsstätten im In- und Ausland. Nach dem Rösten kühlt er die Blätter schnell ab und reibt sie leicht. Tee aus Blättern, die schnell abgekühlt wurden, hat einen kräftigeren Grünton. Bei Blättern, die leicht gerieben werden, entfalten sich die natürlichen Geschmackskomponenten langsamer, was den Tee länger genießbar macht. Zudem bleibt die ursprüngliche Blattform besser erhalten, sodass man beim Trinken beobachten kann, wie die Teeblätter quasi zu ihrer ursprünglichen Form aufblühen. Werden die Blätter dagegen zu stark gerieben, werden die natürlichen Bestandteile alle auf einmal freigesetzt, was ein mehrfaches Aufgießen unmöglich macht. Der Ehrwürdige Yeoyeon bemängelt das starke Reiben in der koreanischen Teeherstellung. Die Methode „Neun Mal dämpfen, neun Mal trocknen“ wurde im 19. Jh. für die Herstellung von gepresstem Tee verwendet und ist deshalb nicht für Blatt-Tee geeignet“, sagt er und betont, dass das nicht die traditionelle Art der Teeherstellung in buddhistischen Tempeln sei. Beim Trocknen der Teeblätter müsse man dem natürlichen Prozess folgen. Sobald man sich zu sehr an Zahlen und Regeln klammere, verliere man die wesentlichen Prinzipien der Teeherstellung aus dem Auge. Darüber hinaus stünde generell an erster Stelle, gesunden und gut schmeckenden Tee herzustellen, statt nur traditionellen Wegen zu folgen. Yeoyeon ist bekannt für seine scharfe Zunge, und das nicht nur bei der Teeherstellung vor Ort, sondern auch bei Treffen mit Teeliebhabern. Da sich die koreanische Teekultur aus seiner Sicht ohne gründliche selbstkritische Betrachtung nicht richtig erhalten werden könne, übt er harsche Kritik. Der Mönch, der den Fakten ins Auge schaut, zeigt seine harte Seite, die in starkem Kontrast zur Milde und Tiefe seines Tees steht. Wenn der Ehrwürdige Yeoyeon Kostproben von Tee aus den allerersten Pflückungen im Frühling zubereitet, gibt er die Blätter in eine kleine
Schale, übergießt sie mit heißem Wasser und wartet ein Weilchen, bevor er einen Schluck probiert. Dieser Tee heißt „Tee der Tränen“. Wenn die trockenen Teeblätter mit dem Wasser zusammenkommen und aufquellen, verbreiten sich Duft und Farbe der Blätter in der Schale. Das Aroma erinnert an den Duft weicher Babyhaut, die Farbe ist ein klares Gelbgrün und der Geschmack zart und erfrischend. Der süße Nachgeschmack lässt einen leicht die Augen schließen und den warmen Frühlingssonnenschein, der durch Mund und Körper fließt, genießen. Teeliebhaber beschreiben diesen Zustand, als „Erfrischung aller 84.000 Poren“, und rufen erstaunt aus, dass ihnen „aus beiden Achseln Flügel gewachsen seien“.
Schicksalhafte Begegnung beim Tee
1977 verschlug es mich ins Seouler Viertel Insa-dong, weil ich einfach gerne mit Leuten Tee trinken wollte. Und über 40 Jahre lang bin ich jeden Frühling voller Neugier auf die erste Ernte hinaus zu den Teefeldern geeilt. Der Anblick der grau gekleideten Mönche, die mit Leib und Seele dabei waren, den Tee in gusseisernen Kesseln zu rösten, ist jedes Mal schön und ehrfurchtsgebietend. In einem Jahr fiel mein Blick bei einem Besuch der Teeplantage Daehan in Boseong auf einen Mönch, der am Teich Tee röstete. Es war der Ehrwürdige Yeoyeon, der bei Tagesanbruch die vom Morgentau gewaschenen Teeblätter im Kessel umrührte. Ich verfiel in Gedanken. Ich wollte so wie dieser Mönch leben. Der Duft des Tees, der meinen Körper einhüllte, wenn ich die Teeblätter pflückte und sie in den Kessel legte und erhitzte, oder wenn ich einen Raum, in dem Tee getrocknet wird, betrat, ließ mich Jahr für Jahr von der Teeherstellung träumen. So mache ich mich auch heute noch auf zu den Teefeldern, wenn die Japanischen Blütenkirschen blühen. Dem Ehrwürdigen Yeoyeon begegnete ich 1986 wieder, diesmal im Lu-Yu-Teekulturinstitut in Taiwan, das auch für sein modernes Teehaus 2 bekannt ist. Ich diskutierte gerade mit taiwanesischen Tee-Experten, als ich eine vertraute Stimme hörte. Als ich mich umdrehte, entdeckte ich den Mönch. Er war auf dem Rückweg von Sri Lanka nach Korea und nutzte den Zwischenstopp in Taiwan, um sich über taiwanesische Tees zu informieren. Seine Liebe zum Tee war so groß, dass er selbst den kurzen Stopover dem Tee widmete. Auch als ich ihn zu Teeplantagen wie Hadong, Boseong, Gangjin, Jangheung, Gimhae und auf der Insel Jeju-do begleitete und gemeinsam mit ihm historische Teekultur-Stätten in Japan und China besuchte, steckten stets Tee und Teeschale in seiner Tragetasche.
Wenn da nicht der Tee gewesen wäre, hätten sich unsere Pfade nie gekreuzt. Auch er hätte wohl ein anderes Leben geführt. Der Tee schenkte mir kurze Momente zum Sinnieren über mich selbst und zum Atemschöpfen. Ist das nicht das Prajña-, die große, umfassende Weisheit, die der Tee uns vermittelt? Der BanyaTee des Ehrwürdigen Yeoyeon bringt uns zum Nachdenken darüber, was es heißt, ein achtsames Leben zu führen, eine Mahlzeit und eine Schale Tee zu genießen. 2017, als der Mönch 70 wurde, stellte er seine Teeutensilien aus. Im Vorwort des Ausstellungskatalogs schrieb er: „Wenn der Tee das Herz ist, dann ist die Teeschale das Gefäß, in das das Herz gegeben wird. Wenn ich das Wasser koche, höre ich das einsame Flüstern des Windes, der durch die menschenleeren, ins Mondlicht getauchten Berge weht, und wenn ich den Tee einschenke, wandert mein Herz das Bächlein entlang, um sich auf einem Felsen niederzulassen. Wenn ich dann die vom Frühlingsnebel beglänzte Schale mit Tee gemächlich an meine Lippen führe, schlagen in meinem Herzen Wellen so grün wie ein Bambuswald unter klarem Himmel.“ Und so gewann ich einen Einblick in ein Herz, das sich auf einem Bambusblatt niederließ.
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FOKUS
1 Mit freundlicher Genehmigung von Park Hong-soon
Ssireum wird UNESCO-Kulturerbe Auf Grundlage einer bislang einmaligen gemeinsamen Antragstellung der beiden Koreas wurde Ssireum, der traditionelle koreanische Ringkampf, in die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen. Diese vereinten innerkoreanischen BemĂźhungen lassen auf eine Verbesserung der Beziehungen zwischen dem Norden und dem SĂźden hoffen. Park Hong-soon Freiberuflicher Autor
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desweiten Wettbewerb ausschließlich für jugendliche Ringer.
Historische Belege
Der älteste historische Beleg für Ssireum ist ein Wandgemälde in einem Königsgrab aus der Goguryeo-Zeit (37 v. Chr. 668 n. Chr.), das als Gakjeochong (Grab der Ringkämpfer) bekannt ist. Es befindet sich in der Provinz Jilin im Nordosten Chinas, dem ehemaligen Territorium von Goguryeo. Die dort abgebildeten Ringer halten einander mit verkeilten Schultern am Satba-Stoffgurt gepackt, eine Stellung, die bis heute bei Ssireum-Kämpfen zu sehen ist. Die antike Kampfweise unterscheidet sich also kaum von der heutigen. Die Anfänge von Ssireum lassen sich zwar nicht genau zurückverfolgen, aber allein schon die Tatsache, dass eine Ring-
1. Eine Szene aus einer auf das 5. Jahrhundert datierten Wandmalerei des Gakjeochong (Grab der Ringkämpfer). Die aus der Goyguryeo-Zeit stammende Wandmalerei ist die älteste bekannte Darstellung von Ssireum. Die dargestellte Stellung der Ringkämpfer entspricht der von heute. 2. Ringkampf, Albumblatt von Kim Hong-do (1745–c. 1806); 18. Jh., Tusche und leichte Farben auf Papier, 26,9 × 22,2 cm Diese berühmte Genremalerei von Kim Hong-do, einem Hofmaler der Späten Joseon-Zeit, zeigt Adlige, gemeine Bürger und Kinder, die sich bei einen Ringkampf vergnügen. Die Zeichnung weist eine ausgewogene Kreiskomposition auf, Gestik und Mimik der Zuschauer sind lebendig zum Ausdruck gebracht.
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© National Museum of Korea
sireum ist ein alter, nur in Korea verbreiteter Ringstil und eine traditionelle Sportart. Die Ringkämpfer tragen einen „Satba“ genannten Stoffgurt um Hüfte und Oberschenkel geschlungen, den sie fest packen, um den Gegner zu Fall zu bringen. Bei einem Kampf wird es als Sieg gewertet, wenn ein oberhalb des Knies befindlicher Körperteil des Gegners den Sand berührt. Die Ssireum-Kämpfe, die innerhalb eines kleinen, mit Sand ausgestreuten Kreises ausgetragen werden, verlangen nicht nur schnelle Reaktionsfähigkeit, Ausdauer und geschickte Koordination des ganzen Körpers, insbesondere der Hände, Füße und des Rückens, sondern auch körperliche und geistige Belastbarkeit. Für die Koreaner ist Ssireum aber mehr als nur ein traditioneller Volkssport. Die Wettkämpfe sind schon seit alter Zeit fester Bestandteil aller besonderen Tage im Jahresreigen und waren Auftakt jedes Fest- und Feiertages nach Lunarkalender. Früher nahmen alle Dorfbewohner daran teil, sei es als Wettkämpfer oder Zuschauer. In vielerlei Hinsicht kommt Ssireum aber auch eine soziale, die Gemeinschaft fördernde Bedeutung zu, die über Fähigkeiten oder Vorlieben des Einzelnen hinausgeht. Deshalb überdauerte der Sport selbst die erste Hälfte des 20. Jhs., als Korea seine Souveränität verlor und unter der kolonialen Unterdrückung stöhnte. Landesweite Wettbewerbe zogen sich oft über einen ganzen Monat hin und spielten eine große Rolle zur Bewahrung der ethnischen und kulturellen Identität der Koreaner. Erst in der Endphase der Kolonialherrschaft gab es ein Verbot von Seiten der japanischen Kolonialverwaltung. Auch nach der Befreiung und der darauf folgenden Teilung des Landes blieb Ssireum im Norden wie im Süden als gemeinsames traditionelles Erbe des koreanischen Volkes erhalten. Noch vor der Gründung der Regierung der Republik Korea wurde Ssireum im Süden zur offiziellen Disziplin nationaler Sportwettkämpfe bestimmt und bis heute werden jährlich auf regionaler und nationaler Ebene verschiedene Wettbewerbe ausgetragen. Die Sportart ist zwar nicht mehr ganz so verbreitet wie früher, es gibt aber nach wie vor an vielen Schulen des Landes Ssireum-Clubs und Enthusiasten bilden Regional- und Firmenteams. In Nordkorea spielt Ssireum als wichtige Nationalsportart und als Freizeitsport ebenfalls nach wie vor eine wichtige Rolle. Während der Feiertage zum Erntedankfest Chuseok findet auch in Nordkorea jedes Jahr im Herbst ein landesweiter Wettbewerb statt und auf Dorfebene werden am Dano-Tag (5. Mai nach Lunarkalender) Wettkämpfe veranstaltet. Am internationalen Kindertag, der am 1. Juni gefeiert wird, gibt es einen weiteren lan-
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Der Eintrag von Ssireum als Immaterielles Erbe der Menschheit könnte ein praktischer Anlass sein, über das vage Gefühl der Zusammengehörigkeit als ein Volk hinaus einen Prozess hin zu wahrhafter Versöhnung und Einheit in die Wege zu leiten. kampf-Szene einen beträchtlichen Teil einer Wandmalerei aus dem 5. Jh. einnimmt, weist darauf hin, dass sich seine Beliebtheit noch weiter zurückverfolgen lässt. Vor allem zeigt das Wandbild, dass Ssireum in der alten koreanischen Gesellschaft mehr als nur eine Sportart war: Der auf der linken Seite abgebildete Baum ist nämlich ein „heiliger Baum“ von der Art, wie er in vielen frühen Zivilisationen überall auf der Welt verehrt wurde. Dieser „Baum des Lebens“ symbolisierte die Quelle allen Lebens und die Verbindung zwischen Himmel und Erde, während die Vögel auf den Ästen als Mittler zwischen Diesseits und Jenseits fungierten. Daraus lässt sich schließen, dass ein Ssireum-Kampf neben einem heiligen Baum mehr war als ein reines Sportereignis: Es war ein gesellschaftliches Ritual. Dazu noch lehnen sich ein Tiger und ein Bär an den Baumstamm. Diese beiden Tiere wiederum sind die Hauptfiguren im Gründungs-
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mythos des ersten koreanischen Königreichs. Da Ssireum auch in vielen anderen alten Grabmalereien dargestellt wird, ist anzunehmen, dass es selbst in den oberen Schichten der Gesellschaft einschließlich Königsfamilie und Adel beliebt war, was allerdings nicht bedeutet, dass es nur von einer bestimmten Gesellschaftsschicht ausgeübt worden wäre. So weisen z.B. Kleidung und Frisuren der Ringer keine Merkmale auf, die auf einen hohen gesellschaftlichen Status rückschließen ließen, d.h. Ssireum scheint auch beim einfachen Volk beliebt gewesen zu sein. Laut dem Samguksagi (Geschichte der Drei Königreiche), einer wichtigen historischen Quelle aus dem Jahr 1145, sollen im Silla-Reich (57 v. Chr. – 654 n. Chr.) Kronprinz Kim Chun-chu und der Adlige Kim Yu-sin im Ssireum gegeneinander angetreten sein. Nach dem Goryeosa (Geschichte des Goyryeo-Reichs), einer weiteren, 1451 fertiggestellten Quelle, war Ssireum im frühen 14. Jh. auf allen Sprossen der Gesellschaftsleiter vom König bis hinunter zu den Vasallen und Soldaten beliebt. Zu jener Zeit stand das Goryeo-Reich unter der Vorherrschaft der Mongolen, was darauf hindeutet, dass die Verfasser der Geschichte des Goryeo-Reichs darum bemüht waren, die Identität und innere Einheit des koreanischen Volkes durch den traditionellen Sport zu betonen und zu festigen.
Solidarität des Gemeinwesens
Ssireum, eine Tuschezeichnung des Hofmalers Kim Hong-do (1806?-1814?) aus dem 18. Jh., belegt ebenfalls die gesellschaftliche Funktion des Ringkampfes, die Angehörigen der verschiedenen Gesellschaftsschichten über die Schranken von Klasse und Altersgruppen hinweg zu verbinden. Diese bei den Koreanern heutzutage bekannteste historische Ssi-
1. Jo Myong-jin feiert seinen Sieg beim 12. Großen Nationalen Bullenpreis-Ssireum-Turnier, das im September 2015 in dem auf der Insel Rungra in Pjöngjang gelegenen Stadion 1. Mai stattfand. Ein Bulle ist seit jeher der Siegespreis bei Ssireum-Wettkämpfen. 2. Zwei Ringer versuchen beim Korea Open Ssireum Festival, das am 26. November 2018 in der Sporthalle Andong veranstaltet wurde, einander niederzuzwingen. An diesem Tag beschloss die UNESCO, den Traditionellen Koreanischen Ringkampf in die Repräsentative Liste des Immateriellen Kulturerbes aufzunehmen. Dem ging der bis dahin erste, von den beiden Koreas gemeinsam gestellte Antrag auf Registrierung voraus.
© Yonhap News Agency
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der Gemeinschaft zu befestigen.“ Weiterhin heißt es: „Die gemeinsame Eintragung markiert einen hochsymbolischen Schritt auf dem Weg zur Aussöhnung zwischen den beiden Koreas“.
Ein symbolischer Schritt
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reum-Darstellung hat den Moment, der über Sieg oder Niederlage entscheidet, lebendig eingefangen. Der Ringer im Hintergrund wendet eine Handtechnik an, um das Bein des Gegners zu packen und ihn umzustoßen, während der Ringer im Vordergrund den Körper des Rivalen hochhebt, wobei er die Kraft seines Rückens nutzt, um ihn zu Boden zu werfen. Auch die Zuschauer sind aufschlussreich: In einer Zeit, in der ein undurchlässiges feudales Klassensystem herrschte, ist der Anblick von Adligen und Gemeinbürgern sowie Erwachsenen und Kindern, die nebeneinander sitzend den Wettkampf genießen, recht außergewöhnlich. Am 26. November 2018 wurde Ssireum auf der 13. Tagung des Zwischenstaatlichen UNESCO-Ausschusses für die Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes in Port Louis, Mauritius, mit einstimmiger Billigung der 24 Mitgliedstaaten in die Repräsentative Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen. Der offizielle Eintrag lautet „Traditional Korean Wrestling, Ssirum/Ssireum“ (Traditioneller koreanischer Ringkampf, Ssirum/Ssireum). Es ist der allererste gemeinsame Eintrag für die beiden Koreas. Bei der Eintragung wurde die oben erwähnte gesellschaftliche Bedeutung des Sports sowie die Tatsache anerkannt, dass Ssireum-Ringkämpfe im Norden wie im Süden der Koreanischen Halbinsel seit rund 1.600 Jahren in unveränderter Form ausgetragen werden. Das UNESCO Komitee konstatierte: „Basierend auf ihren jeweiligen regionalspezifischen Gegebenheiten haben die verschiedenen Regionen unterschiedliche Ssireum-Varianten entwickelt, aber allen gemeinsam ist die Funktion, Zusammenhalt und Zusammenarbeit innerhalb
Über die letzten sieben Jahrzehnte haben Süd- und Nordkorea unterschiedliche Gesellschaftssysteme aufgebaut und politisch sowie militärisch einen Konfrontationskurs verfolgt, was dazu führte, dass © Yonhap News Agency sich gesellschaftliche Einrichtungen und Praktiken auf beiden Seiten unterschiedlich entwickelt haben. Angesichts dieser Gegebenheiten könnte der Eintrag von Ssireum als Immaterielles Erbe der Menschheit ein praktischer Anlass sein, über das vage Gefühl der Zusammengehörigkeit als ein Volk hinaus einen Prozess hin zu wahrhafter Versöhnung und Einheit in die Wege zu leiten. Gemeinsame koreanische Mannschaften sind bereits bei einigen internationalen Wettbewerben für Sportarten wie Tischtennis, Jugendfußball und Eishockey angetreten, aber in den meisten Fällen waren es einmalige Angelegenheiten. Abgesehen von Freude und Schmerz über Sieg bzw. Niederlage gab es deutliche Grenzen in Bezug auf dauerhaftere emotionale Bindungen unter den Athleten aus Nord und Süd. Zwischen den zuständigen Behörden und Sportorganisationen aus Nord- und Südkorea laufen bereits Gespräche über die Organisation eines gemeinsamen Ssireum-Wettbewerbs. Wenn sich die beiden Koreas auf regelmäßig stattfindende Wettkämpfe der Bürger aus Nord und Süd, seien es nun Profis oder Amateure, einigen könnten, wäre das ein großer Schritt in Richtung Frieden und Versöhnung. Um solchen Bemühungen ein größeres Momentum zu verleihen, könnten auf der gesamten Koreanischen Halbinsel Vorentscheidungskämpfe ausgetragen werden, an denen jeder teilnehmen kann, egal ob Profi oder Amateur. Danach könnten die Regionalsieger gegeneinander antreten, um den Champion in der jeweiligen Ssireum-Kategorie festzustellen. Zudem könnten die beiden Koreas gemeinsame Anstrengungen unternehmen, um Ssireum als Spiel und Sportart für jedermann weltweit bekannt zu machen.
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INTERVIEW
Lee Jung-sung, Installationsingenieur für den Videokünstler Nam June Paik, posierte 2010 vor M200, einer im Tri-Bowl im Songdo Central Park in Incheon aufgestellten Installation. Die 1991 errichtete Videowand besteht aus 94 Monitoren. Sie ist 3,3m breit und 9,6m hoch. © News Bank
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Die „Hände“ von Nam June Paik Nam June Paik, der Vater der Videokunst, starb schon vor rund zehn Jahren, aber auch heute noch ist Lee Jung-sung damit beschäftigt, sich um die Hinterlassenschaften dieses Virtuosen zu kümmern, sie instand zu halten und zu pflegen. 1988, als die beiden einander kennen lernten, betrieb Lee in Seoul ein Elektrogeschäft. Fast zwei Jahrzehnte lang arbeitete er in seiner Funktion als Projekttechniker engstens mit Paik zusammen. Lim Hee-yun Reporterin für Kultur, The Dong-a Ilbo Fotos Heo Dong-wuk
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inter Nam June Paik, dem ersten Videokünstler der Welt, stand Lee Jung-sung. Ihr erstes Kollaborationsprodukt war ein Turm aus 1.003 Fernsehgeräten mit dem Titel The More the Better (1988). In den darauf folgenden 18 Jahren, in denen Lee als Techniker für die Installation von Paiks Videokunstwerken zuständig war und die beiden gemeinsam durch die Welt zogen, wurde er Paiks engster Mitarbeiter und Inspirator. Man könnte sagen, dass Nam June Paiks Gehirn sich „auf den Flügeln von Lee Jung-sungs Händen“ in die Lüfte schwang und Lee Jungsungs „Hände dank Nam June Paiks Gehirn“ Erstaunliches schaffen konnten. Ich besuchte Lee in seinem „Studio cum Büro“ im sechsten Stock von Sewoon Sangga, einem in Jong-ro 3-ga in der Seouler Innenstadt gelegenen Geschäftskomplex am Fluss Cheonggye-cheon. Sein Schreibtisch stand am Ende eines langen Raums mit Regalen voller alter Fernsehapparate, Fernsehbauteile und Bücher über Nam June Paik. Die Hände, die Paiks The More the Better zusammengebaut hatten, umschlossen meine warm.
Aufkeimendes Vertrauen
Lim Hee-yun: Seit wann arbeiten Sie hier in Sewoon Sanga? Lee Jung-sung: Der Bau dieses Großmarktkomplexes wurde 1968 abgeschlossen, aber ich war schon seit 1961 hier in der Gegend. Damals drängten sich in den provisorischen Gebäuden, die sich vom Königlichen Ahnenschrein Jongmyo
bis Toegye-ro aneinanderreihten, Läden und Werkstätten, die allerlei Ramsch und elektronische Bauteile verkauften. Meine Arbeit im Elektronikbereich begann mit dem Vakuumröhren-Radio, das einem meiner älteren Brüder gehörte. Damals lebten wir in Busan. Lim: Sie haben also vom Radio- zum Fernsehapparat gewechselt. Wann sind Sie nach Seoul gekommen? Lee: Schon von klein auf war ich geradezu besessen vom Radio meines Bruders. Ich zog mir die Decke über den Kopf und ließ es die ganze Nacht laufen, während ich schlief. Da wir uns nicht ständig neue Batterien leisten konnten, bekam ich oft etwas von meinem Bruder zu hören. Das Radio faszinierte mich so sehr, dass ich es schließlich öffnete und alle Teile genau inspizierte. Ich verkündete meiner Familie: „Das muss ich lernen!“ Meine ältere Schwester lebte zu der Zeit in einem Mietzimmerchen in Yeongdeungpo, einem Stadtteil, der damals noch am Stadtrand von Seoul lag. Ich sagte zu ihr „Es macht mir auch nichts aus, auf der kleinen Holzveranda zu schlafen. Es reicht, wenn du mir was zu essen gibst und ich im Trockenen bin.“ So blieb ich bei ihr. Ich muss so um die 18 gewesen sein, als ich anfing, das Gukje TV-Institut in Euljiro 2-ga zu besuchen. Nachdem ich dort fleißig gelernt hatte, fand ich Arbeit in Sewoon Sangga. Zu der Zeit gab es in einem Durchschnittshaushalt noch keinen Fernseher. Es war ja noch vor der Gründung der TV-Sparte von KBS, der ersten Rundfunkanstalt des Landes. Die Wohlhabenderen kauften sich einen Fernseher und schauten AFKN (Ameri-
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can Forces Korean Network). Ich begann, diese TV-Apparate anzuschließen und zu reparieren. Lim: Wie haben Sie Nam June Paik kennengelernt? Lee: Bevor ich dazu komme, muss ich etwas vorausschicken. 1986 wurde in Korea die erste Messe für Haushaltsgeräte veranstaltet. An der Stelle im Seouler Stadtviertel Samseong-dong, wo heute der COEX-Komplex (Convention and Exhibition Center) steht, wurde damals die Seoul International Trade Fair eröffnet. Auf dieser Handelsmesse fochten Samsung und LG einen heißen Konkurrenzkampf aus. Sie lieferten sich einen Schlagabtausch der Ideen, natürlich unter strengster Geheimhaltung, um bei der Eröffnungszeremonie das innovativste Display zu präsentieren. Samsung beauftragte mich damals mit der Installation einer „TV-Wand“. Ich schaffte es, in relativ kurzer Zeit eine Wand aus 528 Fernsehern zu bauen, was dazu führte, dass ich mit den Displays für alle großen Samsung Electronics Filialen in Seoul beauftragt wurde. Dann kam 1988. Nam June Paik suchte nach einem Techniker, der ihm beim Aufbau von The More the Better helfen sollte. Letztendlich kontaktierte er mich wegen meiner Arbeit für Samsung. Er fragte, ob ich eine TV-Wand mit 1.003 Geräten herstellen könnte. „Ja, kann ich“, sagte ich, denn ich dachte bei mir: „Ich habe eine mit 528 Geräten gemacht, wieso sollte es mit der doppelten Anzahl nicht möglich sein?“ Damals hatte ich noch keine Ahnung, was für eine namhafte Persönlichkeit Nam June Paik war oder was für eine immense Schande es auf der globalen Bühne
sein würde, wenn das Projekt daneben gehen würde. Es heißt doch, dass man am mutigsten ist, wenn man gar nichts weiß. Lim: Sind die Arbeiten für The More the Better reibungslos verlaufen? Lee: Nam June beauftragte mich damit, die 1.003 Fernseher zu installieren und verschwand dann mit der Bemerkung „Mach gute Arbeit!“ nach Amerika. Er war ein Mensch, der, wenn er einmal jemandem vertraute, im hundertzwanzig Prozent vertraute. Zu der Zeit war die größte Herausforderung bei einer solchen Mammut-Installation von Fernsehgeräten die Videoverteilung. Selbst in Japan gab es damals nur Verteiler, mit denen sich Videos auf sechs Fernsehgeräte gleichzeitig übertragen ließen. Ein einziger kostete außerdem sage und schreibe 500 Dollar, was damals eine Menge Geld war. Deshalb habe ich mir meine eigenen Komponenten zusammengebastelt. Letztendlich funktionierten die 1.003 Fernseher einwandfrei zu dem für die Live-Übertragung abgemachten Termin. Es war das wunderbarste aller Gefühle! Auch Nam June schien sehr überrascht gewesen zu sein. Denn als er später nach Korea zurückkehrte, gestand er mir einmal: „Um ehrlich zu sein, habe ich gedacht, dass es schon ein großer Erfolg sein würde, wenn nur die Hälfte der Geräte funktionieren würden.“ Und dann sagte er: „Ich habe da noch einen Auftrag in New York. Könnest du den übernehmen?“ Und ich antwortete: „Natürlich, warum nicht?“ Das Werk war Fin de Siècle II, das 1989 im Whitney Museum in New York installiert wurde.
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Danach schickte er mich in die Schweiz, wo ich mich nicht einmal verständigen konnte. Innerhalb einer Woche musste ich 80 Fernsehgeräte aufstellen. Wegen meiner riesigen Tasche voller TV-Bauteile und Werkzeuge gab es am Flughafen Zürich Probleme bei der Zollabfertigung. Ich stritt mich mit dem Zollbeamten auf Koreanisch herum, wobei ich Hände und Füße zu Hilfe nahm. Es gelang mir dann, die Galerie zu überreden, mich auch nach Ende der Öffnungszeit noch weiter arbeiten zu lassen. In weniger als fünf Tagen war ich fertig, sodass ich sogar noch Zeit für Besichtigungen hatte. Das war der Moment, als Nam June begann, wirklich an meinen Schneid und meine Findigkeit zu glauben.
Ideenaustausch
Lim: Nam June Paik war ein Künstler und Sie sind ein Techniker. Gab es denn keine Kommunikationsprobleme in Bezug auf die Arbeit? Lee: Als ich mit ihm arbeitete, gab es nie so etwas wie offizielle Baupläne oder Skizzen. Wir haben viel Zeit in Restaurants und Cafés verbracht. Überall auf der Welt saßen wir stundenlang zusammen, diskutierten über Dinge und zeichneten unsere Ideen auf die Servietten und Papiertischdecken von Restaurants. Manchmal malten wir auch auf Plattenhüllen oder Zigarettenpapier. Die hingekritzelten Schaubilder und Erklärungen sahen fast so aus wie die Zifferntabellen, die Spione in Filmen verwenden. Aber das war okay so, denn ich war ja der einzige, der sie verstehen musste.
1. Dieses Foto von 1994 zeigt Nam June Paik und Lee Jung-sung beim Testen einer frühen Version von Megatron/Matrix in Paiks Seouler Büro. 2. Eine für Nam June Paiks Arbeiten eingereichte Planskizze für die 1993 in Wien veranstaltete Biennale. Paik, der bei dieser Biennale Deutschland vertrat, wurde mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. 3. Eine Zeichnung, die Nam June Paik als Geschenk für Lee Jungsung anfertigte. 4. Das Grobkonzept für Megatron/Matrix (1995), das Nam June Paik in einem Café in der Nähe des Bahnhofs von Montparnasse auf eine Papiertischdecke zeichnete. Die erste Megatron/ Matrix ist in Besitz des Smithsonian American Art Museum in Washington, D.C., die zweite befindet sich im Seoul Museum of Art und die dritte im Seoul Olympic Museum of Art. 5. Tower (2001), 2018 ausgestellt im Rahmen von LETTRES DU VOYANT: Joseph Beuys x Nam June Paik im HOW Art Museum, Shanghai. Lee Jung-sung brauchte zwei Wochen, um Paiks Arbeiten für diese Ausstellung aufzubauen.
5 Mit freundlicher Genehmigung von Lee Jung-sung
Die Geburtsstunde vieler seiner Werke schlug, wenn er sagte: „Erinnerst du dich noch an das, worüber wir im Café in Frankreich gesprochen haben? Sollen wir das probieren?“ Oder: „Probieren wir doch mal das, worüber wir in New York geredet haben!“ Auch die Idee zu Megatron/Matrix (1995), einer Videoinstallation aus kleineren Videoclips und größeren Bewegtbildern, entstand auf ähnliche Weise. Da war gerade eine Ausstellung im Centre Pompidou in Paris zu Ende gegangen und es gab einen Empfang. Wir bastelten uns die Entschuldigung zusammen, dass wir uns nicht wohl fühlen würden, und verabschiedeten uns vom Präsidenten des Zentrums. Dann gingen wir schnurstracks zu einem Café in der Nähe des Montparnasse-Bahnhofs und setzten uns dort auf den besten Platz. Von unserem Tisch aus blickten wir direkt auf das damals größte Neon-Reklameschild in Europa. Wir hatten einen Tisch am Fenster, den wir nur durch ein großzügiges Trinkgeld, das wir der Bedienung vorab zugesteckt hat-
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ten, ergattern konnten. Da saßen wir beide dann, schauten aus dem Fenster und kamen auf die Idee für Megatron/Matrix. Lim: Sie haben als Techniker angefangen. Wie konnten Sie die kreative Welt von Nam June Paik verstehen, wo doch selbst manche Kunstschaffende der Zeit ihm nicht ganz folgen konnten? Lee: Lassen Sie mich umgekehrt fragen: Verstehen Sie die Gemälde von Picasso? Es gibt keine richtige Antwort, wenn es darum geht, Kunstwerke zu verstehen. Es gibt auch keinen Grund, sich darüber zu wundern, warum die Leute ein bestimmtes Kunstwerk mögen. Es reicht doch, wenn man bei sich denkt, „das ist aber interessant“ oder „das sieht aber gut aus“. Am Anfang folgte ich auch nur Nam Junes Anweisungen. Aber irgendwann habe ich begonnen, meine Ideen offen vorzuschlagen. Wenn ich ihn fragte, wie es wäre, dies oder jenes hinzuzufügen, antwortete er: „Hey, Kerlemann, das hättest du gleich am Anfang sagen sollen!“ Da wurde mir klar: „Schau einer an, wenn ich gleich zu Beginn mit Vorschlägen komme, ist er bereit, sie anzunehmen“. Die Ratschläge, die ich ihm mit Blick auf das Umfeld der Ausstellungsräumlichkeiten und der jeweiligen technischen Einschränkungen gegeben habe, hat er immer bereitwillig angenommen. Durch diesen freien Meinungsaustausch konnte ich gemeinsam mit ihm in seine Kunstwlt eintauchen. Wenn wir zusammen ins Ausland gingen, redeten wir ganze Nächte hindurch. Wenn wir Koreatown in New York besuchten, reservierte er in einem Restaurant einen Tisch für sechs Personen. Wir gingen nur zu zweit hin, bestellten aber genug für sechs oder sogar acht Leute und plauderten bis vier oder fünf Uhr morgens. Da er normalerweise erst gegen Mittag aufstand, war es für ihn völlig normal, in der Nacht zu arbeiten, selbst um zwei oder drei Uhr früh leuchteten seine Augen noch hell und klar. Lim: Worüber haben Sie sich denn so lange unterhalten? Was für ein Mensch war Nam June Paik? Lee: Wir sprangen wie Pingpongbälle von einem Thema zum anderen. Wir redeten darüber, wie seine alten Klassenkameraden jetzt lebten oder wie sich die Politik in Korea entwickelte, und dann fragte er plötzlich aus heiterem Himmel „Um was geht es eigentlich in Park Kyung-nis Roman Land?“ Er besaß ein umfangreiches Wissen über alles, was in Korea gerade vor sich ging, da er tagtäglich verschiedene Zeitungen las. Tatsächlich stammte ein Großteil seines umfassenden Wissens aus Zeitungen. Es war eine meiner Aufgaben, ihn jeden Tag mit einem Stapel Zeitungen zu versorgen, darunter die New York Times, die Washington Post und alle koreanischen Zeitungen. Und er las sie wirklich alle sorgfältig durch.
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Erhaltung und Restaurierung
Lim: Es ist schon lange her, dass die TV-Geräte von The More the Better im Nationalmuseum für Moderne und Zeitgenössische Kunst ausgeschaltet sind. Angesichts der widersprüchlichen Meinungen, die in der Kunstwelt über die Methoden der Restaurierung wie z.B. den Austausch der Monitore vertreten werden, scheint man in einer Sackgasse zu stecken. Lee: Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Die erste wäre, die TV-Geräte mit den Braunschen Röhrenbildschirmen ganz zu ersetzen. Das ist in der Praxis jedoch nicht so einfach, da es sich um eine 19 Meter hohe Pyramide handelt. Alleine schon die Stützbalken und das Gerüst aufzustellen wäre ein immenses Stück Arbeit. Ich persönlich bin dafür, die alten Röhrenbildschirme durch LCD-Bildschirme zu ersetzen. Das Gegenargument ist, dass die LCD-Flachbildschirme die gebogenen Linien der Braunschen Röhrenbildschirme ruinieren und damit das Originalwerk zerstören. Da bin ich aber anderer Meinung. Denn bei Medienkunst befindet sich der Geist des Künstlers ja in der Software und nicht in der Hardware, oder? Seoul Rhapsody (2001) im Seoul Museum of Art wurde ja z.B. auch mit Flachbildschirmen hergestellt. Als Nam June The More the Better schuf, verwendete er die Monitore mit Braunschen Röhren ja nicht deshalb, weil er sie mochte. Zu der Zeit gab es halt keine anderen, deshalb musste er sie benutzen. Deshalb bin ich nicht der Meinung, dass ein Austausch das Originalwerk beeinträchtigen würde. Folgt man dieser Logik, muss man sich auch gegen die Restaurierung von Gemälden aussprechen. Von Leonardo da Vincis Abendmahl im Dominikanerkloster Santa Maria delle Grazie in Mailand waren ja vor der Restaurierung, die sich über viele Jahre hinzog, teilweise auch nur noch die Umrisse übrig. Wäre es auch in dem Fall richtig gewesen, gegen die Restaurierung zu argumentieren? Ich habe Nam June einmal gefragt, was wir machen sollten, wenn die Fernseher später nicht mehr funktionieren würden. Seine Antwort war: „Einfach durch welche ersetzen, die zu dem Zeitpunkt gerade gut sind.“ Wenn Nam June die Diskussionen, die heute darüber geführt werden, hören könnte, würde er nur lauthals lachen. In einigen Kreisen ist man sogar der Ansicht, dass die ganze Installation auseinander genommen werden sollte, aber wenn wir das machen, werden wir nur zum Gespött der internationalen Gemeinschaft. Lim: Gibt es viel Arbeit in Zusammenhang mit dem Erhalt von Nam June Paiks Werken? Und gibt es etwas, was Sie daneben noch machen? Lee: Vor kurzem habe ich in Gyeongju an der Restaurierung
Lee Jung-sung in seinem Studio in Sewoon Sangga, einer Ladenpassage in der Seouler Innenstadt. Sein Studio ist voller alter Fernsehgeräte und Elektronikteile, die er gesammelt hat. Lee sagt, dass er ein-, zweimal pro Monat einen Traum hat, in dem er mit Nam June Paik zusammenarbeitet.
von 108 Agonies (1998) gearbeitet. Es war so beschädigt, dass ich eine ganze Woche dafür gebraucht habe. Ich habe auch an Fractal Turtleship (1993) im Daejeon Museum of Art gearbeitet. Vor kurzem war ich im Whitney Museum in New York, um bei den Konservierungsarbeiten für Fin de Siècle II zu helfen. Daneben berate ich junge Künstler, hin und wieder gebe ich auch Vorträge. In diesem Herbst gibt es eine große Nam June Paik Retrospektive im chinesischen Nanjing. Da muss ich wohl auch mit Hand anlegen. Nicht zu vergessen das Ordnen seines Archivs, in das mein ganzes Herzblut fließt. Lim: Das YouTube-Zeitalter ist jetzt voll in Schwung. Wie blicken Sie hier und heute auf Nam June Paiks Kunst zurück? Lee: Er musste Berge von Schulden anhäufen, um innovative
Kunstwerke zu schaffen. Mit der heutigen Technologie hätte er sicherlich eine Menge wirklich ungewöhnlicher Arbeiten kreiert. In seinen späteren Jahren hat er die Videokunst aufgegeben und einen Versuch mit Laserkunst gestartet, aber der Kostenaufwand war einfach zu hoch. Er konnte sich gerade mal Militärlaser leisten. Wenn Laser und LED bereits zu den Hochzeiten seines Schaffens einsatzfähig gewesen wären, hätten wir wahrscheinlich noch einmal einen Nam June Paik ganz anderer Dimension kennen gelernt. Lim: Denken Sie auch heute noch manchmal an die Zeiten Ihrer Zusammenarbeit mit Nam June Paik zurück? Lee: Natürlich. Ich war nur ein Techniker, aber da ich zusammen mit Nam June an seinen Kunstwerken arbeiten konnte, habe ich ein Leben geführt, über das ich wirklich nicht klagen kann. Um ehrlich zu sein, treffe ich ihn auch heute noch ein, zwei Mal im Monat in meinen Träumen und dann arbeiten wir zusammen. In meinen Träumen arbeiten wir aber nie an Projekten, die wir in der Vergangenheit unternommen haben. Vielleicht lebt ja Nam Junes Hartnäckigkeit, mit der er stets auf der Suche nach Neuem war, immer noch weiter.
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KUNSTKRITIK
Ästhetischer Organismus aus Beton
Inspiration für das Design war die schiere Intensität des Ortes. Dem Architekten wurde bewusst, dass in der Stille der am östlichen Ende des koreanischen Territoriums gelegenen Insel Ulleung-do die Bewegungen der Sterne, des Mondes und der Sonne sowie die geschwungenen Linien des Horizonts noch intensiver wirken. Ganz automatich kam ihm die Idee für eine Gebäudestruktur in Form eines astronomischen Instruments, das die natürlichen kosmischen und terrestrischen Phänomene enthält. Lim Jin-young Präsidentin von OPENHOUSE SEOUL, Architekturjournalistin
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uf die Insel Ulleung-do zu kommen, ist nicht einfach. Von Seoul aus braucht man sieben Stunden mit Zug und Fähre. Wegen des rauhen Wellengangs können die Schiffe oft nicht ablegen, sodass die Insel an etwa 100 Tagen im Jahr unerreichbar ist. Doch ihre urwüchsige Landschaft ist die Reisestrapazen wert. Die massiven Felsen vermitteln jedem Besucher, der zum ersten Mal seinen Fuß auf die Insel setzt, das Gefühl, Zeit und Raum zu überschreiten. Der 430m emporragende Berg Chu-san auf der Meeresklippe im Nordwesten von Ulleung-do ist der landschaftliche Höhepunkt. Von dort aus kann man Meer und Berg, Aufund Untergang der Sonne sowie den Lauf des Mondes und der Sterne so nah und lebendig erleben, dass man ins Staunen gerät. Auf einer ins Meer abfallenden Klippe liegt Healing Stay Kosmos. Das vom dem Architekten Kim Chanjoong entworfene Resort öffnete 2018. Es besteht aus zwei Bereichen: der „Villa Kosmos“ mit privatem Pool, die tornadogleich von sechs Flügeln eingerahmt ist, und der „Villa Terre“, einem Gebäude im Ferienwohnungstil, bei dem fünf gewölbeartige Abschnitte wellenförmig miteinander verbunden sind. Das britische Lifestyle- und Design-Magazin Wallpaper* hat dieses ungewöhnliche Bauwerk zum „Best New Hotel“ für die „Wallpaper* Design Awards 2019“ gekürt.
Sechs Landschaften
© Kim Yong-kwan
Die Insel Ulleung-do liegt 217 km entfernt von der Hafenstadt Pohang an der Ostküste. Im nordwestlichen Teil der Insel steht Kim Chanjoongs sensationales Werk Healing Stay Kosmos in perfekter Einbettung in die natürliche Umgebung auf einer steil ins Meer abfallenden Klippe.
Bei seinen Überlegungen, wie ein mit der Natur kommunizierendes Bauwerk zu konzipieren sei, kam Kim Chanjoong auf die Idee, die Bewegung von Himmelskörpern zu nutzen. So untersuchte er mithilfe eines Computers in einem Observatorium den Umlauf von Sonne und Mond. Als er ihre Bewegungsbahnen auf den Boden projizierte, liefen sie in Form einer Spirale zusammen. Danach legte er sechs Richtungen als Hauptorientierungspunkte fest, darunter den Chusan, den Felsen, auf den die Sonne bei der Sommersonnenwende fällt, Hafen und Wald. Die Flügel, die in Richtung der sechs Landschaften zeigen, liefen in einem Kreis bar jeglicher landschaftlicher Richtungshierarchie zusammen. Die Villa Kosmos ist also ein Tornado, der in Richtung von sechs unterschiedlichen Landschaften schlägt. Im Erdgeschoss befinden sich ein Gesellschaftsraum, ein Restaurant und eine Sauna. Geht man die Wendeltreppe in der Mitte hoch, wird deutlich, dass jeder der Flügel ein Gästezimmer ist. Öffnet man die Tür, sieht man sich einer langen, gekurvten Wand gegenüber, an deren Ende ein vertikal ausgerichtetes Fenster erscheint, von dem aus man die Aussicht genießen kann. Von der Form her erinnert dieses große Bogenfenster an den Berg Chu-san.
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ßen dünn geformt und auf diese Weise modelliert werden konnte. Diese feine gestalterische Schönheit des Resorts ist auf die Verwendung von Ultrahochleistungsbeton (UHPC) zurückzuführen. Zum ersten Mal weltweit wurde hier UHPC vor Ort eingegossen und als Strukturelement verwendet. UHPC zeichnet sich vor allem durch seine hohe Festigkeit, Dichtigkeit und Beständigkeit aus. Auch ohne Bewehrungsstahl kann seine Festigkeit durch das Beimischen von Stahlfasern erhöht werden, was den Bau äußerst dünner Gefüge erlaubt. Der Architekt versuchte sich also an einer neuen Tektonik mit diesem Material, das bis dahin meistens im Bauingenieurwesen verwendet wurde.
Herausforderungen mit Freud und Leid
© Kim Yong-kwan
Durch eins der Gästezimmerfenster der Villa Kosmos ist der Berg Chu-san zu sehen, dessen Form sich in dem 6m hohen Bogenfenster wiederfindet. Das Gebäude erinnert an einen in sechs Richtungen wirbelnden Tornado. Vor den Fenstern der einzelnen Gästezimmer entfaltet sich entsprechend ein jeweils anderes Landschaftspanorama.
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Um den Eindruck eines Kunstobjekts zu verstärken, hat der Architekt die wichtigsten technischen Anlagen in die Wände integriert, was das Gebäude als solches als ganzheitlicher Raum und einheitlicher Organismus wirken lässt. Es wurde schon von Anfang an so entworfen, dass alle technischen Ausstattungen wie Beleuchtung, Klimaanlagen oder Anemostate komplett eingebettet waren. Für die Umsetzung mussten mehrere Vorführmodelle angefertigt werden. Die perforierte Decke, die Luft und Licht hineinlässt, schafft einen elegant fließenden Raum, der an die Haut eines lebendigen Tieres erinnert. Vor allem die 12cm dünne, zart gewölbte Schale, die Dach und Wand zugleich ist, verleiht Kosmos eine ätherische Präsenz. Man wundert sich, wie Beton derma-
Die Anwendung von UHPC war während des gesamten Bauprozesses Herausforderung und Experiment zugleich. Hinter der Entscheidung für UHPC stand „PLACE1“ der KEB Hana Bank im Seouler Viertel Samsung-dong, ein Gebäude, das etwa um diese Zeit errichtet wurde. Sowohl bei PLACE1 als auch beim Resort in Ulleung-do stand am Anfang die Frage: „Ist es möglich, ein Bauwerk von noch dünnerer und delikaterer Struktur zu errichten?“ Um eine völlig neue Methode zu entwickeln, waren zahlreiche Mockups und ingenieurwissenschaftliche Konsultationen erforderlich. Im Falle von PLACE1 wurde ein Gebäude renoviert, das mehrere Bankfilialen integrieren und gleichzeitig als lokales Wahrzeichen dienen sollte. Kim transformierte die Räumlichkeiten der Bank, indem er innerhalb des Gebäudes einen sog. „Open Slow Core“ mit kulturellen Räumen auf den einzelnen Etagen einrichtete, wo sich die Menschen nach der Schließung der Bank um 16:00 Uhr treffen können. Gleichzeitig sah sein Entwurf vor, Terrassenflächen um das Gebäude anzulegen und das Äußere mit Fassadenelementen, die innen und außen eine dreidimensionale Oberfläche aufweisen, zu umrahmen. Jedes Element ist ein großes Quadrat mit 4m Seitenlänge, das 1m nach außen ragt und 50cm nach innen einge-
drückt ist. Das Architekten-Team suchte nach einem leichten Material, das an der Fassade des ursprünglichen Gebäudes angebracht werden könnte, und soll gejubelt haben, als es auf UHPC stieß. Doch die Freude war kurz, denn ein dorniger Weg lag vor ihnen. Das Problem bestand nämlich darin, dass noch niemand versucht hatte, ein geschwungenes dreidimensionales Gebilde in einer Schalung zu gießen. In Zusammenarbeit mit den Ingenieuren des Bauunternehmens, des Schalungsplan-Teams, des Tragwerksplanerbüros und des UHPC-Herstellers musste daher der Architekt selbst fünf Vorführmodelle ausführen, um die Möglichkeit, UHPC-Module zu formen und aufzustellen, nachzuweisen. Dieser Prozess erstreckte sich über ganze sechs Monate. Beim Bau des Resorts auf Ulleung-do, der fast zeitgleich lief, konnten Kim und sein Team
den UHPC noch aktiver anwenden, da er sich bestens zur Modellierung fein-delikater ästhetischer Formen eignete. Die Verfüllung mit UHPC vor Ort – ein bis dahin noch nie gewagter Versuch – wurde in Zusammenarbeit mit dem Koreanischen Institut für Bauingenieurwesen und Bautechnik, das seine eigene Marke „K-UHPC“ entwickelt hatte, dem Unternehmen Steel Life Co. Ltd., das für den Dongdaemun Design Plaza über 45.000 amorphe Fassadenplatten hergestellt hatte, und dem Bauunternehmen KOLON GLOBAL Corporation durchgeführt. Anhand von mehreren Vorführmodellen leitete Kim den ganzen Prozess – einschließlich der Berechnung der Festigkeit des UHPC, der Bemessung der Druckfestigkeit der Gussform und der Überprüfung der Verfüllung vor Ort – während er gleichzeitig seine Ideen für die Schalung, die seinen Entwurf ermögli-
Die Villa Kosmos, gestaltet in Form eines aus sechs Blättern bestehenden Tornados, weist ein gekurvtes Dach und 12cm dünne Wände auf. Der neue Ultrahochleistungsbeton (UHPC) machte solch dünne und delikate Konstruktionen möglich.
© Kim Yong-kwan
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„Versteht man unter Tektonik die Beziehung zwischen dem Material und seiner legitimen Konstruktionsmethode, dann scheint es mir nun an der Zeit zu sein, dass auch die Tektonik für Beton sich ändert.“
© Kim Jan-di, design press
Architekt Kim Chan-joong ist bekannt für seine Experimentierfreudigkeit mit neuen Materialien. The System Lab, die von ihm geführte Architekturfirma, ist im ArchitektenVerzeichnis 2016 des britischen Design-Magazins Wallpaper* gelistet.
chen sollten, einbrachte, und sich mit den Ingenieuren darüber abstimmte. Angesichts der hohen Dichtigkeit und wasserähnlichen Konsistenz des UHPC war die größte Frage, ob die Schalung während der Verfüllung den hohen Druck aushalten würde. Im schlimmsten Fall konnte die Gussform platzen. Für die Errichtung eines dreidimensionalen, amorphen Bauwerks musste vor allem die Schalung in einem einzigen Anlauf in ihrer vollständigen Form errichtet, und anschließend mit UHPC verfüllt werden. Nicht nur das: UHCP war bis dahin noch nie für die Struktur eines Gebäudes angewandt worden. Während der drei Tage und zwei Nächte, die das Verfüllen der Schalung beanspruchte, sollen alle in höchster Anspannung den Atem angehalten haben.
Neue Anwendung von Beton
Den Entwürfen von Kim Chan-joong und seines Büros, The System Lab, liegt stets der Konstruktions- und Fertigungsplan bei. Er soll dabei helfen, die Konstruktion zu überprüfen und rationale sowie optimale Lösungen zu finden. Ein Architekt kann sich nicht in reiner Ästhetik ergehen, sondern sucht nach für das jeweilige Projekt geeigneten Konstruktionsmethoden und wendet die dafür geeigneten Tech-
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nologien an. Diese Arbeitsmethode, die Kim als „industrielles Kunsthandwerk“ beschreibt, bewirkt mittels Technologie- und Materialinnovationen emotionale Resonanz. Adrian Forty, Professor em. für Architekturgeschichte am The Bartlett, University College London, schrieb in seinem Buch Beton und Kultur: Eine Materialgeschichte (2012), dass Beton eher als ein Prozess denn als ein Material beschrieben werden könne. Beton gehöre zu den repräsentativen Materialien, die den Internationalen Stil der Architektur ermöglichten, und jetzt könnten wir dank neuer Methoden neuen Arten von Beton-Konstruktionen begegnen. In diesem Sinne steht Kim als Architekt, der stets auf der Suche nach neuen, optimalen Lösungen ist, nicht nur an der vordersten Front beim Entwerfen von Bauten, sondern auch beim Entwerfen des Konstruktionsprozesses. „Der UHPC wird auch sinnlich anders wahrgenommen als die feste, massive Struktur des herkömmlichen Betons. Versteht man unter Tektonik die Beziehung zwischen dem Material und seiner legitimen Konstruktionsmethode, dann scheint es mir nun an der Zeit zu sein, dass auch die Tektonik für Beton sich ändert.“ Der Versuch eines Architekten, ein neues Material zu entdecken und es anzuwenden, öffnet stets neue Türen der Sinneswelt.
Das im Seouler Nobelviertel Samseong-dong gelegene PLACE 1 der KEB Hana Bank trägt den Spitznamen „Tintenfisch-Saugnapf“. An der Oberfläche sind 178 langsam rotierende Platten von jeweils 2m Durchmesser angebracht, die die dynamische Ausstrahlung des Gebäudes betonen.
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HÜTER DES TRADITIONELLEN ERBES
Homi
Geschmiedet mit Wasser, Feuer und Luft 1
Schon seit einem halben Jahrhundert arbeitet Seok No-ki als Schmied in Yeongju, einem auf einer sich sanft wellenden Hochgebirgsebene gelegenen Städtchen. Seine handgemachten Hacken, auf Koreanisch „Homi“, erfreuen sich jüngst auf Online-Plattformen wie Amazon und eBay großer Beliebtheit. Die Homi mit ihrem vom Stiel abgewinkelten Hackenblatt ist ein Mehrzweck-Gartenwerkzeug, das praktischer und bequemer als die üblichen Pflanzkellen ist. Kang Shin-jae Freiberuflicher Autor Fotos Ha Ji-kwon 50 KOREANA Sommer 2019
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ls ich hörte, dass viele meiner Homi über Amazon verkauft werden, dachte ich anfangs, dass wohl Gruppen älterer koreanischer Frauen damit im „Amazon-Dschungel“ arbeiten würden.“ Denn der einzige „Amazon“, den der Schmied bis dahin gekannt hatte, war der Regenwald am Amazonas. Erst als seine Homi-Hacke es auf Amazon.com unter die Top 10 in der Kategorie „Gartenhacke“ schaffte und als „Amazon’s Choice“ gekennzeichnet wurde, lernte er den „anderen“ „Amazon“ kennen. Über diese Plattform gingen allein im letzten Jahr über 2.000 Hacken von seiner Schmiede an Kunden in der ganzen Welt. Während er davon erzählte, hielt er den Blick auf die mit dem Logo „Youngju Daejanggan“ (Schmiede Yeongju) versehene Hacke gerichtet. Seine Miene verriet, dass ihm immer noch nicht richtig klar geworden zu sein schien, was für eine Sensation das ist. „Im Ausland, wo Gärtnern ein beliebtes Hobby ist, soll es nur Pflanzkellen oder Rechen geben, aber keine Hacken, die wie die koreanische Homi abgewinkelt sind. Wegen ihrer Form scheint das Arbeiten wohl bequemer und weniger belastend für das Handgelenk zu sein. Außerdem bleibt anders als bei einer Pflanzkelle keine Erde am Blatt haften.“
Gartengerät im koreanischen Stil
Dass eine traditionelle koreanische Hacke im Ausland genutzt wird, verdient mehr als einen Ausruf angenehmer Überraschung – zumindest aus Sicht der Generationen, die sich noch daran erinnern, wie ihre Mütter damit auf dem Feld arbeiteten. Die Homi war unabdinglich für bestimmte, meist von Frauen ausgeführte Feldarbeiten. Die Mütter gingen frühmorgens auf die Felder und legten die Hacke bis spätabends nicht aus der Hand. Sie wurde bei der Aussaat des Getreides zum Lockern des Erdreichs verwendet und zum Ausgraben von Unkraut, das das Wachstum behinderte. Mit der Blattspitze wurden Feldfrüchte ausgegraben, Furchen gezogen oder mit der abgerundeten Kante angehäufelt. Beim Arbeiten mit der Homi ist es unmöglich, Brust und Rücken gerade zu halten. Sich mit der Hacke in der Hand der
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Erde zuzuwenden, bedeutet, sich mit lockerem Körper Richtung Erde zu beugen. Die gekrümmten Rücken der arbeitenden Mütter ähneln der Form des gekrümmten Stiels. Ihrer Rundheit haftet etwas Mitleiderregendes an, da sie nicht wieder gerade gebogen werden können zu scheinen. Allein schon der Gedanke, dass diese runden Rücken die Erde ohne Rast und Ruh bearbeiten, löst gewisse Emotionen aus. So wirbelten in meinem Kopf schon vor dem Betreten der Werkstatt allerlei Gedanken und Gefühle durcheinander: Was mag der Schmiedemeister wohl in einer Homi sehen? Was geht ihm durch den Kopf, wenn er ein Stück heißes Metall in Form schlägt? Wie betrachtet er die Arbeit des Schmieds, die von ihm verlangt, mit Wasser, Feuer, Luft und Metall Zwiesprache zu halten, um eine einzige Homi herzustellen?
Jeder benutzt sie anders
„Ich glaube, mit einem so geformten Hackenblatt wird die Erde eher nach vorne geschoben... Können Sie es in der Mitte nicht etwas flacher machen, etwa so? Und die Spitze noch etwas schärfer,“ meinte ein Kunde, der eine Homi inspizierte, die er aus dem Regal genommen hatte. Er wollte das gewölbte, dreieckige Hackenblatt in der Mitte etwas abgeflacht und vorne noch etwas spitzer zulaufend geschliffen haben. Seok, der solche Bitten gewohnt zu sein schien, nahm dem Kunden die Hacke ab und ging zur Esse. Er entfachte ein Feuer und brachte es mit dem Blasebalg zum
1. In der in der Provinz Gyeongsangbuk-do gelegenen Schmiede Youngju schärft Schmiedemeister Seok No-gi eine Homi-Handhacke, indem er das erhitzte Metall in Form schlägt. Mit 14 begann er als Schmied zu arbeiten, mit 23 eröffnete er eine eigene Schmiede in der Nähe des Bahnhofs Yeongju, die er jetzt schon 43 Jahre betreibt. 2. Seok stellt Handhacken unterschiedlicher Größe und Form her, wobei er seine Produkte oft Wünschen und Vorlieben der Kunden anpasst.
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Lodern. Als die Flammen hochzuschlagen begannen, schaute er ihnen eine ganze Weile zu, bevor er schließlich die Hacke in die Feuerstelle schob. „Jeder arbeitet auf seine eigene Art und Weise mit einem Werkzeug. Selbst wenn dieselbe Homi für denselben Boden benutzt wird, wird die Erde doch immer auf andere Weise durchpflügt. Deshalb lassen sich einige Kunden ihre Homi schon beim Kauf ihren Bedürfnissen entsprechend verändern. Schließlich ist das hier kein Eisenwarenhandel, der Fertigprodukte verkauft.“ Plötzlich schien sich der Ausdruck in seinen auf die Esse gerichteten Augen zu ändern. Geschwind packte er eine Zange und nahm die heiße Hacke aus der Glut. Loderndes Feuer schien in dem rot glühenden Metall eingeschlossen zu sein. Seok legte das Stück auf den Amboss und bearbeitete es in diese und jene Richtung drehend mit dem Hammer. Der Klang von Metall, das auf Metall schlug, hallte durch die Schmiede, und Fünkchen,sprühten in alle Richtungen. Während das im Metall gefangene Rot allmählich verblasste, veränderte sich auch langsam die Form der Hacke und der Kunde nickte zufrieden.
Den Moment einfangen
Zu sehen, wie Feuer und Metall einander umschlingen, rief eine Trance-ähnliche Versenkung hervor. Dieses Mal schob Seok ein faustgroßes Stück in die Esse und starrte wieder ins Feuer. Eisen schmilzt bei Temperaturen um die 1.500 ℃. Ein Schmied muss genau den richtigen Moment erkennen, in dem das Metall noch formbar ist, bevor es schließlich schmilzt. Da es an Seoks alter Esse aber kein Thermometer gibt, hing es von seiner Intuition ab. „Der Zustand des Metalls lässt sich an der Farbveränderung ablesen. Wenn es noch rötlich ist, muss es noch länger erhitzt werden. Wenn die Farbe blutrot wie Mondlicht ist, bedeutet das, dass das Metall noch zu hart ist, d.h. man muss abwarten, bis es weißlich wie Sonnenlicht wird. Wird es zu weiß, schmilzt es und man kann nichts mehr damit anfangen,“ erklärte er. Bevor ich mir Gedanken über Seoks Wahrnehmung des Mondlichts als blutrot und des Sonnenlichts als weiß machen
1. Seok erklärt, wie man die Schmiedezange beim Hineinstecken und Herausziehen aus dem Feuer halten muss und wie man das heiße Metall mit dem Hammer auf dem Amboss in Form schlägt. 2. Der Schmied sagt, das Härteste in seinem langen Berufsleben sei gewesen, die knochenbrecherische Arbeit tagaus, tagein zu ertragen. Seine gekrümmten Finger sind der Beweis dafür.
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konnte, erklangen schon wieder die Hammerschläge. Dieses Mal kam jedoch nicht der Handhammer zum Einsatz, sondern ein „Bär“, ein automatischer Lufthammer, der sich in einem bestimmten Zeittakt auf und ab bewegt. Seok legte das erhitzte Stück Metall zum Formen darunter. Die rhythmischen Schläge der Maschine und Seoks Hände, die das Metall in diese und jene Richtung führten, harmonierten auf faszinierende Weise miteinander. Unter diesem Rhythmus nahm das Hackenblatt die Form eines länglichen Dreiecks an und aus dem wie Toffee in die Länge gestreckten Metall formte sich der Stiel, der das Hackenblatt mit dem Griff verbindet. Nachdem das grob geformte Werkstück nochmals erhitzt und dann den letzten Schliff bekommen hatte, war die Hacke fertig. „Gießereien stellen ihre Produkte her, indem sie die Schmelze in eine Form füllen. In einer Schmiede läuft das völlig anders: Das Metall wird von Hand erhitzt, geschlagen, gestreckt und geformt.“ Der Ausdruck „schlagen“ umfasst vielerlei: über das Kontrollieren des Feuers zum Umformen des Metalls hinaus auch das Regulieren des Luftstroms und das Transformieren des Inneren des Metalls. „Weil ich das Feuer mithilfe des Blasebalgs entfache, entstehen beim Erhitzen des Metalls Luftlöcher. Um sie zu schließen, schlägt man darauf, was zu einer gleichmäßigen Dichte des Werkstücks führt. Deshalb schlugen früher die Schmiede das Metall hundert, ja tausend Mal. Ich habe mir allerdings schon früh einen maschinellen Schmiedehammer angeschafft, sodass ich nicht so viel mit der Hand schlagen musste.“ Das Hämmern setzt metallkundliches Wissen voraus. Selbst ein erfahrener Schmied kann die qualitative Beschaffenheit des Metalls nicht mit bloßem Auge erkennen.
Schlagen und Abkühlen
„Wie fest ein Stück Metall ist, weiß man erst, wenn man es ins Feuer legt und schlägt. Auch wenn Metalle gleich aussehen mögen, so unterscheiden sie sich doch in ihren Eigenschaften, genau so, wie es verschiedene Sorten Reis gibt. Es gibt Metallsorten, die so hart sind, dass die leicht brechen. Andererseits gibt es auch welche, die hart und bruchfest zugleich sind. Sie eignen sich gut für Sicheln und Schaufeln.“ Für die Herstellung der Homi verwertet Seok alte Kraftfahrzeug-Blattfedern. „Ich nutze Stahl. Die meisten Schmiede meiden Stahl, weil er so steif und fest ist, dass er viel schwieriger zu handhaben ist als Schmiedeeisen. Doch bei Eisen verzieht sich das Ende, was nicht gut ist. Es sollte ja scharfkantig wie eine Messerschneide sein und sich nicht einrollen. Wenn man so etwas
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anbietet, verliert man das Vertrauen der Kunden. Später wieder reparieren? Das war früher möglich, als die Hacken noch dicker und schwerer waren. Eine Homi wog damals um die 500g, sodass das Material ausreichte, um die Spitze zu strecken. Oder man konnte ein anderes Stück Metall dranschweißen und schärfen. Heute schmiede ich hauptsächlich leichtere Stücke mit einem Gewicht von 200-300g, die einfach zu dünn zum Überarbeiten sind.“ Seok erklärt, dass beim Abkühlen über den wahren Wert eines Metallwerkzeugs entschieden wird: Dabei wird das glühende Metall kurz in kaltes Wasser getaucht. Der französische Philosoph Gaston Bachelard (1884-1962) hat diesen Vorgang zwar beschrieben als „durch kaltes Wasser (...) das wilde Biest, das das Feuer ist, ins Gefängnis aus Metall einschließen“, aber laut Seok lässt sich diese Technik nicht mit Worten ausdrücken. Je nach Beschaffenheit des Metalls, seiner Dicke, Tem-
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peratur und anderer Gegebenheiten könne das Abschrecken nur eine Sekunde oder aber auch viel länger dauern, so Seok. Dieser Prozess ist die „Krönung des Schmiedens“, der über die Härte des Metalls entscheidet. Deshalb sollen früher die Schmiede die Abkühlung in der tiefen Einsamkeit der Nacht vorgenommen haben. Es dürfte wohl nicht einfach gewesen sein, die beiden Extreme Wasser und Feuer zusammenzubringen, um ein optimales Ergebnis zu erzielen.
Ein Kampf mit sich selbst
Seok war 14, als er das erste Mal eine Schmiede betrat. Damals wollte er seinem Schwager nur kurz bei der Arbeit helfen. Es waren harte Zeiten: Hatte man sich im Frühling einen Sack Gerste geliehen, galt es im Herbst mindestens das 1,5-Fache zurückzuerstatten. Daher hätte Seok nie eine Arbeit abgelehnt, bei der er für seine Leistung angemessen entlohnt
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Das Erhärten erfolgt durch Eintauchen des erhitzten Metalls in kaltes Wasser. Ein Schmied braucht lange Erfahrung und intuitives Geschick, um diesen Prozess, der über die Härte des Metalls entscheidet, korrekt auszuführen.
würde. Doch sein Weg als Schmied war nicht einfach. „In der Schmiede muss man das Eisen fertig bearbeiten, bevor es abkühlt. Selbst wenn heiße Eisensplitter auf deinen Handrücken fallen und dir die Haut verbrennen, bleibt keine Zeit, sie abzuschütteln. Denn wenn sich das Eisen einmal abkühlt, muss man wieder von vorn anfangen. Eines Tages – ich war damals noch Teenager und in der Lehre – flogen mir während der Arbeit Eisenteilchen ins Auge. Als ich mit der behandschuhten Hand vorsichtig das Auge abtastete, war alles voller Blut. Ich bedeckte das andere Auge mit der Hand, um festzustellen, ob ich noch sehen konnte. Ich konnte noch
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sehen. Wenigstens ist mein Auge nicht herausgefallen, dachte ich, und machte mich wieder an die Arbeit.“ Auf die Frage, was wohl am härtesten zu überwinden gewesen sei – die schwierigen Arbeitstechniken, die Menschen, mit denen er zu tun hat, der niedrige Verdienst oder was auch immer sonst – lautete seine Antwort: das Ertragen und Durchhalten. „Ich habe von einem Leben geträumt, in dem ich im Sommer zwei Monate, nein, nur einen Monat lang, nicht für meinen Lebensunterhalt zu arbeiten brauche. Ich fragte mich, warum nur ich mich vor dem Feuer abplacken muss, während alle anderen von anderen Tätigkeiten gut leben zu können schienen. Nachdem ich dann endlich ein eigenes Haus hatte, nahm der Gedanke überhand, sodass ich schließlich beschloss, ein Tante-Emma-Lädchen aufzumachen. Aber als ich den Plan dann umsetzen wollte, war ich mir nicht mehr sicher, ob ich damit wirklich meine Familie ernähren könnte. In der Schmiede konnte ich mir zumindest sicher sein, jeden Tag etwas zu verdienen.“ Dieser Kampf mit sich selbst um sein Leben als Schmied dauerte lange, das Aufziehen dunkler Wolken über dem Schmiedehandwerk ging schnell: Infolge der Entwicklung von Landmaschinen schrumpfte die Nachfrage nach handgeschmiedeten Waren drastisch. Zudem drängten Billigprodukte aus China auf den Markt. Die Homi war sein einziger Ausweg. „Man geht davon aus, dass wenigstens eine unter tausend Homi Mängel aufweisen könnte. Das ist inakzeptabel. Für mich mag das nur 0,1 % sein, für den den Verbraucher sind es 100 %, denn wer hat heutzutage schon zwei Hacken?“ Als es mit der Schmiedeindustrie bergab ging, suchte Seok nach neuen Absatzwegen. Er rief sich in Erinnerung, mit
Der heiße Atem des Schmieds, der auf das glühende Eisen schlägt, und das von trauriger Einsamkeit erfüllte Seufzen der Mütter, die auf den Feldern Jahr für Jahr eine Hacke abnutzten, zogen an mir vorbei. welcher Entschlossenheit er damals, als die meisten Schmiedearbeiten noch per Hand ausgeführt wurden, eine Metallschneidemaschine im Wert eines Wohnhauses gekauft hatte. Diesmal entdeckte er einen Ausweg, als er einen Bekannten fand, der ihm beim Online-Verkauf unterstützen konnte. „Ich verkaufe jetzt schon seit mehr als zehn Jahren übers Internet. Dieser Bekannte erzählte mir, dass meine Homi in die USA verkauft würden. Mit steigender Nachfrage und etwas Mundpropaganda landete sie schließlich bei Amazon. Das ging aber nicht über Nacht. Jetzt soll sie auch nach Australien exportiert werden. In letzter Zeit scheint es tagtäglich gute Nachrichten zu geben. Daher hinkt derzeit leider die Produktion der Nachfrage hinterher... Es gibt keine jungen Menschen, die das Handwerk lernen wollen. Zwei, drei Leute in der Schmiede helfen aus, aber sie sind schon recht alt, und man weiß nicht, ob sie diesen oder nächsten Monat aufhören wollen. Auch ich verliere mit jedem Jahr an Kraft. Meine Generation ist wahrscheinlich die letzte Schmiedegeneration in Korea.“ 2 Ein ehrliches Leben
Mit einer Miene, in der sich Stolz und Bedauern mischten, lächelte er: „Ich habe schon mit 14 auf eigenen Füßen gestanden. Hier an dieser Stelle habe ich mit 22 Jahren die Schmiede aufgemacht. Ich habe eine Familie gegründet, ein Haus gekauft und drei Kinder großgezogen, die ich alle auf die Universität geschickt habe. Bis heute haben meine Frau und ich noch nie von jemanden Geld leihen müssen. Ich habe als Kind keine Bildung erhalten. Wie hätte ich also Minister, Arzt oder Richter werden können? Davon habe ich nie zu träumen gewagt. Ich habe einfach immer nur hart gearbeitet und mir gesagt: Hink mindestens nicht hinterher, wenn du schon nicht in Führung gehen kannst. Damit bin ich zufrieden. Ich denke, dass ich ein gutes Leben hatte.“ In einer Welt, in der das Leben von Gier getrieben wird, sprach er von Genügsamkeit:
Seok No-gis Handhacke, die als eins der zehn besten, auf Amazon angebotenen Gartengeräte ausgewählt und mit dem „Amazon’s Choice“ gekürt wurde, ist in vielen Ländern beliebt.
„Ich sehe immer noch gut – vielleicht, weil ich so viel Zeit vor dem Feuer verbringe. Selbst in diesem Alter muss ich noch keine Lesebrille aufsetzen“, sagte er in sich hineinlachend. Welche Farbe mögen wohl seine Augen haben, denen die Glut stärkere Kraft verliehen hat? Die Farbe des Mondlichts oder des Sonnenlichts? Ich betrachtete den Schmied mit seinem kleinen, aber strammen Körper, mit seinen sanften, aber Unbeugsamkeit ausstrahlenden Gesichtszügen, mit seiner beim Erzählen in heiserer Erregtheit metallisch-laut gewordenen Stimme, seinen Fingern, gebogen wie die Stiele der unzähligen Hacken, die er hergestellt hat. Seok No-ki, der Mann, dessen Leben von Feuer und Metall geschmiedet wurde, erinnerte mich wieder an die Mütter mit der Homi in ihren Händen. Der heiße Atem des Schmieds, der auf das glühende Eisen schlägt, und das von trauriger Einsamkeit erfüllte Seufzen der Mütter, die auf den Feldern Jahr für Jahr eine Hacke abnutzten, zogen nacheinander an mir vorbei. Und da verstand ich schließlich, warum mein Blick und mein Herz sich nicht lösen konnten von den Regalen in der Schmiede, auf denen diese einfachen Handpflüge aufgereiht lagen.
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GESCHICHTEN AUS ZWEI KOREAS
Flüchtlinge
Vorreiter des Wandels Liberty in Nordkorea (LiNK) rettet nordkoreanische Flüchtlinge und hilft ihnen beim Einleben im Süden. Das Seouler Büro der in den USA ansässigen NGO wird von Park Sokeel geleitet, für den die geflohenen Nordkoreaner potentielle Vermittler des Wandels im kommunistischen Norden sind. Er glaubt, dass sich auch die Südkoreaner stark ändern müssen. Kim Hak-soon Journalist, Gastprofessor an der Fakultät für Medien und Kommunikation, Korea University Fotos Ahn Hong-beom
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998, als der damals 12-jährige Park Sokeel, ein Brite koreanischer Abstammung, zum ersten Mal nach Südkorea kam, weckte ein roter Aufkleber, der an jedem Bus zu sehen war, seine Neugier. Sein Vater erklärte ihm, dass es ein Aufruf an die Öffentlichkeit sei, etwaige nordkoreanische Spione zu melden. Heute berichtet Park den Südkoreanern zwar von ihren Brüdern und Schwestern im Norden, aber nicht als Denunziant, sondern als Leiter der in Seoul ansässigen US-Nichtregierungsorganisation Liberty in Nordkorea (LiNK), die nordkoreanische Flüchtlinge rettet und ihnen hilft, im Süden Fuß zu fassen. Ihre Bemühungen werden von 275 Vereinen in 16 Ländern unterstützt, darunter den USA, Kanada, Großbritannien und Japan. Mit 34 ist Park fast im selben Alter wie der nordkoreanische Führer Kim Jong-un. Park glaubt, dass die jungen Menschen seines Alters eine wichtige Rolle dabei spielen können, Veränderungen auf der Koreanischen Halbinsel zu bewirken. Er meint, wenn er im Norden geboren worden wäre, wäre er ein Kind der sog, „Jangmadang-Generation“. „Jangmadang“ (oder „Changmadang“ laut dem nordkoreanischen Romanisierungssystem) bezieht sich auf die nordkoreanischen Bauern- und Schwarzmärkte, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aufkamen und für aufkeimende marktwirtschaftliche Tendenzen stehen. „Jang“ bedeutet „Markt“ und im weiteren Sinne auch „Kapitalismus“. „Madang“ steht für „Ort“ oder „kleiner offener Platz“. Diese Märkte entstanden in den 1990er Jahren, als der Norden naturkatastrophenbedingt von Missernten gebeutelt wurde
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und zudem keine Nahrungsmittelhilfe aus der Sowjetunion mehr erwarten konnte. Der Sozialisierungsprozess der Jangmadang-Generation, die ein Viertel der nordkoreanischen Bevölkerung stellt und in diesem ins Wanken geratenen kommunistischen Wirtschaftssystem aufwuchs, unterscheidet sich entsprechend markant von dem der Generationen davor. Die meisten Flüchtlinge dieser Generation geben an, nie Lebensmittelzuteilungen von der Arbeiterpartei erhalten zu haben. Auch in kultureller Hinsicht trennen sie Welten von ihren Eltern und Großeltern. Diese jungen Erwachsenen, die vergleichsweise breiteren Zugang zu Informationen aus der Außenwelt haben, besitzen andere Wertvorstellungen, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen. Internet und geschmuggelte USB-Sticks haben sie alternative Sichtweisen entwickeln lassen und südkoreanische TV-Sendungen sowie chinesische Filme beeinflussen zunehmend ihren Mode- und Lebensstil. Park, der auch Experte für internationale Politik ist, nennt sechs Faktoren, die einen Wandel in Nordkorea bewirken könnten: Jangmadang-Generation; Kapitalismus; chronische Korruption; stärkerer Zufluss von Informationen; Überläufer oder Flüchtlinge, die in Kontakt mit Verwandten im Norden stehen; Entstehung von Personennetzwerken, die sich der Kontrolle der Regierung entziehen. Damit nordkoreanische Flüchtlinge stärker zum Wandel beitragen können, müsse sich laut Park aber auch die Einstellung der Südkoreaner ändern.
Entstehung von LiNK
LiNK ist ein Abkömmling der 1987 ins Leben gerufenen Korean American Students Conference (KASCON). Mit die-
keiten wie T-Shirts, selbstgebackene Kekse, Bubble-Tees, Reisbällchen usw. und organisiert Spendenkonzerte. Sie erhält keinerlei Regierungssubventionen. Der größte Teil des LiNK-Budgets wird für die Rettung von Nordkoreanern, die nach China geflüchtet sind, verwendet. Eine Flucht kostet umgerechnet 3.000 US-Dollar pro Person. Die Gruppe bringt die Flüchtlinge über eine rund 4.800 km lange geheime Rettungsroute via China und Südostasien nach Korea oder in die USA, wo sie sich in Sicherheit und Freiheit niederlassen können. Nach Stand von Ende 2018 hat LiNK bislang mehr als 1.000 nordkoreanische Flüchtlinge gerettet und ihnen bei der Niederlassung geholfen. Fast ein Drittel dieser Hilfsaktionen (326) entfielen auf das Jahr 2018.
Alternativer Weg zum Ziel
Park wurde als Sohn eines koreanischen Vaters und einer britischen Mutter in Manchester geboren, wo er auch aufwuchs. Seine erste Reise nach Südkorea machte er im Alter von 12 Jahren, als er zusammen mit seinem Vater die sterbPark Sokeel, Leiter des Seouler Büros von LiNK (Liberty in North lichen Überreste der Großmutter in das Korea), hilft bei der Rettung Land ihrer Vorfahren brachte. Damals nordkoreanischer Flüchtlinge und wurde ihm die Existenz des Nordens ihrer Integration in die Gesellschaft. LiNk, das sein Hauptquartier in und die Feindschaft zwischen beiden Washington, D.C., hat, ist eine 2004 Koreas erst richtig bewusst: Als er wisvon koreanisch-amerikanischen sen wollte, was auf den Aufklebern der Studenten der zweiten Generation Stadtbusse stand, erklärte ihm der Vater gegründete NGO. nämlich, „dass man nordkoreanische Spione anzeigen solle“. sen jährlichen Treffen koreanischer und amerikanischer StuBeide von Parks Großeltern väterlicherseits waren aus der denten verstärkte sich auch das Interesse an den nordkoreaRegion Myongchon in der nordkoreanischen Provinz Hamnischen Flüchtlingen. Dadurch motiviert, über Diskussionen gyongbuk-do in den Süden geflüchtet. Das im Gebirge und Debatten hinauszugehen und die Welt über das Leiden Chilbo-san gelegene Myongchon ist berühmt für seine Kieder Nordkoreaner zu informieren, gründeten koreanisch-amefernpilze, die der verstorbene nordkoreanische Führer Kim rikanische Studenten der zweiten Generation 2004 an der Jong-il und dessen Sohn Kim Jong-un als Geschenke nach Yale Universität die NGO LiNK, die ihren Hauptsitz in WasSüdkorea schickten. Nach dem Abschluss der Oberschuhington D.C. hat. le zog Parks Vater 1968 zusammen mit der Großmutter, die LiNK ist auf Spenden von verschiedenen Stiftungen, Studennach dem Tod ihres ersten Mannes einen Briten geheiratet ten, Geschäftsleuten, religiösen Gruppen und den eigenen hatte, nach England. Parks Vater, der als Dolmetscher und Mitgliedern angewiesen. Die NGO verkauft zudem KleinigÜbersetzer arbeitete und ihm oft von Südkorea erzählte, hielt
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ihn dazu an, BBC zu schauen, wenn in den Medien über Korea berichtet wurde. Nach Abschluss der Oberschule lernte Park zunächst ein Jahr lang am Sprachinstitut der Yonsei University in Seoul Koreanisch. Nach Abschluss seines Psychologiestudiums an der University of Warwick kehrte Park 2007 wieder nach Seoul zurück, wo er ein Jahr im Ministerium für Inneres und Sicherheit arbeitete. Dort arbeitete er im Bereich „Kurse über Wirtschaft und Kultur Südkoreas für Beamte aus Entwicklungsländern“. In den darauffolgenden zwei Jahren erwarb Park einen M.A.-Abschluss in Internationalen Beziehungen und Internationaler politischer Geschichte an der London School of Economics und arbeitete als Praktikant im UNO-Hauptquartier in New York. Während dieser Zeit traf er nordkoreanische Überläufer und beschloss, sich für die Belange der Nordkoreaner zu engagieren. Parks Ziel war eine Festanstellung bei der UNO oder im britischen Außenministerium. Es war reiner Zufall, dass er für LiNK zu arbeiten begann: In London besuchte er einen Vortrag von Mike Kim, dem Gründer von „Crossing Borders“, einer NGO, die in China lebende nordkoreanischen Flüchtlinge unterstützt. Kim, ein in Chicago geborener Korea-Amerikaner der zweiten Generation und Finanzexperte, hatte soeben Escaping North Korea veröffentlicht, ein Buch über die Armut in Nordkorea und Geschichten nordkoreanischer Flüchtlinge. Einmal wurde Kim von der chinesischen Polizei verhaftet, weil er nordkoreanischen Flüchtlingen geholfen hatte. Nach dem Vortrag schlug er Park vor, für LiNK zu arbeiten.
Leiter des Seouler Büros
Im Mai 2012, als das Seouler LiNK-Büro eröffnet wurde, gab Park seinen Traum von einer Diplomatenkarriere im britischen Außenministerium auf, um Vollzeit für die neue Nie-
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derlassung zu arbeiten. Neben Park gibt es weitere acht Mitarbeiter. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, nordkoreanische Flüchtlinge zu retten, zu schützen und ihnen bei der Anpassung an die südkoreanische Gesellschaft zu helfen. Denn aufgrund der großen Kluft zwischen den beiden Koreas in Bezug auf Kultur, Wirtschafts- und Politiksystem brauchen die Flüchtlinge v.a. Unterstützung bei der Integration in die südkoreanische Gesellschaft. Parks oberster Ziel ist, v.a. junge Südkoreaner in diesen Prozess einzubeziehen. Er ist verblüfft darüber, wie wenig sie über nordkoreanische Flüchtlinge wissen, deren Zahl zur Überraschung vieler Südkoreaner jetzt bereits über 30.000 beträgt. Park prognostiziert, dass sich Nordkorea in den nächsten zehn, zwanzig Jahren stark verändern wird. Daher müssten die jungen Südkoreaner allen voran Empathie für die Menschen aus Nordkorea entwickeln, betont er mit Nachdruck. Derzeit schienen unter den jungen Leuten aber noch Desinteresse und Empathiemangel vorzuherrschen. Auf einer „Empathie-Skala“ von 1 bis 100 würden sie kaum 10 erreichen. Der Blickwinkel der Südkoreaner erschiene ihm zudem ziemlich starr: Sie würden die Nordkoreaner lediglich als Landsleute betrachten und Nordkorea als Objekt der Wiedervereinigung, das aufgrund seines Reichtums an Ressourcen und billigen Arbeitskräften große Investitionsmöglichkeiten verspreche. Sollte Nordkorea seine Türen öffnen, könnte eine solche Sichtweise zu einem Stolperstein bei der Lösung sozialer Konflikte werden. Park ist auch besorgt darüber, dass LiNK manchmal nur als eng als „Gruppe von Menschenrechtsaktivisten“ definiert wird. Er befürchtet nämlich, dass ihre Aktivitäten eingeschränkt werden könnten, wenn die NGO als rechtslastig betrachtet würde. Viele Südkoreaner etikettieren nämlich automatisch jede Organisation, die sich für Menschenrechte in Nordkorea einsetzt, als „rechtsgerichtet“. Park vermeidet es sogar, zu viel über Politik zu diskutieren, da LiNK weder rechts noch links sei. Unabhängig davon glaubt er aber nicht, dass Nordkorea sich ohne Verbesserung der Menschenrechtssituation zu einem „normalen Staat“ entwickeln könne. Einige sind der Meinung, dass eine Thematisierung der Menschenrechtslage in Nordkorea die internationalen Bemühungen zum Stopp des nordkoreanischen Atomwaffenprogramms behindern könnten. Doch Park glaubt, dass dieses Thema nicht ewig auf die lange Bank geschoben werden kann. Er besteht darauf, die Menschenrechtsfrage ständig anzuprechen, sie sei ja auch in Südkorea in den Zeiten der Militärdiktatur nicht ignoriert worden.
Park prognostiziert, dass sich Nordkorea in den nächsten zehn, zwanzig Jahren stark verändern wird. Daher müssten die jungen Südkoreaner allen voran Empathie für die Menschen aus Nordkorea entwickeln, betont er mit Nachdruck.
1. Fotos, die von LiNK-Unterstützern in der ganzen Welt eingesandt wurden. LiNK unterhält Kontakte zu 275 Unterstützergruppen in 16 Ländern.
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2. Sokeel Park (ganz links) und sein LiNK-Team arbeiten im Bezirk Jung-gu in der Seouler Innenstadt. Vor ihrem Büro steht eine LOVE-Skulptur.
© LiNK
Flüchtlinge als Vorreiter
Nach Parks Meinung werden sich mit jedem Nordkoreaner, der sich in Südkorea niederlässt, langfristig gesehen die Chancen für bedeutsame Richtungsänderungen im Norden erhöhen. Er glaubt, dass Nordkoreaner, die sich im Ausland niedergelassen haben, nicht nur wirtschaftschaftliche Veränderungen, sondern auch einen Bewusstseinswandel in Gang setzen können, da sie ihren Verwandten in der Heimat Geld überweisen und heimlich mit ihnen kommunizieren. Um diesen Prozess zu unterstützen, hat er mit anderen zusammengearbeitet, um den BBC World Service bei der Einführung eines neuen koreanischsprachigen Dienstes zu unterstützen. Denn je mehr koreanischsprachige Sendungen ausgestrahlt würden, desto breiter würde der Zugang der Nordkoreaner zu unterschiedlichen Informationen werden, argumentiert Park. Park schlägt zudem vor, dass die internationale Gemeinschaft Nordkorea nicht nur unter einem Blickwinkel unter die Lupe nehmen solle. Die Diskussionen über den Norden drehten sich in der Regel nur um Kim Jong-un oder Pjöngjangs nukleare Aufrüstung. Seiner Meinung nach sollte der Faktor Mensch, i.e. die 25 Mio. Bewohner des Nordens, größere Aufmerksamkeit erhalten. Zu diesem Zweck veröffentlicht LiNK regelmäßig lebensnahe Geschichten über Nord-
koreaner wie z.B. den Dokumentarfilm Die Jangmadang Generation (2018), in dem zehn junge Flüchtlinge auftreten. Nach dem Anschauen der 52-minütigen, unter Co-Regie von Park produzierten Doku kommentierten die südkoreanischen Zuschauer, dass die jungen Nordkoreaner kaum anders als ihre eigenen Freunde seien. Er hofft auch, dass die Menschen eine neue Sichtweise in Bezug auf die Nordkoreaner entwickeln, die frei von Antagonismen oder Wohltätigkeitsdenken ist. Die Flüchtlinge seien die Brücke hin zu einem neuen Image. In diesem Jahr wurde Park für seine Verdienste um die britisch-koreanischen Beziehungen vom Königshaus der „Order of the British Empire (MBE)“ verliehen. Mit diesem Ritterorden wurde Parks Beitrag zur Unterstützung von nordkoreanischen Flüchtlinge und zur Förderung der Menschenrechte in Nordkorea gewürdigt. In seiner Dankesrede unterstrich Park, dass er die Ehre dieser Auszeichnung mit all denjenigen teile, die im Hintergrund agierend LiNK dabei helfen, geflüchtete Nordkoreaner in Sicherheit zu bringen. Wenn möglich, würde Park gerne einmal in Nordkorea leben. Mit diesem Wunsch bringt er ganz offensichtlich auf andere Art und Weise seine Entschlossenheit zum Ausdruck, unabhängig davon, wie schwer das Nordkorea-Problem auch wiegen mag, weiterhin sein Bestes geben zu wollen.
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ENTERTAINMENT
Tourismus in Reality-Shows Heutzutage werden rund 30 Mio. Reisen von Korea aus gebucht. Und zig Millionen Besucher aus dem Ausland kommen nach Korea. Verschiedene RealityFernsehshows porträtieren die sich im Wandel befindliche Reisekultur der Koreaner. Jung Duk-hyun Popkulturkritiker
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it der im August 2007 angelaufenen RealityShow 1 Night & 2 Days hielten Unterhaltungsshows rund ums Thema Reisen Einzug ins koreanische TV-Programm. Zur Stammbesetzung gehörten mehrere Prominente, die noch recht unbekannte Touristenattraktionen im ganzen Land aufsuchten und dabei in lustige Situationen gerieten, wenn z.B. die Würfel darüber entschieden, wer in einer kalten Winternacht im Zelt schlafen musste. Im Zuge des durch die Serie ausgelösten Camping-Booms stieg der Verkauf von Zelten, Outdoor-Bekleidung und Ausrüstung. Zudem verwandelten sich die Vergnügungsreisen von reinen „Besichtigungsreisen“, bei denen historische Stätten oder landschaftlich reizvolle Orte ledig-
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© tvN
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lich fotografiert wurden, zu „Erlebnisreisen“, bei denen die hautnahe Erfahrung im Vordergrund steht. Diese Show, die bis März 2019, also fast 12 Jahre lang, erfolgreich blieb, war das Werk des Produzenten Na Young-seok, dessen Name ein Begriff in den Entertainment-Shows rund ums Reisen ist. Nachdem die erste Staffel auf dem terrestrischen öffentlich-rechtlichen Sender KBS ausgestrahlt worden war, wechselte er zum Kabelsender tvN. Zusammen mit seinen jüngeren Kollegen bildete Na die sog. „Truppe von Na Young-seok“, mit deren Mitgliedern er gemeinsam zahlreiche Unterhaltungssendungen rund ums Reisen produzierte. Seine Shows bestimmten die Trends der Reality-Reiseshows und hatten auch großen Einfluss auf die Reise-
kultur. Gleichzeitig spiegelten sie auch den Wandel in der Reisekultur von Besichtigen zu Erleben, von Inlandszu Auslandsreisen sowie von Gruppenzu Individualreisen wider.
Für jedes Alter etwas
2013 jubelten die Zuschauer erneut, als Grandpas Over Flowers ausgestrahlt wurde. In dieser Show brachen je fünf oder sechs Schauspieler in ihren 70ern auf eine Rucksackreise nach Europa auf. Da bis dahin die Meinung vorherrschte, dass Rucksacktouren nur etwas für Studenten seien, erwischte das Format die Zuschauer quasi kalt. Dass die Sendung gut ankam, war wohl v.a. dem Drang der Koreaner nach Auslandsreisen und der zunehmenden Alterung der Gesellschaft geschuldet. Diese
Show weckte unter den Senioren die Lust auf Auslandsreisen. Three Meals a Day, eine weitere Reality-Show, wärmte die Herzen der Städter. Es ging um zwei junge TV-Stars, die sich irgendwo jottwede, wo ihnen niemand in die Quere kommen konnte, niederließen. Sie konzentrieren sich ausschließlich auf die Zubereitung von drei Mahlzeiten pro Tag, was den mit Arbeit überladenen und vom täglichen Umgang mit Menschen erschöpften Stadtbewohnern Trost bot. Die Szenen, in denen die Promis sich abmühten, „in der Pampa“ ein ordentliches Essen zuzubereiten, das in der Stadt an jeder Ecke zu haben ist, sorgten unter den Zuschauern für Lachen und Mitgefühl. Das Duo lud auch Freunde zu einem Besuch und einer gemeinsamen Mahlzeit ein, was dem Reisen noch einmal eine neue Note der Zufriedenheit verlieh. Diese Art des Reisens zurück zur Natur und der extrem umweltfreundliche Lebensstil führten zu dem sog. „Off-the-grid“-Trend, also den Trend zu einem vom „Versorgungsnetz unab-
1. Grandpas Over Flowers ist eine TV-Show rund ums Reisen, in der sich ältere TV-Berühmtheiten auf Rucksacktouren begeben. Der amerikanische TV-Sender NBC erwarb die Remake-Rechte und betitelte seine Adaption Better Late Than Never. 2. Die Mannschaft von Youn’s Kitchen führt ein koreanisches Restaurant in einem fremden Land, um Einheimische und Touristen zu bekochen und mit ihnen zu kommunizieren. 3. In Korean Hostel in Spain, einer der jüngsten Serien, wird Wanderern auf dem Weg nach Santiago de Compostela Kost und Logis angeboten.
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hängigen Leben“. 2018 startete die Na-Mannschaft mit Little Cabin in the Woods eine weitere Show mit einem erfrischenden Thema, für die mitten im Wald ein Häuschen ohne Stromoder Gasanschluss gebaut wurde. Sie vermittelte den Zuschauern einen Eindruck von einem Leben mitten in der Natur. Da der Ort quasi am Ende der Welt lag, klangen das Zwitschern der Vögel und das Gluckern des Wassers umso klarer und die Sterne in der Nacht leuchteten umso heller. Das heilte die Seelen der vom hektischen Stadtleben ausgelaugten Zuschauer.
Glück durch Kommunikation
Im Mittelpunkt der 2017 und 2018 ausgestrahlten Sendung Yoon’s Kitchen stand ein Restaurant im Ausland, das den dortigen Einheimischen und Koreanern koreanische Gerichte servierte. Der Fokus lag dabei auf dem Verlangen von Existenzgründern, etwas Neues außerhalb des eigenen Landes auszuprobieren und im Alltag mit Ausländern zu kommunizieren. Reisen gibt einen
Einblick in das Leben anderer Menschen und fremder Räume. Die zunehmende Zahl von ins Ausland reisenden Koreanern deutet auf eine wachsende Neugierde auf andere Menschen und Kulturen hin und auch auf einen freieren Geist und das Selbstbewusstsein, ferne Orte auf eigene Faust zu erkunden. Diese TV-Show, die in zwei Staffeln auf insgesamt 20 Folgen kam, spiegelte aktuelle Trends gut wider. Die jüngste, im März 2019 angelaufene Show Korean Hostel in Spain übernimmt zwar das bereits bekannte Format, bei dem sich beliebte Prominente im Ausland niederlassen, weist aber auch Weiterentwicklungen auf. Im Mittelpunkt steht ein kleines Hostel an einer Straße nach Santiago de Compostela, das Unterkunft und Verpflegung bietet und als Kulisse für die Interaktion mit den einheimischen Anwohnern und mit den koreanischen sowie nicht-koreanischen Touristen dient. Oberflächlich betrachtet mag Reisen ein Motiv mit eingeschränkten Möglichkeiten sein, doch das Na-Team hat bewiesen, dass sich je nach Reiseziel, Art des Reisens und Reisebegleitern ungeahnte Möglichkeiten auftun können. Dahinter steht die Botschaft, dass Koreas Reisekultur je nach den Vorlieben der Reisenden noch vielfältiger und reicher werden kann. Es gab einmal eine Zeit, in der Koreas Auslandstourismus von Gruppenmentalität geprägt war und es an Diversität fehlte. Heute ist die Zeit, in der man glaubte, irgendwohin reisen zu müssen, nur weil alle anderen dorthin reisen, jedoch vorbei. Der Wandel ist deutlich und führte von Pauschalreisen über Individualreisen hin zu den derzeit bevorzugten individualisierten Erlebnisreisen. Die zahlreichen Unterhaltungsshows, die die unterschiedlichen Vorlieben der Reisenden erforschen, sind Beleg für den Wandel.
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RUND UM ZUTATEN
© imagetoday
Der im Frühling und Winter gegessene Gealterte Kürbis ist in Korea eine gängige Zutat. Zusammen mit Klebreismehl wird daraus Brei gekocht und der Saft wird von Wöchnerinnen getrunken, um Schwellungen nach der Geburt zu lindern.
Im Kürbis verborgene Zeiten Hobak, ein alltägliches Nahrungsmittel, das Erinnerungen an den Familienesstisch der Kindheit weckt, wird v.a. für Beilagen verwendet, aber auch als Hauptgericht serviert. Nicht nur sein Fruchtfleisch, sondern auch die Samen, Blüten und Ranken finden Verwendung. Jeong Jae-hoon Drogist und Gastronomiekritiker
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it dem Wechsel der Jahreszeiten wechselt auch die Kürbisart, die wir essen. Kürbisse mit weichem Fruchtfleisch und dünner Haut werden im Sommer gegessen, während Kürbisse mit dicker, harter Haut, unter der sich gelbes Fleisch mit Geschmack und Textur von Süßkartoffeln versteckt, im Winter serviert werden. Jedoch lässt sich diese saisonale Differenzierung auf Grundlage der Erntezeit nicht verabsolutieren. Die Koreaner unterscheiden z.B. zwischen Ae-Hobak (Junger Kürbis), der auch als „Joseon-Zucchini“ bekannt ist, und Neulgeun-Hobak (Gealteter Kürbis). Sie können unterschiedlichen Gattungen angehören, aber auch von ein- und derselben stammen. Der junge, hellgrüne koreanische Sommerkürbis Joseon-Aehobak und der gelblich-braune Kürbis Neulgeun-Hobak, der bis zum Herbst so groß wie ein Rugbyball wird, gehörten früher zur selben Art, der größte Teil des heute verbreiteten Gealterten Kürbisses gehört jedoch zu völlig anderen Gattungen wie z.B. Cheongdung-Hobak, einer Kürbisart mit harter, orangefarbener Haut. Auch die beliebte Sorte Dan-Hobak (Süßer Kürbis), die den Neulgeun-Hobak zur Seite drängt, ist zwar jetzt das ganze Jahr über erhältlich, aber was Geschmack, Textur und Lagerzeit betrifft, kann er als Winterkürbis betrachtet werden.
Motiv von Bildern und Geschichten
Neben den Jahreszeiten verbirgt sich im Kürbis noch eine andere Zeit. Denn wenn ein Kürbis als Motiv auf einem Gemälde erscheint, lassen sich Rückschlüsse auf dessen Entstehungszeit ziehen. Der Kürbis (Giant Squash from the Ducal Gardens in Pisa) des italienischen Malers Bartolomeo Bimbi (1648-1729) zeigt einen riesigen, rund 80 Kilogramm wiegenden Kürbis vor dem Hintergrund eines dunklen, sturmumwölkten Himmels. Aufzeichnungen zufolge wurden zwei starke Männer gebraucht, um den Kürbis ins Atelier des Künstlers zu transportieren, ein Spektakel, das von begeistert klatschenden Zuschauern verfolgt wurde. Verglichen mit den gigantischen Kürbissen von heute ist der Kürbis auf diesem Bild aber nicht besonders groß. Den Weltrekord hält ein 2016 in Belgien geerntetes Exemplar, das 1.190,5 kg wog. Wie dem auch sei: Der Kürbis auf dem Bild lässt den Rückschluss zu, dass es nicht vor dem 16. Jh. gemalt wurde. Der aus Südamerika stammende Riesenkürbis wurde zwar schon seit etwa 5.000 v.Chr. angebaut, aber erst im 16. Jh. in größeren Mengen in Europa eingeführt. Tatsächlich malte Bimbi das Kürbis-Ölgemälde 1711. Das Gemälde Vertumnus von dem mailändischen Künstler Giuseppe Arcimboldo (1526-1593) stellt Kaiser Rudolf II., den Herrscher des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, als aus verschiedenen Früchten und Gemüsen bestehende Gottheit dar. Auf dem um 1590 gemalten Porträt sind neben Kürbissen auch Maiskolben als Agrarprodukte aus der Neuen Welt zu sehen. Etwa um die gleiche Zeit hatte der Kürbis auch sein literarisches Debüt. Die Szene aus Aschenputtel, in der die Fee den Kürbis in eine goldene Kutsche verwandelt, scheint aus einer alten Geschichte zu stammen, wurde jedoch 1697 von dem französischen Schriftsteller Charles Perrault (1628-1703) einer mündlich tradierten Erzählung hinzugefügt. Kürbis-
se erscheinen auch in Shakespeares um 1597 verfasster Komödie Die lustigen Weiber von Windsor, in der Alice Ford Falstaff, seines Zeichens Frauenheld und Vielfraß, als „du ungesunde Feuchtigkeit, du großer wässriger Kürbis“ beschreibt. In Europa, wo die Menschen zu dieser Zeit noch nicht so sehr an Kürbisse gewöhnt waren, mag das durchaus eine adäquate Beschreibung für eine fette Person mit selbstsüchtigem Charakter gewesen sein. Während die Ureinwohner auf dem amerikanischen Kontinent den Kürbis so sehr liebten, dass sie Feste zu seinen Ehren feierten, verachteten die europäischen Einwanderer den Kürbis als Essen für arme Leute vom Land.
Ein unvergessliches Essen
In Korea wird eine hässliche Person oft mit einem Kürbis verglichen. In den Augen der Schriftstellerin Pak Wanso (1931–2011) erschien der Kürbis jedoch völlig anders. Sie sagte einmal, dass, wenn sie einen glänzenden Kürbis „mit Wespentaille“ sehe, sie ihn sofort kaufe, ohne darüber nachzudenken, wie sie ihn zubereiten solle. Und der Anblick eines runden, einheimischen Kürbisses, der durch die auf Nachbars Gartenmauer hochkletternden Ranken lugt, führe sie in die Versuchung, ihn zu stibitzen. Was sie jedoch noch mehr als den Kürbis liebte, waren seine Blätter. In ihrer Prosasammlung Homi (Handhacke) schreibt sie: „Nach dem Abziehen des rauhen Stils, der an der Blattader entlangläuft, werden die frischen Kürbisblätter gründlich gewaschen. Während sie auf gekochtem Reis gedämpft werden, bis sie schlaff und weich sind, wird die Doenjang-Sojabohnenpaste zusammen mit anderen Zutaten zu einer dicken Gangdoenjang-Würzpaste gekocht. Die verwendete Paste muss schmackhaft sein! Anschließend gibt man die Sojabohnenpaste ohne sie durch ein Sieb zu streichen in den Topf und mischt einen Tropfen Sesamöl, gehackten Knoblauch und klein geschnittene Frühlingszwiebeln darunter. Danach gibt man das milchige Wasser, das vom Reiswaschen übrig geblieben ist, hinzu und lässt alles eine Weile köcheln. Dann gibt man eine der Pastenportion entsprechende Menge gehackte grüne Chili-
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schoten hinzu und lässt alles erneut köcheln, bis die Paste dick wird. Für mittlerweile übermäßig wählerisch gewordene Zungenspitzen können noch einige zerkleinerte getrocknete Sardellen zur Geschmacksverfeinerung hinzugefügt werden; auch kann man die Kürbisblätter in einem Dampfgarer dünsten, anstatt sie auf den gekochten Reis zu legen.“ Kürbisblätter sind eine saisonale Delikatesse, die von Sommer bis Spätherbst, wenn kalte Winde zu wehen beginnen, genossen werden kann. Der Kontrast in Geschmack und Textur von Doenjang-Gewürzpaste und gekochtem, in zarte Kürbisblätter eingeschlagenem Reis ist so verführerisch, dass es schwerfällt, mit dem Essen aufzuhören. „Endlich fühlt man sich so zufrieden und entspannt, als ob man das Ende der Sehnsucht erreicht hätte“, wie Pak Wanso es ausdrückte. Für sie rief dieser Geschmack Erinnerungen an ihre Heimatstadt vor einem halben Jahrhundert wach: an den bescheiden gedeckten Esstisch, die mit Kürbisranken bewachsenen Mauern, den Gemüsegarten und die Steinplattform, auf der die Tontöpfe mit Würzsoßen und -pasten standen, und an das Gefühl der Müdigkeit und
Erleichterung, endlich zu Hause angekommen zu sein. Der Kürbis ist ein Nahrungsmittel, das bei Menschen auf der ganzen Welt Erinnerungen weckt. Niemand kann sich die Provence ohne Ratatouille mit Kürbis vorstellen. In Italien ist es Tradition, junge Kürbisblüten zu essen. Die Obstverkäuferin, im späten 16. Jh. von Vincenzo Campi (15361591) gemalt, zeigt neben allerlei Obst und Gemüse auch essbare Kürbisblüten. Auch in Mittel- und Südamerika, der Heimat des Kürbisses, sind Kürbisblüten seit langem Bestandteil der Alltagskost. In Mexiko erfreuen sich Kürbisblütensuppe oder mit Oaxaca-Käse gefüllte Kürbisblüten großer Beliebtheit.
Sommerkürbis und Winterkürbis
Der Kürbis, dieses mit Erinnerungen behaftete Nahrungsmittel, passt sich auch gut aktuellen Esstrends an. Fett- und kalorienarm, dazu reich an Eiweiß, Kohlenhydraten, Vitamin A, Kalium und Ballaststoffen, ist er attraktiv für alle modernen Menschen, die sich um ihr Gewicht sorgen. Zu den neuesten Esstrends gehören mit einem Spiralschneider hergestellte Zucchininudeln statt der üblichen Mehlnudeln. Spaghettikürbisse, deren Fruchtfleisch sich beim Kochen in Spaghetti-ähnliche Fasern auflöst, gibt es bereits seit Jahrzehnten. Besonders unter den Sommerkürbissen finden sich viele verschiedene Sorten: nicht nur die länglichen, grünen Zucchini, sondern auch gelbe Zucchini gleicher Form, aber mit Pilzgeschmack. Die Kürbisse unterscheiden sich nicht nur in der Farbe, darunter auch dunkelgrün, gelb, orange und gelbgrün, sondern auch in Form und Größe. Während Eichel-
Der günstige und leckere junge grüne Kürbis (Zucchini), der im Sommer beliebt ist, lässt sich auf vielfältige Weise verwenden, da auch seine Blätter gerne gegessen werden. Die zarten Blätter werden gedämpft oder gekocht zusammen mit einem Klecks gewürzter Sojabohnenpaste um Reis gewickelt. © Getty Image
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© Institute of Korean Royal Cuisine
kürbisse tatsächlich wie Eicheln aussehen, gibt es auch Patisson-Kürbisse, die von der Form her an Kammmuscheln erinnern. Heutzutage sind Sommerkürbisse zwar das ganze Jahr über erhältlich, aber im Sommer sind sie ein besonderer Genuss. Junge, kleine Kürbisse, die beim Abernten 15 bis 20 cm lang sind, schmecken aufgrund des geringeren Wassergehalts viel süßer. Zucchini, die oft für Eintopf-Gerichte wie Doenjang jjigae oder zum Garnieren von Nudelgerichten verwendet werden, schmecken wunderbar in dünne Scheiben geschnitten und im Ei-Mehl-Mantel gebraten. Zucchini eignen sich auch bestens für herzhafte Gerichte. Das Siui jeonseo (Kompendium ordentlicher Rezepte), eine Sammlung von Rezepten und Tischgedecken aus der späten Joseon-Zeit des 19. Jhs, enthält ein Rezept für Hobakseon, gedämpfte, gefüllte Zucchini. Dafür wird der Rücken faustgroßer junger Zucchini vor dem Dämpfen mit schrägen Einschnitten versehen, die mit Rinderhack – kurzgebraten mit Lauch, Knoblauch, Pfeffer, Öl und Honig – gefüllt und mit verschiedenen Pilzen wie Shiitake-Pilze, Austernpilze und Iwatake-Pilzen verfeinert werden. Garniert wird das Ganze mit roten Chilifäden und Omelettestreifen. An diesem Gericht, das bis heute keinen Vergleich zu anderen Speisen auf dem Esstisch zu scheuen braucht, versuchen sich viele. In Scheiben geschnittene, mit eingesalzenen Garnelen in Perillaöl kurzgebratene Zucchinischeiben ist eine der bis heute bei den Koreanern beliebtesten Beilagen. Im Vergleich zu Sommerkürbissen, deren Haltbarkeit begrenzt ist, besitzen Winterkürbisse einen so hohen Stärkegehalt, dass sie mehrere Monate lang gelagert werden können. Winterkürbisse, die reichlich Carotinoide enthalten, sind meist gelb- oder orangefarben, einige haben aber auch grüne Streifen oder sind mehrfarbig. Sie sind zu hart zum Rohessen, werden beim Kochen aber süß wie Süßkartoffeln. Wird z.B. Butternusskürbis langsam geköchelt, löst sich die Glutaminsäure auf, was den Geschmack reicher macht. Während im Westen Kürbis v.a. als Zutat für Kuchen, Torten und Suppen genutzt wird, ist in Korea süßer Kürbisbrei im Winter eine beliebte Zwischenmahlzeit. Kürbis schmeckt auch lecker, wenn er im Ofen geröstet und mit Honig beträufelt oder einfach nur gedämpft wird. So gesehen können wir Pak Wanso, die sagte, dass der Vergleich einer hässlichen Person mit einem Kürbis der Unwissenheit der Stadtbewohner geschuldet ist, nur mehr als zustimmen.
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Zucchini, die oft für Eintopf-Gerichte wie Doenjang-jjigae oder zum Garnieren von Nudelgerichten verwendet werden, schmecken wunderbar in dünne Scheiben geschnitten und im Ei-Mehl-Mantel gebraten.
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1. Das Rezept für Hobakjeon ist so einfach, dass es leicht zu Hause nachgekocht werden kann. Zucchini werden in Scheiben geschnitten, in Mehl und Ei gewendet und in der Pfanne gebraten. 2. Hobakseon werden je nach Region unterschiedlich zubereitet, aber eine häufige Methode ist, dicke Scheiben junger Zucchini einzukerben, eine gewürzte Füllmischung in die Schnittstellen zu geben und die Happen gedünstet zu servieren. Dieses Rezept findet sich in alten Kochbüchern. 3. Kürbis-Reiskuchen, für den eine Mischung aus Reismehl, reifem Kürbisfleisch, Salz und Zucker gedünstet wird, ist eine beliebte Leckerei.
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LIFESTYLE
Gäste in einem Hotel in der Seouler Innenstadt, die überfüllte Strände vermeiden wollen, erholen sich beim Sonnenbaden und Schwimmen im Pool auf dem Dach.
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Minimalistisch Urlauben Müssen wir unbedingt in ein fernes Land reisen, um Urlaub zu machen? In letzter Zeit gewinnt v.a. unter den jungen Menschen eine „rationalere“ Art, den Urlaub zu genießen, an Beliebtheit: Sie verbringen die Zeit einfach in einem Hotel oder zu Hause, um Stress und Müdigkeit einer langen Reise und die Menschenmassen an beliebten Reisezielen zu vermeiden. Kim Dong-hwan Reporter, The Segye Times
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ur 42 % von 1.000 Erwachsenen im Alter zwischen 19 und 59 Jahren stimmten in einer 2018 von der Marktforschungsagentur Macromill Embrain durchgeführten Umfrage zu, dass sie im Sommerurlaub unbedingt irgendwohin reisen müssen. Dagegen meinten 53,2 % „es ist auch okay, nirgendwohin zu fahren“, da die Resorts meist vor Touristen überquellen und Wucherpreise an der Tagesordnung seien. Viele klagten auch darüber, „die Müdigkeit danach“ nicht so leicht abschütteln zu können. Vor diesem Hintergrund sind in den letzten Jahren neue Trends wie „Hocance“ (hotel + vacance) oder „Homecance“ (home + vacance) aufgekommen.
Dem Alltagstrott entfliehen
Im März 2019 gewann Woo Seung-min, ein Sportmarketing-Spezialist in den Zwanzigern, bei einer Tombola einen Hocance-Gutschein und genoss einen unvergesslichen Aufenthalt mit Übernachtung in einem Hotel in der Seouler Innenstadt. „Bei den bei uns üblichen Gruppenreisen bewegt man sich an den Urlaubsorten ja nur nach dem festgelegten Reiseplan“, sagte er. „Früher war für mich ein Hotel nur ein Ort zum Übernachten, aber nach der Hocance-Erfahrung hat sich meine Einstellung völlig verändert.“ Nach dem Einchecken um 14.00 Uhr musste Woo sofort zu einem Geschäftstreffen, von dem er erst gegen 22.00 Uhr zurückkehrte. Eigentlich hatte er vorgehabt, sich bei frittiertem Hühnchen und Bier ein Fußballspiel im Stadion anzusehen. Statt dessen besorgte er sich einige Snacks im 24-Stunden-
Laden nebenan und schaute sich einen Film auf seinem Tablet-PC an. Insgesamt schenkte diese erholsame Verschnaufpause ihm Mußestunden. Normalerweise frühstückt Woo nicht, aber auf Anraten von Freunden stand er dieses Mal früh auf und aß eine ordentliche Mahlzeit: eine Schüssel Reis mit Rührei, gebratenem Huhn und Kimchi. Dann ließ er sich in der hoteleigenen Sauna massieren, bevor er gegen 11.00 Uhr auscheckte. „Es war eine Gelegenheit, auf unkonventionelle und völlig unkomplizierte Weise dem Alltag zu entfliehen“, sagte Woo. „Beim nächsten Mal möchte ich zusammen mit Freunden Fußball-Hocance genießen.“ Geplant ist, nach dem gemeinsamen Besuch eines Profispiels im Fußballstadion abends im Hotel die TV-Übertragung des Spiels einer ausländischen Fußballliga anzusehen und dabei ein köstliches Abendessen zu genießen. Nicht nur in den Sommerferien sind die Hotels mit Familien, Verliebten, Freunden und Partygängern überfüllt, sondern auch zu Weihnachten, über den Jahreswechsel und an den mehrtägigen traditionellen Feiertagen wie dem Lunar-Neujahrsfest Seollal oder dem Erntedankfest Chuseok ist alles ausgebucht. Traditionsgemäß besuchten die Kinder an diesen Tagen Eltern und Verwandte in ihren Heimatorten, um die Festtage gemeinsam zu verbringen. Aber heutzutage leben die Familien weit verstreut, sodass der Tradition zu folgen gleichbedeutend damit ist, viele Stunden auf verstopften Autobahnen zu verbringen. Um dem zu entgehen, treffen sich die Familienmitglieder zu einem entspannten Zusammensein in einem für alle leicht erreichbaren Hotel. Die wachsende Popularität von Hocance ist auch auf die Reduzierung der Wochenarbeitszeit von maximal 68 auf 52 Stunden (40 Stunden gesetzliche Arbeitszeit plus 12 Stunden Überstunden) im Juli 2018 zurückzuführen. Ziel dieser von der Regierung ini-
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„Es war eine Gelegenheit, auf unkonventionelle und völlig unkomplizierte Weise dem Alltag zu entfliehen.“
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1. Mit Freunden oder Familie bei Drinks und Leckereien im Hotelzimmer fern zu schauen, ist eine Möglichkeit, der Tretmühle des Alltags zu entfliehen und seine Freizeit zu genießen. 2. Ein Gast verbringt die freie Zeit in einem Hotelzimmer. Die Hotels locken mit einer bunten Palette von HocancePackageangeboten für alle, die Mußestunden verbringen wollen, ohne dafür lange Anfahrten in Kauf nehmen zu müssen.
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tiierten Kürzung der Regelarbeitszeit ist eine gesündere Work-Life-Balance. Nicht wenige begannen sich daraufhin den kleinen Luxus zu gönnen, nach der Arbeit vollkommene Ruhe und Entspannung zu genießen. Postings in den Sozialen Medien taten das Ihrige, um das Konzept dieser Art von Miniurlaub zu verbreiten. Als Reaktion darauf begannen einige Hotels damit, spezielle Übernachtungspakete mit Gutscheinen für Schwimmbad und Restaurants anzubieten. Nach einer Analyse von WITH Innovation, dem Betreiber der koreanischen Unterkunft-App Yeogi Eottae (Wie wär’s hier?), war „Warmwasserschwimmbad“ zwischen Dezember 2018 und Februar 2019 das häufigste Suchwort; parallel dazu stiegen die Suchanfragen nach mit Warmwasserschwimmbad zusammenhängenden Stichwörtern im Vorjahresvergleich um rund 40 %. Laut WITH Innovation soll dieser neue Trend auch durch die zunehmende Zahl von Hotels, die mit entsprechenden Erholungseinrichtungen ausgestattet sind, beflügelt worden sein. Daneben sei das große Interesse aber auch auf Hashtags in den Sozialen Medien zurückzuführen, die Hocance-Erlebnisse thematisieren.
Package-Angebote
Neben den verschiedenen Pauschalangeboten für Hocance-Übernachtungen haben die Hotels auch ihre Package-Angebote für die traditionellen Feiertage ausgebaut. So bot ein Hotel auf der Ferieninsel Jeju-do im letzten Jahr zum Erntedankfest Chuseok unter dem Motto „Ein Geschenk für Ihre
son zu maximieren, und die Bataillone von Gästen überlasteten die Kapazität von Schwimmbädern und Aufzügen, was den Aufenthalt unangenehm und unbequem machte. Statt eines unvergesslichen Urlaubs hatten einige Gäste letztendlich das Gefühl, nur Zeit und Geld verschwendet zu haben. Das Ergebnis war ein Anstieg der Beschwerden auf Reiseportalen und in den Sozialen Medien.
Meine Wohnung, mein Feriendomizil
2 © Grand Intercontinental Seoul Parnas
geliebte Frau“ ein Pauschalpaket mit kostenlosem Frühstück, einem Getränkegutschein für Bier-Cocktail und einer Fußmassage an. Andere Hotels locken über die Feiertage mit neuen kulinarischen Kreationen von Starköchen, auf Singles abgestimmten Feiertagspaketen, Kombinationen aus Kino und Frühstück oder einem Museumspass für Gäste mit mehr als zwei Übernachtungen. Während der in diesem Jahr fünftägigen Feiertage zum Lunar-Neujahrsfest Anfang Februar warteten die großen Hotels in Korea mit attraktiven Package-Programmen auf, darunter Kombinationen wie Besuch eines Spas europäischen Stils plus Eintrittskarten für ein Jazzkonzert, aber auch einem Aufenthalt in einem zur selben Kette gehörenden Hotel im Ausland. Infolge solcher Bemühungen konnte ein bekanntes Hotel in der Seouler Innenstadt seinen Anteil an einheimischen Gästen, der im Jahresdurchschnitt bei 20 % liegt, während der traditionellen Feiertage mehr als verdreifachen. Ein Hotelmanager erklärte: „Die meisten Gäste, darunter auch welche, die während der Feiertage nicht in ihre Heimatorte fuhren, wollten sich einfach in einem nahe gelegenen Hotel mit bequemen Einrichtungen ausruhen und entspannen.“ Bei Hocance besteht jedoch die Gefahr, dass es zu populär wird und die Reisebranche sich übernimmt. Nach Angaben der Korea Fair Trade Commission und der Korea Consumer Agency wurden während der Sommerreisesaisons 2015 bis 2017 insgesamt rund 1.700 Beschwerden gegen Hotels, Reiseagenturen und Fluggesellschaften geltend gemacht. Insbesondere die Hotels überbuchten, um ihre Gewinne in der Hochsai-
Eine Variante von Homecance ist „Staycation“ (stay + vacation:) bzw. „Holistay“ (holiday + stay), die ebenfalls beliebt ist. Hier geht es darum, einen Teil seiner Wohnung in einen „Urlaubsort“ zu verwandeln. Laut dem Mobilfunkbetreiber SK Telecom ergab eine Analyse von insgesamt 1.317.420 Datenpunkten aus Nachrichten, Internetblogs, Internetforen und Sozialen Netzwerken für Juli 2018, als die Temperaturen über 33°C stiegen, dass die häufigsten Schlagwörter im Zusammenhang mit Sommerurlaub „Homecance“ und „Veterpark“ (veranda + water park) waren. Um denjenigen, die überfüllte Resorts meiden wollen, „Ferien auf dem Balkon“ zu ermöglichen, bieten verschiedene Hersteller und Einzelhändler die dafür notwendigen Produkte und Gerätschaften an. „In den 15 Tagen vom 16. bis 30. Juli, als die Ferienhochsaison 2018 begann, stieg der Umsatz von Mini-Videoprojektoren und Bluetooth-Lautsprechern um 40 bzw. 30 %“, sagte ein Vertreter des Elektrowaren-Outlets LOTTE Hi-Mart. Diese Produkte waren seiner Meinung nach sehr gefragt, weil sie eine ganze Wand in eine Leinwand verwandeln und Kino-Klangqualität erzeugen können. Nicht zuletzt sind auch tischfertige Campingspeisen, die auf den Homeshopping-Kanälen verkauft werden, bei den Homecance-Urlaubern sehr beliebt.
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REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR
REZENSION
Ethischer „Zeitunterschied“ im Leben nach Verlust Seit ihrem Debüt 2002 im Alter von 22 Jahren war die erzählte Welt von Kim Ae-ran von Heiterkeit und Wärme geprägt gewesen. Doch in ihren jüngsten Erzählungen ist an die Stelle der fröhlichen Lebhaftigkeit eine ruhige Gelassenheit getreten, mit der sie Verlust, Abschied und Sehnsucht betrachtet. Choi Jae-bong Reporter, The Hankyoreh
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im Ae-ran, die um die zehn Jahre früher als andere Autoren ihrer Generation debütierte, führte bestimmte Trends an, die die Werke von Schriftstellern, die wie Kim in den 1980ern geboren sind, kennzeichnen. Enge, schäbige Räumlichkeiten wie 24-Stunden-Läden, billige Gosiwon-Wohnheime für Leute, die sich auf Staatsprüfungen vorbereiten, Lesesäle für diejenigen, die pauken müssen, Behausungen im Souterrain oder auf dem Flachdach und die dadurch symbolisierte niederdrückende Realität der jungen Generation des 21. Jh. sind Teil dieser Trends. Ihr erster Erzählband Lauf, Vater, lauf (2005) enthält neun Erzählungen. In vielen davon ist der Vater eine wichtige Figur: Er ist entweder abwesend, unfähig oder wirkt unscheinbar. In der Titelgeschichte Lauf, Vater, lauf verlässt der Vater seine hochschwangere Frau und kehrt nie wieder zurück. Auch in der Erzählung Liebesgruß taucht der vor Langem verschwundene Vater nicht wieder auf. In Der wahre Grund ihrer Schlaflosigkeit hat sich der Vater, der „derjenige gewesen war, der die Familie zugrunde gerichtet“ hat, im Mietzimmer seiner Tochter eingenistet und sieht bis spät in die Nacht fern, was deren Schlaflosigkeit nur noch verschlimmert. Verglichen damit ist zumindest der Vater in Der Hüpfstock vergleichsweise tüchtig, ja relativ normal. Dieser Vater, Inhaber eines Elektrogeschäfts, entpuppt sich aber als fader Typ, als er den Straßenlaternenmast hochklettert, nur um geschwind wieder herabzusteigen, weil seine Hände frieren.
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Dabei hatte er doch in der Nacht davor geträumt, dass sein ältester Sohn, der nach seinem Durchrasseln bei der Uniaufnahmeprüfung von zu Hause weggelaufen war, zurückkehrt, weshalb er für ihn die Laterne reparieren wollte. In diesem Sinne ist die Erzählung Feuerwerksspiele am Strand in vieler Hinsicht bedeutsam: Ein Junge, der Protagonist, fragt eines Tages seinen Vater, wie er zur Welt gekommen sei. Der Vater gibt darauf zwar verschiedene Antworten, aber keine ist glaubwürdig. Das Kind beschließt sich selbst eine Geschichte über seine Geburt auszudenken. In der Erzählung heißt es: „Weil das Kind die Stimme seines Vaters nicht mehr vernimmt, will es nun selbst erzählen.“ So wird das kind selbst zum Erzähler. Dieser Passus ist von großer Bedeutung, da er als Metapher für die Geburtsstunde der „Autorin Kim Ae-ran“ betrachtet werden könnte und thematisch zu ihrem ersten Roman Mein pochendes Leben (2011) weiterführt. In ihrem zweiten Erzählband Das Wasser läuft im Mund zusammen (2007) zieht der Versuch, objektiv gesehen unvorteilhafte und unglückliche Situationen in subjektive Ästhetik zu kleiden und so zu überwinden, die Aufmerksamkeit auf sich. Das zeigt sich z.B. in der Erzählung Hochmütiges Leben, in der die Protagonistin in ihrer Souterrainwohnung, in die der Monsunregen eindringt, auf die Klaviertasten hämmert. Dagegen thematisiert die Titelgeschichte in Form eines physiologischen Phänomens die Sehnsucht nach der Mutter, die ihrer Tochter vor ihrem Verschwinden vor vielen Jahren
© Gwon Hyeok-jae
ein Kaugummi-Päckchen in die Hand gedrückt hatte. Messerschnitt beschreibt eine Mutter, die ihr Leben lang Nudeln verkauft, um ihre Kinder großzuziehen, was Kims autobiografischem Hintergrund entspricht. Kim Ae-rans erster Roman Mein pochendes Leben (2011) kam ihm zehnten Jahr nach ihrem Debüt heraus. Er war kommerziell so erfolgreich, dass er sogar verfilmt wurde, was ein „Kim-Ae-ran-Phänomen“ auslöste. Der Roman erzählt von einem 16-jährigen Jungen, der unter Progerie leidet und in Folge des beschleunigten Alterns im Sterben liegt. Er schreibt eine Geschichte über die Begegnung und Liebe zwischen seinem Vater und seiner Mutter, die ihn in jungen Jahren bekommen haben, und hinterlässt sie den Eltern. Dieser Roman verdient besondere Aufmerksamkeit, da er eines der wichtigsten Merkmale von Kims Werken am deutlichsten herauskristallisiert, nämlich die Einstellung, Trauer und Leid mit Humor zu begegnen. Doch in den darauf folgenden beiden Erzählbänden Flugzeugstreifen am Himmel (2012) und Draußen herrscht Sommer (2017) ist von diesem für Kim typischen Humor fast keine Spur mehr zu finden. Dafür scheint es zwei Gründe zu geben: Einerseits wollte sie nach Überschreiten ihres 30. Lebensjahres womöglich von der Heiterkeit der Jugend etwas Abstand nehmen. Andererseits dürften dahinter eine Reihe von Geschehnissen stehen, die ganz Korea erschütterten und möglicherweise jegliche Lust auf Humor unterdrückten: Zu nennen sind die Yongsan-Katastrophe von 2009, bei der fünf Mieter und ein Polizist getötet wurden, als während eines Zusammenstoßes zwischen Polizei und demonstrierenden Mietern, die sich gegen die Sanierung des Seouler Stadtviertels Yongsan und die diesbezüglichen Entschädigungsmaßnahmen wehrten, ein Brand ausbrach; dann die Sewol-Fährkatastrophe von 2014, bei der Hunderte von Menschen ums
Leben kamen, die meisten Oberschüler auf Klassenfahrt. In Hinblick darauf sagte Kim in einem Interview einmal: „Ich habe erkannt, dass es auch Situationen gibt, in denen ich nicht mehr scherzen kann.“ Im Nachwort ihres aktuellen Erzählbandes Draußen herrscht Sommer erklärt sie: „Bei meinen Überlegungen darüber, welche Worte nötig wären, damit eine Figur zu einem Menschen werden kann, sah ich mich einmal mit solchen Zeiten konfrontiert, die etwas anderes als Worte verlangten. Seitdem passiert es oft, dass ich innehalte.“ Genau mit solchen Situationen befassen sich die beiden Erzählungen Insekten und Goliath im Wasser aus dem Erzählband Flugzeugstreifen am Himmel, die die dunklen Seiten von Stadtsanierungsprojekten anhand dystopischer Vorstellungskraft beleuchten, sowie die beiden Erzählungen Winterbeginn und Wo möchten Sie gerne? hin aus dem Band Draußen herrscht Sommer, die das Sewol-Fährunglück zwar nicht direkt erwähnen, aber eindringlich daran erinnern. Die Erzählung Die Nützlichkeit der Landschaft ist gewissermaßen die Titelgeschichte von Kims jüngstem Erzählband Draußen herrscht Sommer. Er enthält jedoch keine Erzählung mit gleichlautendem Titel. Vielmehr stammt der Titel aus einem Satz in Die Nützlichkeit der Landschaft, in dem der Protagonist das Gefühl beschreibt, eine Schneekugel in der Hand zu halten: „Schneesturm in der Glaskugel, Hochsommer außerhalb der Glaskugel“. Der hier beschriebene Unterschied zwischen den Jahreszeiten innerhalb und außerhalb der Schneekugel steht in Zusammenhang mit dem Thema der Erzählsammlung: Erzählt wird von Menschen, die in einer Zeit nach Tod oder Verlust – einer „Zeit nach der Klippe“, wie die Autorin es beschreibt – weiterleben. Die Nützlichkeit der Landschaft erzählt die Geschichte eines Mannes, dessen Eltern sich aufgrund einer außerehelichen Beziehung des Vaters scheiden lassen. Der Protagonist wächst mit einem Gefühl der Feindseligkeit gegenüber seinem Vater auf, die über reine Distanziertheit hinausgeht. Sicherlich ist es nur natürlich, dass ein Kind gegenüber dem Vater, der die Familie im Stich gelassen hat, nicht gerade positive Gefühle hegt. Doch die Autorin hinterfragt, ob die ethische Überlegenheit, die der Protagonist für sich in Anspruch nimmt, wirklich gerechtfertigt ist. Die Erzählung endet damit, dass der Protagonist glaubt, dass ihm jemand „Doppelfehler“ zuruft, während er in sich hineinmurmelt „Ich habe nie etwas umsonst gewollt!“ Sein ganzes Leben lang hat er auf Grundlage ethischer Prinzipien seinem Vater die Schuld zugewiesen und ihn verurteilt. Doch am Ende ist es der Sohn und nicht der Vater, über den das Urteil gefällt wird. Könnte das nicht als „ethischer „Zeitunterschied“ bezeichnet werden?
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Südostasien
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Europa und Nordamerika
Afrika und Südamerika
4
3
US$ 9
* Für frühere Ausgaben gelten zusätzliche Gebühren für Luftpostzustellung 1 Ostasien (China, Hongkong, Japan, Macau, Taiwan) 2 Südostasien (Brunei, Indonesien, Kambodscha, Laos, Malaysia, Myanmar, Ost-Timor, Philippinen, Singapur, Thailand, Vietnam, ) und Mongolei 3 Europa (einschl. Russland und GUS), Naher Osten, Nordamerika, Ozeanien, Südasien (Afghanistan, Bangladesch, Bhutan, Indien, Malediven, Nepal, Pakistan, Sri Lanka) 4 Afrika, Süd- und Mittelamerika (einschl. Westindische Inseln), Südpazifische Inseln
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Three perspectives on the road ahead for peace efforts
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Christopher h. lim & vincent mack zhi wei Global Ambitions of Beijing’s Belt and Road Initiative stephen blank Washington Returns to Central Asia Kai he & huiyun feng A Quest for Joint Prestige: Rethinking the US-China Rivalry t. v. paul The Risks of War Over the South China Sea beginda pakpahan Indonesia’s Indo-Pacific Challenge book reviews by Nayan Chanda, Taehwan Kim, John Delury and John Nilsson-Wright
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