WINTER 2017
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST
SPEZIAL
GANGWON-DO
LAND der BERGE,
1975-0617 KOREANISCHE KULTUR UNDISSN KUNST 87
JAHRGANG 12, NR. 4
Mythen und Erinnerungen Seht die Sonne am Ostmeer aufgehen!; Geschichten rund um Berge, Flüsse und Meer von Gangwon-do; Die Winterwunder von Gangwon-do genießen; Lebensgrundlage, erbaut auf sauberer Natur; Sehnsucht der heimatlosen Bewohner eines Küstendorfes
Die Provinz Gangwon-do
IMPRESSIONEN
Pojangmacha Wagen ohne Pferd und Fortkommen Kim Hwa-young Litertaturkritiker, Mitglied der National Academy of Arts
„J
eder, der im Winter 1964 in Seoul war, dürfte sie kennen, die kleinen Zelte am Straßenrand, in denen nach Anbruch der Dunkelheit Odeng-Spießchen, gegrillte Spatzen und drei Sorten Schnaps verkauft wurden. Ein schäbiger Vorhang flatterte im eisigen Wind; zog man ihn beiseite, sah man in die unruhig flackernde Flamme einer Karbidlampe, in deren Licht der Wirt, ein Mann mittleren Alters in einer umgefärbten Armeejacke, mit dem Nachfüllen der Gläser und Zubereiten der Speisen beschäftigt war. In einem dieser Zelte trafen wir zufällig in jener Nacht aufeinander.“ (Aus: Kim Sŭng-ok: Mujin im Nebel, übers. v. Park/Augustin, Göttingen 2009, S.145) So beginnt die Erzählung Seoul, Winter 1964 (1965) des koreanischen Schriftstellers Kim Seung-ok [Kim Sŭng-ok] (geb. 1941). Die „Pojangmacha“ (wörtlich: überdachte Karre) in Korea werden im Gegensatz zu den Planwagen im Wilden Westen der Pionierzeit nicht von Pferden gezogen und auch nicht gefahren. Pojangmacha sind keine Transportmittel, sondern überdachte „Behelfsbar-Stände“ am Straßenrand, wo man auf einen Bissen und ein Glas Halt machen und dann wieder seines Weges gehen kann. Die einzige Gemeinsamkeit, die eine Pojangmacha mit einem Transportmittel hat, dürfte sein, dass sie mit einer Plane bedeckt ist und leicht zugänglich am Straßenrand steht. Diese rollenden Ess- und Trinkbuden an der Straße, die erst in der Dämmerung erscheinen, sind fester Bestandteil der koreanischen Stadtlandschaft. Im Vergleich zum noch von Armut geprägten Jahr 1964 aus der Erzählung hat sich das Menü-Angebot heutzutage vervielfältigt: Neben Eomuk (Eomuk-Fischkuchen-Gerichten) umfasst die lange Angebotsliste heutzutage Schleimaale, Hühnerfüße, Schweinerippchen, Sundae (koreanische Blutwurst), Fritiertes aller Art, Tteokbokki-Reiskuchenwürste in scharfer Soße und Udong-Nudelsuppe. Die Spezialität „gegrillte Spatzen“ aus den 1960ern gibt es heute nicht mehr. Und die Karbidlampen wurden durch elektrisches Licht ersetzt. Statt gefärbter Armeejacken, Relikten des Koreakrieges, tragen die jungen Leute heute Jeans und bequeme Jacken. In koreanischen Fernsehserien ist es die Pojangmacha, wo der Protagonist einsam und allein seinen Liebeskummer oder seine Enttäuschung über schief gelaufene Geschäfte in Soju ertränkt und dann eine Frau, die im Vorbeigehen zufällig auf ihn aufmerksam wird, sich zu ihm setzt, um den Armen, der kaum noch bei Bewusstsein ist, zu trösten. Und gleich danach erscheint die Einblendung „Fortsetzung folgt“, als ob jetzt die große Wende zu erwarten wäre. Diese Straßen-Bistros, die jeder leicht und spontan aufsuchen kann, lösen starke Nostalgiegefühle in den Herzen der Koreaner aus. Doch viele dieser von Ort zu Ort ziehenden Betriebe sind illegal. Deshalb gibt es ab und zu auch Pojangmacha-Kneipen im Inneren von Gebäuden – eine legale, aber etwas bizarre Lösung. Die Pojangmacha verkörpert Freud und Leid der modernen Geschichte Koreas auf ihre ganz eigene Weise. © HANKHAM
Von der Redaktion
Kunst und Realität im Herzen von Gangwon-do Es waren dunkle Zeiten, in denen die schwarzen Schatten der Militärdiktatur immer noch über der koreanischen Gesellschaft hingen. Junge Künstler, die auf der Seite des unterdrückten Volkes standen, stellten das Leben der am Rande der Gesellschaft leidenden Fabrikarbeiter und Bauern in hyperrealistischen Bildern dar, die den Betrachter verstummen ließen. Selbst die volksnahen Minjung-Künstler der 1980er Jahre betrachteten Hwang Jaihyoungs Entschluss, sich in einer entlegenen Kohlebergwerkstadt in der Provinz Gangwon-do niederzulassen, als einen Akt der Radikalität. Hwangs Bilder von Kohlezechen und Bergleuten im Park Soo Keun Museum in der sonnendurchfluteten Bergstadt Yanggu ausgestellt zu sehen, war eine unerwartete und freudige Überraschung. Anfang September besuchte das für die SPEZIAL-Reihe von Koreana zuständige Team das Museum auf seiner Tour durch die Provinz Gangwon-do. Dort entdeckte das Team die Ausstellung von Hwangs Werken, die anlässlich seiner Ehrung mit dem ersten Park Soo Keun Kunstpreis auf den Weg gebracht worden war. Der Preis wurde zu Ehren des verstorbenen Malers Park Soo Keun ins Leben gerufen, dessen Sujet immer wieder das Leben des kleinen Mannes im von Armut geprägten Korea der 1950er und frühen 1960er Jahre gewesen war. Das Cover der vorliegenden Ausgabe vermittelt still und beredt zugleich, warum Hwang zum ersten Empfänger des Preises nominiert wurde. Abgesehen von Bescheidenheit und Aufrichtigkeit, die beide Künstler auszeichnen, ähneln sich ihre Werke trotz der Unterschiede der verwendeten Materialien in Bezug auf ihre Textur. Das ist einerseits ganz offensichtlich das Resultat ihres mühsamen Schaffens, andererseits aber auch das Ergebnis ihrer leidenschaftlichen Suche nach Materialien und Methoden, mit denen sich ihre Gedanken und Gefühle am besten zum Ausdruck bringen lassen. Unsere Neuentdeckung von Hwang führte zu einem Interview mit ihm in Taebaek, dem Herzen von Gangwon-do, wo er immer noch als Maler und aktives Mitglied der örtlichen Gemeinde lebt. (Siehe Interview.) Ahn In-kyoung Chefredakteurin der deutschen Ausgabe
VERLEGER Lee Sihyung REDAKTIONSDIREKTOR Yoon Keum-jin CHEFREDAKTEURIN Ahn In-kyoung REDAKTIONSBEIRAT Bae Bien-u Charles La Shure Choi Young-in Han Kyung-koo Kim Hwa-young Kim Young-na Koh Mi-seok Song Hye-jin Song Young-man Werner Sasse COPY EDITOR Anneliese Stern-Ko KREATIVDIREKTOR Kim Sam LEKTORAT Ji Geun-hwa, Park Do-geun, Noh Yoon-young KUNSTDIREKTOR Kim Do-yoon DESIGNER Kim Eun-hye, Kim Nam-hyung, Yeob Lan-kyeong LAYOUT & DESIGN
Kim’s Communication Associates 44 Yanghwa-ro 7-gil, Mapo-gu Seoul 04035, Korea www.gegd.co.kr Tel: 82-2-335-4741 Fax: 82-2-335-4743
ÜBERSETZER
Ahn In-kyoung Anneliese Stern-Ko Do Young-in Lie Yukyung Park Ji-hyoung
Preis pro Heft in Korea 6.000 Won Außerhalb Koreas US$9 Detailinformationen zu den Subskriptionspreisen finden Sie auf Seite 84. THE KOREA FOUNDATION BERLINER BÜRO c/o Botschaft der Republik Korea Stülerstraße 8-10, 10787 Berlin, Germany Tel: +49-(0)30-260-65-458 / Fax: +49-(0)30-260-65-52 E-mail: koreana@kf.or.kr The Korea Foundation West Tower 19F Mirae Asset CENTER1 Bldg. 26 Euljiro 5-gil, Jung-gu, Seoul 04539, Korea
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST Winter 2017
GEDRUCKT WINTER 2017 Samsung Moonwha Printing Co. 10 Achasan-ro 11-gil, Seongdong-gu, Seoul 04796, Korea Tel: 82-2-468-0361/5
Viertejährlich publiziert von THE KOREA FOUNDATION 2558 Nambusunhwan-ro, Seocho-gu Seoul 06750, Korea http://www.koreana.or.kr
“Lying Down in the Midst of Mountains” Hwang Jai-hyoung 1997–2005. Erde und Mixed Media auf Leinwand, 227,3 x 162,1 cm.
© The Korea Foundation 2017 Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Publikation darf ohne vorherige Genehmigung der Korea Foundation in irgendeiner Form reproduziert werden. Die Meinungen der Autoren decken sich nicht notwendigerweise mit denen der Redaktionsmitglieder oder der Korea Foundation. Koreana ist als Vierteljahresmagazin beim Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus registriert (Reg. Nr. No. Ba-1033, August 8, 1987) und erscheint neben Deutsch auch auf Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Indonesisch, Japanisch Russisch und Spanisch.
© Pyeongchang county
SPEZIAL
Die Provinz Gangwon-do: Land der Berge, Mythen und Erinnerungen
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SPEZIAL 1
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SPEZIAL 3
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SPEZIAL 5
Seht die Sonne am Ostmeer aufgehen!
Die Winterwunder von Gangwon-do genießen
Sehnsucht der heimatlosen Bewohner eines Küstendorfes
Lee Chang-guy
Choi Byung-il
Song Young-man
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SPEZIAL 2
SPEZIAL 4
Geschichten rund um Berge, Flüsse und Meer von Gangwon-do
Lebensgrundlage, erbaut auf sauberer Natur
Lee Soon-won
Lee Byung-oh
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INTERVIEW
EIN GANZ NORMALER TAG
Das Leben am Ende des Kohlenbergwerkes porträtieren
Ein glückliches Leben lässt alles besser schmecken
Chung Jae-suk
Jo Eun
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REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR
Convenience Store: Anonym zwischen Toleranz und Kälte Choi Jae-bong
46
UNTERWEGS
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BLICK AUS DER FERNE
Duft der Apfelblüten steigt aus tausend Gassen
Fürs Leben lernen: Meine Praktikumserfahrungen in Korea
Gwak Jae-gu
Saskia Lipsky
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64
GESCHICHTEN AUS ZWEI KOREAS
LIFESTYLE
Eugene Bell Stiftung: Nächstenliebe über die DMZ hinaus
Mit der Bahn auf der Suche nach dem Reiz des Analogen
Kim Hak-soon
Park san-ha
Ich gehe zum Convenience Store Kim Ae-ran
SPEZIAL 1 Die Provinz Gangwon-do: Land der Berge, Mythen und Erinnerungen
SEHT DIE SONNE AM OSTMEER AUFGEHEN! Der Ort, an dem sich eine Kette hoher und steiler Berge erstreckt, um schließlich ins blaue Ostmeer zu stürzen; der Ort, an dem sich malerische Landschaften im herzzerreißenden Kontrast um das raue Leben der Menschen schließen: Das ist wohl das Bild, das viele Koreaner von der Provinz Gangwon-do haben. Der stechende Duft der Blüten des Stumpflappigen Fieberstrauchs, die Pracht weißer Buchweizenblüten im Mondschein und der überwältigende Sonnenaufgang am Ostmeer sind selbst für diejenigen, die noch nie dort waren, vertraute Assoziationen mit Gangwon-do. Denn durch Romane und Lieder hat man das alles schon „erlebt“. Lee Chang-guy Dichter und Literaturkritiker Fotos Ahn Hong-beom
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A
uf einer schwach beleuchteten, einfachen Bühne zupft ein Sänger die Gitarrensaiten und beginnt zu singen: 500 Miles der amerikanischen FolkGruppe Peter, Paul and Mary. Der Geräuschpegel im Raum sinkt merklich, der Gesang zieht das Publikum in seinen Bann. Im stillen Dunkel versuchen einige, ihre Emotionen zu zügeln, andere wischen sich bereits die Tränen ab. Diese Szene aus einem amerikanischen Kleinstadt-Café war auf YouTube zu sehen. Ein Lied ist Komprimierung und gleichzeitig Erweiterung einer Geschichte. In 500 Miles wurden Freud und Leid der modernen amerikanischen Geschichte – Eisenbahnbau, Bürgerkrieg, Große Depression und Massenentlassungen – abstrahiert in Form der Geschichte eines Vagabunden, der sich zurück nach Familie und Heimatort sehnt, was dann wiederum verallgemeinernd auf die Gefühlslage des amerikanischen Volkes übertragen wurde. Dass während der kurzen Dauer eines Liedes Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen einander verstehen und Empathie füreinander empfinden, ist nicht weiter überraschend oder schwierig. Vorausgesetzt, dass wir unsere Voreingenommenheit ablegen. Das diesmalige Thema von SPEZIAL ist die Provinz Gangwon-do. Daher möchte ich zunächst das Lied Hangyeryeong empfehlen, geschrieben von Ha Deok-gyu und gesungen von Yang Hee-eun. Der Weg nach Geumgang-san In topografischer Hinsicht könnte man die Provinz Gangwon-do mit der Schweiz vergleichen. So wie sich ein Großteil der Schweiz über die Alpen erstreckt, so umschließt Gangwon-do das Gebiet vom Gebirge Geumgang-san (Diamantgebirge) bis zum Gebirge Taebaek-san, also den Teil des Bergmassivs Baekdu Daegan, der das Rückgrat der koreanischen Halbinsel bildet. Zu den Zeiten, als die Landwirtschaft die Hauptlebensgrundlage bildete, war die von Bergen eingeschlossene Provinz Gangwon-do kein gastfreundliches Fleckchen Erde. Im Geographiebuch Taengniji (Führer durch Korea, 1751) heißt es zu Gangwon-do: „Die Erde ist so trocken und kieshaltig, dass ein Scheffel Samen kaum mehr als zehn Scheffel Frucht ergibt.“ Das ist auch heute noch nicht viel anders. Aufgrund dieser Gegebenheiten waren die Bergdörfer in Gangwon-do für politisch und gesellschaftlich Unterdrückte und Verfolgte ideale Orte der Zuflucht. Denkt man an die Zeiten zurück, in denen Steuern in Form von Naturalien erhoben wurden, lässt sich die ungünstige Lage der Provinz einfacher erfassen. In Gangwon-do gab es nur zwei Lagerhäuser für Naturalabgaben, die im Vergleich zu anderen Provinzen jedoch sehr klein waren. Auch in puncto 1 Zahl und Größe der Schiffe, die für den Transport der Abga-
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In Bongpyeong, dem Geburtsort des Schriftstellers Yi Hyo-seok (1907–1942), erstrecken sich genau wie in Yis Werken weitläufige Buchweizenfelder. Jeden September, wenn die weißen Blüten ihre volle Pracht entfalten, veranstaltet die Stadt ein Festival zu Ehren des Schriftstellers.
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ben in die Hauptstadt gebraucht wurden, stand Gangwon-do den anderen Provinzen nach. Für die Region östlich der Taebaek-Gebirgskette galt zudem schon von vornherein die Ausnahmeregelung, dass die Abgaben innerhalb der Provinz verbraucht werden sollten. Diese Regelung wurde im 17. Jh. mit der Einführung des Gesetzes Daedongbeop, nach dem Steuern einheitlich in Form von Reis statt anderer lokaler Spezialerzeugnisse zu erheben waren und die Höhe der Steuer statt pro Haushalt nach der Größe des Landbesitzes berechnet wurde, weitgehend bedeutungslos. Bauern, die keine eigenen Anbauflächen besaßen oder arm waren, wurden entsprechend entlastet. In den Zeiten, als die herrschende Klasse aus konfuzianischen Gelehrten bestand, für die ein Aufenthalt im Gebirge dazu diente, den Geist zu läutern und zu verfeinern, war Gangwon-do nichts weiter als Durchgangsstation auf dem Weg zum
Gebirge Geumgan-san, das heute zu Nordkorea gehört. Das Geumgang-san war für seine Schönheit dermaßen berühmt, dass sogar der chinesische Dichter Su Dongpo (1037-1101) sich „wünschte, in Goryeo wiedergeboren zu werden, um das Geumgan-san zu sehen“. Doch selbst für die Menschen des Goryeo-Reichs (918-1392) war es nicht leicht zugänglich. Für eine Besichtigungstour per Esel oder Sänfte – die damals übliche Art des Reisens der Oberschicht – brauchte man mindestens vier Diener. Von Seoul aus dauerte es etwa einen Monat bis zum Fuß des Gebirges, eine Reise, die sich niemand mit nur mittelmäßigem Vermögen leisten konnte. Nichtsdestoweniger blieb das Diamantgebirge Geumgangsan das Traumziel vieler Literati, Poeten und Künstler, die es aus den unterschiedlichsten Gründen dorthin zog, um ihren Geist zu klären. Daher wurde das Gebirge zum häufigsten Sujet in der koreanischen Reiseliteratur der Vormoderne,
wobei der Inhalt sich oft auf banale Beschreibungen der topografischen Besonderheiten und landschaftlichen Reize sowie persönliche Empfindungen beschränkte. Wohl deshalb bemerkte der bekannte Literati-Maler Gang Se-hwang (17131791): „Bergwandern ist für einen Menschen die verfeinerteste Beschäftigung, aber eine Besichtigungstour durchs GeumgangGebirge die vulgärste.“ Aber es gab natürlich auch Reisebeschreibungen anderer Art. So porträtiert z.B. das Lied Dongyuga (Lied über die Reise im Osten) eines unbekannten Verfassers aus der späten Joseon-Zeit sehr genau das harte Leben der armen Unterschicht: „Auf meinem Weg von Cheorwon hierher / Sah ich die einander überlappenden Berge, nur hier und da gesprenkelt mit Katen, / Mit Menschen, die Doppelspaten durch die harte Kieserde der Felder ziehen. / In den Wirtshäusern, denen es an Öl für die Lampen fehlt, / Spenden Kienspäne schwaches Licht /
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Wasserfälle Sambuyeon (Wasserfälle mit drei Teichen) aus dem Album Den Geist des Meeres und der Berge übermitteln (Haeak jeonsin cheop ) von Jeong Seon, 1747. Tusche und Farbe auf Seide, 31,4 × 24,2 cm. Obwohl die großen konfuzianischen Gelehrten die Provinz Gangwon-do oft nur als Durchgangspassage auf dem Weg ins Geumgang-Gebirge betrachteten, machten sie doch manchmal an landschaftlich besonders reizvollen Stellen Halt. Angezogen von den Sambuyeon-Wasserfällen in Cheorwon unterbrach der Maler Jeong Seon (1676–1759) seine Reise, um den spektakulären Anblick festzuhalten.
© Kansong Art And Culture Foundation
Herdstelle und Kamin, aus Lehm in einer Ecke des Raumes er richtet, sind nur kümmerliche Wärmequellen.“ Da auch im napoleonischen Frankreich des 19. Jhs fast 85% der Bevölkerung in bitterer Armut lebte, waren die Lebensverhältnisse in Gangwon-do nichts Ungewöhnliches für die Zeit. Aber in den Augen eines Anfang des 20. Jhs aktiven koreanischen Schriftstellers war die Armut der Menschen von Gangwon-do nicht so gewöhnlich. Fieberstrauchblüten und Buchweizenfelder Der Schriftsteller Kim You-jeong (1908-1937) war der jüngste Sohn einer wohlhabenden Familie, die seit mehreren Generationen im Sille-Dorf in Chuncheon, Provinz Gangwondo, gelebt hatte. Kindheit und Jugendjahre verbrachte er zwischen Chuncheon und Seoul pendelnd, wo er eine EliteBildung erhielt. Mit 23 Jahren verließ er die Hauptstadt und kehrte in seinen lediglich aus rund 50 Haushalten bestehenden Heimatort Sille zurück. Seine Lebensumstände hatten sich radikal verändert, denn seine Eltern waren früh verstorben und sein älterer Bruder hatte das ganze Familienerbe durch seinen aufwändigen Lebensstil verschleudert. Kim, der plötzlich
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ohne Mittel für Lebensunterhalt und Studium dastand und dessen leidenschaftliche Liebe zu einer Dame unerwidert blieb, erkrankte, sodass er notgedrungen in sein Heimatdorf zurückkehrte. Dabei spielte wohl auch der Gedanke mit, seinen Anteil am Erbe einfordern zu wollen, im schlimmsten Falle durch eine Klage vor Gericht. Was ihm jedoch in seinem körperlich und seelisch geschwächten Zustand Trost spendete, war nicht das kleine Erbe, sondern die Blüten des Stumpflappigen Fieberstrauchs (Lindera obtusiloba; in der deutschen Übersetzung seiner Erzählungen (Kim Yujong: Kamelien, übers. V. Baek Yunhui, Stuttgart, 2013) als „Kamelien“ übersetzt), die bei Frühlingsanfang den Berg Geumbyeong-san gelb färben, und die einfachen Menschen seiner Heimat, darunter v.a. die Landfrauen, die „raubeinig und zäh, wie die Natur sie geschaffen hat“ ihr Leben „ohne Gepränge oder Affektiertheit“ leben. Als Kim sich allmählich in der Natur und unter den Menschen seines Heimatortes erholt hatte, baute er auf einem Hügel hinter seinem Haus eine Hütte und eröffnete eine Abendschule für die Jugend des Dorfes. Eines Tages erzählte ihm eine Nachbarin von einer Deulbyeongi (von Ort zu Ort ziehende Hausiererin, die Alkohol und Liebesdienste feilbietet), die einige Tage in ihrem Haus verbracht hatte, bevor sie plötzlich verschwand. Auf Basis dieser Geschichte schrieb Kim Yu-jeong sein erstes Werk Die Vagabundin (1933). Damit wurde er zum Schriftsteller, der es sich zur Aufgabe machte, Leid und Not des Zeitalters darzustellen. In seinen Werken porträtiert er ungefiltert und humorvoll jämmerliche Männergestalten von der Art, wie er sie im Dorf Sille kennenlernte: einen von der harten Landarbeit frustrierten Mann, der von einem bequemen Leben träumt und dafür seine
Frau als Deulbyeongi durchs Land ziehen lassen will (Meine Frau, 1935); einen Mann, für den es „ein weiserer Entschluss [ist], Gold abzubauen, als ein ganzes Jahr lang zu schuften und letztlich nur ein paar Scheffel Bohnen abzubekommen“ (Das Bohnenfeld, 1935) (Übersetzung: Kim 2013 entnommen); einen Mann, der nach einer Missernte verschuldet und mittellos flüchtet und „diesen und jenen Berg, das Handgelenk seiner blutjungen Ehefrau haltend, mit der Ausrede [ansteuert], er wolle einen Ort aussuchen, wo man leben könne“ (Regenschauer, 1935) (Übersetzung: Kim 2013 entnommen). Mit solchen Porträts trug Kim dazu bei, die moderne koreanische Literatur auf eine höhere Stufe zu heben. Während Kim You-jeongs Werke auf der Erkenntnis fußen, dass die von Tag zu Tag zunehmende Verelendung der Landgemeinden auf die systematische Aneignung und Verpachtung von Agrarland durch die japanischen Kolonialherren zurückzuführen ist, entzog sich der Schriftsteller Lee Hyo-seok (1907-1942) der immer herzloser und unsicherer werdenden Realität, indem er sich ein eigenes ästhetisches Sanktuarium schuf. Es war im zweiten Jahr des Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges (1937-1945), auf dem Höhepunkt der Ausbeutung durch die japanischen Kolonialherren, als Lee Hyo-seok sein Essay Beim Verbrennen des Laubs (1938) verfasste. Darin schreibt der in der Ortschaft Bongpyeong in Pyeonchang-gun geborene Lee, dass er beim Geruch der brennenden Blätter den Duft von frisch geröstetem Kaffee wahrnehme und sich überlege, im bevorstehenden Winter einen Weihnachtsbaum aufzustellen und Skifahren zu lernen. Auffällig ist, dass Lees These, dass die „Literatur die magische Kraft besitzt, die Schönheit des Menschen, wie niederträchtig und widerwärtig er auch sein mag, aufzudecken“, nur marginal unter den immensen Druck der von den Japanern forcierten Assimilationspolitik geriet. In diesem Kontext besteht nach wie vor die Notwendigkeit zu fragen, auf welchem Punkt die Erzählung Wenn der Buchweizen blüht (1936), die von vielen als Meisterwerk der koreanischen Literatur gepriesen wird, auf Lees Schaffensweg, der vom halbherzigen Realismus seiner frühen Tage bis hin zur L'art pour L'art in seinen späten Jahren reicht, anzusiedeln ist: „Der Weg, den sie jetzt gingen, lag auf dem Bergrücken. Es war wohl kurz nach Mitternacht. In der Totenstille klang das Atmen des Mondes greifbar nah wie das eines Tieres und die ins Mondlicht getauchten Sojapflanzen und Maisblätter schienen einen Ton grüner als sonst. Die Buchweizenfelder, die mit ihren gerade aufgehenden Blüten den ganzen Bergrücken bedeckten, schienen wie mit Salz bestreut und boten im heiteren Schein des Mondes einen Anblick, der einem den Atem stocken machte. Die roten Stiele machten wehmütig wie schwerer Blütenduft und die Schritte der Esel klangen
lebhafter.“ (Auszug aus Wenn der Buchweizen blüht; Koreana, Herbstausgabe 2015) Im Gedenken an Leben und Literatur dieser beiden Schriftsteller richtete die Provinz Gangwon-do im Dorf Sille das „Literaturdorf von Kim You Jeong“ ein und in Bongpyeong, wo das Geburtshaus von Lee Hyo-seok steht, die „Lee Hyo-Seok Gedenkhalle“. Wasserläufe, verschneite Straßen und Autobahnen Viele Passstraßen in Gangwon-do verlaufen auf einer Höhe um die 1.000m über dem Meeresspiegel. Die im Hochgebirge entspringenden Wasserläufe münden meist in den Fluss Hangang. Bis in die 1930er Jahre wurde der Han-Fluss als Wasserweg zum Transport von Waldressourcen genutzt, da die Landwege zu uneben waren. Das Holz aus den nördlichen Provinzkreisen wie Inje und Yanggu kam an der Sammelstelle am Fluss Bukhan-gang an, und das aus den südlichen wie Jeongseon, Pyeongchang und Yeongwol am Fluss Namhan-gang, wo es zu Gestören zusammengebunden Richtung Seoul geflößt wurde. Von Inje bis Chuncheon dauerte es einen Tag und von Chuncheon nach Seoul ein bis zwei Wochen. Um Müdigkeit und Langeweile zu vertreiben, sangen die Flößer das Ttenmok Arirang (Floß-Arirang), eine Version des Gangwondo-Arirang mit abgewandeltem Text. Auf den Flößen wurden ab und zu auch hochwertiges Porzellan aus Bangsan, Kreis Yanggu-gun, sowie Heilkräuter und Brennholz befördert. Der Fluss Bukhan-gang war eine wichtige Verkehrsverbindung zwischen Chuncheon und Seoul. Mit Salz aus Seoul oder Naturalabgaben aus der Gangwon-Provinz beladene Schiffe nutzten diesen Wasserweg, bis er Anfang der 1940er Jahre durch den Bau von Staudämmen für Wasserkraftwerke blockiert wurde. Von da an floss Strom nach Gangwon-do. Am Fluss Naerin-cheon in Inje, auf dem sich einst die aneinandergereihten Flöße zum Gesang der Flößer fortbewegten, sind jetzt die Jubelschreie von jungen Raftern zu hören. Während die Wasserstraßen Gangwon-do an die Außenwelt anbanden, schneiden ihre schneebedeckten Straßen den Austausch ab. Sich einen Weg durch den kniehohen Schnee der Provinz zu bahnen, ist ein noch unerbittlicheres und verzweifelteres Unterfangen als sein Brot mit Tränen zu essen. Diese Wege sind in Literatur und Kunst Metaphern für Askese und Rückkehr. So lässt z.B. Hwang Sok-yong (geb. 1943) in seiner Erzählung Der Weg nach Sampo (1973) die drei von der Welle der Industrialisierung weggespülten Protagonisten auf der Suche nach einem unbekannten Ort namens „Sampo“ auf schneebedeckten Wegen herumirren. Und im Film Snowy Road (2015), der von der Heimkehr junger Trostfrauen, die im Zwei ten Weltkrieg von den Japanern in die Prostitution gezwungen
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Das Ostmeer, an dessen Küste alle Wege durch Gangwon-do enden, ist für die Koreaner weit mehr als einfach nur ein im Osten liegendes Meer. Es ist vielmehr ein Objekt des Glaubens.
worden waren, erzählt, ist zu sehen, wie die Mädchen durch den Weißbirkenwald in Inje vor der Kulisse der endlosen Gipfel des Daegwallyeong-Bergpasses nach Hause trotten. Nachdem 1971 der erste Streckenabschnitt der YeongdongAutobahn von Pangyo bis zur Saemal-Kreuzung in Wonju eröffnet wurde und 1975 der zweite Streckenabschnitt über Heongseong und Pyeongchang bis Gangneung folgte, ziehen die Trails in den Bergen von Gangwon-do unabhängig von der Jahreszeit Bergwanderer aus den Städten an. Um 1975 wurde auch ein Teil des militärischen Sperrgebietes an der Ostküste der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. In den 1970ern war der Song Walfang von Song Chang-sik vom Soundtrack des Films Der Marsch der Narren (1975) ein Hit unter den jungen Leuten, den sie lautstark zur akustischen Gitarre sangen. Der Refrain lautet: „Los, lasst uns aufbrechen, auf zum Ostmeer!“ Egal ob mit dem Bummelzug, der sich langsam durch die Berge wand, oder mit dem Expressbus über die Autobahn: Für die jungen Menschen von damals war es das Größte, in den Sommerferien mit lässig über die Schultern geschlungener Campingausrüstung ans Ostmeer zu fahren. 1975, als die Yeongdong-Autobahn vollständig freigegeben wurde, eröffnete am schneebedeckten Daegwallyeong-Pass der Yongpyeong Skiresort, der heute Hub des nationalen Wintersports ist. Im Sommer 2017 fand am Gipfel dieser Piste ein Event für die erfolgreiche Austragung der Olympischen Winterspiele 2018 in Pyeongchang statt. Auf dem Weg zum Ostmeer Im Dezember 2016 sang die Sängerin Han Young-ae bei den Kerzenlichtdemonstrationen in Seoul, an der insgesamt über zwei Millionen Menschen teilgenommen haben sollen, mit ihrer typischen, heiseren Stimme Mein Land, mein Volk, das wie folgt beginnt: „Seht! Die über dem Ostmeer aufgehende Sonne! / Auf wen richtet sie ihre sengenden Strahlen? / Auf
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An der Ostküste der Provinz Gangwon-do gibt es viele Orte, von denen aus man das herrliche Panorama der aus dem Ostmeer aufsteigenden Sonne genießen kann. Für die Koreaner ist das Ostmeer nicht nur ein ernster, an die Geschichte erinnernder Ort, sondern auch ein Ort, an dem sie den Alltag hinter sich lassen können.
uns, die wir edle Reinheit erlangt haben / Im Laufe des blutigen Kampfes.“ Der Text wurden in den 1970ern von dem Sänger Kim Min-gi verfasst, der als Student das legendäre Widerstandslied Morgentau verfasst und komponiert hatte. Den Text von Walfang schrieb Choi In-ho (1945-2013), der damals als aufsteigender Stern am Schriftstellerhimmel gefeiert wurde. Unabhängig davon, ob die Yeongdong-Autobahn als Symbol der Beschleunigung von Industrialisierung und Wirtschaftsentwicklung oder als Ergebnis der Entwicklungsdiktatur zu betrachten ist, kann es durchaus als Ironie der Geschichte bezeichnet werden, dass sich der Zeitpunkt ihrer Freigabe für den Verkehr mit der Veröffentlichung dieser Lieder überschneidet.
Das Ostmeer, an dessen Küste alle Wege durch Gangwon-do enden, ist für die Koreaner weit mehr als einfach nur ein im Osten liegendes Meer. Es ist vielmehr ein Objekt des Glaubens. Nur so ist es zu verstehen, warum sie mit solcher Inbrunst die Pässe des Baekdu Daegan wie Daegwallyeong, Hangyeryeong und Misiryeong überqueren und in dem Moment, wenn sie das Ostmeer erblicken, unbewusst und wie befreit von den Belanglosigkeiten des erdrückenden Alltags tief aufatmen; oder warum sie noch halb schlaftrunken über die Yeongdong-Autobahn an die Ostmeerküste eilen, um dort den Strand auf- und ablaufend auf den Sonnenaufgang des neuen Jahres zu warten. Soweit die Einstimmung! Es ist Zeit, der Musik zu lauschen.
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PyeongChang Music Festival & School verleiht Gangwon-do kulturelles Flair Ryu Tae-hyung Musik-Feuilletonist
Das PyeongChang Music Festival & School (PMFS), mittlerweile eins der internationalen Musikfeste, wurde erstmals 2004 im Yongpyong Ski Resort ausgerichtet. Nach dem Vorbild des amerikanischen Aspen Music Festival and School wurde es als Sommerfestival mit Aufführungen klassischer Musik in Kombination mit Ausbildungsprogrammen organisiert. Aspen, einst ein verlasssener Bergbaufleck, ist heute eine prosperierende Kleinstadt mit über 6.000 Einwohnern, und seit der Veranstaltung des ersten Musikfestivals im Jahr 1949 ein Mekka der klassischen Musik. Nach dem Vorbild von Aspen wurde das PMFS unter Federführung von Kang Hyo, Professor an der Juilliard School, in Zusammenarbeit mit dem koreanischen Streichorchester Sejong Soloists vorangetrieben. Der Anfang war alles andere als leicht. Die Nunmaeul-Eventhalle, die Hauptbühne des Festivals, war kein Konzertsaal, sodass man auf Mikrofonverstärkung angewiesen war. Zudem wurden im Yongpyong Ski Resort gleichzeitig mehrere Events ausgerichtet. In den Anfangsjahren wurde das Publikum z.B. während eines Konzerts von dem Kampfschreien eines in der Nähe stattfindenden Kendo-Wettbewerbs aufgeschreckt. Doch schließlich lockte das PMFS, das in Höhenlagen von 700m ü. d. M. stattfindet, und Erholungsmöglichkeiten mit dem Genuss musikalischer Performances unter jährlich unterschiedlichen Themen bietet, immer mehr Musikfans nach Pyeongchang. Das sorgfältige Programm-Arrangement mit jährlich unterschiedlichen Themen hat die Aufmerksamkeit der Musikkreise im In- und Ausland auf sich gezogen. Das Festival präsentiert nicht nur einfach klassische Werke, sondern befördert musikalische Vielfalt durch die Präsentation von Welt-, Asien- oder Koreapremieren von weniger bekannten Meisterwerken und sowie experimentelle moderne Musikstücke. 2010 wurde der ausschließlich klassischer 1 © Gangwon Art And Culture Foundation
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1. Unter der Leitung von Dirigent Zaurbek Gugkaev führt die Mariinsky Orchester- und Operngesellschaft aus St. Peterburg im Alpensia Music Tent Sergei Prokofjews Oper Die Liebe zu den drei Orangen auf. Die auf dem gleichnamigen Märchenspiel des italienischen Theaterdichters Carlo Gozzi beruhende Oper wurde in Korea erstmals im Rahmen des 2017 PyeongChang Music Festivals inszeniert. 2. Für die Konzertserien mit renommierten Musikern des 2017 PyeongChang Music Festival spielten die Cellisten Chung Myung-wha, Luís Claret und Laurence Lesser (von links) Requiem von David Popper unter Klavierbegleitung von Kim Tae-hyung.
2
Musik vorbehaltene Alpensia Konzertsaal eröffnet. 2010 war
sondern schauen sich mit ihnen gemeinsam Vorführungen an
zudem ein Jahr der Rekorde, da sämtliche Vorführungen
oder begegnen ihnen beim Essen, Spaziergang oder im Café.
der „Konzertserien mit renommierten Musikern“ komplett
Auch die beiden Künstlerischen Direktorinnen Chung Myung-
ausverkauft waren. Die beständige Teilnahme namhafter
hwa und Chung Kyung-hwa verleihen dem Festival Glanz. Sie
Musiker und Professoren hat zudem bewirkt, dass sich immer
haben ihre außerordentliche Kompetenz in puncto Auswahl
mehr exzellente Musikschüler aus der ganzen Welt bewerben.
von Repertoire und Musikern bewiesen. Das Festival war
Seit dem achten Festival im Jahr 2011 sind die Cellistin
auch erfolgreich in puncto Anwerbung von Sponsoren-
Chung Myung-wha und die Geigerin Chung Kyung-wha
Unterstützung und Pflege guter Beziehungen zu den
als Künstlerische Direktorinnen des Festivals aktiv. Ihre
Sponsoren. 2017 wurden von der Yamaha Corporation 40
internationalen Netzwerke kamen dem Festival zugute, sodass
Klaviere zur Verfügung gestellt. Auch kam Unterstützung von
bereits im ersten Jahr ihrer Tätigkeit das 8. Festival, das unter
Fluggesellschaften und lokalen Firmen in Gangwon-do wie der
dem Motto „Illumination“ abgehalten wurde, eine Rekord-
Kaffeefirma Terarosa.
Besucherzahl von 35.000 erreichte. Außerdem wurde das
Seit Februar 2016 wird zudem das PyeongChang Winter
Programm für das allgemeine Publikum vielseitiger gestaltet
Music Festival veranstaltet. Das vom Ministerium für Kultur,
und um eine Konzerttour durch ganz Gangwon-do erweitert.
Sport und Tourismus präsentierte und von der Kunst-
Im Mittelpunkt des Festivals 2017 stand russische Musik
und Kulturstiftung Gangwon organisierte Festival wurde
zum Thema „Lied der Wolga“, wobei insbesondere die
eingerichtet, um anlässlich der Olympischen Winterspiele
Opernaufführung im 2012 eröffneten Alpensia Music Tent von
2018 regionale Sonderzonen in Gangwon-do zu fördern. Auf
symbolischer Bedeutung war. Das Festival, das sich anfangs
dem ersten Festival wurden neben Solo-Aufführungen und
aufgrund der gegebenen Umstände auf kammermusikalische
Kammermusik-Konzerten der Gewinner des Tschaikowski-
Aufführungen beschränken musste, bewies damit, dass
Wettbewerbs und klassischen Konzerten auch Performances
es nun auch hardwaremäßig für große Bühnenstücke wie
von Jazz-Musikern wie der koreanischen Sängerin Nah
Opern ausgestattet ist. Junge Musiker wie Vize-Direktorin und
Youn-sun und des schwedischen Gitarristen Ulf Wakenius
Pianistin Son Yeol-eum spielten in Ensembles tief ergreifende
dargeboten. So wurden die Genres erweitert und die
Musik. Das harmonische Zusammenspielen von Musikern aus
Hemmschwelle für das Publikum gesenkt.
unterschiedlichen Generationen und Ländern hat sich also
Die Zahl derer, die eigentlich zum Skifahren nach Gangwon-
bewährt. 2017 fiel im Publikum die Anwesenheit besonders
do gekommen waren und zufällig das Festival besuchten,
vieler Vertreter nationaler und öffentlicher Künstlerverbände
war nicht gering, sodass der Kassenverkauf vor Ort die
ins Auge, die gekommen waren, um sich das Festival als
Erwartungen übertraf. Das PyeongChang Music Festival
Benchmarking-Modell anzusehen.
& School und das PyeongChang Winter Music Festival,
Das Festival bietet eine wohlausgewogene Kombination von
abgehalten vor einer reizvollen Bergkulisse, wird das Image
Darbietungen renommierter Musiker und Musikschulung. Die
von Gangwon-do als eine Region von kultureller Exzellenz und
Schüler nehmen nicht nur an den Kursen der Maestros teil,
sauberer natürlicher Umgebung befördern.
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SPEZIAL 2 Die Provinz Gangwon-do: Land der Berge, Mythen und Erinnerungen
Geschichten rund um Berge, Flüsse und Meer von
GANGWON-DO Die Provinz Gangwon-do mit ihren Bergen, Flüssen und dem Meer bietet ein einzigartiges, auf diesen geografischen Besonderheiten gewachsenes kulturelles Umfeld: Überall in den tiefen Bergen finden sich geschichtsträchtige Tempel verstreut und die Flößerlieder, die von Freud und Leid der kleinen Leuten in den Bergdörfern singen, fließen die Flüsse entlang, auf denen einst das Holz aus der abgelegenen Region transportiert wurde. Lee Soon-won Schriftsteller Fotos Ahn Hong-beom
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D
ie Provinz Gangwon-do mit ihren reizvollen Berg-, Fluss- und Meerlandschaften ist schon seit alter Zeit ein beliebtes Erholungsziel. Während im Sommer das Meer die Touristen anlockt, fesseln im Winter die Berge mit ihren schneebedeckten Kuppen die Besucher. Und es ist Gangwon-do, wo sich im Herbst die Blätter als erstes zu färben beginnen, bevor die Herbstlaubfärbung dann langsam nach Süden fließend das ganze Land in bunte Farben taucht. Gangwon-do befindet sich im Osten der koreanischen Halbinsel, am Bergmassiv Baekdu Daegan, das das Rückgrat der koreanischen Halbinsel bildet. Um von Seoul aus dorthin zu gelangen, muss man über den Pass Daegwallyeong oder die weiter im Norden liegenden Pässe Jinburyeong oder Misiryeong fahren. Oder man nimmt den Zug, der einen Umweg an der südlichen Provinzgrenze entlang macht und von dort über Taebaek und Jeongdongjin nach Gangneung an der Ostküste fährt. Oder man fährt noch weiter nach Süden und dann die Landstraße 7 entlang Richtung Norden über Samcheok, Donghae und Gangneung Richtung Goseong, das direkt unterhalb der DMZ liegt. Gangwon-do wird durch die Gebirgskette Taebaek-sanmaek, den Hauptgebirgszug des Bergmassivs Baekdu Daegan, in Yeongdong (Region östlich der Taebaek-Gebirgskette) und Yeongseo (Region westlich der Taebaek-Gebirgskette) aufgeteilt. Die oben genannten Orte befinden sich in der Yeongdong-Region der Provinz Gangwon-do. Die Region Yeongseo, die Städte Chuncheon, Hwacheon und Yanggu umfasst, ist flächenmäßig größer. Während Yeongdong eine Region der Berge und des Meeres ist, ist Yeongseo eine der Berge und Flüsse. Obwohl beide Regionen in derselben Provinz liegen, sind die natürlichen Gegebenheiten auf der östlichen bzw. westlichen Seite der Taebaek-Gebirgskette völlig unterschiedlich.
In Auraji in Jeongseon, wo zwei Flüsse zusammenfließen, hat der Namhan-gang , der „Süd-Han-Fluss", seinen Ursprung. Als Geburtsort des Jeongseon Arirang , eines der berühmtesten koreanischen Volkslieder, ist diese Region seit langem ein bekannter Halt auf dem Wasserweg, auf dem Holz aus den tiefen Bergen der Provinz Gangwon-do in die Hauptsadt transportiert wurde.
Baekdu Daegan: Rückgrat der koreanischen Halbinsel Die Taebaek-Gebirgskette ist das Herzstück aller Berge auf der koreanischen Halbinsel. Dort finden sich neben dem Geumgang-san im Norden der DMZ mehrere Gebirge mit Gipfeln von über 1.500m Höhe: Seorak-san, Odae-san, Gariwang-san, wo die Olympischen Winterspiele PyeongChang 2018 stattfinden werden, sowie Taebaek-san, der „heilige Berg der Nation“. Im Vergleich zu diesen Bergen ist der Daegwallyeong eher ein Hügel. Doch da dieser Gebirgspass die Hauptverbindungsroute zwischen der Yeongdong- und der Yeongseo-Region ist, die durch die Taebaek-Gebirgskette voneinander abgeschnitten sind, ist er in der Vorstellung vieler Koreaner DER Gebirgspass des Landes. In alten Zeiten, als es nicht leicht war, Passstraßen
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anzulegen, wurde der Daegwallyeong als die erste Verbindung durch das 832 m. ü. M. hohe Terrain zwischen Gangneung und Pyeongchang angelegt. Daher ist Daegwallyeong Berg, Gebirgs pass, Straße und Tor zugleich. Im Herzen des Baekdu Daegan gibt es keine Dörfer, da die Berge hier zu zerklüftet ist. Die Daegwallyeong-Gegend ist zweifellos auch gebirgig, umfasst topografisch gesehen aber auch weitläufige Hochlandebenen. Von Frühsommer bis Herbst sind die Ebenen mit grünen Wellen von Hochlandgemüse bedeckt. Mit 17 war ich zum ersten Mal am DaegwallyeongPass. Als ich auf die großen Chinakohl- und Rettichfelder blickte, musste ich an das in Nordkorea liegende Plateau Gaema-gowon denken, das ich niemals gesehen hatte, sei es mit eigenen Augen oder auf Fotos. Vermutlich war es wegen der Bezeichnung „Gowon“ (Plateau): Jedenfalls verstand ich in dem Augenblick vage, warum die Älteren Daegwallyeong „Bi-san bi-ya“ nannten: „weder Berg noch Ebene“. Allein schon der Gedanke an das Gebirge Geumgang-san (Diamantgebirge), der zum nördlichen Teil des Baekdu Daegan und damit zu Nordkorea gehört, lässt mein Herz schwer werden. Mein verstorbener Großvater erzählte, dass er früher jeden Sommer im Dorf Onjeong-ri in der Sommerfrische am Fuße des Diamantgebirges verbracht hätte. Nur ein einziges Mal konnte ich das Geumgang-Gebirge, das ich nur aus Erzählungen kannte und mir daher wie eine Legende erschien, mit eigenen Augen sehen. Es war im Jahr 2000, als wir mit einem Kreuzfahrtschiff vom Hafen Donghae an der Ostküste aus in Richtung Norden aufbrachen. Ich dachte und hoffte, dass diese Reisemöglichkeit zu einer ständigen Verbindung würde, doch sie verschwand allzu schnell wieder.
Provinz Gangwon-do Gebirge Geumgang-san (Diamantgebirge) Nordkorea Ostmeer
Südkorea
Sokcho Gebirge Seorak-san
Pjöngjang Seoul
Bermassiv Baekdu Daegan
Gangneung Pyeongchang Jeongseon Taebaek
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Gebirge Taebaek-san
In den tiefen Schluchten der Provinz Gangwon-do wurden an Stellen, die es zu überqueren galt, verschiedene Arten von Brücken angelegt. Die Reisigbrücke über den Odae-Fluss im Gebirge Odae-san ist eine davon.
Tief in den Bergen gibt es Tempel Nachdem die koreanische Halbinsel durch die DMZ in Nord und Süd geteilt wurde, wurde das Gebirge Seorak-san zum berühmtesten in Südkorea. Der Anblick des gigantischen Felsbrockens Ulsan Bawi ist zweifellos beeindruckend, aber der Anblick der in buntes Laub gekleideten Landschaft lässt den Betrachter ausrufen: „Aha! Hier ist es also, wo in Korea das Feuer des Herbstes angezündet wird!“ Die tiefen Berge haben früher buddhistische Mönche und damit auch Tempel angezogen. In der nahe gelegenen Küstenstadt Gangneung, die seit jeher für ihre konfuzianische Kultur bekannt ist, gibt es zwar keine großen Tempel, aber im Gebirge Seorak-san befindet sich neben dem Tempel Sinheung-sa auch der Tempel Baekdam-sa, wo der Ehrwürdige Mönch Manhae
(1879-1944) die Richtung für die Reform des koreanischen Buddhismus wies; und in den Bergen Odae-san liegen die Tempel Woljeong-sa und Sangwon-sa. Auf dem Vorderhof des Woljeong-sa steht eine achteckige, neunstöckige Steinpagode und ein steinerner, in Richtung Pagode knieender, betender Bodhisattva. Diese beiden Kulturgüter aus der Goryeo-Zeit (9181392) überlebten die Verwüstungen des Koreakrieges, als alle Holzbauten des Tempels den Flammen zum Opfer fielen. Der Sangwon-sa beherbergt wertvolle Kulturgüter, die ein Mönch unter Einsatz seines Lebens während des Koreakrieges vor der Zerstörung bewahrte, darunter die älteste Bronzeglocke Koreas und eine hölzerne Statue des Manjushri-Kumara. Hinter der Entstehung dieser Holzstatue verbirgt sich eine interessante Legende: König Sejo (reg. 1455-1468), der siebte
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Regent des Joseon-Reichs, litt unter einer schweren Hautkrankheit, weshalb er auf der Suche nach Heilung alle berühmten Quellen des Landes aufsuchte. Als er in einem Bach in der Nähe des Sangwon-sa badete, erschien Manjusri in der Gestalt eines Tempelknabens und wusch ihm den Rücken, woraufhin der Ausschlag verschwand. Diese Badeszene ist in einem Wandgemälde an der Außenwand der Halle Munsu-jeon, in der sich die Statue befindet, zu sehen. Doch laut des Bitttextes, der im Manjushri-Bodhisattva gefunden wurde, wurde die Statue nicht von König Sejo, sondern von seiner Tochter, Prinzessin Euisook (?-1477), als Bitte um die Geburt eines Sohnes im nahe gelegenen Tempel Munsu-sa errichtet und zu einem späteren Zeitpunkt zum Tempel Sangwon-sa gebracht. Der Hauptgipfel der Taebaek-Gebirgskette ist der 1.567 m hohe Berg Taebaek-san, der seit alter Zeit als einer der Drei Heiligen Berge Koreas gilt. Auch um diesen Berg rankt sich eine Legende: Der Kind-König Danjong (reg. 14521455), der von seinem Onkel vom Thron gestürzt wurde und in den Yeongwol-Bergen den Tod fand, soll später gesehen worden sein, wie er auf einem weißen Pferd ritt, und sich schließlich in eine Berggottheit verwandelt haben. Weitere, kulturhistorisch bedeutsamer Orte sind das Taebaek Archiv, in dem von 1606 bis 1910 eine Kopie der Annalen des JoseonReiches aufbewahrt wurde, und der Tempel Jeongam-sa, in dessen hinterem Hof die Achat-Pagode Sumano-tap steht. Vom Taebaek-san zweigt die kleinere Gebirgskette Sobaek-sanmaek ab, die die kulturelle und geografische Grenze zwischen den Provinzen Gyeongsang-do und Gangwon-do markiert. Flussläufe: Segen und Geschenk der Natur Die Taebaek-Gebirgskette fällt auf der östlichen Seite steil ab, um schließlich aufs Ostmeer zu treffen. Die eher sanfteren Erhebungen auf der westlichen Seite umarmen die Quellgebiete der Flüsse Han-gang und Nakdong-gang. Im Stadtviertel Samsu-dong der Stadt Taebaek befindet sich der Samsuryeong, der „Drei-Gewässer-Pass“: Wie der Name besagt, ist Samsu-dong ein Wasserscheidepunkt, und zwar für die drei Flüsse Han-gang, Nakdong-gang und Osip-cheon, die jeweils ins West-, Süd- und Ostmeer fließen. Im Volksmund kursiert folgende amüsante Erklärung: Einst fiel ein dicker Regentropfen auf die Spitze des Samsu-Berges, wo er in drei Tröpfchen zerplatzte, die dann jeweils nach Osten, Westen und Süden ins Meer flossen. In Samsu-dong befindet sich auch Hwangji, der See, der die Quelle des 510,36 km langen Flusses Nakdong-gang bildet, und der Geomnyongso, der Quellpunkt des Flusses Han-gang. Der 514 km lange Han-gang, „die Lebensader des Volkes“, entspringt am Geomnyeongso und nimmt auf seinem Weg nach Jeongson verschiedene andere Wasserläufe auf. In Jeongseon fließt der Hang-gang mit dem aus dem Berg Hwangbyeong-san
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kommenden Song-cheon zusammen. Der Ort, an dem sich diese beiden Flüsse vereinigen, ist als „Auraji“ bekannt, was im Gangwon-Dialekt „zueinander finden und vereint werden“ bedeutet. Und vereint bereichern sie die Landschaft. Trotz seines gebirgigen Terrains hat Jeongseon fruchtbare Böden und klares Wasser, weshalb die Menschen in früherer Zeit hierher kamen, um sich der Landschaft zu erfreuen und Poesie, Musik und Kunst zu genießen. Auraji war auch eine historisch bedeutsame Floßanlegestelle, von der aus das in den tiefen Bergen der Gangwon-Provinz gewonnene Holz auf dem Namhan-Fluss an die im Süden des damaligen Hanyang (heute Seoul) gelegene Fähranlegestelle Mapo geflößt wurde. Jeden Sommer wird in Auraji das Auraji Festival abgehalten, bei dem auf hölzernen Flößen als Bühne das traditionelle Jeongseon Arirang aufgeführt wird. Das in Auraji geborene und vor der Kulisse Aurajis spielende Jeongseon Arirang erzählt von Freud und Leid des kleinen Mannes und die klagenden Weisen des Liedes fließen mit dem Wasser hinab an der Stadt Chungju vorbei nach Yangpyeong in der Provinz Gyeonggido. Dort fließt der Fluss mit dem Bukhan-gang zusammen, der im Gebirge Geumgang-san entspringt und in südwestlicher Richtung über Inje, Yanggu und Chuncheon hierher fließt. Daher wird die Stelle, an der sich die beiden Flüsse ineinander ergießen, „Dumulmeori“ genannt: „Zwei-Gewässer-Kopf“. Bei ihrem Zusammenfluss vereinigen sich die Flüsse Bukhangang und Namhan-gang zu einem wahrhaften Strom. Flüsse sind ein Segen der Natur, und gesegnet sind nicht nur die Bewohner an den Oberläufen der Flüsse in Gangwon-do, sondern auch jene am Unterlauf: In Seoul und der umgebenden Provinz Gyeonggi-do sind sage und schreibe 15 Mio. Menschen auf das Wasser des Han-Flusses angewiesen, während es am Oberlauf nur 800.000 sind. Und da das Wasser dort nicht zu industriellen Zwecken genutzt, sondern nur in Haushalten und Landwirtschaft verwendet wird, ist das nach Süden fließende, entsprechend saubere Wasser ein wahres Geschenk an die Stadtbewohner. Sonnenaufgang von der DMZ aus gesehen Zweifellos ist das Ostmeer mit seinem tiefblauen Wasser das Lieblingsmeer der Koreaner. Und hier zieht es die meisten an den Strand Gyeongpo an der Küste vor der Stadt Gangneung. Auch das davon nicht weit entfernte Jeongdongjin ist ein berühmter Ort, zu dem jedes Wochenende die Menschen strömen, um die Sonne über dem Ostmeer aufgehen zu sehen. Der Jeongdongjin-Bahnhof, der früher nur ein unbedeutender Zwischenhalt war, ist heute eine geschäftige Station, an der pro Tag 26 Züge halten, seitdem es sich herumgesprochen hat, dass Jeongdongjin der Vorstellung vom „wahren Osten“ von Seoul am nächsten kommt. Doch nicht nur die Jeongdongjin-Küste,
sondern alle anderen Ostmeer-Strände bieten spektakuläre Sonnenaufgänge. Von den Stacheldrahtzäunen der DMZ im nördlichsten Teil von Gangwon-do ist der Sonnenaufgang schmerzhaft und herrlich zugleich. Genau so hinreißend wie der Sonnenaufgang über dem Ostmeer ist der Anblick des Nachtmeeres voller Fischerboote. Es heißt, dass Großstädte wegen ihrer bei Nacht hell erleuchteten Straßen nie schlafen, aber von noch blendenderem Glanz sind die Tintenfischkutter auf dem Ostmeer, deren Deck mit strahlenden Lichterketten geschmückt ist, um die neugierigen Tintenfische anzulocken. Ob man aus der Ferne von den Höhen des Daegwallyeong-Passes hinunterblickt oder von der Küste aus aufs Nachtmeer hinausschaut: Es ist ein faszinierendes Lichterspektakel. Ebenso faszinierend und erhaben wie die Lichter ist die harte nächtliche Arbeit an Bord der Tintenfisch-Boote. Ich kann mich noch daran erinnern, dass während meiner Mittel- und Oberschuljahre in Gangneung die Kinder der Kohlebergarbeiter unabhängig von der Jahreszeit die Schulgebühren immer frühzeitig zahlten. Die Kinder aus den Bauernfamilien zahlten, wenn es ihnen die Umstände erlaubten, während die Kinder aus den Fischerfamilien die aufgelaufenen Schulgebühren alle auf einmal beglichen, sobald Tintenfisch-Hochsaison war. Fährt man von Gangneung die Küste entlang Richtung Norden, gelangt man in den Kreis Yangyang. Der Kreis als Ganzes lebt zwar nicht von der Fischerei, aber dort gibt es den Namdae-cheon, in dem jeden Herbst Scharen von Lachsen gegen die Strömung schwimmen. Wenn die Brütlinge an den Laichorten am Oberlauf Fingergröße erreicht haben, begeben sie sich auf die abenteuerliche Reise zum Ostmeer und in die ent-
fernten Ozeane. Wenn sie dann drei, vier Jahre später länger als der Arm eines Erwachsenen geworden sind, schwimmen sie über das Beringmeer und das Ochotskische Meer in den Namdae-cheon in Yangyang, wo sie die erste Zeit ihres Lebens verbrachten. Fährt man von Yangyang ein Stück weiter Richtung Norden, kommt man nach Sokcho, den Stützpunkt der Ostmeer-Fische rei. Früher, als das Meerwasser noch kälter war, drängten sich die Pollack-Fischerboote im Hafen der Stadt. Aber der durch die Erderwärmung verursachte Anstieg der Wassertemperatur hat den Fang des Alaska Pollack, eines typischen Kaltwasserfischs, so gut wie zum Erliegen gebracht. Doch Sokcho fungiert weiterhin als Hub der Ostmeer-Fischerei. Auch die Anlegestellen in den Häfen Geojin, Daejin und Ayajin, die weiter nördlich von Sokcho im Kreis Goseong liegen, sind immer noch voller Fischerboote, die auf einen guten Fang der Saison hoffen. Und noch ein Stück weiter nördlich wird auf der Straße, die die Küste entlang ins Gebirge Geumgang-san führt, die korea nische Halbinsel plötzlich in zwei Teile geschnitten. Zivilisten ist der Zugang nur bis zum Wiedervereinigungsobservatorium in Goseong gestattet. Zur Zeit der japanischen Kolonialherrschaft gab es die Bahnlinie „Ostmeer-Nord“, die sich von Yangyang via Geumgang-Gebirge bis nach Wonsan erstreckte, heute aber in Vergessenheit geraten ist. Als die innerkoreanische Grenze entlang des 39. Breitengrades gezogen wurde, wurden die Gleise aus der Erde gerissen. In meinem Herzen male ich mir den Tag aus, an dem wieder Gleise Richtung Geumgang-san verlegt werden. Vom Wiedervereinigungsobservatorium aus kommt die hinter der Grenze liegende Küste noch schmerzhafter in meinen Blick.
Ein steinerner, sitzender Bodhisattva schmückt den Haupthof des Tempels Woljeong-sa im Gebirge Odaesan. Es ist eine Replik der Originalskulptur aus dem 11. Jh., die im Tempelmuseum aufbewahrt wird.
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SPEZIAL 3 Die Provinz Gangwon-do: Land der Berge, Mythen und Erinnerungen
DIE
WINTERWUNDER von Gangwon-do genießen Die Provinz Gangwon-do ist der beste Ort in Korea, um den Winter zu genießen. Nicht nur Skifahren, sondern auch Trekking durch Schneelandschaften ist hier möglich. Zudem locken verschiedene Winterfestivals wie das Sancheoneo-Eisfestival in Hwacheon, das sich mittlerweile international einen Namen hat, mit jeder Menge Spaß. Choi Byung-il Reiseredakteur, The Korea Economic Daily Fotos Ahn Hong-beom
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Janggundan ist einer der drei Altäre, die in alter Zeit im Taebaek-Gebirge zur Verehrung der Himmelsgottheit errichtet wurden. Am Neujahrsmorgen steigen viele Menschen zu dem Gipfelaltar hinauf, um den ersten Sonnenaufgang des Jahres zu sehen und um Glück zu beten. Der Aufstieg ist nicht einfach, aber die schneebedeckten Bäume machen den Trail gerade im Winter besonders reizvoll.
© Gangwon Provincial Office, Korail Tourism Development
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D
ie beste Jahreszeit für einen Besuch in Gangwon-do ist definitiv der kalte Winter, auch wenn die anderen Jahreszeiten ebenfalls ihre Reize haben. Und die beste Art, die Provinz im Winter zu genießen, sind Bergwandern und Trekking, die einen die Naturschönheiten mit allen Sinnen wahrnehmen lassen. Deshalb bin ich im Winter 2016 an einem besonders schneereichen Tag kurz entschlossen ins Gebirge Taebaek-san gefahren. Im Frühling stehen dort die rosafarbenen Azaleen in voller Blütenpracht, während im Sommer und Herbst Wildblumen eine paradiesische Landschaft zaubern. Aber die Berge erstrahlen erst im Winter zu vollem Glanz, wenn die Schneekristalle auf den Ästen der Bäume glitzern. Die Kälte dringt zwar durch Mark und Bein, doch wann sonst noch bietet sich der spektakuläre Anblick von Raureif-bedeckten, im Wind tanzenden Ästen, die an Schwärme silbriger Ayu-Fische erinnern. Allerdings beträgt die Strecke bis zum Gipfel vier Kilometer. Im Sommer reichen zwei Stunden für den Aufstieg, aber wenn man durch fußknöcheltiefen Schnee stapfen muss, dauert es mindestens vier Stunden. Der als „Kkalttak-Pass“ („Japser-Pass“) bezeichnete Streckenabschnitt lässt einen tatsächlich nach Luft japsen. Doch kein Berg ist nur gnadenlos. Hat man erst einmal den dem Himmelsgott geweihten Cheonjedan-Altar erreicht, ist das Schlimmste überstanden. Als der kalte Wind den Schweiß, der einem selbst im Winter herunterrinnt, einigermaßen getrocknet hat, sind durch die Bäume hindurch die Spitzen des Bergmassivs Baekdu Daegan zu sehen. Die Winter-Bergwandertour, die mit Raureif-Blumen begonnen hat, endet in Gipfelnähe in einem Wald aus Japanischen Eiben. Die nackten Bäume, die unerschütterlich den beißenden Winterwind ertragend an ihrem Platz stehen, sind prall gefüllt mit der Energie tiefgrünen Lebens, die bald erwachen wird. Wohl deshalb hieß es einst, dass Japanische Eiben „1.000 Jahre leben und nach dem Absterben noch einmal 1.000 Jahre leben“. So einmalig wie die Taebaeksan-Schneelandschaft ist bei Schneefall auch der Wanderweg zum Tempel Woljeong-sa in Pyeongchang. Stapft der Wanderer durch den jungfräulichen Schnee des von Mandschurischen Tannen gesäumten Wegs, hüllt ihn Stille ein. Eine Stille, die selbst „einsam und verlassen“ nicht richtig zu beschreiben vermag. Man hat das Gefühl, als ob der Schnee selbst das kleinste Geräusch verschluckt hätte. Dem Anblick eines buddhistischen Mönchs, der in der Morgendämmerung in seiner grauen Kutte über eine Decke frischen Schnees läuft, wohnt eine stille Schönheit inne. Winterfestivals gegen Alttagsstress Wer sich im Winter nicht in die Berge wagt, kann stattdessen die verschiedenen Winterfestivals der Region besuchen. Im Mittelpunkt des jährlichen Taebaeksan-Schneefestivals im Januar
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stehen herrliche Schneeskulpturen, die aktuelle Trends widerspiegeln. Die Besucher können Werke bestaunen, die von den besten Schneekünstlern Koreas mit superber Kunstfertigkeit kreiert wurden. Im Januar 2018 werden diverse Schneeskulpturen zum Thema Olympische Winterspiele in Pyeongchang zu sehen sein (19. Jan.–11. Feb. 2018). Aber das Schneefestival bietet mehr als nur Augenschmaus: eine Rodelpiste, die man auf Plastiktüten herunterfahren kann, eine Eisrutsche, die bei den Kindern besonders beliebt ist, und ein Iglu-Café, in dem Pärchen und Familien sich bei einem heißen Getränk aufwärmen und plaudern können. Auch Familien kommen auf ihre Kosten, z.B. mit Erlebnisprogrammen wie Hundeschlitten- und Schneemobilfahren im Kiefernwald vor dem Taebaek Minbak (Homestay) Village. In einem von Siberian Huskys gezogenen Schlitten über den Schnee zu brausen, verjagt jeglichen Stress. Hobbyangler kommen im Kreis Hwacheon in den wahren Genuss des Eisfischens. In Hwacheon, wo im Winter alle Gewässer von dicken Eisschichten bedeckt sind, haben sich schon früh entsprechende Aktivitäten entwickelt. Insbesondere das Sancheoneo(Masu-Lachs)-Eisfestival hat Hwacheon zu einem beliebten Winterreiseziel gemacht. Dieses jährlich im Januar/Februar am Fluss Hwa-cheon stattfindende Festival ist nicht nur das repräsentativste Winterfestival in Korea, sondern gehört zusammen mit dem Internationalen Eis- und Schneefestival Harbin, dem Schneefestival von Sapporo und dem Karneval von Québec zu den vier größten Winterfestivals weltweit. Elf Jahre in Folge hat das Festival über eine Million Besucher angezogen und ist so bekannt geworden, dass es in ein koreanisches Schulbuch aufgenommen werden soll. 2011 stellte CNN das Festival als eines der „7 Wunder des Winters“ vor. Auf dem Programm stehen u.a. Eisfischen, Lachsfang mit der bloßen Hand und Schlittenfahren. Die Lachse können anschließend in den Kochbereichen auf dem Festivalgelände direkt zubereitet und gegessen werden. Der Masu-Lachs ist schon seit langem als hochwertiger Speisefisch beliebt. Es heißt, dass er wegen seines hohen Nährwerts in China von den taoistischen Acht Unsterblichen genossen und in Japan der kaiserlichen Familie als Geschenk dargebracht wurde. Ein weiteres Event ist das Seondeung-Lichterfestival. „Seondeung“ sind „Laternen, die ins Reich der Taoistischen Unsterblichen geleiten“. An stillen Abenden erleuchten bunte Laternen in Form von Masu-Lachsen den Nachthimmel über dem Hwacheon-Fluss und dem Marktplatz. Kleiner als das Masu-Lachs-Festival, aber trotzdem sehr beliebt ist das Forellen-Festival in Pyeongchang. Es findet jährlich von Ende Januar bis Ende Februar an den Ufern des Flusses Odaecheon statt. Neben den beliebten Programmen wie Eisfischen, Fischfang mit der bloßen Hand und Forellenfischen mit der
Der Sea Train fährt die Ostküste entlang. Der Touristenzug mit seinen stufenförmig angeordneten Sitzen bietet einen exzellenten Blick auf das Meerespanorama. © Korail Tourism Development
Familie werden verschiedene Winteraktivitäten angeboten, darunter traditionelles Eisschlittenfahren, Snow-Rafting, Bobfahren und Schlittenzugfahren. Sobald man sich mit der Angel etwas vertraut gemacht hat, kann jeder leicht zwei, drei Forellen fangen. Forellen sind in der Zeit zwischen Winter und Frühling besonders schmackhaft. Pyeongchang ist die Wiege der Forellenzucht in Korea: 1965 wurde hier die erste Forellenfarm eingerichtet. Seo Yu-gu (1764-1845), ein Gelehrter der späten Joseon-Zeit (13921910), schrieb in seinem Fischkundebuch Nanho eomokji (Aufzeichnungen über die Fischarten der Region Nanho) über die Forelle: „Ihr Fleisch ist rötlich und klar konturiert wie die Astknoten einer Kiefer, sodass ‚Forelle‘ im Koreanischen wörtlich übersetzt ,Kiefer-Fisch‘ heißt. Unter den Fischen im Ostmeer schmecken die Forellen am besten.“ Wenn in den kalten, kargen Wintertagen von einst die Bäche frühzeitig zufroren, schlugen die Vorfahren mit einem großen Hammer auf die Felsbrocken im Wasser, um die Forellen, die sich darunter versteckt hielten, hervorzuscheuchen und zu fangen. Was für die Vorfahren eine Methode zum Überleben war, ist für die Menschen von heute eine Spaßaktivität.
Romantik einer Zugreise Eine andere Methode, die unberührten Winterlandschaften von Gangwon-do zu erleben, ist eine Zugreise. Ist man erst einmal im Zug, hat auch die schneidende Kälte etwas Romantisches. Gemütlich zurückgelehnt auf einem bequemen Sitz den vor dem Fenster tanzenden Schneeflocken zuzuschauen, erwärmt Körper und Seele. Einmal machte ich eine Fahrt mit dem von Dezember bis Februar betriebenen „Fantastischen SchneekristallblumenZug“. Auf dem Bahnsteig versammelten sich meine Mitreisenden mit erwartungsvollen Gesichtern, befreit vom Stress des Autofahrens auf glatten Straßen oder des Pendelns in überfüllten U-Bahn-Zügen. Es war eine Tagestour, die auf der Strecke vom Hauptbahnhof Seoul über Chujeon, Seungbu und Danyang an malerischen, von Raureifkristallen überzogenen Schluchtenlandschaften vorbeiführte. Bereits kurz hinter Seoul fielen Schneelandschaften ins Auge, die sich gänzlich von der Innenstadt unterschieden. Der Anblick der schneebedeckten Dächer, Reisfeldraine und Bachufer wirkte anheimelnd. Der Zug fuhr zwar gemächlich, aber die Räder wirbelten trotzdem Schnee auf. Und in mir, der
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Der Yongpyeong Ski Resort in Pyeongchang. Diese 1975 gebaute Anlage ist der erste Skiresort in Korea und ein Mekka winterlicher Freizeitvergnügungen. Mit Beginn der Skisaison im Frühwinter strömen Ski- und Snowboard-Enthusiasten aus dem ganzen Land hierher.
nach langem wieder einmal in einem Zug saß und mit meinem Reisebegleiter Gimbap und Snacks teilte, wirbelten allmählich Erinnerungen an frühere Zugreisen auf. Erster Halt war Chujeon in der Stadt Taebaek, Provinz Gangwon-do. Mit 855 m ü.d.M. ist es die höchstgelegene Bahnstation in Korea. Nach acht Minuten Fahrt durch den 4,5km langen Jeongam-Tunnel kam der Bahnhof in Sicht. Der Name Chujeon, was „Feld des Zweifarbigen Buschklees“ bedeutet, beschreibt den Ort, an dem der Bahnhof errichtet wurde. Die im Jahresdurchschnitt sehr niedrigen Temperaturen weisen auf lange Winter hin. Der Zug hielt etwa 20 Minuten in Chujeon. Als ich für einen Moment aus dem Zug stieg, streifte kalte Luft meine Wangen. Mit Kaffee den Gangwon-Winter genießen Nichts passt besser zu einer kalten Winterlandschaft als ein heißer Kaffee. Trotzdem war es für mich schwer zu glauben, dass die Küstenstadt Gangneung seit ein paar Jahren als Kaffee-Mekka Koreas gilt. Aber als ich sah, dass es, was Kaffee betrifft, „in Gangneung nichts gibt, was es nicht gibt“, war ich überzeugt. Abgesehen von unzähligen Cafés findet sich dort ein Kaffeemuseum, eine Kaffeefarm und eine Rösterei. Und seit 2009 findet jedes Jahr ein Kaffeefestival statt. Die derzeit über 200 Kaffeehäuser der Stadt sollen jährlich einen Mehrwert von umgerechnet rund 6,45 Mio. Euro erwirtschaften. Die Stadt kann man also durchaus als „Mekka des Kaffees“ bezeichnen. Die Kaffee-Reise nach Gangneung beginnt am Hafen Anmokhang, der vor kurzem in „Gangneung-hang“ umbenannt wurde. Am Anmok-Strand, heute eher bekannt als „Kaffee-Strand“, gibt es inzwischen mehr Kaffeegeschäfte als Rohfisch-Restaurants. Unter den Cafés in Gangenung, die sich auf handgefil-
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terten Kaffee spezialisiert haben, genießt das Café Bohemian Roasters einen besonders guten Ruf. Besitzer ist Bak I-chu, der entscheidend dazu beigetragen hat, dass sich Gangneung heute als Kaffee-Mekka behaupten kann. Bak, ein in Japan geborener Koreaner, gehört zu den vier Barista-Meistern der ersten Generation in Korea. Zwei sind verstorben und einer in die USA emigriert, sodass Bak als einziger noch aktiv ist. Er zog nach Gangneung, eröffnete dort ein Café und bildete Baristas aus, sodass man ohne Übertreibung sagen kann, dass Bak den Kaffee-Boom in Gangneung angeführt hat. Ein weiteres bekanntes Café ist Terarosa. Das auch „Kaffee-Fabrik“ genannte Café öffnete 2002, als die Fußball-WM in Korea und Japan stattfand. Der Besitzer reist selbst in die weltweit größten Kaffeeanbaugebiete wie Äthiopien und Guatemala, um dort die Kaffeebohnen einzukaufen, was seine endlose Leidenschaft für Kaffee beweist. Allerdings sollte man auch einmal in der Bong Bong Mill in Myeongju-dong in der Innenstadt von Gangneung vorbeischauen. Bong Bong Mill ist eine traditionelle Reismühle, die in ein Café verwandelt wurde. Es gibt separate Räumlichkeiten, wo sich die Kunden im Kaffeebrühen versuchen und Sachbücher zum Thema Kaffee durchstöbern können. Während diese Cafés eine entscheidende Rolle zur Hebung der Qualität des in Gangneung hergestellten Kaffees gespielt haben, gebührt Coffee Cupper die Ehre, die Kaffeekultur durch die erste Kaffeefarm mit kommerziellem Kaffeeanbau in Korea verbreitet zu haben. Wenn man in Gangwon-do alles – vom Bergwandern über Zugreisen und Eisfischen bis zum Kaffee – ausprobiert hat, könnte man behaupten, den Winter in vollen Zügen genossen zu haben.
Gangneung, Geburtsort zahlreicher historisch bedeutsamer Persönlichkeiten und bekannt für seine kulturhistorisch bedeutsamen Stätten, gilt seit jüngstem als Kaffee-Mekka. Ausgelöst wurde dieser Trend durch die Kaffeeautomaten. In den 1980er Jahren wurden einige Automaten am AnmokStrand vor der Stadt aufgestellt. Es sprach sich schnell herum, dass der Kaffee besonders gut schmecke, weshalb immer mehr Menschen zum Strand pilgerten, um in den Genuss des Automatenkaffees zu kommen. Bald standen Dutzende dieser Automaten am Strand. 2001 wurde schließlich ein dreistöckiges Café mit Glasfassade eröffnet. Als dieses schicke Café, das sich aus der Stadt in das Fischerdorf verirrt zu haben schien, gebaut wurde, neigten die Alteingesessenen den Kopf zur Seite. Ihnen, die Kaffee gewöhnlich mit Zucker und Kaffeeweißer süßlich genossen hatten, kam der hier frisch gebrühte Kaffee mit seinem spezifischen Aroma äußerst fremd vor. Zudem war der Preis viel höher. Viele, die es gewohnt waren, ihren Instant-Kaffee im
1. Choi Geum-jeong, Leiterin des Coffee Museum in Wangsan-myeon, Gangneung, checkt die Exponate. Als CEO von Coffee Cupper setzt sie sich für die Förderung der Kaffee-Kultur ein. 2. Das Gebiet um den Hafen von Gangneung und den Anmok-Strand mit seinen rund 200 Cafés ist als „Kaffeestraße“ berühmt und hat die Hafenstadt als Kaffee-Mekka bekannt gemacht. Nach der Millenniumwende begannen die Cafés wie Pilze aus dem Boden zu sprießen.
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Schummerlicht der traditionellen, meist in den Gebäude-
Gangneung: als Kaffee-Mekka wiedergeboren Untergeschossen befindlichen Dabang-Kaffeestuben zu trinken,
Jeju-do eine Kaffeefarm auf, die heute auch Setzlinge verkauft.
fragten sich, wer wohl in einem solchen Glas-Schaukasten seinen
Zudem errichtete sie das erste Kaffeemuseum in Korea und
Kaffee trinken wollen würde und nahmen deshalb an, dass das
verbreitet dadurch die Kaffee-Kultur. Im Museum, das sich in
Café bald schließen würde. Doch bald standen die Menschen
der Ortschaft Wangsan-myeon befindet, sind viele wertvolle
dort Schlange. So kam es, dass in der Gegend ein Café nach dem
Exponate ausgestellt, darunter Zubehör und Materialien rund um
anderen öffnete. Die „Kaffee-Straße“ wurde zum landesweiten
den Kaffee aus verschiedenen Ländern. Angeboten wird zudem
Touristen-Magneten. Es heißt, dass nun die Einwohner von
ein buntes Erlebnisprogramm für Besucher.
Gangneung ihren Kaffee von Hand aufbrühen.
„Einmal hörte ich, wie ein Besucher der Kaffeefarm vor sich hin
Das erste Café, das am Anmok-Strand aufmachte, war das
brummelte, dass ja nirgendwo Kaffeefrüchte zu sehen seien.
Coffee Cupper. Seitdem haben in Gangneung fünf weitere Filialen
Ich wunderte mich, da doch schon viele rot und reif waren.
eröffnet. Choe Geum-jeong, CEO von Coffee Cupper, erklärt
Da Kaffeebohnen beim Rösten dunkelbraun bis schwärzlich
dazu: „Barista-Meister Bak I-chu hat bereits in den Anfangsjahren
werden, hatte er wohl angenommen, dass die Kaffeefrucht
in Gangneung eine Rösterei eingerichtet. Außerdem veranstaltet
dunkel sein müsse.“ Sie fügt hinzu: „Kaffee zählt heute zu den
die Stadt jedes Jahr ein Kaffeefestival. Diese Faktoren haben
repräsentativsten Genussmitteln in Korea. Doch es mangelt noch
einen Synergie-Effekt erzeugt.“
an grundlegendem Verständnis dafür.“ Auch die Eröffnung des
Doch Choe hat dabei unbestreitbar eine führende Rolle gespielt.
zweiten Kaffeemuseums im Dezember in Gangneung ist Teil ihrer
Anfang 2000 baute sie mit 20 Kaffee-Bäumen von der Insel
Bemühungen zur Verbreitung der Kaffee-Kultur.
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SPEZIAL 4 Die Provinz Gangwon-do: Land der Berge, Mythen und Erinnerungen
LEBENSGRUNDLAGE, erbaut auf SAUBERER NATUR In der größtenteils gebirgigen Provinz Gangwon-do mit ihren unter dem Landesdurchschnitt liegenden Temperaturen haben sich v.a. Hochland-Landwirtschaft sowie Vieh- und Forstwirtschaft stark entwickelt. Eine weitere tragende Säule der regionalen Wirtschaft ist der Tourismus, der dank der natürlichen Gegebenheiten wie malerischer Berg- und Flusslandschaften und eines sauberen Meeres vor einer sich lang erstreckenden Küstenlinie floriert. Lee Byung-oh Professor, Abteilung für Landwirtschaft und Ressourcenwirtschaft, Kangwon National University Fotos Ahn Hong-beom
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nterschiedliche topografische und klimatische Gegebenheiten bringen unterschiedliche Lebensweisen hervor. Die Provinz Gwangwon-do, die im äußersten Norden von Südkorea liegt, ist größtenteils gebirgig und weist vergleichsweise niedrige Temperaturen auf. 81% der Provinz sind von bewaldeten Bergen bedeckt, was deutlich über dem landesweiten Durchschnitt von 63% liegt. Das sich endlos erstreckende gebirgige Terrain hat die Lebensweise der Bewohner von Gangwon-do stark geprägt und zur Entwicklung einer regionaltypischen Industriestruktur geführt. Während sich in den mittleren und südlichen Regionen der koreanischen Halbinsel Tocken- und Nassanbau (Reisfelder) flächenmäßig gesehen mehr oder weniger die Waage halten, herrscht in Gangwon-do aufgrund der bergigen Beschaffenheit der Provinz der Trockenanbau vor. Auch ist die Provinz reich an Bodenschätzen. Dank der vielen Gebirge wie Seorak-san, Chiak-san und Taebaek-san, die zu Nationalparks erklärt wurden, floriert zudem der Tourismus. Und da diese vom Himmel geschenkte Natur nur ein, zwei Stunden von der Metropolregion Seoul entfernt liegt, strömen viele Touristen in diese Region, um im Herbst die Herbstlaubfärbung zu genießen und im Winter Schlitten oder Ski zu fahren. Dank dieser natürlichen Gegebenheiten konnte Korea die Olympischen Winterspiele 2018 nach Pyeongchang holen. Doch die Berge repräsentieren nicht alle Seiten von Gangwon-do. Eine weitere Seite, die die Identität dieser Provinz ausmacht, ist das saubere Ostmeer. Für die an der Küste lebenden Menschen bildet das Meer die Lebensgrundlage. Hochlandanbau im kühlen Berggebiet Mit einer Fläche von 16.874 km² nimmt Gangwon-do ca. 17% des Territoriums ein, was sie nach Gyeongsangbuk-do zur zweitgrößten der neun Provinzen in Südkorea macht. Andererseits stellen ihre ca. 1,55 Mio. Einwohner nur 3% der Gesamtbevölkerung. Nur die Inselprovinz Jeju-do hat noch weniger Einwohner. 176.000 bzw. 11% der Einwohner von Gang-
Die speziellen topografischen und klimatischen Bedingungen haben die Provinz Gangwon-do für den Hochlandanbau bekannt gemacht. Der 600-800 m ü. d. M. angebaute Kohl und Rettich wird landesweit vertrieben und macht über 90% der Gesamterzeugung des Landes aus.
won-do sind in der Landwirtschaft tätig, was deutlich über dem nationalen Durchschnitt von 5% liegt. Aufgrund der topografischen und klimatischen Gegebenheiten ist in Gangwon-do der Trockenanbau vorherrschend, und darunter ist v.a. der Hochlandanbau stark entwickelt. Der Anbau im Hochland auf einer Höhe von etwa 600-800m ü. d. M. begann hier vor langer Zeit, als Nahrungsmangel Wanderfeldbauern aus dem ganzen Land in die nördliche Bergregion trieb, wo sie durch Brandrodung Ackerland urbar mach-ten. Die grünen Wellen des angebauten Gemüses, die sich von Frühsommer bis Herbst über die weiten Berghänge ausbreiten, bieten einen spektakulären Anblick. Beim Hochlandanbau wird das Gemüse bei Frühlingsbeginn gesät, über den Sommer gezogen und von Ende August bis Ende September auf den Markt gebracht. Gemüsesorten wie Chinakohl, Rettich, Kohl, Zwiebeln, Karotten und Kartoffeln, die sich in anderen Regionen aufgrund der hohen Sommertemperaturen nur schwer anbauen lassen, wachsen in den Bergen von Pyeongchang, Gangneung, Jeongseon und Taebaek. Sie genießen auf den landesweiten Märkten absolute Vorteile und bilden eine wichtige Einnahmequellen für die Bauern in den Bergdörfern, wo sonst eher schlechte Voraussetzungen für die Landwirtschaft bestehen. Der landesweite Anteil von Gangwondo-Chinakohl beträgt 92%, der von Kartoffeln 32%. Was Siraegi (getrocknete Rettichoder Chinakohlblätter) betrifft, die allgemein für ihren hohen Nährwert bekannt sind, so sind Siraegi aus den Dörfern des Kreises Yanggu-gun im sog. Punchbowl-Becken als besondere Spezialitäten berühmt. Da fast alle Koreaner zu jeder Mahlzeit Kimchi essen, ist die Nachfrage nach Chinakohl und Rettich, den Hauptzutaten von Kimchi, das ganze Jahr über besonders groß. Von Sommer bis Herbst stellen die Landwirte im Hochland von Gangwon-do fast das ganze landesweite Angebot an Kimchi-Gemüsen, sodass sich ein Anstieg oder Rückgang in den Ernteerträgen sofort entsprechend auf die landesweiten Preise auswirkt. Doch in Hinblick auf die Nachhaltigkeit wirft der Hochlandanbau mehrere Probleme auf. Da hohe Berghänge gerodet werden und der Anbau auf Steilflächen erfolgt, wird während der Regenzeit im Sommer Ackerboden weggeschwemmt und zuweilen geraten Argrarchemikalien in die Flüsse. Außerdem kommt es gelegentlich z u S p e k u l a t i o n s g e s c h ä f t e n , b e i d e n e n d i e s t a r ke n Preisschwankungen ausgenutzt werden. Deshalb werden in der Öffentlichkeit Stimmen laut, dass Steilhang-Anbauflächen aufgeforstet und eine umweltfreundliche Landwirtschaft betrieben werden sollte.
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Infolge des Klimawandels erweitert sich jüngst die Anbaufläche für Feldfrüchte, die früher in Gangwon-do selten angebaut wurden, darunter Gerste, Äpfel, Kakipflaumen und Pfirsiche. Gleichzeitig führen heutzutage die Kommunalverwaltungen mit Blick auf den hohen Mehrwert der Saatgutindustrie für die Entwicklung von hochwertigem Kartoffel- und Getreidesaatgut entsprechende Regulierungen und Fördermaßnahmen ein. Auch Zierpflanzen, Melonen und Spargel werden neuerdings als strategische Kulturpflanzen in höheren Lagen angebaut. Beste Qualität aus sauberer Natur Mit 13.716 km² verfügt Gangwon-do über eine größere Waldfläche als jede andere Provinz des Landes. Da jedoch die meisten Berge zu steile Hänge haben und der FelsgesteinAnteil hoch ist, sind die Bedingungen für die Produktion hochwertiger Hölzer nicht gerade ideal. Am weitesten verbreitet sind Kiefern und Laubbäume, zu den wichtigsten forstwirtschaftlichen Erzeugnissen gehören Pinienkerne, Matsutake-Kiefernpilze und wilde Bergkräuter. Insbesondere die Kiefernpilze aus dem Kreis Yangyang-gun
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gelten als die besten in ganz Korea. Sie erzielen teilweise Marktpreise von über 600.000 KW (ca. 470 Euro) pro Kilogramm und damit das Mehrfache von Kiefernpilzen aus anderen Regionen. Kiefernpilze von Qualitätsklasse 1 müssen wenigstens 8 cm Länge aufweisen und dürfen noch nicht aufgeschirmt sein. Hochwertige Exemplare werden in Gebirgs kämmen im oberen Drittel der Berge geerntet, wo 20-jährige oder ältere Kiefern an Stellen mit guter Ventilation in dicht mit Kiefernnadeln bedeckten Böden wachsen. In Yangyang, mit seinen vom Himmel gesegneten natürlichen Gegebenheiten, gibt es viele Orte, die hochwertige Kiefernpilze hervorbringen. Ein Großteil davon wird direkt nach der Ernte gekühlt verpackt per Luftpost nach Japan ausgeführt. Zu den wichtigsten Nutztieren von Gangwon-do zählen „Hanwoo“ genannte, einheimische Rinder sowie Schweine und Hühner, die im landesweiten Regionalvergleich einen Marktanteil von jeweils 7%, 4% und 3% stellen. Der Anteil von hochwertigem Hanwoo-Rindfleisch aus Gangwon-do liegt mit 86% etwas über dem landesweiten Durchschnitt von 84%. Das ist sowohl auf die beständigen Bemühungen um Qualitätsverbesserung, als auch auf die
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natürlichen topografischen und klimatischen Bedingungen der Provinz zurückzuführen. Die natürlichen Gegebenheiten wie sauberes Gras und Wasser sowie die reine Luft und die hohen Temperaturunterschiede am Tage befördern die Fetteinlagerung. So wird qualitativ hochwertiges, zartes und aromatisches Fleisch erzeugt. Die Hanwoo-Fleischprodukte aus den Kreisen Hoengseong, Pyeongchang und Hongcheon gehören zu den Top-Marken des Landes, und Produkte aus Hoengseong und Daegwallyeong in Pyeongchang werden nach Hongkong exportiert. In Wind und Schnee getrockneter Pollack Die lange Küstenlinie ist ein weiteres topografisches Merkmal von Gangwon-do und das nahe Meer bietet reiche Fang- und Zuchtgründe. Tintenfisch stellt den Hauptteil des Fischfangs, Japanische Jakobsmuscheln und Seescheiden werden in Fischfarmen gezüchtet. Früher gab es auch viele Alaska-Pollacks, aber aufgrund der Veränderung der Wassertemperaturen ist das Fangvolumen stark zurückgegangen. Deshalb versucht das Forschungsinstitut für Fischereiressourcen des East Sea Rim Headquarters
1. Die einheimischen Hanwoo-Rinder grasen von Ende Mai bis Mitte November auf Freilandweiden und werden den Rest des Jahres über im Stall mit Getreide gefüttert. Koreanisches Rindfleisch aus der Gangwon-Provinz ist berühmt für sein besonderes Aroma und Zartheit. 2. Im Dorf Yongdae-ri, Kreis Inje-gun, hängt Alaska Pollak an Trockengestellen. Der Fisch, der den ganzen Winter über in Sonne und Kälte getrocknet wird, verfärbt sich im Lauf der Zeit gelblich, während das Fleisch zarter und schmackhafter wird.
von Gangwon-do derzeit, den Alaska-Pollack-Bestand im Ostmeerraum durch Aussetzen von gezüchteten Jungfischen aufzustocken. Alaska-Pollack ist bei den Koreanern schon seit alter Zeit beliebt und wird auf verschiedene Weise verarbeitet bzw. zubereitet: Er kommt in Eintöpfe oder Suppen, wird getrocknet oder gebraten. Myeongnan-jeot, eingesalzene, fermentierte Pollack-Eier, und Changnan-jeot, eingesalzene, fermentierte Pollack-Därme, sind ebenfalls beliebte Delikatessen. Zu den Hochzeiten des Pollackfangs wurden in der Hafenstadt Sokcho Pollack-Eier in großen Mengen zu Myeongnan-jeot verarbeitet und größtenteils nach Japan exportiert. Das Trocknen im Freien bei Wind und Wetter macht das Fleisch
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Während sich in den mittleren und südlichen Regionen der koreanischen Halbinsel Tocken- und Nassanbau (Reisfelder) flächenmäßig gesehen mehr oder weniger die Waage halten, herrscht in Gangwon-do aufgrund der bergigen Beschaffenheit der Provinz der Trockenanbau vor. Auch ist die Provinz reich an Bodenschätzen.
Kiefernpilze aus dem Kreis Yangyang-gun gelten als Spezialität und werden in großen Mengen nach Japan exportiert.
zarter und ermöglicht eine längere Lagerung. Beim Trocknen verfärbt sich das Fleisch gelblich, weshalb getrockneter Pollack als „Hwangtae“, also „Gelber Pollack“, bekannt ist. Das Dorf Yongdae-ri im Kreis Inje-gun ist berühmt für seine „Deokjang“, wo der Fisch an hohen Holzgestellen zum Trocknen aufgehängt wird. Heutzutage wird aus Russland importierter Pollack zu Hwangtae verarbeitet. Über 70% der landesweit vertriebenen Hwangtae werden in Yongdae-ri in Inje-gun oder in der Ortschaft Daegwallyeong verarbeitet. Zum Trocknen eignen sich am besten Orte, an denen im Winter die Temperatur nachts unter -10° Celsius sinkt, tagsüber die Sonne stark scheint, der Wind kräftig weht und es ordentlich schneit. Damit das Fleisch gut schmeckend und kaufest wird und sich golden färbt, muss der Fisch lange Zeit trocknen und dabei wiederholt gefrieren und auftauen. In vielen koreanischen Haushalten findet sich ein Hwangtae-Vorrat in der Speisekammer, aus dem die Hausfrau im Fall der Fälle jederzeit eine Katersuppe zubereiten kann. Erholungsangebote zu allen Jahreszeiten Die Provinz Gangwon-do mit ihren sauberen, malerischen
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Bergen und Flüssen liegt nicht weit von der Metropolregion Seoul, was sie zu einem beliebten Ziel für Agrotouristen macht. Familien, Freunde oder Gruppen können an einem der vielfältigen Erlebnisangebote teilnehmen, sei es Angeln am Fluss, Helfen bei der Ernte oder Verarbeiten von Erzeugnissen zu v.a. Reiskuchen, Tofu und Wurst. Die Besucher zahlen für die einzelnen Aktivitäten und für die geernteten oder hergestellten Nahrungsmittel, die sie vor Ort verzehren oder mit nach Hause nehmen können. Auch die ländlichen Feste von Gangwon-do sind mittlerweile landesweit bekannt geworden und kurbeln den Agrotourismus an. Feste wie das Hwacheon-Tomatenfestival im Sommer oder das Hoengseong-Hanwoo-Rindfleischfestival im Herbst ziehen mit ihren bunten, einzigartigen Programmen viele Touristen an. Die Erholungs- und Freizeiteinrichtungen in den schönen Wäldern von Gangwon-do sind ebenfalls wichtige Tourismusstätten. Das Nationale Zentrum für Waldaktivitäten in Hoengseong-gun bietet z.B. professionell ausgerichtete Erlebnisprogramme für jedermann. In der Stadt Chuncheon setzen sich das Arboretum und das Waldmuseum der Provinz Gangwon-do sowie das Walderlebnis-Center dafür ein, Touristen und Schülern aus der Stadt durch Walderlebnisprogramme den Wert von Wäldern zu vermitteln, und bieten spezielle Naturerlebnis-Bereiche an. Außerdem gibt es überall in der Provinz regionale Freizeit- und Erholungswälder, in denen sich jeder nach einer Online-Reservierung ausruhen und Waldspaziergänge genießen kann. Große Aufmerksamkeit zieht derzeit das Neowa-Maeul tief in den Bergen von Sin-ri, Dogye-eup am Rande der Stadt Samcheok auf sich. Dieses „Dorf der mit Neowa (Holzschindel) gedeckten Häuser“ mit seinen traditionellen, im charakteristischen Stil der Region gebauten Lehmhäusern entwickelt sich zu einem beliebten Reiseziel. In Gangwon-do gibt es zurzeit über 170 Agrotourismus-Dörfer, was einen Anteil von ca. 18% am landesweiten Angebot ausmacht. Laut Schätzungen kommen jährlich über 2,3 Mio. Touristen in diese Dörfer.
Die koreanische Esskultur wird zusehends vereinfacht, sodass heute traditionelle Speisen, wie sie einst in den ländlichen Regionen auf den Tisch kamen, zu einer Rarität werden. Doch das koreanische Restaurant Seoji Choga Tteul (Hof eines strohgedeckten Hauses in Seoji) am Rande der Stadt Gangneung hält sich weiterhin an seine traditionelle Speisekarte mit original zubereiteten lokalen Spezialitäten, die sich bei Touristen großer Beliebtheit erfreuen. Choe Yeong-gan, die Herrin einer Stammfamilie mit langjähriger Kocherfahrung, eröffnete das Restaurant 1998, um ihren Traum von der Wiederbelebung der traditionellen Küche zu verwirklichen. Das jetzt bereits seit zwanzig Jahren in Betrieb befindliche Restaurant wurde vom Agrartechnologiezentrum der Stadt Gangneung zum „Traditionellen koreanischen Restaurant Nr. 1“ designiert und von der Behörde für ländliche Entwicklung zum für den neuen Schwiegersohn“. Davon sind „Motbap“ und
Wiederbelebung der traditionellen Landküche
„Jilsang“ typische Bauerngerichte, die es heute nicht mehr gibt. Feldmahlzeit „Motbap“ umfasst verschiedene Speisen, die früher in großen Bauernhäusern zur Verpflegung der Landarbeiter zubereitet wurden, die beim Reissetzen halfen. In den Zeiten, als Reispflanzen noch Handarbeit war, wurden viele Arbeitskräfte benötigt, weshalb man Nachbarn oder Arbeiter
„Hervorragenden Landküche-Restaurant“ ernannt. Hinter dem als
aus den Nachbardörfern mobilisierte. Dann hatte der jeweilige
Restaurant dienenden Hanok-Gebäude steht das 200 Jahre alte,
Bauernhaushalt 20-30 Personen mit Mittag- und Abendessen
im traditionellen Baustil errichtete Familienhaus, das ihre Familie
auf dem Feld zu verpflegen. Die Mahlzeiten bestanden u.a. aus
auch heute noch bewohnt. Es atmet noch an vielen Stellen den
Reis mit Adzukibohnen, Algensuppe, Kimchi, Tofu, fritierten
Geist von Jo In-hwan, eines bekannten konfuzianischen Gelehrten
Algen, Sirutteok (mit Adzukibohnen garnierter Reiskuchen) und
Ende der Joseon-Zeit und Schwiegergroßvater von Frau Choe.
Baekseolgi (weißer Reiskuchen) sowie Makgeolli (Reiswein).
Wenn sie Gäste begrüße, denke sie immer an die Worte ihres
Anfang Juli, wenn der Reis gesetzt und die Felder bereits
Schwiegergroßvaters, dass sie „jeden, der das Haus betritt,
mehrmals gejätet worden waren, wurde für die Arbeiter, „Jilsang“
mit dem weiten Herzen einer Mutter empfangen und mit
ausgerichtet. Damit wurde einerseits den Arbeitern für ihre Mühe
gleichbleibender Freundlichkeit behandeln“ solle, so Frau Choe.
gedankt, andererseits eine Zwischenabrechnung gemacht. Die
Diesem Sinn entsprechend hängt im alten Stammhaus eine
erste Silbe „jil“ in „Jil-sang“ kommt von „Jil-kkun“: (Landarbeiter).
Tafel mit den Schriftzeichen „Yeojaedang(如在堂)“ (dt. „Halle der
Der Tisch wurde üppig mit stärkenden und nahrhaften Gerichten
Unveränderlichkeit“).
gedeckt, die den erschöpften Arbeitern neue Kraft spenden und
Die Menüs des Restaurants klingen alle ungewöhnlich:
sie gesund den schwülheißen Sommer überstehen lassen sollten.
„Reissetzlinge pflanzen“ (Motbap), „Fest nach dem Reispflanzen“
Stand einer der Arbeiter kurz vor seinem 20. Geburtstag, teilte
(Jilsang), „Für Gäste gedeckter Tisch“, „Erstes Treffen mit den
einer der Älteren der gastgebenden Familie das allen mit und
künftigen Schwiegereltern“ oder „Erstes Geburtstagsessen
gratulierte ihm zur Volljährigkeit.
Choe Yeong-gan, Besitzerin des Seoji Choga Tteul, präsentiert Jilsang , eins der Spezialmenüs des Restaurants. Es besteht aus einer Reihe gesunder Speisen, die in ihrer Familie über Generationen hinweg für die Landarbeiter zubereitet wurden, die während der arbeitsintensiven Pflanz- und Erntezeit aushalfen.
Während Motbap und Jilsang heute nur noch ungewöhnliche Menüs auf der Speisekarte sein mögen, waren sie in der traditionellen Gesellschaft, ein natürlicher Bestandteil der Jahresreigens in der ländlichen Gemeinschaft.
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SPEZIAL 5 Die Provinz Gangwon-do: Land der Berge, Mythen und Erinnerungen
© Eom Sang-bin
SEHNSUCHT DER HEIMATLOSEN
Bewohner eines Küstendorfes 32 KOREANA Winter 2017
Nordkoreanische Flüchtlinge, die während des Koreakriegs nach Süden flohen, richteten sich zunächst provisorisch in einem Dorf vor der Küste von Sokcho ein, aber ihr Traum von der Rückkehr in die Heimat hat sich nicht erfüllt. In den Jahrzehnten, die inzwischen vergangen sind, haben sich Lebensbedingungen, Transport-Infrastruktur und Existenzgrundlage des Dorfes verändert.
Die ganz in der Nähe der innerkoreanischen Grenze gelegene Hafenstadt Sokcho hat das Gebirge Seorak-san im Rücken und blickt auf das Ostmeer hinaus. Unmittelbar nach der Befreiung Koreas von der japanischen Kolonialherrschaft im Jahr 1945 lag die Stadt nördlich des 38. Breitengrades, der die koreanische Halbinsel in Nord und Süd aufteilte. Als der Koreakrieg 1953 mit einem Waffenstillstand endete und die Militärische Demarkationslinie nach Norden verschoben wurde, geriet Sokcho auf südliches Territorium. Dort lebt eine kleine Gemeinde von Menschen, die während des Krieges aus Nordkorea flüchteten und nicht wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Song Young-man CEO, Hyohyung Publishing Fotos Ahn Hong-beom
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n einem Abend Anfang September traf ich Kim Eui-jun, den Vorsitzenden der Vereinigung der ehemaligen Bürger der Landstadt Sinpo in der Provinz Hamgyeongnam-do, im Restaurant Sindashin, das für seine authentische Küche der nordkoreanischen Region Hamgyeong-do berühmt ist. Kim wirkt unglaublich jung und energiegeladen für sein Alter. Sobald er über seine Heimat im Norden spricht, wird er ganz aufgeregt. „Ich war damals ja gerade mal fünf, weshalb ich mich nur noch vage erinnern kann, aber diesen Tag habe ich noch ganz genau im Gedächtnis“, beginnt Kim seine Erzählung über den Koreakrieg. Den sieben Brüdern und einer Schwester von Kims Vater gelang die Flucht in den Süden. Das war im Januar 1952, ein Jahr nach der Heungnam (auch: Hungnam) Evakuierung. Die Familie war an Bord eines der drei Schiffe, die im Hafen Sinpo Richtung Süden ablegten. Jedes Schiff war mit 80 Flüchtlingen beladen, es waren also etwa 250 Menschen. Unglücklicherweise wurde eins der Schiffe von der Nordkoreanischen Volksarmee versenkt. Kims Stimme will versagen, als er weiterezählt: „Keiner der Passagiere des Unglücksschiffes dürfte die eisige Kälte überlebt haben. Die anderen gingen in Busan von Bord und kamen dann hierher ins Abai-Maeul (Abai-Dorf), weil wir glaubten, bald wieder in die Heimat zurück zu können. Das ist jetzt schon 65 Jahre her.“ „Abai“ bedeutet im Dialekt der Hamgyeong-Provinz „Vater“ oder „älterer Mann“. Damit zollt der Name den vielen Flüchtlingen Respekt, die im Norden einfache Fischer gewesen waren und das Dorf dann im Schweiße ihres Angesichts aufbauten. Heimatadresse ins Herz geätzt Kim stammt aus einer relativ wohlhabenden Familie aus
Sinpo-eup, Kreis Bukcheong-gun, Provinz Hamgyeongnamdo, wo sein Großvater eine große Konservenfabrik besaß. Als die herrschende Klasse zur Zielscheibe der politischen Säuberung durch die Nationale Volksarmee wurde, blieb den Kims nur noch die Flucht in den Süden. Vor seinem Tod hatte Kims Vater dem Sohn eine Kartenskizze in die Hand gedrückt. Kim zog ein verblasstes Blatt Papier aus seinem Geldbeutel. Es zeigte eine detaillierte Zeichnung des Viertels, in dem sein Elternhaus stand: In Sinpo-2-gu, gegenüber der Pension Hanggu und rechts vom Gebäude der Fischergenossenschaft steht in gestochener Schrift „Unser Haus“. In Sinpo-3-gu, auf der anderen Seite der großen Straße, ist das Hauptquartier der Kommunistischen Volksarmee zu sehen. In einer Ecke des Blattes steht in noch gut leserlichen chinesischen Schriftzeichen die Adresse „Hamgyeongnamdo, Bukcheong-gun, Sinpo-eup, 2-gu, Nr. 727“ und die „Telefonnummer 331“. Sie dürfte heute wohl kaum noch existieren, aber Kim trägt dieses Blatt Papier immer bei sich. Das Erste, was er nach der Wiedervereinigung machen wolle, sei, anhand der vom Vater gefertigten Skizze das Haus seiner Kindheit zu suchen. Sokcho, das früher zum Kreis Yangyang in der Provinz Gangwon-do gehört hatte, wurde 1942 zu Eup (Landstadt) aufgestuft. Die Einwohnerzahl lag damals zwischen 4.000 bis 5.000. Im Winter 1950 strömten die Flüchtlinge, die während der Heungnam Evakuierung in den Süden der koreanischen Halbinsel geflüchtet waren, wieder nach Norden, um sich fürs Erste in Sokcho niederzulassen. Auch diejenigen, die noch vor der Ziehung der Waffenstillstandslinie über Land aus den beiden Hamgyeong-Provinzen und den Kreisen Goseong und Tongcheon im Norden der Provinz Gangwondo nach Süden geflohen waren, gingen nach Sokcho. Als es nach dem Ende harter Gefechte zum Waffenstillstand kam,
1. Als die Regionalküche der Hamgyong-Provinz landesweit bekannt wurde, öffneten immer mehr auf nordkoreanische Gerichte spezialisierte Restaurants, was schnell Touristen aus dem ganzen Land anzog.
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2. Kim Eui-jun, geboren in Sinpo-eup, Kreis Bukcheong-gun, Provinz Hamgyeongnam-do, zieht ein Gaetbae-Pendelboot über den Fluss. Diese Boote stellten einst die einzige Verbindung in die Innenstadt von Sokcho dar, aber jetzt ist Abai-Maeul durch eine Brücke ans Festland angebunden. Die Pendelboote sind aber immer noch eine beliebte Touristenattraktion.
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wurde die Militärische Demarkationslinie im Bereich von Sokcho etwas oberhalb des 38. Breitengrades gezogen, womit die Stadt südkoreanisches Territorium wurde. Sokcho mit seiner florierenden Fischereiindustrie wurde ein attraktiver Ort für viele Flüchtlinge, von denen die meisten aus der Provinz Hamgyeongnam-do stammten. Anfänglich hoben sie auf öffentlichen Liegenschaften, die als US-Militärbasis dienten, Gruben aus, die sie mit Holzbrettern abdeckten. Andere bauten mit Teerpappe abgedeckte Unterkünfte, die sie notdürftig vor Regen und Wind schützten. Sie dachten, das würde reichen, denn es hieß ja, dass sie in zwei, drei Monaten wieder heimkehren könnten. Schnell entstand eine Gemeinde aus rund 2.000 Flüchtlingshaushalten. Es waren trostlose Zeiten, in denen die Männer auf nicht motorisierten Kuttern aufs Meer hinausfuhren und die Frauen sich auf den Kaimauern niederließen, um den Fang aus den Netzen zu klauben. Kulisse einer beliebten TV-Serie Das Abai-Maeul wurde auf einer Sandbank am See Cheongcho-ho, der mit dem Ostmeer verbunden ist, angelegt. Auch hier hielt der Wandel Einzug, als mit dem Bau des
Hafens Sokcho eine neue Wasserstraße erstand. Zu der Zeit kamen die als „Gaetbae“ bekannten Pendelboote auf. Die Gaetbae fungierten als Lebensader für die Bewohner des AbaiDorfes, da sie mit diesen Booten zum Jungang-Markt pendeln konnten, wo sie ihre von Hand gefertigten Papiertüten oder Strohseile verkauften. Mit der Zeit sprach es sich herum, dass man im Abai-Maeul besondere Spezialitäten der Hamgyeong-Küche probieren könne, darunter Abai-Sundae (Blutwurst á la Abai Maeul) und Myeongtaehoe-Naengmyeon (Buchweizennudeln in kalter Brühe mit rohen Heilbutt- oder Pollakstreifen), ein Gericht, das im Norden zu besonderen Festtagen serviert wird. Landesweit bekannt wurde das Dorf, als die hier gefilmte TV-Serie Autumn in My Heart zu einem Mega-Hit wurde. Restaurants, die die Spezialitäten der Hamgyeong-Küche anboten, schossen wie Pilze aus dem Boden. Abai-Sundae, eine Wurst, für die Schweinedarm mit Zutaten wie getrockneten Rettichblättern, Schweinehack, geronnenem Schweineblut, Knoblauch und Sojabohnenpaste gefüllt wird, begeisterte schnell die Geschmacksknospen der Städter. Zu den Zeiten, als das Meer vor der Küste Sokchos noch vor Alaska Pollack wimmelte, war Pollack
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der Saison nicht weniger beliebt als Sundae, aber das ist mit dem Verschwinden der Fische nun Schnee von gestern. Die Regionalgerichte Hamgyeong-dos sind süß und salzig, eine Geschmacksintensität, die bei jungen Städtern, die stark gewürzte Speisen bevorzugen, gut ankommt und perfekt zur Reisestimmung passt. Im Laufe der Zeit übernahmen Brücken die Funktion der Pendelbote. Die Brücken Seorak-daegyo und Geumgangdaegyo bieten nachts einen atemberaubenden Anblick. Um mehr Touristen bequemer befördern zu können, sollen die alten Pendelboote Gaetbae durch größere und komfortablere Schiffe ersetzt werden. Natürlich sind die Gaetbae-Boote mit ihren Flachdecks, bei denen sich die Passagiere eigenhändig an einem Stahlseil über den Wasserweg ziehen müssen, schon etwas unpraktisch, sorgen aber auch für Urlaubsspaß. Und es gibt noch weitere Veränderungen. Das gefragteste Produkt auf dem Sokcho Jungang-Markt ist neuerdings Dakgangjeong (fritierte Hähnchenbällchen in süß-scharfer Soße). Das Gericht, das einen noch scharf-würzigeren Geschmack als Abai-Sundae hat, ist so beliebt bei den Touristen, dass ganze Straßen abends von hell erleucheten DakgangjeongImbisständen auf Rädern gesäumt sind. Es scheint, dass Dakgangjeong bald Abai-Sundae verdrängen wird.
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Abai-Maeul, einst noch als Stadtbezirk „Sokcho-4gu“ registriert, ist heute offiziell zur Verwaltungseinheit „Cheongho-dong“ geworden. Die Zahl der Bewohner ist stark gesunken, nur noch 60 Menschen sind nordkoreanische Flüchtlinge der ersten Generation. Die übrigen sind Nachkommen der zweiten und dritten Generation, die in Sokcho, ihrer zweiten Heimat, längst Fuß gefasst haben. Das heißt, rund 8.000 Menschen oder 10% der Einwohner von Sokcho sind „Hamgyeong-stämmig“. Das „Kulturfest der Flüchtlinge“, das seit 2016 jeden Frühling im AbaiMaeul stattfindet, steht unter einem herzzerreißenden Thema: Erinnerungen an den Frühling meiner Heimat, die selbst die Zeit nicht ausradieren kann. Auch das Heimweh, das die Flüchtlinge an den traditionellen Feiertagen unweigerlich überkommt, verblasst durch die stete Wiederholung immer stärker und schneller. Vielleicht, weil sie sich resigniert in ihr Schicksal gefügt haben. Erinnerungen, Träume und Hoffnungen Mein Koreanischlehrer an der Oberschule, der auch als „Poet der Ostmeerküste“ bekannte Dichter Hwang Geumchan (1918-2017), stammte aus Sokcho. Er versuchte stets, unser humanistisches Denken zu kultivieren, statt stur
Das Heimweh, das die Flüchtlinge an den traditionellen Feiertagen unweigerlich überkommt, verblasst durch die stete Wiederholung immer stärker und schneller. Vielleicht, weil sie sich resigniert in ihr Schicksal gefügt haben.
nach Schulbuch zu unterrichten. Ab und zu erzählte er uns Geschichten über seine Heimatstadt. Wenn der Dichter, der vor der Befreiung Koreas in Tokyo studiert und nach seiner Rückkehr bis zum Ausbruch des Koreakrieges in Seongjin, Provinz Hamgyeongbuk-do, gelebt hatte, mit leichtem Hamgyeong-Dialekteinschlag Geschichten vom Meer vor Sokcho erzählte, klang das für meine jungen Ohren wie ein Rezitieren von Gedichten. Als wir im Unterricht über klassische Literatur das Werk Gwandong Byeolgok („Gesang über Gwandong“; 1580) durchnahmen, in dem der JoseonGelehrte Jeong Cheol (1536-1593) die acht landschaftlichen Schönheiten Gangwon-dos wie die Felsensäulen Chongseokjeong in Tongcheon, den Lagunensee Samilpo und den Pavillon Cheonggan-jeong in Goseong besingt, empfand ich noch stärker die über Zeit und Raum hinausgehende Mystik dieser Region. Doch damals waren Sokcho und das SeorakGebirge Orte, die außerhalb meiner Reichweite lagen, Orte weit jenseits der steilen Gipfel der Taebaek-Gebirgskette. Gegen Ende meiner Studienzeit in den frühen 1970er Jahren ging ich an einem Frühlingstag gleich nach der Semesterzwischenprüfung mit einem Freund, der in Sokcho geboren und aufgewachsen war, zum MajangExpressbusterminal, wo wir den Bus nach Sokcho nahmen. Der Bus wand sich den mäandrierenden Straßen des Hangyeryeong-Passes entlang. Als wir in Sokcho ankamen, ging die Sonne bereits hinter dem Misiryeong-Pass unter. Nach der halbtägigen Fahrt waren Bus und Passagiere ziemlich am Ende. Die Dämmerung brach bereits herein und die Lichter des Leuchtturms auf dem Felsen Yeonggeumjeong gingen an. Wir stiegen in einen Bus Richtung Ganseong
Der nordwestlich von Sokcho gelegene Yeongnang-See ist wegen seiner zu allen Jahreszeiten reizvollen Landschaft eine beliebte Touristenattraktion. Der Name geht zurück auf Yeongnang, einen der legendären Hwarang-Elitekrieger des Silla-Reichs, den die Seelandschaft in seinen Bann schlug.
(heute: Goseong). Als wir im Dorf Gyoam-ri ankamen, waren Strand und Hafen bereits völlig in der Dunkelheit versunken. Es war nur noch der Wind zu hören, der vom Meer her durch die Kiefern auf der Klippe fuhr. Bis dahin kannte ich nur das Meer und den Strand von Incheon. Ich assoziierte „Meer“ daher mit einer dunkelbraunen, von Salzgeruch durchzogenen Landschaft, in der das Blau des Wassers nur in den kurzen Momenten aufglitzert, wenn die Sonnenstrahlen darauf fallen. Es war eine Zeit der Monotonie, in der Fernseher und Schuluniformen schwarz-weiß waren. Um so überwältigter war ich, als ich früh am nächsten Morgen aufs Meer hinausblickte, wo sich mir zwischen hohen Kiefern und dem Dach des Cheonhak-jeong, des „Pavillons der Himmelskraniche“, die hoch oben auf einer Klippe standen, ein faszinierendes Spektakel an Blautönen bot. Nirgends war das monotone Blau, das ich aus dem Kunstunterricht kannte, zu entdecken. Ich fragte mich, was für eine Farbe wohl die jenseits des Ostmeeres gelegenen Meere wie der Südpazifik, der Atlantik, oder das Mittelmeer haben mochten. Meiner Fantasie freien Lauf lassend träumte ich davon, diese Meere zu überqueren. Auf der Rückfahrt nach Seoul erstreckte sich vor meinen Augen ein Landschaftspanorama wie aus Werken der neuzeitlichen Literatur. Damals fuhr nur zwei, drei Mal am Tag ein Bus in die Hauptstadt. Unser Bus ruckelte ächzend die Kieselsteinstraße nach Ganseong entlang, eingehüllt in die vom Fahrzeug vor uns aufgewirbelten Staubwolken. Rechter Hand erstreckte sich nichts als endlos scheinender Sandstrand. Die karge Küstenlandschaft zwischen den Gebirgen Seorak-san und Geumgang-san erlaubte uns eine kleine Verschnaufpause zwischen den atemberaubend schönen Berglandschaften. Der Rückweg über den Jinburyeong-Pass nahm sogar einen ganzen Tag in Anspruch. Mein Hintern schmerzte nach all dem Gerüttele und ich hatte einen beißenden Geruch in der Nase. Vor dem Koreakrieg waren Sokcho und Goseong nordkoreanisches Territorium, da sie jenseits des 38. Breitengrades lagen,
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jenseits dieser Linie, die nach der Befreiung Koreas von der japanischen Kolonialherrschaft von fremden Mächten gezogen wurde. Nach dem Koreakrieg wurde die Militärische Demarkationslinie weiter nach Norden bis zum Kreis Yangyang gerückt. Die Flüchtlinge aus dem Norden machten Sokcho zu ihrer neuen Heimat, den Schmerz der Trennung wie ein Präludium annehmend. Vor dem Bau der Autobahn, für die das Bergmassiv Baekdu Daegan an mehreren Stellen mit Tunneln durchbohrt wurde, war Sokcho ein entlegener, nur schwer zu erreichender Ort. Mit Mitte dreißig kaufte ich mir mein erstes Auto. Jedes Mal, wenn die Jahreszeiten wechselten, fuhr ich die Landstraße Nr. 7 entlang, die sich die Ostmeerküste hoch bis zum Wiedervereinigungsobservatorium erstreckt. Ich wollte gern meinen Kindern im Grundschulalter die realen Stätten der Teilung Koreas zeigen, aber das war damals unmöglich. Die DMZ war ein spannungsgeladenes Pulverfass. Es dauerte geraume Zeit, bis das Äußere Geumgang-Gebirge und der Lagunensee Samilpo, die vom Wiedervereinigungsobservatorium aus zu sehen sind, für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Man musste sich damit zufrieden geben, in Myeongpa-ri, dem nördlichsten Dorf Südkoreas, zu Mittag Makguksu (Buchweizennudeln in Brühe) mit Gamja-jeon (Kartoffelpfannkuchen) zu essen und dann Richtung Süden über Daejin nach Geojin zu fahren. Nichtsdestoweniger war Hwajinpo eine hervorragende Alternative, um meinen Kindern den Schmerz der Teilung zu vermitteln. Ganz abgesehen davon, dass es ein exzellenter Exkursionsort in puncto Geographie ist, denn Hwajinpo ist ein Musterbeispiel für eine Lagune, die durch gezeitenbedingte Sandablagerungen entstand. Daneben bietet die Umgebung Anschauungsunterricht in Geschichte: In der einst nordkoreanischen Region, die mit dem Waffenstillstandsvertrag an Südkorea zurückgegeben wurde,
liegen die Ferienhäuser der Hauptkontrahenten des KoreaKonflikts, des südkoreanischen Präsidenten Rhee Syng-man und des nordkoreanischen Machthabers Kim Il-sung. Da sich die Grenze tief in Richtung Norden erstreckt, herrschten hier jahrzehntelang extreme Spannungen. Andererseits sorgte die in der Nähe gelegene Ferienanlage einer Frauenuniversität, die manchmal von Studentinnen genutzt wurde, für herzklopfende Abwechslung bei den jungen Soldaten, die hier ihren Wehrdienst unter den strengsten Bedingungen ableisteten. So war Hwajinpo ein Ort der Widersprüchlichkeiten, eine Mischung zweier Extreme. Sokcho: endlich leichter erreichbar Als unter der steilen, kurvenreichen alten Straße über den Pass Misiryeong, ein Autotunnel durch den Berg gebohrt wurde, wurde Sokcho leichter erreichbar. Am Tempel Hwaam-sa am Fuße des Passes, überraschte mich ein Schild mit der Aufschrift „Hwaam-Tempel im GeumgangGebirge“. Warum Geumgang-Gebirge und nicht SeorakGebirge? Und auch der in Goseong befindliche GeonbongTempel ist mit „Geonbong-sa im Geumgang-Gebirge“ ausgeschildert. In dem Falle ist es eher verständlich, da dieser Tempel tatsächlich in der unmittelbaren Nähe des Geumgangsan liegt und eine Zeit lang Zweigtempel sowohl im Seoraksan als auch im Geumgang-san unterhielt. Doch dass der Hwaam-sa in direkter Nähe des Passes Misiryeong auch als ein zum Geumgang-san gehörender Tempel erklärt wurde, zeigt, dass die Gebirge Seorak-san und Geumgang-san ein Herz und eine Seele sind. Sie teilen auch einen Volksmythos. Der See Yeongnang-ho, ist mit dem Lagunensee Samilpo im Äußeren GeumgangGebirge durch folgende Erzählung verbunden: Vier Mitglieder der Hwarang, der aristokratischen Elite-Krieger des Vereinigten Silla-Reichs (668-935), machten sich nach
1. Das DMZ Museum in Goseong, gelegen direkt unterhalb der DMZ am nördlichsten Zipfel der Ostküste, unterhält eine Dauerausstellung zu den Themen Frieden und Ökologie.
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2. Dieses zweistöckige Haus in Hwajinpo ist als „Kim Il-sung Villa” bekannt, da es dem einstigen nordkoreanischen Führer und seiner Familie als Sommerhaus diente. Das auch als „Burg von Hwajinpo” bekannte und während des Koreakriegs beschädigte Haus beherbergt seit seiner Renovierung eine Ausstellung von Exponaten mit Bezug zu Nordkorea und zum Kim-Clan.
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Kampfübungen im Geumgang-san in die Hauptstadt Seorabeol (das heutige Gyeongju) auf, um an einem KampfkunstTurnier teilzunehmen. Auf dem Weg aus den Bergen erblickte Yeongnang, einer der vier Krieger, die Spiegelung des Felsbrockens Ulsan Bawi auf der spiegelglatten Oberfläche des stillen Sees. Völlig gefesselt von dem faszinierenden Anblick vergaß er das Turnier und bewunderte die Schönheit des Sees, der nach ihm „Yeongnang-ho“ genannt worden sein soll. Der weiter nördlich gelegene Lagunensee Samilpo in Gosung verdankt seinen Namen ebenfalls den vier Hwarang, die, hingerissen von der lieblichen Landschaft, drei Tage (sam: „drei“, il: „Tag“) dort geblieben sein sollen. Ein Spaziergang um den Yeongnang-See, dessen Umfang 7,8 km beträgt, hat zu allen Jahreszeiten seinen Reiz. Im Frühling ist es schön, alleine und frei von allen Gedanken unter den in voller Blüte stehenden Kirschbäumen entlang zu wandern; im Frühsommer bietet sich an, mit jemand Besonderem zum Beom Bawi, dem im kühlen Schatten der grünen Zelkoven liegenden „Tiger-Felsen“, zu wandern. Bei Sonnenuntergang fühlt sich der Spaziergänger von der sich im See spiegelnde Silhouette des Ulsan Bawi in himmlische Gefilde versetzt, wie
es einst Yeongnang ergangen sein muss. Man könnte sagen, dass der Ulsan Bawi der Ursprung des Namens Sokcho ist, da die Bedeutung des Namens von dem Wunsch herrührt, „ein aus cho (Stroh) geflochtenes Seil um den Felsen zu binden (sok)“ und ihn wegzutragen. Am See Cheongcho-ho herrscht eine ganz andere Atmosphäre. Umgeben vom Innenstadtgebiet mit seinen vielen Autos, Booten, Menschen und Neonschildern tobt hier bis spät in die Nacht das Leben. Wer sich nach geschäftigem Treiben und allerlei Leckerbissen sehnt, dem ist das Gebiet rund um den Cheongcho-See zu empfehlen. Empfehlenswert ist die einstündige Tour mit einer Yacht, die am Sokcho Komarine Yacht Park beginnt und eine Schleife um die Insel Jo-do dreht. Die herrliche Kulisse des Seorak-Gebirges, das sich hinter dem Cheongcho-See und dem Sokcho Expo Tower erstreckt, macht jedes Smartphone-Foto zu einem Meisterwerk. Der Daecheong-bong, der höchste Gipfel des Seorak-Gebirges, der sich hinter der Brücke Seorak-daegyo im Abai-Maeul erhebt, inspiriert zu poetischen Ergüssen. Der Anblick, den die schneebedeckten Berge des Seorak-san an einem klaren, sonnig-kalten Wintertag bieten, ist einfach überwältigend.
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INTERVIEW
DAS LEBEN AM ENDE DES KOHLENBERGWERKES PORTRÄTIEREN Hwang Jai-hyoung gibt Landschaftszenen der Kohlebergbaugebiete und des Lebens unter Tage durch Realität atmende Bilder wider. Da er die Grenzen zwischen Kunst und Realität durch eine getreue Darstellung des Geistes seiner Zeit einreißen wollte, machte er sich nach Taebaek auf, einer entlegenen Bergarbeiter-Stadt in der Provinz Gangwon-do. So wurde er zu einem „Bergarbeiter-Künstler“, der durch seine Bilder nach Lebenshoffnung sucht. Chung Jae-suk Kulturredakteurin, Tageszeitung The JoongAng Ilbo Fotos Ahn Hong-beom
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Portrait of a Miner , 2002. Öl auf Leinwand, 65 × 53 cm
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wang Jai-hyoung streckt bei unserem Treffen gleich seine warmen, klobigen Hände aus, um mich herzlich zu begrüßen. Mir fallen sofort sein buschiger Bart, seine schwarze Arbeitskleidung und sein Hut ins Auge. Seine kräftige, massige Gestalt strahlt die Forschheit eines Mannes aus, der leicht die Arbeit zweier Männer erledigen könnte. Allein schon Hwangs Händedruck lässt ahnen, was für ein Leben er hinter sich hat. Der Künstler, der in einer Zechenstadt lebt, ist von düsterer Eintönigkeit umgeben, doch seine Augen glänzen. Hwang, der selbst Bergmann wurde, um das Leben der unter Tage arbeitenden Kumpel zu porträtieren, sagt: „Am Ende des Stollens glitzert die letzte Hoffnung des Lebens wie ein Stern am Himmel.“ „Als ich 1982 mit meiner Familie nach Taebaek zog, herrschte dort eine etwas schmuddelige Atmosphäre, etwa wie in einer Spelunke, aber heute vermisse ich diese alten Zeiten“, sagt Hwang. „Auch Taebaek hat in den letzten 30 Jahren je nach Konjunkturlage viele Aufs und Abs durchgemacht. Ich, der ich das alles miterlebt habe, bin jetzt noch entschlossener, hier zu bleiben und als Zeitzeuge zu fungieren. Wenn mich jemand fragt, ob es nicht an der Zeit sei, meine Zelte hier abzubrechen, antworte ich: Ich bin keiner von der Sorte, die eine Frau sitzen lässt, wenn er das bekommen hat, was er wollte!“ Überall, wo Verzweiflung lauert, ist „vor Ort“ Hwang ist den Erinnerungen und Spuren der Region und der Menschen, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen, unverdrossen gefolgt. Als die Städter das Bergbauwerk mit dem Makjang (wörtlich: „vor Ort, Ortsbrust, Ende des Stollens“), der Metapher der Verzweiflung, gleichsetzten, erwiderte der Künstler: „Vor Ort – das ist der Ort am Ende des Stollens, an dem die Menschen verzweifeln. So gesehen wäre das doch eher Seoul, oder? Wo ist der Unterschied zwischen den vielen Arbeitslosen in Seoul und den Bergleuten vor Ort?“ Hwangs Philosophie kommt im Titel der Ausstellungen, die er in den letzten Jahrzehnten gehalten hat, zum Ausdruck. Der Titel aller seiner Ausstellungen lautete The Dirt to Grasp and the Ground to Lie on. Es ist eine Metapher für Menschen, die bei der Arbeit die Erde mit den Händen greifen, aber kein Stück Erde haben, auf das sie sich hinlegen können. „Als ich die Kunsthochschule abschloss, blickte ich einmal auf mich selbst zurück. Da wurde mir bewusst, dass ich quasi nur als Künstler posierte und weit entfernt von jeglicher Realität lebte. Ich dachte, dass ich das verzerrte Gesicht der Industrialisierung einmal mit eigenen Augen sehen sollte. Ich besuchte Industrieviertel am Stadtrand wie Guro-dong und sah das Leben der gesellschaftlich marginalisierten Arbeiter dort. Diejenigen, die selbst aus diesen Gebieten vertrieben wurden,
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machten sich zu den Kohlezechen auf. Ich wollte die Grenzen, die die Minjung-Misul, die „Kunst des Volkes“ der 1980 Jahre, nicht hatte überschreiten können, brechen. Im erweiterten Sinne könnte man sagen, dass der Makjang im Stollen der Punkt ist, an dem der Mensch verzweifelt, d.h. Makjang existieren nicht nur in Zechenstädten wie Taebaek, sondern überall dort, wo Menschen kein menschenwürdiges Leben führen können, sei es am Arbeitsplatz, in den Straßen oder zu Hause. Ich ging zu den Bergleuten, die für all die Menschen stehen, die an den Umständen der Zeit verzweifelten und sich im Kampf um ein besseres Leben abrackerten.“ Die hohe Decke seines Ateliers, das sich in der Gasse eines Wohnviertels neben dem Taebaek Culture & Arts Center befindet, verleiht dem Raum etwas Ehrfuchtsgebietendes, das ihn zu einem „Sanktuarium der Bilder“ macht. Es birgt Erinnerungen an Mittagessen aus dem Henkelmann, eingenommen in der trüben Luft voller Kohlenstaub vor Ort im schwachen Licht der Grubenlampen, Erinnerungen an das erbitterte Sich-Abmühen im Stollen, in dem man sich zuweilen wie im Mutterleib fühlte. Neben dem Eingang stapeln sich Farbdosen an den Wänden. „Es gab einmal eine Zeit, in der ich jedes Mal, wenn ich an etwas Geld kam, Farben kaufte“, erklärt Hwang. Schier herzzerreißend scheint mir die Vorstellung der Seelenqualen, die ein armer Maler durchzustehen hat, den es dermaßen nach Kunst dürstet, dass er selbst dann, wenn er nicht weiß, wovon er die nächste Mahlzeit bezahlen soll, noch überlegt, wie er Farben kaufen kann. Nicht Kunst, sondern Schweiß „Der Zerfall der Aktivistengruppen der 1980er Jahre rührt meiner Meinung nach aus mangelndem Durchhaltevermögen und dem Scheitern, Theorie und Praxis zu vereinen,“ erklärt Hwang. „Als ich zum ersten Mal Sabuk im Kreis Jeongseongun in der Provinz Gangwon-do besuchte, merkte ich, dass ich kein Zuschauer bleiben konnte. Die Bergleute wollten nicht meine Kunst, sie wollten meinen Schweiß. Ich dachte darüber nach, ob meine Pinselarbeit und ihre Schaufelarbeit gleichwertig sind. Um Zugang zur Gemeinschaft der Bergleute zu fin- den, organisierte ich mit ihnen bzw. für sie traditionelle Percussion- und Volkstanz-Aufführungen, Wandmalerei- und Druckgrafik-Events sowie ein Kunst-Camp. Durch meine Bilder habe ich hinausgestoßen, dass ich denjenigen beistehen möchte, die verzweifelt versuchen, der Hoffnungslosigkeit ihrer Zeit zu entrinnen.“ 1982 mischte sich „Bergarbeiter“ Hwang unter die Kumpel der Gujeolri-Zeche in Jeongseon. Da Brillenträger nicht unter Tage arbeiten dürfen, musste der stark kurzsichtige Hwang bis Feierabend Kontaktlinsen tragen, was ihm schon bald eine akute Bindehautentzündung bescherte. Ursache war der Kohlenstaub,
Black Weep , 1996–2008. Kohle und Mixed Media auf Leinwand, 193,9 × 259,1 cm
der sich zwischen Augapfel und Linse ansammelte. Der Arzt warnte gar vor Verlust des Augenlichts. Nach drei Jahren Arbeit unter Tage musste Hwang aufhören, aber die Menschen, die er vor Ort getroffenen hatte, wurden zu seinen Motiven. Damit begannen sich Werk und Leben in denselben Bahnen zu bewegen: Der einstige Beobachter wurde als Arbeiter neu geboren, und zwar als „Bergarbeiter-Künstler“. Doch die älteren Bergleute, dank derer Taebaek zu seiner zweiten Heimat werden konnte, und die Bergeklauberinnen, die Hwang unter ihre mütterlichen Fittiche genommen hatten, verschwinden allmählich. Die Tyrannei des Kapitalismus bluten ihre Lebensgrundlage aus. Bis 2020 sollen alle Kohlenbergwerke geschlossen werden. Werbung für lokale Tourismusattraktionen zieht Besucher nach Gangwon-do, aber für die weniger von der Entwicklung Begünstigten bleibt kein „ground to lie on“. Hwang erzählt, dass er an manchen Tagen aus Verzweiflung die Leinwand zur Seite legt und SojuReisschnaps, trinkt. Vor seinem Werk Kwon the Coal Hewer, dem Porträt einer Bergeklauberin, deren Augen im Kohlestaubbedecktem Gesicht nur umso heller leuchten, erzählt der
Künstler seufzend: „Ich wollte den Ausdruck im Blick meiner Mutter einfangen, aber das war nicht so einfach. Diese leicht verhangenen Augen gefüllt mit einem Gemisch aus Liebe und Schmerz, das ist vielleicht alles, was wir gelernt haben müssen, wenn wir aus dieser Welt scheiden. Ich bin dazu gekommen, viele Berge und Bäume zu malen. Nachdem ich rund drei Jahrzehnte mit Menschen gelebt habe, die ihr Leben ohne zu klagen so still wie ein Baum verbracht haben, ist mein einziger Wunsch nur noch, dass mein Pinsel Schaufel oder Hacke gleichen möge.“ Seine im Atelier aufeinander gestapelten Bilder sind Beweise und Dokumentierung seines Kampfes als BergarbeiterKünstler. Das Werk Black Icicles mit seinen hier und da zerschollenen schwarzen Eiszapfen aus Kohlenstaub-Klumpen steht sinnbildlich für die Bergarbeiter mit ihren tief zerfurchten Gesichtern. Der mäandrierende Bergpfad in Dumun-dong Mountain Pass, dargestellt durch dick aufgetragene Schichten aus gelblicher Lehmerde, steht für die Windungen unseres Lebens. Als ihm die fetthaltigen Ölfarben zu schmierig wurden, begann Hwang eine Mischung aus Erde und Kohlenstaub zu
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Meal , 1985. Öl auf Leinwand, 91 × 117 cm
verwenden, um eine rauere Oberflächenbeschaffenheit zu erzielen. Er glaubt, dass entspricht mehr dem, was wir sind: „Es gab einen Anlass, der mich über die von mir verwendeten Materialien nachdenken ließ: Das war, als ich die Arbeits- kluft des Bergarbeiters Kim Bong-chun sah, der 1980 bei einem Grubenunglück im Hwangji-Kohlenbergwerk ums Leben kam. Auf der Brustseite, wo bei Arbeitsoveralls gewöhnlich der Name des Trägers steht, waren nur der Bergwerksname und eine Nummer zu lesen: Hwangji 330. Sein zerfetzter und zerknitterter Overall war der einzige Zeuge für das Leben und den Tod dieses Bergarbeiters. Nichts hätte ein besseres Selbstporträt abgeben können als dieser Arbeitsanzug.“ Hwang verwendet kühn Materialien von der Erde, auf die er seinen Fuß setzt, und Allerweltsobjekte aus den Bergarbeiterdörfern – Dinge wie der Todesschein eines an Staublunge gestorbenen Bergmanns, oder Sperrholz und Maschendraht aus einer verlassenen Bergarbeiterkate –, denen er menschliches Leben einhaucht, um die Erinnerung an eine vergangene Zeit und an Menschen, die nicht mehr sind, zu ehren. Werke wie Bus, Making Briquettes, Meal und Ambulance zeigen die Selbstinnovation eines Künstlers, der seinen Lebensweg zusammen mit diesen Arbeitern ging. Menschenhaar: künstlerisches Medium Hwang ist derzeit von einem neuen Material fasziniert: Menschenhaar. Haar, das einst auf jemandes Kopf gewachsen ist, wirbelt jetzt über die Leinwand. Ein einzelnes Haar mag
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zerbrechlich wirken, aber zu Strähnen gebündelt, geht davon eine überwältigende Energie aus. Hwang berichtet: „Eines Tages suchte eine Lehrerin bei mir Rat. Es ging um den Konflikt mit der Schwiegermutter. Als ich die Geschichte hörte, überlief mich ein Schaudern: Nach der Geburt einer Tochter brachte die Schwiegermutter ihr eine Schale Algensuppe, das traditionelle Wöchnerinnen-Gericht. Als sie den ersten Löffel nehmen wollte, entdeckte sie ein Haargewirr, das auf der Suppe schwamm, und das ihre Schwiegermutter mit Absicht hineingetan haben musste. Als ich das hörte, überlappten sich in meinem Kopf diese Haare mit der langen Menschheitsgeschichte der Eroberung und Unterwerfung und inspirierten mich zu einer Haar-Serie. Mir wurde bewusst, dass das Joch der Knechtschaft nie abgestreift werden kann, solange der Mensch existiert.“ Hwang reproduzierte einige seiner älteren Werke wie Portrait of a Miner mittels Menschenhaar neu. Der Fertigungsprozess, bei dem Haare auf eine einfache Grundskizze geklebt werden, hat etwas Gespenstisches an sich. „Wenn ich sehe, wie die Haare ihren eigenen Fluss und Rhythmus kreieren, überläuft mich eine Gänsehaut“, gesteht der Maler. Anfangs verwendete Hwang seine eigenen Haare, doch da sie nicht ausreichten, bat er seine Frau und Tochter um Haarspenden. Beide Hände aneinander legend gesteht Hwang: „Wenn ich die Haare meiner Lieben in den Händen halte, wird es mir schmerzlich warm“. Dann fügt er hinzu, dass er mit seinen Werken der Haare-Serie, die in technischer Hinsicht in der westlichen Kunstwelt noch ihresgleichen suchen dürften, seine Identität als koreanischer Künstler definieren wolle. Hwang will seine jüngsten Menschenhaar-Werke in einer Einzelausstellung im Gana Art Center in Seoul (Eröffnung: 14. Dezember 2017) präsentieren. Er wird zudem noch eine weitere, neue Bilderserie namens The Vast Silence präsentieren, die die Majestät des Baikalsees in Graphitzeichnungen festhält. Während seiner langen Reise auf der Suche nach dem Ursprung des Volkes wiederholte Hwang wie ein Mantra: „Klammere dich nicht an Kleinigkeiten!“ „Lass dich nicht von privaten Angelegenheiten zurückhalten!“ Der Künstler, der einst zum Makjang, zum tiefsten, dunkelsten Punkt, zu dem Menschen hinuntersteigen können, hinunterstieg, steigt nun auf zum hoch gelegenen Baikalsee, der vor mehreren zehn Millionen Jahren die Geburt der Menschheit miterlebte. Beide Orte sind Pole, an denen das Licht des Lebens aus pechschwarzem Dunkel gehoben wird. Was Hwang dort wohl gesehen und gezeichnet hat? Mit leicht tränenverschleiertem Blick, wie er in den Gesichtern seiner Werke Mother’s Face und Father’s Place zu sehen ist, sagt Hwang: „Ein Leben, in dem es Warmherzigkeit gibt, kennt kein 1 Verzagen.“
„Ich merkte, dass ich kein Zuschauer bleiben konnte. Die Bergleute wollten nicht meine Kunst, sie wollten meinen Schweiß. Ich dachte darüber nach, ob meine Pinselarbeit und ihre Schaufelarbeit gleichwertig seien.“ Hwang Jai-hyoung ließ sich 1982 in der Zechenstadt Taebaek nieder, wo er seitdem das harte Leben der Kumpel porträtiert. KOREANISCHE KULTUR UND KUNST 45
UNTERWEGS
DUFT der
APFELBLÜTEN steigt aus tausend Gassen „Daegu“ bedeutet „großer Hügel“, und wie der Name besagt, ist die Stadt Daegu aus einem Labyrinth unzähliger verschlungener Gassen auf einem Hügel entstanden. Jede Gasse hat ihre eigene Geschichte und auch eigene Geschichten zu erzählen. Der Cheongna-Hügel, der an Montmartre in Paris erinnert, und die im westlichen Stil gebaute Kyesan-Kathedrale (auch: Gyesan), die repräsentativ für den frühen Kirchenbaustil in Korea ist, ist quasi ein Freiluftmuseum, das die Atmosphäre des Korea der frühen Neuzeit bewahrt. Gwak Jae-gu Dichter Fotos Ahn Hong-beom
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In Daegu gab es einst so viele Apfelplantagen, dass im Frühling jeder Hügel mit weißen Apfelblüten bedeckt war. Äpfel aus Daegu galten als die schmackhaftesten im ganzen Land. Im Zuge des Klimawandels sind die Apfelanbaugebiete weiter nach Norden gerückt und Apfelplantagen sind heute so gut wie ganz aus Daegu verschwunden.
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ch war damals ungefähr 17. Und ich war auf einer Klassenfahrt. Zu der Zeit war es für Schüler noch eine sehr aufregende Sache, sich vor Abschluss der Oberschule auf eine Reise zu begeben, um die historischen Stätten des Landes zu erkunden. Die letzte Station unserer Reise war Gyeongju, die Hauptstadt des alten Silla-Königreichs (57 v. Chr.-935). Auf dem Weg nach Gyeongju sahen wir einen Hügel mit endlosen Reihen von Apfelbäumen. Es war Frühling und die Apfelblüten waren voll aufgeblüht. Als ich das Fenster öffnete, blies der Wind herein, und die Blütenblätter wirbelten überall im Bus herum. Damals wurde mir klar, dass es auf der Welt wirklich „Blütenschauer“ geben kann. Nachdem der Bus eine ganze Weile durch den Blütenblätterregen gefahren war, kamen wir schließlich in Gyeongju an. Aber in meinem Herzen ist bis heute der Anblick der Apfelblüten, die über dieser Stadt auf dem Hügel im Wind tanzten, stärker eingegraben als die historischen Überreste von Gyeongju. Der Name dieser Stadt war Daegu. Obwohl es schon sehr lange her ist, verbinde ich Daegu bis heute mit dem Duft von Apfelblüten. Der Anblick der von Apfelbäumen im weißen Blütenkleid bedeckten Hügel und der Häuser, die sich an die Bäume schmiegten, muss wohl an meine poetische Ader gerührt haben. Heute sieht Daegu ganz anders als vor 45 Jahren aus. Es ist eine Großstadt mit 2,5 Mio. Einwohnern geworden und wegen der Erderwärmung findet
man kaum noch Apfelgärten. „Reise in die Neuzeit: Tausend Gassen, tausend Geschichten.“ Als ich das Zentrum von Daegu erreichte, fiel mir dieser Slogan ins Auge. Schilder mit diesem Slogan standen wie Meilensteine am Eingang jeder Gasse. Allerdings trug jedes Schild einen anderen Namen wie „Sockengasse“, „Druckergasse“, „Gopchang-Gasse“ (Gopchang: gegrillter Rinder- oder Schweinedarm) oder Galbi-Gasse (Galbi: gegrillte Rinderrippen). Die Art und Weise, wie man die tausend Gassen und die damit verbundenen Alltagsgeschichten zu einem Thema zur Förderung des Tourismus gemacht hatte, hat etwas Herzerwärmendes an sich. Straßen, geprägt von Szenen von einst Alteingesessene Bewohner von Daegu steigen oft den kleinen Hügel Cheongna hoch. „Cheongna“ bedeutet „grüne Dreispitzige Jungfernrebe“. Hier befinden sich viele westliche Gebäude aus der frühen Neuzeit Koreas, darunter eine Kirche, eine Schule und ein Krankenhaus. Diese Gebäude mit ihren von wilden Weinrebengewächsen begrünten roten Backsteinfassaden sorgten für Aufmerksamkeit. Die Einheimischen, die den Hügel „Montmartre“ nennen, lieben ihn wohl gerade deshalb so sehr. Park Tae-jun (1900-1986), ein in Daegu geborener Komponist, schrieb ein lyrisches Lied mit dem Titel Gedanken an meinen
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Augenstern, hinter dem sich eine Geschichte verbirgt. Park war in eine Schülerin der Sinmyeong-Schule verliebt, was er dem Dichter Lee Eun-sang (1903-1982) erzählte, der aus der Liebesgeschichte ein Lied machte, das 1922 herauskam: „In meinem Herzen, der dem Cheongna-Hügel gleicht, / Stehst du wie eine Lilie. / Wenn du in mir aufblühst, / Verfliegt alle Traurigkeit.“ Diese poetischen Zeilen brannten sich auf ewig in die Herzen vieler Koreaner ein, die unter dem Schmerz der ersten Liebe litten. Ein Lied des Volkes war geboren. Auf dem Cheongna-Hügel stehen drei Häuser, die einst die Wohnsitze ausländischer Missionare waren, die Ende des 19. Jhs nach Korea kamen. Eins davon ist das Switzer-Haus, benannt nach dem gleichnamigen amerikanischen Missionar. Im Garten steht ein Abkömmling des ersten Apfelbaums, der 1899 aus den Vereinigten Staaten nach Korea gebracht wurde. Woodbridge O. Johnson, der erste Direktor des DongsanKrankenhauses in Daegu, brachte aus dem US-Bundesstaat Missouri einen Setzling mit nach Korea, den er in dem Garten pflanzte. Zwar gibt es den ursprünglichen Apfelbaum nicht mehr, aber der Baum vor dem Switzer-Haus ist quasi der Stammvater des heutigen „Daegu-Apfels“ und somit ein Apfelbaum mit reicher Geschichte. Die roten Äpfel boten einen lieblichen Anblick. Eine schmale Treppe, bekannt als „Weg der 90 Stufen“ oder „Weg der Unabhängigkeitsbewegung vom 1. März“, dient als Gassenverbindung zwischen Cheongna-Hügel und Innenstadt. Am 1. März 1919 erhoben sich alle Koreaner im ganzen Land in der Unabhängigkeitsbewegung gegen die japanischen Kolonialherren. Damals nutzten die Daeguer Studenten diesen durch den Wald führenden Weg, um in die Innenstadt zu gelangen und dort nach Unabhängigkeit zu rufen. Um die japanischen Polizisten zu täuschen, sollen die Studenten sich als Händler verkleidet haben und die Studentinnen trugen Schüsseln, als wollten sie zum Wäschewaschen an den Bach gehen. Die Treppe führt zu einer großen Straße und zur KyesanKathedrale. Die 1902 im gotischen Stil errichtete Kathedrale war das erste westliche Gebäude in Daegu und zählt zu den ältesten Kirchenbauten Koreas. Als ich dort vorbeiging, wurde gerade eine Messe gelesen. Die Stimme des Priesters und das Sonnenlicht, das durch die Buntglasfenster drang, wirkten warm und angenehm. Papst Johannes Paul II. hielt hier am 6. Mai 1984 eine Messe zur Kanonisierung von 103 katholischen Märtyrern. Niemand dürfte geahnt haben, dass der Papst höchstpersönlich 82 Jahre nach der Errichtung dieser Kathedrale hier eine Messe lesen würde. Entgegen dem Namen keine „lange Gasse“ In einer Gasse neben der Kyesan-Kathedrale befindet sich das alte Haus von Yi Sang-hwa (1901-1943), des „Dichters des Volkes“.
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1. Im Garten des um 1910 gebauten Switzer-Hauses steht noch ein Abkömmling des ersten Apfelbaumes, der aus den USA nach Korea gebracht wurde. In dem Haus wohnte einst die amerikanische Missionarin Martha Switzer. Ihr Grab liegt nebenan im Garten der Gnade. 2. Die 1902 im gotischen Stil errichtete Kyesan Kathedrale ist das erste, im westlichen Baustil errichtete Gebäude in Daegu und ein hervorragendes Beispiel für den frühen christlichen Baustil in Korea.
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Nun eines anderen Herren Erde? Kommt der Frühling auch zur geraubten Erde? Den ganzen Körper in Sonnenlicht gehüllt, Den scheitelähnlichen Pfad entlang laufe ich fort und fort wie im Traum Zu dem Ort, wo sich der blaue Himmel und die grünen Felder treffen. So der Anfang von Yi Sang-hwas Gedicht Kommt der Frühling auch zur geraubten Erde?, das stark an die Herzen der nach Freiheit und Unabhängigkeit dürstenden Koreaner rührte. Das Kaiserreich Japan schloss den Literaturzeitschriftverlag Gaebyeok (Großer Neubeginn), der das Gedicht veröffentlicht hatte, was zeigt, wie groß die Angst der Japaner vor der Kraft der Poesie war. Die Gasse führt dann direkt zur „Langen Gasse“, auf Koreanisch „Gin-golmok“ bzw. „Jin-golmok“ im Dialekt von Daegu. Sagt ein Einheimischer: „Treffen wir uns dort“, weiß jeder sofort, wo „dort“ ist. Aber die Gin-golmok ist in
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1. Der Kräutermedizin-Markt in Daegu, der bis auf das Jahr 1658 zurückgeht, ist der größte Heilkräutermarkt im südlichen Teil des Landes. Zu seinen Glanzzeiten zog der Markt nicht nur Händler aus China und Japan, sondern sogar aus arabischen Ländern an. 2. Der Dichter Yi Sang-hwa (1901–1943), der v.a. für seine Poesie des Widerstands gegen die japanischen Kolonialherren bekannt ist, lebte ab 1939 vier Jahre lang in diesem Haus. Heute ist es eine dem Leben und Werk des Dichters gewidmete Gedenkstätte.
Wirklichkeit nicht besonders lang. Sie unterscheidet sich auch stark von den Gassen im indischen Varanasi, wo man sich leicht verlaufen kann, oder von der Medina im marokkanischen Fez, einer UNESCO-Welterbestätte. Das hat wohl etwas mit dem sozialen Status derer zu tun, die diese Gassen zu ihrem Zuhause machten. Die Gassen von Varanasi oder Fez säumen die Häuser der einfachen Leute, aber Gin-golmok war das Viertel der konfuzianischen Gelehrten, die zur Oberschicht der Stadt Daegu gehörten. Ich erinnere mich noch daran, als ich das erste Mal Varanasi besuchte. Mit der großen Idee, eine „Varanasi-Labyrinthkarte“
Mit dem Einzug elegant eingerichteter Cafés ist die traditionelle Kräutermedizin-Gasse in jüngster Zeit auch bei jungen Leuten und Touristen immer beliebter geworden. Es dürfte nicht so leicht sein, auf der Welt noch eine weitere Gasse zu finden, in der sich der Geruch von Kräutermedizin mit dem Aroma von Kaffee vermischt. Nicht einmal in Varanasi oder der Medina von Fez. Kein Reisender mit einer feinen Nase sollte sich diese Gasse entgehen lassen. zu zeichnen, betrat ich die Gasse, die zum Verbrennungsghat führt. Durch den Monsunregen war die nur einen Meter breite Gasse verwüstet und von fauligem Gestank erfüllt. Alle fünf Minuten kam eine Prozession vorbei, die einen Toten zum Verbrennungsghat brachte. Die an Shiva gerichteten Gebete klangen schwermütig. Und dass es da so viele Kühe gab! Kam eine in die Gasse, hatte ich keine andere Wahl, als mich dicht an die Mauer zu drücken und von ihr im Vorbeistapfen gestreift zu werden. An diesem Tag gab ich meinen Traum vom Zeichnen einer Labyrinthkarte auf. Ich stellte fest, dass meine Reiseerfahrungen zu bescheiden waren, um es mit den rauen und gnadenlosen Gassen von Varanasi aufnehmen zu können. Glückseligkeit auf den traditionellen Märkten Vo n d e r G i n - g o l m o k g i n g i c h w e i t e r z u m a l t e n Heilkräutermarkt Yangnyeongsi, der nur zehn Gehminuten entfernt ist. Die Einheimischen bezeichnen ihn gern als „Kräutermedizin-Gasse“. Schon am Eingang riecht es überall
nach Heilkräutertrunks, die gerade gebraut werden. Der Stolz der Daegu-Einwohner ist sofort zu spüren, wenn sie witzeln: „Ein Gang durch die Gasse reicht, um alle Krankheiten zu heilen.“ Essenz der traditionellen Kräutermedizin, die vielen Europäern noch geheimnisvoll erscheint, ist das charakteristische Aroma. Der einzigartige, durchdringende Duft der Kräuter soll die schlechte Energie aus dem Körper vertreiben. In dieser Hinsicht ist den Menschen, die in der Nähe des Marktes leben, das Glück hold. Bei den ersten Symptomen einer Erkältung oder Verdauungsstörung bringt bereits ein zweistündiger Spaziergang durch diesen Markt Linderung. Wie könnte man als Anwohner da nicht glücklich sein? Der Heilkräutermarkt Yangnyeongsi entstand aus der Tradition, ab 1658 jedes Jahr im Frühling und Herbst hier einen Markt für traditionelle Heil kunde zu veranstalten. In seiner Blütezeit soll er sogar ein berühmter internationaler Markt gewesen sein, der nicht nur Händler aus China und Japan, sondern sogar aus dem fernen Arabien anlockte. Mit dem Einzug elegant eingerichteter Cafés ist die traditionelle Kräutermedizin-Gasse in jüngster Zeit auch bei jungen Leuten und Touristen immer beliebter geworden. Es dürfte nicht so leicht sein, auf der Welt noch eine weitere Gasse zu finden, in der sich der Geruch von Kräutermedizin mit dem Aroma von Kaffee vermischt. Nicht einmal in Varanasi oder der Medina von Fez. Kein Reisender mit einer feinen Nase sollte sich diese Gasse entgehen lassen. Als nächstes schlenderte ich zum Seomun-Markt. Kaum war ich am Eingang, wurde mir klar, dass ich mich auf dem größten Markt im Süden des Landes befand. Vor mir erstreckten sich endlose Reihen von Geschäften, die Obst, Gemüse, Kleidung, Fisch, Fleisch und getrocknete Fische und Meeresprodukte aller Art verkauften. Ich kaufte einen getrockneten Tintenfisch
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und wanderte ihn kauend über den sich schier uferlos ausdehnenden Markt. Einer der glücklichen Momente beim Besuch eines traditionellen Marktes ist der, in dem man das begehrte Produkt nach einer kleinen Feilscherei um den Preis sein eigen nennen kann. Ich erinnerte mich an etwas, was mir auf dem Großen Basar in Istanbul passiert war. Dieser auf das 15. Jh. zurückgehende Markt besteht aus rund 5.000 Geschäften, die alles Mögliche, dem ein Hauch von einst anhaftet, verkaufen. Alltagsgebrauchsgegenstände, Möbel, Kleidung, Seide, Silberkunsthandwerk und Teppiche: Alles hatte einen traditionellen, mittelalterlichen Touch. Ich kaufte dort einen handgefertigten Teppich. Da ich ihn nicht mitschleppen wollte, hatte ich dem Händler gesagt, dass ich ihn nur unter der Bedingung kaufen würde, dass er problemlos nach Korea geliefert werde. Statt einer Antwort, öffnete er einen alten Tresor, aus dem er ein Bündel alter Handelsverträge nahm. Erstaunlicherweise stammten sie aus dem 15. und 16. Jh. und auf jedem einzelnen prangte ein Totenkopf mit folgender gruseliger Warnung: „Halte dein Wort oder stirb!“ Ein Blick reichte, um dem Händler zu vertrauen. Und tatsächlich kam zwei Wochen nach meiner Rückkehr ein Paket mit dem Teppich bei mir an. Erinnerung an einen früh verstorbenen Sänger Der Bangcheon-Markt wurde während des Koreakriegs
Sehenswürdigkeiten in Daegu
von Menschen, die zur Flucht gezwungen worden waren, gegründet. In der Blütezeit soll es bis zu 1.000 Marktstände gegeben haben und alle, die hier zusammenkamen, hatten wechselvolle Lebensgeschichten zu erzählen. Aus diesem Markt, der eine Reihe von Höhen und Tiefen hinter sich hat, ist jetzt ein normaler Markt für arme, einfache Leute geworden. Aber jüngst haben einige, die den Markt zu neuem Leben erwecken wollen, hier einen Raum zum Gedenken an den früh verstorbenen Sänger Kim Kwang-seok (1964-1996) geschaffen. In einer Gasse, in der gerade mal drei, vier nebeneinander stehen können, gibt es Wandmalereien mit Zitaten und Liedtexten des Sängers, die seinem Leben und Werk Tribut zollen. Auf einer Freilichtbühne werden Kims Lieder aufgeführt und die Klänge von Straßenmusikanten füllen die Gasse. Kim Kwang-seok ist einer der beliebtesten Popsänger Koreas. Es waren seine Lieder, die den Koreanern in den Zeiten von Militärdiktatur und autoritärer Herrschaft Trost spendeten und ihnen halfen, diese dunklen Tage zu überstehen. Junge Männer, die ihr 20. Lebensjahr erreicht hatten, sangen Der Brief des Soldaten, wenn sie sich zum Militärdienst aufmachten. Um die Dreißig ist das Lieblingslied aller in den Dreißigern und Die Geschichte eines alten Paares durchzieht der Schmerz der alten Generation, die in ihrem Leben harte Zeiten durchmachen musste. Der Plan, das Andenken an Kim Kwang-seok zu bewahren, dessen Leben und Musik mit dem Bangcheon-Markt, wo
Hut-Felsen in den Palgong-Bergen
Seoul 290km Daegu
Jin-golmok (Lange Gasse)
Gopchang-Gasse in Anjirang Apsan Observatorium
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Die Gedenkstätte für Kim Kwang-seok ist ein beliebter Platz auf dem Bangcheon-Markt, wo der Sänger seine Kindheit verbrachte. Wandgemälde, die Leben und Lieder des 1996 mit nur 32 Jahren verstorbenen Sängers ehren, schmücken eine enge Gasse, die viele Besucher anzieht.
sein Vater einen Laden hatte, begann, war ein Erfolg, denn der Markt zieht jetzt einen endlosen Strom von Fans aus dem ganzen Land an. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass der Markt für Hardcore-Fans von Kim eine heilige Stätte ist. Es sind aber nicht nur Koreaner, denen Leben und Musik des Sängers, der sich mit nur 32 Jahren das Leben nahm, ans Herz rühren. Auch Touristen aus Südostasien, China und Japan sind dort oft zu sehen. Nach Sonnenuntergang machte ich mich zur GopchangGasse Anjirang auf. Die Bezeichnung „Jugendgasse“ auf dem Stadtplan verlockte mich dazu. Denn wer denkt nicht gern mit etwas Wehmut an seine jüngeren Jahre zurück? Diejenigen, die jetzt gerade in der Blüte ihrer Jugend stehen, versammeln sich Hand in Hand auf dem Markt, und diejenigen, die sich dem Herbst des Lebens nähern, zieht es in der Sehnsucht nach den guten alten Zeiten hierher. Als ich die Gasse betrat, war ich erstaunt über die schiere Menge von Restaurants, die gegrillte Rinder- oder Schweinedärme
anbieten. Wahrscheinlich ist diese Marktgasse die größte auf Gopchang spezialisierte Gasse auf der Welt. Aber ich brachte es nicht über mich, in eins dieser vollgepackten Restaurants hineinzugehen und dort alleine etwas zu essen. Ich hatte den Eindruck, dass die Weltanschauung auf diesem Markt lautet: „Kommt zusammen, um gemeinsam zu trinken, euch zu unterhalten und einander zu lieben!“ Auf meinem Stadtplan fand ich den Dokkaebi-Nachtmarkt in Gyo-dong. „Gut, auf zu diesem Viertel!“, dachte ich mir. Vielleicht würde ich ja dort einen einsamen Dokkaebi, einen dieser mythischen Kobolde, die mit ihrer Keule Wünsche erfüllen können, treffen und mit ihm zu Abend essen. Allein schon der Gedanke, mit einem Dokkaebi, den ich aus den Bilderbüchern meiner Kindheit kannte, Freundschaft zu schließen, machte mich glücklich. Daegu ist eine Stadt der Gassen. Inmitten all dieser Geschichten stieg plötzlich der Duft von Apfelblüten auf.
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GESCHICHTEN AUS ZWEI KOREAS
© Eugene Bell Foundation
Eugene Bell Stiftung
NÄCHSTENLIEBE ÜBER DIE DMZ HINAUS Die von wiederholten Spannungen und Konfrontationen geprägten innerkoreanischen Beziehungen haben infolge der jüngsten nordkoreanischen Atom- und Raketentests ein gefährliches Level erreicht. Trotz dieser Sachlage hat eine Privatorganisation stets humanitäre Hilfe für Nordkorea geleistet. Es ist die Eugene Bell Stiftung, die 1995 von Stephen Linton, dem Urenkel des amerikanischen Missionars Eugene Bell, anlässlich des 100. Jahrestages von Bells Ankunft in Korea gegründet wurde. Kim Hak-soon Journalist, Gastprofessor, Korea University
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gal wie angespannt die innerkoreanischen Beziehungen oder die Beziehungen zwischen Pjöngjang und Washington auch sein mögen: Stephen Linton, Präsident der Eugene Bell Stiftung, und sein Team besuchen zwei Mal im Jahr Nordkorea. Dieses Jahr ist keine Ausnahme. Im Mai und November sind sie gemeinsam mit ausländischen Spendern und einem medizinischen Team, das Medikamente und medizinische Ausrüstung im Gepäck hatte, in den Norden gereist. Denn die medizinische Behandlung der ernsthaften Arten von Tuberkulose (TB), an der viele Nordkoreaner leiden, ist dringender als irgendein politisches oder diplomatisches Problem. Unabhängig davon, ob die Lage zwischen den beiden Koreas angespannt ist oder nicht, ist die Stiftung felsenfest davon überzeugt, dass humanitäre Hilfe „apolitisch und nicht-ideologisch motiviert“ sein muss. Linton, der zwar Amerikaner, aber im Herzen Koreaner ist und auch gerne seinen koreanischen Namen „In Se-ban“ verwendet, bekämpft bereits seit 20 Jahren an vorderster Front TB in Nordkorea. Denn im Norden gibt es so viele TB-Patienten, dass das nordkoreanische Gesundheitsministerium meinte, dass „Gesundheitsproblem Nr. 1 ist TB, Nr. 2 ist TB und Nr. 3 ist auch TB“. Nach der Gründung der Eugene Bell Stiftung 1995 lieferte Linton zunächst Nahrungsmittel nach Nordkorea. Aber auf offizielle Anfrage der entsprechenden Behörde in Pjöngjang richtete er den Fokus dann auf die Bekämpfung von TB. 1997 bat der damalige Stellvertretende Gesundheitsminister Choe Chang-sik Linton in einem Schreiben um „Hilfe in der TB-Bekämpfung anstelle von Nahrungsmittelhilfe“. Und das, obwohl Nordkorea zu der Zeit unter einer schweren Nahrungsmittelkrise litt. Linton hat Nordkorea über 80 Mal besucht, darunter 50 Mal für TB-Behandlungen. Schon über 20 Jahre lang hat die Stiftung Medikamente und medizinische Ausrüstung im Wert von 51 Mio. Dollar nach Nordkorea geliefert, darunter Röntgenwagen, diagnostische Röntgengeräte, Mikroskope und chirurgischen Bedarf. Dank der Unterstützung der Stiftung konnten von 1997 bis 2007 über 250.000 Patienten behandelt werden. Intensive Behandlung von Multiresistenter Tuberkulose Trotz der großen Bemühungen von Linton und der Eugene Bell Stiftung ist die Lage der TB-Patienten immer noch prekär. Denn die koreanischen Winter sind kalt, insbesondere Stephen Linton, Gründer und Präsident der Eugene Bell Stiftung, unterhält sich bei einem Nordkorea-Besuch mit Patienten über die Behandlung von TB.
im Norden, und da die Familien dort oft auf kleinem Raum zusammenleben, ist die Infektionsgefahr hoch. Besonders gefährdet sind ältere Menschen, aber auch Wöchnerinnen. „Nach der Geburt ist das Immunsystem geschwächt, sodass Wöchnerinnen leicht an TB erkranken, was die Betreuung des Neugeborenen erschwert“, erklärt Linton. Zudem verschlechtert sich die Situation zunehmend aufgrund der steigenden Zahl von Patienten mit Multiresistenter Tuberkulose (MDR-TB), die nicht mit normalen Medikamenten behandelt werden können, da ihr Körper eine Resistenz gegen verschiedene TB-Medikamente entwickelt hat. In Nordkorea werden Jahr für Jahr etwa 4.000 bis 5.000 neue Fälle von MDR-TB registriert. Nehmen Patienten mit einer gewöhnlichen Form von TB sechs bis acht Monate regelmäßig Medikamente, werden bis zu 90% von ihnen geheilt. MDRTB-Patienten müssen hingegen anderthalb bis zwei Jahre lang Medikamente einnehmen, die 100 Mal teurer sind als Medikamente für normale TB. Und trotzdem ist die Heilungsrate niedriger. „Zur Behandlung eines Patienten mit normaler TB braucht man nur rund 20 Dollar. Die Behandlung eines MDR-TB-Patienten hingegen kostet inklusive Medikamente fast 5.000 Dollar.“ Noch problematischer wird es, wenn es in der Behandlung von MDR-TB-Patienten, die über lange Zeiträume regelmäßig teure Medikamenten einnehmen müssen, zu Unregelmäßigkeiten kommt. Die Behandlung an sich gestaltet sich noch komplizierter und die Fatalitätsrate steigt, sobald sich die MDR-TB zur sog. Extremen Arzneimittelresistenten Tuberkulose (XDR-TB) entwickelt. Wird die Behandlung unterbrochen, können die Patienten in kurzer Zeit an dieser extremen TB-Variante erkranken. Deshalb müssen alle für die Behandlung von MDR-TB-Patienten in Nordkorea notwendigen Materialien regelmäßig min- destens alle sechs Monate geliefert werden. Wer als MDR-TB-Patient registriert wird, muss zwei Jahre lang intensiv behandelt werden, um die gewünschte Wirkung zu erhalten. Aus diesem Grund konzentriert sich die Eugene Bell Stiftung seit 2007 auf die Behandlung von MDR-TB-Patienten in Nordkorea. Sie betreibt mittlerweile eines der weltweit größten MDR-TB-Behandlungsprogramme und Hunderte von nordkoreanischen Ärzten und Patienten hatten mittlerweile eine Chance zu lernen, wie man diese Krankheit behandelt. „2008 haben wir damit begonnen, Schleimproben von 19 Patienten mit hohem MDR-TB-Risiko zu sammeln. Sechs Monate später kehrten wir mit den notwendigen Medikamenten zurück, um diejenigen zu behandeln, deren Testergebnis positiv ausgefallen war. Das Therapieprogramm ist mittlerweile so weit entwickelt, dass jederzeit mehr als 1.500 Patienten behandelt werden können. Jetzt können wir
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sogar Untersuchungen vor Ort durchführen und sofort mit der Behandlung beginnen“, sagt Linton. Alle sechs Monate verbringt ein rund zehnköpfiges Team, darunter auch Linton, etwa drei Wochen zur TB-Bekämpfung in Nordkorea. Doch Linton meint, drei Wochen reichten nicht aus, um wirklich substantielle Arbeit leisten zu können. „Während der drei Wochen besuchen wir zwölf Sanatorien. Wir testen und nehmen neue Patienten auf, überprüfen den Heilungsprozess der in Behandlung Befindlichen und verabreichen ihnen Medikamente.“ Laut Linton soll dank dieser sorgfältigen Behandlung die Heilungsrate der Patienten mit MDR-TB auf 76% gestiegen sein. Verglichen mit der durchschnittlichen Heilungsrate von 45% weltweit, ist das ein bemerkenswerter Erfolg. Unter den Nordkoreanern heißt es heutzutage sogar, „dass selbst für MDR-TB-Kranke Hoffnung besteht, wenn sie in eins der Sanatorien der Eugene Bell Stiftung gehen.“ Abgesehen von der Unterstützung mit Medikamenten und medizinischer Ausrüstung besteht der größte Erfolg, den Linton und seine Stiftung erreicht haben, in Unterweisung und Schulung von TB-Patienten und medizinischem Personal. Durch das Behandlungsprogramm der Stiftung haben Tausende von Nordkoreanern lernen können, was sie tun müssen und was sie nicht tun dürfen, wenn sie mit TB-Bakterien infiziert sind. Selbst Linton scheint durch die Behandlung vieler nordkoreanischer Patienten TB-Experte geworden zu sein. Wir sind nur die Lieferanten Linton selbst erkrankte als Kind zwei Mal an TB. Deshalb weiß er nur zu gut, welche Schmerzen die Patienten empfinden. Wenn man es genau bedenkt, dann verbindet die Familie Linton eine enge Geschichte mit TB. Als das SuncheonGebiet in der Provinz Jeollanam-do von einer Flutkatastrophe heimgesucht wurde und überall TB grassierte, gründete Lintons Mutter Lois Linton 1960 das christliche TuberkuloseRehabilitationszentrum Suncheon. Dreißig Jahre lang kämpfte sie gegen diese Krankheit. Linton und seine Mutter haben durch ihren Kreuzzug gegen TB jeweils in Nord- und Südkorea eine ganz besondere Biographie und Verbundenheit zu Land und Leuten. Linton prüft sehr genau, wie die gelieferten Medikamente und medizinische Ausrüstung in Nordkorea verwendet werden und scheut keine Mühe, um bei der Verteilung der Hilfsmittel höchstmögliche Transparenz sicherzustellen. Die Eugene Bell Stiftung finanziert sich durch Spenden von Südkoreanern und Korea-Amerikanern sowie durch Unterstützung der Regierungen beider Länder. Derzeit sind 85% der Spender Südkoreaner. Laut der Stiftung sollen auch die nordkoreanischen Nutznießer sehr wohl wissen, dass die
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meisten Spenden von Landsleuten im Süden kommen. Die Stiftung hat es sich zur Regel gemacht, alle unterstützten medizinischen Einrichtungen zwei Mal pro Jahr zu besuchen und dabei die einzelnen Spender genau zu identifizieren. Auf jeder Medizinbox, die sie überbringt, steht in großen Lettern der Name des jeweiligen Spenders. Linton warnt davor, die Stiftung und seine Person als Helden zu idolisieren und betont, dass die Stiftung nichts mehr als eine Lieferagentur sei und er selbst nur einer von vielen Botengängern: „Wir spielen nur die Rolle eines Lieferanten oder Maulesels. Wir liefern und kontrollieren nur Medikamente und medizinische Ausrüstung. Es ist das koreanische Volk, das Geld für medizinische Aktivitäten spendet, medizinische Dienste leistet und von diesen Tätigkeiten profitiert. Unsere Stiftung und ich haben uns nur angeboten, weil das Umfeld es den Südkoreanern kaum erlaubt, ihren Landsleuten im Norden die Gesten ihrer Liebe über die Grenze zu überbringen“, sagt er. Dann fügt er hinzu: „Der schwierigste Teil der Arbeit ist, die notwendige Kooperation aus Pjöngjang, Seoul und Washington gleichzeitig zu erhalten. Dazu wirken sich die angespannten Beziehungen zwischen den beiden Koreas immer auf die Unterstützungsaktivitäten der Stiftung aus. Aber da es viele Spender gibt, die sich für unsere Arbeit interessieren, besteht kein Grund zur Sorge. Und man kann sich kaum erinnern, wann es einmal keine Spannungen zwischen Süd- und Nordkorea gab.“ Aber 2016 machte ein nordkoreanischer Atomtest einen Strich durch Bells Terminplanungen, da die südkoreanische Regierung die Ausfuhrgenehmigung für Arzneimittel einstwei lig vorbehielt, sodass bei der Behandlung der MDR-TB-
„Der schwierigste Teil der Arbeit ist, die notwendige Kooperation aus Pjöngjang, Seoul und Washington gleich zeitig zu erhalten. Dazu wirken sich die angespannten Beziehungen zwischen den beiden Koreas immer auf die Unterstützungsaktivitäten der Stiftung aus.“
Nordkoreanisches medizinisches Personal beim Ausladen der von der Eugene Bell Stiftung gelieferten medizinischen Bedarfsgüter. Alle Kartons mit Medikamenten und medizinischem Sachbedarf aller Art tragen die Namen der südkoreanischen und amerikanischen Spender.
Patienten einige Probleme auftraten. Aber 2017 sei soweit alles glatt verlaufen, meint Linton. Die Eugene Bell Stiftung liefert bei jedem Besuch Medikamente für etwa sechs Monate. Eine Unterbrechung der Lieferungen bedeutet, dass die MDR-TB-Patienten nicht rechtzeitig behandelt werden können. Daher hofft Linton, dass die südkoreanische Regierung ein Lizenzsystem für Hilfsorganisationen einführt und das Genehmigungsverfahren für alle approbierten Hilfsorganisationen, vereinfacht, sodass die Medikamentenlieferungen nicht jedes Mal einzeln genehmigt werden müssen. Liebe zu Korea über Generationen 1979, als in Pjönjang die Tischtennis-Weltmeisterschaften veranstaltet wurden, besuchte Linton den Norden zum ersten Mal. Danach traf er von 1992 bis 1994 den damaligen nordkoreanischen Staatschef Kim Il-sung drei Mal als Dolmetscher und Berater des amerikanischen Pastors Billy Graham. 1995, als Linton Professor an der Columbia University war, gründete er anlässlich des 100. Jahrestags des Beginns der Missionsaktivitäten seines Urgroßvaters Eugene Bell die Eugene Bell Stiftung und begann seine Hilfsaktivitäten mit Nahrungsmittellieferungen für die nordkoreanische Bevölkerung. Eugene Bell, sein Urgroßvater mütterlicherseits, kam 1895, gegen Ende des Joseon-Reichs (1392-1910) nach Korea, wo er mit Missionierungs- und Freiwilligenarbeiten im Gebiet der Provinz Jeolla-do begann. William Linton, sein Großvater, war nach seiner Heirat mit Charlotte Bell, einer Tochter von Eugene Bell, ebenfalls in Jeolla-do als Missionar aktiv. 1919, während der japanischen Kolonialzeit, unterstützte William Linton, der zu der Zeit Direktor der Jeonju Shinheung Oberschule war, die Unabhängigkeitsbewegung in Gunsan, Provinz Jeollabuk-do. Die Schule wurde geschlossen, weil Linton sich weigerte, an einem japanischen Shinto-Schrein seinen Respekt zu zollen,
weshalb er schließlich des Landes verwiesen wurde. Nach der Befreiung Koreas kehrte er zurück und gründete eine Bildungseinrichtung, aus der die heutige Hannam University in Daejeon hervorging. Stephen Linton wurde 1950 in Philadelphia im US-Bundesstaat Pennsylvania geboren und kam mit seinem Vater Hugh Linton, einem Missionar, nach Korea, wo er in Suncheon aufwuchs. Er studierte Philosophie an der Yonsei University und promovierte anchließend mit einer vergleichenden Studie über Nord- und Südkorea an der Columbia University. Später war er als Professor und Stellvertretender Direktor des Center for Korean Research an der Columbia University tätig. Auf die Frage, warum er sich von einem Wissenschaftler in einen Bürgeraktivisten, der Nordkorea unterstützt, verwandelt habe, antwortet Linton: „Als Christ glaube ich nicht, dass Einzelpersonen die Welt verändern können. Der Schlüssel ist, die Liebe zum Nächsten in die Praxis umzusetzen.“ 1995, als die Nahrungsmittelknappheit in Nordkorea ihren Höhepunkt erreichte und die zuständige nordkoreanische Behörde die internationale Gemeinschaft formell um Unterstützung bat, spürte Linton deutlich den Bedarf an Liebe zum Nächsten. Anfänglich half ihm sein jüngerer Bruder John Linton, Direktor des International Health Care Center des zur Yonsei University gehörenden Severance Hospital, bei der Unterstützung Nordkoreas mit medizinischer Hilfe. Auch über die sich über vier Generationen erstreckende Liebe seiner Familie zu Korea sagt Linton einfach: „Wir haben das getan, was wir als Menschen, die an Gott glauben, tun sollten.“ Mit fester Entschlossenheit sagt er: „Als Professor wäre ich inzwischen im Pensionsalter. Aber ich werde mich weiterhin für die Unterstützung von TB-Kranken in Nordkorea einsetzen, solange ich die Notwendigkeit dafür sehe.“ Danach bedankt er sich bei allen Spendern und auch beim medizinische Personal in Nordkorea, denn „ohne ihren Opfergeist wäre diese Hilfstätigkeit nicht möglich gewesen.“
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EIN GANZ NORMALER TAG
EIN GLÜCKLICHES LEBEN lässt alles besser schmecken
Laut des von der Korea Fair Trade Mediation Agency veröffentlichten Überblicksbericht: Franchise-Ketten nach Branchen 2016 belegten die Chicken Restaurants mit einer Gesamtzahl von 24.678 landesweit Platz 2 hinter den 30.846 24-Stunden-Läden. An dritter Stelle stehen die 19.313 Restaurants, die koreanische Gerichte servieren. Viele, die sich selbstständig machen wollen, entscheiden sich für ein Chicken Restaurant, weil es keine speziellen Fertigkeiten erfordert. Zwar kommen sie in diesem „Roten-Ozean-Business“ ohne besondere Fähigkeiten aus, dafür benötigen sie aber „besondere Prinzipien“. Jo Eun Dichterin und Kinderbuchautorin Fotos Ha Ji-kwon
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enn der Arbeitsalltag allzu hart wird, träumen viele davon, die Kündigung einzureichen. Sie stellen sich alle möglichen Formen unabhängiger Geschäftsbetriebe vor und glauben, dass sie alles, was sie sich vornehmen, auch schaffen können, sobald ihnen der Chef nicht länger im Nacken sitzt. Dazu kommt die Vorfreude, sein Leben völlig umzukrempeln und deshalb von allen Freunden beneidet zu werden, nicht zu vergessen der quälende Gedanke „bevor es zu spät ist!“ Aber der Weg in die Selbstständigkeit ist nicht leicht. Dafür muss man erst einmal große Zweifel und Ängste überwinden. Der trotz alledem hohe Selbstständigen-Anteil in Korea spiegelt die Tatsache wider, dass viele mit ihrem Arbeitsalltag nicht glücklich sind und für diejenigen, die früh in den Ruhestand gehen, aber noch arbeiten wollen, kaum geeignete Jobs zur Verfügung stehen. Aber die Selbstständigkeit garantiert nicht automatisch Erfolg, da der Inlandsmarkt derzeit wegen schwachen Wachstums und Konjunkturflaute stagniert. Jeong Cheol-sun, der im Seouler
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Innenstadtviertel Seochon ein Chicken Franchise Restaurant betreibt, gehört zu denjenigen, die den Sprung in die Selbstständigkeit vergleichsweise erfolgreich geschafft haben. Jeong ist eine Frohnatur. Bei ihm zu Hause hängt das gerahmte Familienmotto „Tu dein Bestes, wo immer du auch bist“ an der Wand. Er ist Jahrgang 1960 und betreibt sein Chicken Restaurant jetzt schon seit 20 Jahren. Die Erfahrungen und Ideen, die er in dieser Zeit gesammelt hat, haben sogar Eingang in die Firmenpolitik des Franchise-Unternehmens gefunden. „In meiner Eigenschaft als Mitglied des Betriebsbeirats gehe ich oft in die Zentrale, wo ich mit Firmeninhaber, Präsident und Vorstandsmitgliedern am Konferenztisch sitze. Es werden sogar Umfragen gemacht, anhand derer dort dann die Richtlinien für die einzelnen Franchise-Läden ausgearbeitet werden. Ich war von Anfang an aktiv an allem beteiligt und wurde auch mehrmals mit Preisen ausgezeichnet“, sagt Jeong. Für eine Veranstaltung, die vor kurzem im International Convention Center Jeju stattfand, buchte das Unternehmen zehn Flugzeuge, um alle Teilnehmer auf die Jeju-Insel zu bringen. Jeong
gewann auf die- ser Veranstaltung den wichtigsten Preis. Seine ganze Familie war eingeladen und stand bei der Preisverleihung mit ihm zusammen auf der Bühne. Das Ehepaar Jeong ist so bekannt im Franchise-Geschäft, dass es sogar gelegentlich in den Werbespots des Unternehmens zu sehen ist. Vielleicht haben die beiden so strahlende Gesichter, weil sie regelmäßig Sport treiben, gern lachen, sich aktiv an lokalen Aktivitäten beteiligen, also insgesamt positiv denken. Geheimnis des guten Geschmacks Jeong Cheol-sun, der über zehn Jahre bei einer Firma in Seoul arbeitete, erkannte eines Tages, dass er als Büroangestellter keine wirklichen Berufsaussichten mehr hatte. Gerade als er sich bemühte, sein Leben neu auszurichten, starb plötzlich sein noch junger Schwager, der als Beamter in Gongju, gearbeitet hatte. Seine verwitwete Schwester zog nach Seoul und eröffnete mit ihm zusammen ein auf Galbi (gegrillte Rinderrippen) spezialisiertes Restaurant. Da jedoch beide keinerlei Erfahrung im Geschäftsbetrieb hatten, mussten sie bereits nach drei Monaten wie-
der schließen. So hatte Jeong schon früh den bitteren Kelch der Niederlage im Gastronomiewesen leeren müssen. Wegen dieser schmerzhaften Erfahrung beschloss Jeong, ein Franchise Restaurant zu eröffnen. Mit Unterstützung der Zentrale als Sicherheitsnetz würde das Geschäft einfacher zu betreiben sein, so seine Überlegung. Also entschloss er sich, die Videothek, die seine Frau sieben Jahre lang betrieben hatte, in ein Chicken Restaurant umzuwandeln. Das war aber keine leichte Entscheidung. „Ich habe lange gezögert, weil es direkt nebenan bereits eine Grillhühnchen-Stube gab. Die würde dann ja gleich Konkurrenz bekommen“, meinte Jeong. „Ich habe mich dann aber trotzdem dazu entschlossen, da ich dachte, dass panierte Brathühnchen und Grillhühnchen doch schon unterschiedlich sind. Heutzutage unterscheidet man da nicht mehr so streng, aber damals war das noch ganz anders. Jedenfalls kommen wir bis heute noch als Nachbarn gut miteinander aus.“ Bei Jeong gibt es neben Chicken auch Pizza sowie verschiedene Beilagen wie fritierte Käsestangen
Jeong Cheol-sun und seine Frau, die im Seochon-Viertel in der Seouler Innenstadt ein Chicken Franchise Restaurant betreiben, verlieren trotz ihres harten Arbeitsalltags nie ihr Lächeln.
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Dieses Extra an Fürsorglichkeit, das Essen so sorgsam zuzubereiten, dass es auch für das eigene Kind gut genug ist, scheint das Geheimnis des besonderen Geschmacks zu sein. und Fassbier. Doch Chicken macht immer noch 80~90% des gesamten Umsatzes aus. Die ganzen Jahre über hat Jeong sein Restaurant auf die gleiche Weise betrieben und einer der Kommentare, die er oft von seinen Kunden zu hören bekommt, lautet: „Obwohl es dieselbe Franchisemarke ist, schmeckt das Hühnchen in den anderen Läden nicht so gut wie hier.“ Das versteht er als Kompliment. Aber natürlich kommen solche Komplimente nicht von ungefähr. Der landläufigen Annahme zufolge „schmecken alle Franchise-Gerichte gleich“. Das spezielle Händchen, das seine Frau fürs Kochen hat, hat eine große Rolle dabei gespielt, ihren Hühnchen einen distinktiven Geschmack zu verleihen. Darüber hinaus gilt es, für stets optimalen Geschmack
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ein Prinzip einzuhalten: Nämlich das Öl um 2℃ stärker zu erhitzen als in der von der Zentrale herausgegebenen Anleitung angegeben. Das erhöhe die spezifische Knusprigkeit des Hühnchens. „Jeder bekommt die gleiche Anleitung von der Zentrale, aber es gibt natürlich kleine Geschmacksunterschiede von Laden zu Laden. Gibt man einer Gruppe von Hausfrauen die gleichen Zutaten für die Zubereitung von Kimchi, wird der Geschmack der Beilage trotzdem nicht völlig identisch sein“, sagt Jeong. „In unserem Fall entscheidet die Frische des Öls über den Geschmack. Das von uns verwendete Olivenöl ist viermal teurer als normales Speiseöl. Aber wenn man es nicht oft genug wechselt, macht sich das beim Geschmack bemerkbar. Mein Sohn wurde um die Zeit, als wir den Laden hier eröffneten, geboren, und steht jetzt kurz vor dem Oberschulabschluss. Ich verwende immer so frisches Öl, dass mein Sohn unsere Hühnchen bedenkenlos und mit Appetit essen kann.“ Dieses Extra an Fürsorglichkeit, das Gericht so sorgsam zuzubereiten, dass es auch für das eigene Kind gut genug ist, scheint das Geheimnis des besonderen Geschmacks zu sein. Aber das ist noch nicht alles. „In der Zentrale werden unterschiedliche Forschungen durchgeführt, um den Franchise-Geschäften die besten
Rezepte zu liefern, aber bei Hochbetrieb kann es leicht passieren, dass man sich nicht daran hält. Die Soße muss einzeln auf jedes fritierte Hühnchenstück gestrichen werden. Versucht man, Zeit zu sparen, indem man die Soße einfach darüber gießt und alles vermischt, leidet der Geschmack. Daher versuchen wir uns immer an die Richtlinien zu halten, egal wie beschäftigt wir sind. Das ist das Geheimnis, warum unsere Hühnchen immer gut schmecken“, sagt er. Geheimrezept zum Glücklichsein Das Seouler Stadtviertel Seochon, in dem Jeongs Restaurant liegt, war einst eine ruhige Gegend in Königspalastnähe. Doch seitdem es vor einiger Zeit als kutureller Hotspot in den Medienradar geriet, sind die Straßen immer voller Menschen. Aber Jeongs Restaurant ist noch nicht von dieser Welle des Wandels überrollt worden. Da er über die Jahre tagaus tagein fleißig gearbeitet hat, hat sich seine finanzielle Lage stabilisiert, sodass seine fünfköpfige Familie das zweistöckige Haus, in dem sie zur Miete gewohnt hatten, kaufen konnte. „Was sollten wir denn sonst noch brauchen?“, meint Jeong. Das Seochon-Viertel hat allerdings unter der häufigen Großdemonstrationen auf dem in der Nähe gelegenen Gwanghwamun-Platz zu leiden. Errichtet die Bereitschaftspolizei Busbarrikaden, um die Demonstranten zu blockieren, kommen die Liefermopeds nicht vorbei und Jeong kann kaum Bestellungen annehmen. Das ist aber nicht der einzige Grund, warum er hofft, dass die politischen und sozialen Konflikte gelöst werden und wieder Stabilität in der koreanischen Gesellschaft einkehrt. Die Koreaner lieben Fried Chicken so sehr, dass man den Eindruck hat, jeder zweite Laden sei ein Chicken-Laden. „Das liegt an den vernünftigen Prei sen“, meint Jeong. Nicht zu vergessen die großen Portionen, die mundfertig zerteilten Stücke und die besondere Knusprigkeit der fritierten Hühnchen. Für jemandem wie Jeong, der ein eigenes Geschäft betreibt, anderen bei der Geschäftsgründung hilft und dazu noch als Mentor für bestehende FranchiseLäden fungiert, gibt es einen Punkt, der ständig Kopfzerbrechen bereitet: die Auslieferung. Jeong, der selbst oft Lieferungen erledigt, sagt: „Heutzutage übergeben die meisten Filialen die Lieferung an spezialisierte Lieferdienstleister für etwa 3.000 Won
2 1. Zutatenlieferungen annehmen, Saubermachen, Kochen und Bedienen: Da bleibt Jeong und seiner Frau kaum eine ruhige Minute. Abgesehen von wenigen Tagen im Jahr arbeiten sie so gut wie ununterbrochen. 2. Sie glauben, dass die Verwendung von Qualitätsöl zusammen mit ihren Bemühungen, die Chicken so sorgsam wie für die eigenen Kinder zuzubereiten, das Geheimnis von Geschmack und Erfolg sind.
(rd. 2,30 Euro) pro Bestellung. Das ist ehrlich gesagt billiger, als jemanden fürs Ausliefern einzustellen. Allerdings ist das Problem dabei, dass die Stabilität der organisatorischen Betriebsabläufe beeinträchtigt wird.“ Seitdem er selbstständig ist, geht es mit seiner Gesundheit langsam bergab. Nach dem Öffnen um 11.00 Uhr sind Jeong und seine Frau den ganzen Tag mit Putzen, Vorbereiten der Zutaten, Kochen, Servieren, Entgegennehmen von Lieferbestellungen und Ausliefern beschäftigt. Besonders von 17.00 bis 21.00 Uhr, wenn die meisten Bestellungen hereinkommen, sind die beiden ständig auf den Beinen. Es ist so viel zu tun, dass sie meist erst um 1 Uhr morgens Feierabend machen können. Auch haben sie kaum freie Tage, sodass die Erschöpfung unheimlich groß ist. Aber Jeong ist zufrieden mit den Dingen, so wie sie sind, und hat keine hochfliegenden Träume. „Unser Restaurant ist kein berühmtes Restaurant, vor dem die Kunden Schlange stehen. Wir haben nur in Bezug auf den Geschmack einen vergleichsweise besseren Ruf als andere Restaurants in der FranchiseKette. Das genügt mir schon“, sagt er. So ist es. Jeong Cheol-sun weiß genau, auf welchem Level sein Geschäft steht und mit welchem Grad an Erfolg er sich zufrieden geben sollte. Das scheint auch der Grund dafür zu sein, warum er stets lächeln kann.
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BLICK AUS DER FERNE
Fürs Leben lernen
Meine Praktikumserfahrungen in Korea Saskia Lipsky Studentin
M
ein Name ist Saskia Lipsky, ich bin 25 Jahre alt und absolviere ein duales Studium der Gesundheits- und Krankenpflege in Norddeutschland. Mittlerweile ist es in Deutschland fast schon üblich, ein obligatorisches Auslandssemester zu absolvieren, um neue Eindrücke zu gewinnen und andere Perspektiven kennenzulernen. Zu den beliebtesten Zielen junger Studenten gehören die USA oder Kanada bzw. eins der europäischen Erasmus-Programmländer. Natürlich haben diese Länder alle ihren Reiz und man wird auch dort neue Eindrücke gewinnen, aber ich wollte einmal etwas ganz anderes ausprobieren. So beschloss ich im August 2016, mich für ein Auslandssemester an einer der Partnerhochschulen meiner Alma Mater in Südkorea zu bewerben. Ich wollte die Chance nutzen, ein Land zu bereisen und vor allem in einem Land zu leben, dass nicht als typisches Reiseziel für den Durchschnittseuropäer gilt. Im Januar 2017 bekam ich schließlich die Zusage und war voller Vorfreude. Bis dahin hatte ich noch keine wirkliche Vorstellung davon, wie Südkorea eigentlich ist, was die Menschen dort bewegt oder wie sich der Alltag in Asien gestaltet. Natürlich war ich sehr aufgeregt! Nach 20 Stunden Flug über Dubai landeten meine Kommilitonin und ich endlich in Seoul, wo wir gleich die Gastfreundschaft und die allgemeine Höflichkeit der Koreaner erlebten. Unser Dozent ließ es sich nämlich nicht nehmen, seine Austauschstudentinnen persönlich vom Flughafen abzuholen, was in Deutschland wohl kaum selbstverständlich wäre. Nach einer zweistündigen Autofahrt, während der er uns schon vieles zeigte und erklärte, lud er uns mit einigen seiner Kollegen zu einem
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traditionellen koreanischen Essen ein. Es gab „Shabu Shabu“, ein Feuertopf-Fleischgericht, das für uns etwas ungewohnt scharf war, aber gut schmeckte. Vor allem aber gefiel uns das muntere Beisammensein mit vielen unterschiedlichen Leuten. Die Verständigung war nicht einfach, aber mit Händen und Füßen konnten wir die Sprachbarrieren überwinden. Außer unserem Dozenten sprach nämlich keiner der anderen Anwesenden Englisch. Die ersten Tage in Seoul waren dann ein kleiner Kulturschock für mich, denn noch nie zuvor war ich in einem Land, in dem ich mich so wenig verständigen konnte. Und das weder mündlich noch schriftlich, denn auch die koreanische Schrift Hangeul war mir völlig fremd. Später erfuhr ich, dass die koreanischen Jugendlichen zwar Englisch lernen, der Schulunterricht sich aber v.a. auf Lesen und Schreiben beschränkt, daher hätten viele Koreaner immer noch etwas Hemmungen, Englisch zu sprechen, aus Angst, dass ihre Aussprache oder Ausdrucksweise nicht korrekt seien. Dennoch waren alle stets bemüht, uns jederzeit zu helfen. Und irgendwie habe ich mich auch immer zurechtgefunden. Nie hat ein Koreaner meine Kommilitonin oder mich „im Regen stehen lassen“! Die ersten zwei Wochen verbrachten wir unser Praktikum in einem Wohlfahrtszentrum für Senioren, das in Kooperation mit unserer koreanischen Partneruniversität betrieben wird. Man bemühte sich dort sehr, uns alles zu zeigen und zu erklären, welche Möglichkeiten geboten werden. Und diese Möglichkeiten fand ich ziemlich beeindruckend: Die Senioren konnten aus einer Vielzahl von Freizeitbeschäftigungen wie z.B. Tischtennis, Yoga, Kalligraphie oder Englisch-Kursen wählen. Auch das gemeinsame Mittagessen war liebevoll organisiert und bot den alten Menschen eine willkommene Gelegenheit,
sich auszutauschen. Des Weiteren gab es einen sog. Gesundheitsraum, in dem ein Arzt eine Sprechstunde anbot. Ich war beeindruckt, denn solche Zentren gibt es in Deutschland in dieser Form nicht. Das koreanische Wohlfahrtszentrum mit seinem vielfältigen Angebot an seniorengerechten, von Fachkräften betreuten Kursen und Mittagstisch stand jedem zu minimalen Kosten offen. Ich erkannte schnell die Vorteile für die geistige und körperliche Gesundheit der alten Menschen und finde, dieses „Bokjigwan“ mit Blick auf die gesellschaftliche Alterung eine sehr nachahmenswerte Institution. Korea, das übrigens eine der am schnellsten alternden Gesellschaften der Welt hat, ergreift also frühzeitig Maßnahmen. Einen weiteren Teil unseres Praktikums absolvierten wir in den Präventionszentren für Demenz, von denen es in der Metropole Seoul ca. 26 gibt. Wow, waren wir beeindruckt! Präventionszentren für Demenz?! Auch das kannten wir aus Deutschland kaum! Demenz ist ein im Zuge der gesellschaftlichen Alterung verstärkt auftretendes Problem, das Angehörige und Pflegeeinrichtungen vor große Herausforderungen stellt. Hier eine Vorsorge anzubieten, die für jeden zugänglich ist, ist in meinen Augen genau der richtige Weg. Der behandelnde Chefarzt des Zentrums erklärte uns alles und wir durften an den verschiedensten Übungen teilnehmen. Wir waren beeindruckt von dem, was den Senioren in Korea alles geboten wird, auch wenn sie aus einkommensschwächeren Verhältnissen stammen. Für Ärzte und Belegschaft stand für meine Begriffe der Mensch im Mittelpunkt und es war so etwas wie „wahre Demut“ vor dem Alter und dem Leben, das die alten Menschen hinter sich hatten, zu spüren. Dies wurde auch am Ende unseres Aufenthaltes noch einmal deutlich, als wir in einem weiteren Wohlfahrtszentrum in einem sozial benachteiligten Gebiet Seouls eingesetzt wurden. Auch hier war man sehr bemüht, den alten Menschen zu helfen. So besuchten die Mitarbeiter z.B. jede Woche ein Clubhaus, in dem sich die Senioren aus der ganzen Nachbarschaft regelmäßig trafen. Dort boten sie an, kostenlos Blutdruck und Blutzucker zu messen, sodass auch diese Menschen Fürsorge empfanden und zudem bei Anzeichen einer Erkrankung schnell reagiert werden konnte. Mich beeindruckte dabei die natürliche Selbstverständlichkeit, mit der die Mitarbeiter des Wohlfahrts- zentrums alles erledigten. Für sie gehörte es einfach zum Alltag, niemand schien diese Einsätze als Last oder Aufopferung zu empfinden. Die Wärme, die in Korea herrscht, und die Verbundenheit zwischen den Menschen und Gene- rationen war überall zu spüren. Mein persönliches Highlight war der Besuch und die Arbeit in einem kleinen Universitätskrankenhaus ca.
eine Stunde außerhalb von Seoul, denn die Tätigkeit dort kam meinem Arbeitsalltag in Deutschland und meinen Studieninhalten am nächsten. Auch hier waren alle so sehr um uns ausländische Praktikantinnen bemüht, dass es uns manchmal sogar etwas peinlich wurde und wir nicht mehr wussten, wie wir auf so viel, unserer Meinung nach unverdiente Aufmerksamkeit reagieren sollten. Aber das gehört wohl auch zum sog. „Jeong“, was man vielleicht mit „natürlicher Herzenswärme“ übersetzen könnte. Im Krankenhaus sprach es sich sehr schnell herum, dass wir ein Praktikum absolvierten, sodass zwei Tage später eine Ärztin zu uns kam, die einige Jahre in Kanada gelebt hatte. Sie zeigte uns alles und erklärte auch alles, was wir wissen wollten, auf Englisch. Wir arbeiten an einer der größten Universitätskliniken in Deutschland und wussten zwar, dass es nicht überall so zugeht wie bei uns, allerdings waren wir manchmal doch etwas verwundert. Es scheint, dass in einigen Fällen in Korea die Arbeitsschutz-Richtlinien entweder etwas lockerer sind oder etwas lockerer gehandhabt werden, so z.B. in Bezug auf das Tragen von Schutzhandschuhen oder die Isolierung von Patienten mit unterschiedlichen ansteckenden Keimen. Manchmal lagen die Patienten nur durch einen Schutzvorhang voneinander getrennt in den Betten. Dies war ein kleiner Kulturschock, aber jedes Land hat wohl seine eigenen Methoden und Überzeugungen. In diesen Kontext gehört auch die Tatsache, dass pflegebedürftige Patienten nicht von den Gesundheits- und Krankenpflegerinnen des Krankenhauses bei der Körperpflege unterstützt werden, vielmehr übernehmen Familienangehörige diese Arbeiten. Daran merkte ich, wie sehr sich die koreanische Kultur doch von der in Deutschland unterscheidet. Zum einen war es sehr rührend, die enge familiäre Bindung zu sehen, zum anderen stellte sich mir die Frage, ob jeder Angehörige die notwendigen pflegetechnischen Kenntnisse besitzt. Aber im Notfall konnte ja immer noch nach einer Gesundheits- und Krankenpflegerin geklingelt werden. Summa summarum: Ich kann nicht beschreiben, wie aufregend die Zeit in Korea für mich war! Ich lernte die Gastfreundlichkeit und die herzliche Freundlichkeit der Koreaner wirklich schätzen und fühlte mich sehr willkommen. Gleichzeitig erfuhr ich in Gesprächen mit Gleichaltrigen aber auch von dem für meine Begriffe enormen Leistungsdruck, unter dem die jungen Koreaner stehen, und der für mich in dieser Ausprägung nur schwer verständlich ist. Wenn mich aber jemand fragen würde, ob ich noch einmal ein Praktikum in Südkorea machen wollen würde, müsste ich nicht lange überlegen. Ich würde mich sofort wieder in den nächsten Flieger setzen!
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LIFESTYLE
MIT DER BAHN
AUF DER SUCHE NACH DEM REIZ DES ANALOGEN
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Normale Züge, die auf festgelegten Strecken streng nach Fahrplan fahren, finde ich für freies Reisen nicht geeignet. Denn auch wenn mir ein Ort entlang der Strecke gefällt, so kann ich doch nicht ohne Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen zu müssen kurzerhand aussteigen und mein Reiseziel ändern. In letzter Zeit nimmt die Zahl der „SlowZugreisenden“ in Korea exponentiell zu. Es gibt verschiedene Gründe, warum Züge von einst in Korea wieder an Beliebtheit gewinnen. Park san-ha freiberufliche Reisebuchautorin Fotos Ahn Hong-beom
Der Luxuszug Haerang bei der Fahrt am Meer entlang. Der Haerang mit seinem erstklassigen Service bietet eine „Kreuzfahrt per Schiene“.
I
n der Erinnerung der älteren Generation tauchen beim Stichwort „Zug“ v.a. drei Assoziationen auf: der Zug voller schmerzlich-süßer Geschichten, der den frisch eingezogenen Rekruten zur Kaserne bringt; der Bummelzug voller Lärm und Zigarettenqualm, mit dem die Studenten zwecks besseren Kennenlernens zum Membership Trai- ning fahren; und der Zug, vollgestopft mit all den Leuten, die an den hohen Fest- und Feiertagen ihre Familie im Heimatort besuchen. Aber die Züge präsentieren sich heutzutage in völlig anderer Aufmachung. Zuerst erschienen die Schnellzüge, die schneller als die Fahrzeuge auf der Autobahn fahren. Bedenkt man, wie lange bei Inlandsreisen alleine die Fahrt zum Flughafen beansprucht, dann ist der Zug schneller und bequemer. Aber dieser Wandel in der Popularität ist nicht nur auf die Transportgeschwindigkeit zurückzuführen. Vielmehr fahren heutzutage auf verschiedene Themen spezialisierte Züge kreuz und quer durchs ganze Land. Auch in diesem Moment sind über zehn Thementourismuszüge unterwegs, die unzählige Reisende an sehenswerte Orte überall in Korea bringen, und deren Namen das Reisethema und Reiseziel bereits verraten: der Baekdu Daegan Bergschlucht-Zug (V-Train), der Namdo Meerestouristenzug (S-Train), der Jeongseon-Arirang-Zug (A-Train) und der West-Gold-Zug (G-Train). Nicht nur die Thementourismuszüge, sondern auch der seit Sommer 2007 herausgegebene Naeilro-Zugpass, von dem im ersten Jahr 8.000 und drei Jahre später bereits 58.000 verkauft wurden, erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit. Vorteile von Zugreisen Die Reisen mit den Touristenzügen umfassen im kürzesten Fall nur ein Einstunden-Programm, können sich aber auch über drei Tage inklusive zweier Übernachtungen erstrecken. In die- ser Zeit wollen die Menschen eine irgendwie andere Art von Erfahrung machen, sodass sie das Auto stehen lassen und zum Bahnhof gehen. Während der Fahrt mit den Touristenzügen entdecken sie den Reiz des „gemächlich Langsamen“. Sobald sich vor dem Zugfenster landschaftliche Szenerien auftun, die man bei einem Tempo von 100 km/h in einem Auto oder 300 km/h in einem Schnellzug nicht wahrnimmt, werden alte Erinnerungen wieder lebendig und man tritt in eine Gedankenwelt ein, die einem im Alltagstrott verschlossen bleibt. Zugreisen unterscheiden sich also von anderen Arten des Reisens v.a. dadurch, dass sie ständig Gemüt und Gefühle stimulieren. Ein weiterer Vorteil ist, dass alle vom Stress langer Autofahrten befreit sind, sodass sich niemand als Fahrer in der Opferrolle sehen muss bzw. als Beifahrer Schuldgefühle zu haben braucht. Auch die Service-Vielfalt des Anbieters trägt zur Beliebtheit von Zugreisen bei. So kann man z.B. bei den Themenzügen mit nur einem Ticket eine Vielzahl von Reisezielen genießen. Die Zahl der Passagiere der 2013 eröffneten O-Zug-Tourstrecke (zentrale Inlandsregion) und V-Zug-Strecke (Baekdu Daegan Bergschlucht-Zug) hatte
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Atemberaubende Landschaften Meine Lieblingszüge sind der durch die zentrale Inlandsregion verkehrende O-Zug und der V-Zug zur Bergschlucht Baekdu Daegan, die beide 2013 den Fahrbetrieb aufnahmen. Der O-Zug ist von der Form her niedlich wie ein Eichhörnchen. Das „O“, eine Abkürzung des Englischen „One“, soll bedeuten, dass dieser Zug die drei Provinzen Gangwon-do, Chungcheongbuk-do und Gyeongsangbuk-do, durch die er fährt, „zu Einem macht“. Der Zug mit seinen vier Waggons, die für die vier Jahreszeiten stehen, fährt von Seoul über Jecheon, Yeongju und Seungbu bis Cheoram. Im dritten Waggon gibt es Familien- bzw. Paarsitze, die es erlauben, einander gegenüber zu sitzen und gemütlich zu plaudern. Für Unterhaltung sorgen kleine Quiz-Events, bei denen richtige Antworten mit kleinen Geschenken belohnt werden. Am Bahnhof Buncheon, der an der Grenze zwischen den
Provinzen Gangwon-do und Gyeongsangbuk-do liegt, kann man in den V-Zug umsteigen. Steigt man in Buncheon aus, empfängt einen zu jeder Jahreszeit eine gewisse weihnachtliche Atmosphäre, denn das „Santa-Dorf“ dort gehört zu den touristischen Attraktionen der Gegend. 2013 wurde aus Anlass des 50. Jahrestags der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Republik Korea und der Schweizerischen Eidgenossenschaft eine Partnerschaft zwischen Buncheon und Zermatt geschlossen. In Einklang mit dem „V“ in „V-Zug“, das für „Valley“ (Bergschlucht) steht, bahnt sich dieser Zug seinen Weg durch enge und tiefe Täler. Der Zug, dessen schöner Rotton herzerwärmend wirkt, fährt von Buncheon über Yangwon und Seungbu bis Cheoram. Er erinnert an den mittlerweile aus dem Verkehr gezogenen blauen Nahverkehrszug „Taube“. Bei jeder Bewegung klappern die dünnen Scheiben, was aber nicht störend, sondern anheimelnd wirkt. Auch der alte Ventilator, der in gemächlichen Schwenkbewegungen Kühle erzeugt, lädt zu einer Zeitreise in die Vergangenheit ein. Bei einer Fahrt mit diesem Zug glaube ich manchmal, die Stimme des Dichters Na Tae-ju (geb. 1945) zu hören, der ermahnt: „Dinge sind schön, nur wenn man sie genau betrachtet.“ Der V-Zug tuckert wohl deshalb so gemächlich dahin, damit die Passagiere das herrliche Landschaftspanorama voll genießen können. Am Bahnhof Yangweon, macht der Zug zehn Minuten Halt. Hier kann man den regionalen Spezialitäten wie den Pfannküchlein Jeon zu einem Glas trüben Reiswein Makgeolli nicht widerstehen. Aber vor allem liebe ich diesen Zug wegen der herrlichen Landschaft, die landesweit ihresgleichen sucht. Und auch wegen der Station Seungbu, die für mich persönlich die schönste im ganzen Land ist. Der Zug fährt so tief in die Berge, dass man das Gefühl hat, sich in einer Waldlunge zu befinden.
Der DMZ-Friedenszug, der 2014 seine Jungfernfahrt machte und jährlich 6 Mio. Passagiere auf eine Besichtigungstour mitnimmt, die einen besonderen Blick auf die Demilitarisierte Zone (DMZ) gestattet, ist besonders bei ausländischen Touristen beliebt.
Top-Service, Top-Einrichtungen 2015 war zu hören, dass in den Touristikzügen einzigartige Abteile eingerichtet worden seien. Gemeint waren die bodenbeheizten Ondol-Maru-Abteile der West-Gold-Züge. Sie ermöglichen es, während der Fahrt bequem auf dem Boden zu sitzen oder auch zu liegen. Wo auf der Welt gibt es sonst noch solch komfortabel-gemütliche Abteile? Legt man sich in diesen Abteilen, die den Herrengemächern eines traditionellen koreanischen Hauses nachempfunden sind, auf den warmen Boden, den Kopf auf einer aus dem Holz der Hinoki-Scheinzypresse gefertigten Nackenstütze ruhend, kann man die typisch volkstümliche Atmosphäre vergangener Zeiten genießen. Um den von der Reise ermüdeten Körper zu entspannen, steht ein Fußbad-Raum mit Schwefelbadwasser aus den heißen Quellen des Dogo-Resorts zur Verfügung.
bereits 99 Tage nach der Eröffnung die HundertausenderMarke überschritten. Die Gegenden und Ortschaften im Landesinneren, in die man normalerweise kaum je kommt, können jetzt mit dem Zug besucht werden. Das Geheimnis der Beliebtheit dieser Touren sind die Geschichten, die sich um die alten Bahnstationen ranken. Der DMZ-Friedenszug, der 2014 seine Jungfernfahrt machte und jährlich 6 Mio. Passagiere auf eine Besichtigungstour mitnimmt, die einen besonderen Blick auf die Demilitarisierte Zone (DMZ) gestattet, ist besonders bei ausländischen Touristen beliebt, die die Hälfte der Gesamtpassagierzahl ausmachen. Auch der 2008 in Betrieb genommene Luxuszug Haerang, der in puncto Ausstattung und Service dem früher zwischen Paris und Istanbul verkehrenden Orient-Express in Nichts nachsteht, hat sich mittlerweile als der repräsentativste Tourismuszug des Landes einen Namen gemacht.
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Der in seiner Art wohl besonderste Ort der Welt – die Demilitarisierte Zone (DMZ) – ist mit dem DMZ-Friedenszug erreichbar und besonders bei ausländischen Reisenden beliebt. Mit der Bahnlinie Gyeongui-seon fährt man bis zum Bahnhof Imjingang, wo man u.a. das Dora-Observatorium, den Infiltrationstunnel Nr. 3 und den Dorasan-Friedenspark besichtigen kann. Das ist zu Fuß oder mit der Einschienenbahn möglich. Die Bahnlinie Gyeongwon-seon führt vom Seouler Hauptbahnhof bis zur Station Baengma-goji, von wo aus man die Cheorweon DMZ-Tour machen kann, die u.a. das ehemalige Politbüro der einstigen nordkoreanischen Arbeiterpartei und eine Tour entlang des Stacheldrahtzauns umfasst. Es gibt auch einen Zug für Liebespaare. Im Juli 2007 wurde der Pendelzug Tongil-ho in einen Mini-Zug mit drei Waggons umgestaltet, der heutzutage als S-Zug (Namdo Meerestouristenzug) bekannt ist. Reist man mit diesem Zug, braucht man nicht auf das europäische Mittelmeer neidisch zu sein, denn das magisch glitzernde Blau des koreanischen Ostmeeres fesselt den Betrachter. Die einzelnen Waggons haben jeweils ein anderes Konzept. Die ersten beiden sind wie in einem Kino mit zwei stufenförmig angeordneten Sitzreihen ausgestattet, von denen man einen Panoramablick auf das wie auf einer Leinwand vorbeiziehende Meer hat. Im dritten Waggon sind die Sitze einander gegenüber angeordnet, sodass man sich bequem unterhalten kann. Es gibt auch einen Raum für Heiratsanträge. Es heißt, dass ein Heiratsantrag beim gemeinsamen Hinausblicken auf das weite Meer 100 % Erfolg verspricht. Aber das beste Entertainment in diesem Zug ist wohl der unterhaltsame DJ, der die von den Passagieren gewünschten Musiktitel spielt, wobei er zu jedem Lied die jeweilige Hintergrundgeschichte unterhaltsam kommentiert. „Kreuzfahrt per Schiene“ Unter den vielen Themenzügen gibt es einen, mit dem jeder wohl einmal reisen möchte: den Luxuszug Haerang. „Haerang“ meint wortwörtlich „Zusammen mit der Sonne“. Die sechs Zugbegleiter bedienen nur 54 Passagiere, sodass jeder Gast mit erstklassigem Service verwöhnt wird. Die Zug-Suiten haben neben komfortablen Betten ein gesondertes Empfangszimmer. Getränke wie Bier und Wein oder kleine Erfrischungen kann man jederzeit im Speisewagen genießen. Es werden auch erstklassige Spezialitäten der Regionen, in denen der Zug Halt macht, serviert. Für abwechslungsreiche Unterhaltung sorgt das Bordpersonal mit Zauberkunststücken, Musikaufführungen mit der koreanischen Wölbbrettzither Gayageum, A-cappella-Stücken usw. Die Sonne im fahrenden Zug auf- und untergehen zu sehen ist ein unvergesslichliches Erlebnis. Jedoch ist der Preis ab 2,44 Mio. Won (rd. 1.850 Euro)
1. Mit dem JeongseonArirang-Zug, lässt sich die Schönheit der Landschaft besonders gut genießen. 2, 3. Mit dem O-Zug kann man vom Abfahrtsbahnhof Seoul aus eine Rundreise durch die zentrale Inlandsregion machen. Raumaufteilung und Ausstattung des Zugs sind v.a. für Familien und Pärchen ideal.
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3 © Korail Tourism Development
für die dreitägige Fahrt nicht gerade niedrig. Es gibt aber auch eine Zugreise, die man ab einem bestimmten Alter nicht mehr machen kann: Das Naeilro-TourAngebot richtet sich nur an koreanische Staatsangehörige bis zum vollendeten 29. Lebensjahr. Mit einem Zugpass im Wert von 70.000 Won (rd. 53 Euro) kann man innerhalb von sieben Tagen außer mit dem Hochgeschwindigkeitszug KTX nach Herzenslust auf Stehplätzen und Sitzplätzen in reservierungsfreien Bereichen herumreisen. Da man unbeschränkt umsteigen und dadurch überall im Land unterwegs sein kann, ist es für Studenten in den Semesterferien eine gute Gelegenheit, relativ günstig auf Abenteuerfahrt zu gehen. Zum Naeilro-Zugpass gehören auch Gutscheine, mit denen man in Unterkünften und Restaurants in Bahnhofsnähe Ermäßigung erhält. Aber wer die 29 bereits überschritten hat, braucht nicht traurig zu sein, denn es gibt auch noch den Hanaro-Pass, der für 65.000 Won (rd. 50 Euro) erhältlich ist und es dem Inhaber erlaubt, Stehplätze und Sitzplätze in reservierungsfreien Bereichen aller regulären Züge drei Tage lang auf allen Strecken in Anspruch zu nehmen.
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REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR
REZENSION
Convenience Store Anonym zwischen Toleranz und Kälte Der Convenience Store hat verschiedenen Autoren als epischer Raum gedient. Auch die Erzählung Ich gehe zum Convenience Store von Kim Ae-ran enthält Betrachtungen über den Convenience Store und die Beziehungen zwischen dem Store und den Menschen, die ihn frequentieren. Anhand des Convenience Store, der für die heutige Zeit steht, wird die die Identität des einzelnen Menschen negierende, kalte Anonymität thematisiert. Choi Jae-bong Reporter, The Hankyoreh
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im Ae-ran machte ihr Debüt mit der Auszeichnung ihrer Erzählung In dem Haus klopft man nicht mit dem ersten Daesan Literaturpreis für Studenten, der 2002 ins Leben gerufen wurde. Geboren 1980, war die damals 22-Jährige eine der ersten führenden Autoren aus der Gruppe der in den 1980er Jahren geborenen Schriftsteller. Die „Young Feminists“, die sich zurzeit in der koreanischen Gegenwartsliteratur deutlich als eigene Gruppe abheben, wurden vorwiegend Mitte/Ende der 1980er Jahre geboren und sind somit nur fünf, sechs Jahre jünger als Kim, aber zwischen ihnen und Kim ist eine Art Generationsunterschied zu spüren. Das spricht für Kims Reife, obwohl auch ihr frühes Debüt ein Grund dafür sein könnte. Die Erzählung Ich gehe zum Convenience Store wurde in Kims Debütjahr veröffentlicht, und ist in ihrem 2005 erschienenen ersten Erzählband Lauf, Vater, lauf enthalten. Anders als in Convenience-Store-Menschen, dem mit dem Akutagawa Preis ausgezeichneten Roman der japanischen Autorin Sayaka Murata, dessen Protagonistin eine ledige, seit 18 Jahren in einem Convenience Store jobbende Frau ist, wird in Kims Erzählung der Raum des Convenience Store aus dem Blickwinkel einer Studentin betrachtet, die Stammkundin in solchen 24-StundenLäden ist. Muratas Roman bedient sich also der Innenperspektive, während Kims Erzählung auf der Betrachtung von außen beruht. „Ich gehe zum Convenience Store. Mehrmals am Tag, wenn ich häufig gehe, ansonsten wenigstens einmal in der Woche. Daher
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gibt es immer etwas, was gebraucht werden will.“ Die Erzählung beginnt mit diesen Sätzen, die das Gewicht des Convenience Store im Leben der Protagonistin klar umreißen und verdeutlichen, dass der Laden ein unentbehrlicher Teil ihres Lebens geworden ist. Diese Sätze werden am Ende der Erzählung wiederholt, wobei allerdings „deshalb“ zu „und“ wird, was andeutet, dass sich Verständnis und Bewusstsein der Protagonistin in Bezug auf die Convenience Stores gewandelt haben. Im Hauptteil der Erzählung wird der Prozess dieser Veränderung verdeutlicht. Der Convenience Store war eines Tages „wie eine Legende unerklärbaren Ursprungs“ erschienen und hatte plötzlich einen festen Platz im Alltag des modernen Menschen eingenommen. Aus Sicht der Protagonistin ist das Besondere dieser Läden: Seine Betreiber und Benutzer „erkennen einander nicht“. Das heißt, die Anonymität, das herausragende Merkmal des modernen Stadtlebens, wird im Convenience Store garantiert, was die Protagonistin positiv bewertet. Die Mitarbeiter fragen ihre Kunden normalerweise nicht nach privaten Dingen, eine Haltung, die als Toleranz empfunden wird. Anonym zu sein, kann je nach Umständen positiv oder negativ sein, die Protagonistin selbst betrachtet es zunächst einmal als positiv. Aber dass dem nicht unbedingt so ist, zeigt sich im weiteren Verlauf der Erzählung. In der Wohnsiedlung in Universitätsnähe, in der die Protagonistin wohnt, gibt es drei Convenience Stores. Der
Besitzer des ersten ist überfreundlich zu seinen Kunden: Er tut so, als ob er sie wer weiß wie gut kennte, indem er sie mit banalen Fragen zu ihrem Privatleben bombardiert. Die Protagonistin, der diese Art Freundlichkeit unangenehm wird, geht nicht mehr zu diesem Laden. Das kann als eine Art Rache gegenüber dem Convenience Store gesehen werden, der das Anonymitätsversprechen gebrochen hat. Auch der Imbissstand-Karren, bei dem die Protagonistin ab und zu Mitternachtssnacks kaufte, wird aus ähnlichen Gründen Gegenstand des Boykotts. Der zweite Convenience Store erregt ihr Missfallen wegen eines kleinen Vorfalls im Zusammenhang mit Kondomen, was aus Sicht der Ladenbesitzerin als unfair interpretiert werden könnte. Wie dem auch sei: Auf diese Weise wird der dritte und letzte Laden, der Q-Mart, zum Stammladen der Protagonistin. Ganz ihren Erwartungen entsprechend sagt der junge Mann im Laden nur das, was fürs Kassieren nötig ist. Das bedeutet nicht, dass er etwa unfreundlich wäre. Er grüßt die Kunden stets, wiewohl auf fast mechanisch wirkende Weise. Soweit die Protagonistin den Q-Mart kennt, ist es „eine Welt des ,Guten Tag‘ und ,Vielen Dank‘“. Es dauert aber nicht lange, bevor sie merkt, dass das ein Irrtum ist. Denn sie gibt unweigerlich Daten über ihre Person und ihr Privatleben weiter, wenn sie den Laden besucht. Anhand der von ihr gekauften Waren kann der Kassierer dort Informationen ü b e r Ern ä h ru ngs gewohnheiten, Wohnverhältnisse, Familienstand, Heimatort und sogar Menstruationszyklus herausfinden. Diese Entdeckung könnte trivial sein, führt aber eine große Wende in der Erzählung herbei. Als sich die Protagonistin bewusst wird, dass im Convenience Store ein gewisses Preisgeben von Privatleben und persönlichen Daten unvermeidlich ist, kehrt sich das typische Muster der Beziehung zwischen dem Kassierer und der Protagonistin um. Die Protagonistin denkt: „Er fragt mich nicht nach meinem Studienfach. Ich möchte es ihm sagen.“ Und sie gesteht: „In mir ist die Neugier über ihn gewachsen, der kein Wort während der neunzig Sekunden sagt, in denen sich der Haetban-Fertigreis in der Mikrowelle dreht, oder während der zwanzig Sekunden, die eine Packung Seoul-Milch zum Warmwerden braucht.“ Schließlich kommt sie zu dem Schluss: „Und ich weiß nicht das Geringste über dich.“ Empfindet die Protagonistin, etwas für den jungen Kassierer als Mann? Nein, es ist eher Ausdruck des Willens, das Ungleichgewicht in der Informationsverteilung auszugleichen. Nach dieser Wende, die die Dinge auf den Kopf gestellt hat, kommt es zu einem Ereignis, das den Höhepunkt der Erzählung darstellt. Am Weihnachtsabend, an dem alle in die Innenstadt gefahren sind und es im Wohnviertel ruhig geworden ist, gerät die Protagonistin in eine Notsituation, in der sie jemanden,
© Paik Da-huim
den sie kennt, um einen Gefallen bitten muss. Nach vielem Hin- und Herüberlegen kommt sie auf den jungen Mann im Q-Mart. In ihrem Viertel ist er doch einer der wenigen, die sie kennen. Aber was für ein Irrtum von ihr, zu glauben, dass er sie tatsächlich kennen würde! Die Protagonistin, die die Anonymität der Convenience Stores gepriesen und die Inhaber, die dieses Versprechen gebrochen hatten, quasi bestrafte, gerät nun selbst in die Falle der Anonymität. Sie, die bislang als Einzige als cool, clever und unabhängig herüberkam, findet sich in einer Situation wieder, die mit Köpfchen allein nicht mehr zu meistern ist. Man könnte an dieser Stelle etwas Mitleid mit ihr haben, aber diese Szene bereitet doch eine gewisse Genugtuung. Als die Geschichte sich dann auf ihr Ende zuzubewegen scheint, kommt es zum eigentlichen Höhepunkt der Erzählung, einem Ereignis, das so urplötzlich und unerwartet hereinbricht, wie es eben nur ein wahrhafter Höhepunkt vermag. Wie eingangs erwähnt, werden am Schluss die Sätze, mit der die Erzählung beginnt, in leicht variierter Fassung erneut verwendet. Um zu diesen Schlusssätzen zu kommen, wurden dem Leser verschiedene Episoden, die das thematische Bewusstsein der Erzählung widerspiegeln, und die diesbezüglichen Gedanken der Protagonistin dargelegt. Die Erzählung, die mit einem Lobgesang auf die von den Convenience Stores gewährten Anonymität begann, macht eine Kehrtwende und schließt mit dem Hinweis auf Nebenwirkungen, Schäden und Grausamkeit eben dieser Anonymität. Zwischen den einfach erscheinenden Konjunktionen „daher“ und „und (seltsamerweise)“ vollzieht sich also eine tiefgreifende Veränderung der Auffassung von Anonymität. Mit Coolheit wendet sich die Protagoniston wieder an den Leser: „Wenn dort die Frau neben dir Wasser kauft, dann, um Medikamente zu nehmen; wenn der Mann hinter dir Rasierklingen kauft, dann, um sich die Pulsadern aufzuschneiden; wenn der Junge vor dir Toilettenpapier kauft, dann vielleicht, um damit seiner alten, kranken Muter den Hintern abzuwischen. Es ist gut, wenn du dir das manchmal in Erinnerung rufst, wenn nicht, ist es auch okay.“
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Subskriptionspreise inklusive Luftpostzustellung
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Jahresabonnement (inkl. Luftpostgebühren)
Frühere Ausgaben* (je Ausgabe)
Korea
1 Jahr
KW 25.000
KW 6.000
2 Jahre
KW 50.000
3 Jahre
KW 75.000
1 Jahr
US$ 45
2 Jahre
US$ 81
3 Jahre
US$ 108
1 Jahr
US$ 50
2 Jahre
US$ 90
3 Jahre
US$ 120
1 Jahr
US$ 55
2 Jahre
US$ 99
3 Jahre
US$ 132
1 Jahr
US$ 60
2 Jahre
US$ 108
3 Jahre
US$ 144
Ostasien
1
Südostasien
2
Europa und Nordamerika
Afrika und Südamerika
4
3
US$ 9
* Für frühere Ausgaben gelten zusätzliche Gebühren für Luftpostzustellung 1 Ostasien (Japan, China, Hongkong, Macau, Taiwan) 2 Südostasien (Kambodscha, Laos, Myanmar, Thailand, Vietnam, Philippinen, Malaysia, Ost-Timor, Indonesien, Brunei, Singapur) und Mongolei 3 Europa (einschl. Russland und GUS), Naher Osten, Nordamerika, Ozeanien, Südasien (Afghanistan, Bangladesch, Bhutan, Indien, Malediven, Nepal, Pakistan, Sri Lanka) 4 Afrika, Süd- und Mittelamerika (einschl. Westindische Inseln), Südpazifische Inseln
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84 KOREANA Winter 2017
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KOREAN CULTURE & ARTS 105
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86 KOREANA Winter 2017