Koreana - Autumn 2013 (German)

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He rbst 2013

Koreanische Kultur und Kunst

Spezial

Höfe und Gärten

sum m er 2013 2012 Jahrgang vo l. 26 n8,o . Nr. 2 3 H erbst

Eher Höfe statt Gärten; Mein Hof: ein Traum, der wahr wurde; Die Höfe alter Häuser

ISSN 1975-0617

Jahrgang 8, Nr. 3

Höfe und Gärten Wie die Koreaner mit der Natur kommunizieren


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Koreanische Kultur und Kunst Herbst 2013

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IMPRESSUM Herausgeber The Korea Foundation 2558 Nambusunhwan-ro, Seocho-gu, Seoul 137-863, Korea

Nachmittag von Chang Uc-chin, Öl auf Leinwand, 42 x 32 cm, 1985

Von der Redaktion

Das koreanische Konzept von „Garten“

Die Spezial-Beiträge dieser Ausgabe geben unseren Lesern in aller Welt einen ausführlichen Einblick in einen ganz spezifischen Aspekt der koreanischen Kunst und Kultur, nämlich den Garten. Die Autoren - Experten in ihrem jeweiligen Bereich - diskutieren das Thema aus unterschiedlicher Perspektive, um das Verständnis von Korea, seinen Menschen und seiner Kultur zu erhöhen. Für jede Ausgabe von Koreana sammeln die Herausgeber mögliche Themen für die Spezial-Beiträge und bestimmen dann ein Thema, das dem Redaktionsbeirat zur Genehmigung vorgelegt wird. Nach Auswahl der Autoren gibt es ein gemeinsames Treffen, bei dem Inhalt und Fokus der geplanten Artikel diskutiert wird, damit die einzelnen The­ men möglichst umfassend behandelt werden und einen hilfreichen Einblick in die jeweilige Materie bieten. Oft arrangiert man eine Grup­ pentour von Autoren, Fotografen und Redakteuren, um die Örtlichkei­ ten, von denen berichtet wird, oder damit in Zusammenhang stehen­ de Stätten zu besichtigen und Interviews mit den betreffenden Perso­ nen zu führen.

Für die Spezial-Beiträge dieser Ausgabe, Höfe und Gärten: Wie die Koreaner mit der Natur kommunizieren, haben sich solche Besichti­ gungstouren als besonders wertvoll erwiesen. Die Gruppe besuchte alte, traditionelle koreanische Häuser verstreut über fünf Provinzen, so u.a. auf der Insel Daebu-do, in Yesan, Asan, Nonsan, Jeongeup, Hamyang, Yangdong und Cheongdo. Gruppenleiter der dreitägigen Tour war Herr Cho Jeon-hwan, ein Tischler, der sich auf traditionel­ le koreanische Architektur spezialisiert hat, und Autor des Beitrags Höfe traditioneller koreanischer Häuser ist. Der volle Tourplan mach­ te es notwendig, ständig von einem Besichtigungsziel zum nächs­ ten unterwegs zu sein, wobei wir immer wieder über die originären Ideen und Konzepte derjenigen staunten, die die Höfe und Gärten, von denen jeder einzelne eine eigene Geschichte zu erzählen hat, entwor­ fen hatten und sie nutzten. Ich hoffe, dass unsere Leser ihre Freude an den Artikeln und Fotos, die das Resultat unserer Besichtigungs­ tour sind, haben und dass sie Einblick in den Reichtum des Erbes bekommen, das dahinter steht. Ahn In-kyoung Chefredakteurin der deutschen Ausgabe


Spezial Höfe und Gärten

04 08 14 24

Spezial 1

Eher Höfe statt Gärten

Han Kyung-koo

Spezial 2

Mein Hof: ein Traum, der wahr wurde

Suh Hwa-sook

Spezial 3

Die Höfe alter Häuser

6

Cho Jeon-hwan

Spezial 4

Gartendesignerin Hwang Jihae: Gärten voller ursprünglicher Essenz

Suh Hwa-sook

20

28 32 36

fokus

Die Restauration des Sungnye-mun und danach

Kim Chang-hee

interview

Arirang-Forscher Kim Yeon-gap

Lim Jong-uhp

kunstkritik

Jiseul – Die unvollendeten Jahre 2 Independent-Film thematisiert Hoffnung trotz tragischen Massakers

Heo Young-sun

35

40 46 52

43

auf der weltbühne

Jazzsängerin Nah Youn-sun nimmt die Welt durch Musik auf

Seo Jeong Min-gap

Meister der Darstellenden Künste

Yu Ji-hwa: Meisterin des Federblumentanzes

Choi Hae-ree

den eigenen weg gehen

Jokbo : Wurzeln der Familie und Teil der Volksgeschichte

47

56

Kim Hak-soon

neuerscheinung Charles La Shure

The Voices of Heaven

Konfuzianische Werte und Krieg: Die Seele berührender, autobiografischer Roman einer koreanisch-amerikanischen Autorin

Magnolia & Lotus: Selected Poems of Hyesim Gedichte eines Zen-Meisters zur Begegnung mit der Wahrheit

Sejong Korean Scholars Program Online-Studienkurse in Korea-Studien für Schüler amerikanischer Highschools 64

K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 13

58 60 62 66

Sonderbeitrag

Jenseits von Gangnam Style

Philipp Richardsen

Entertainment

Cho Yong-pil ist zurück!

Lim Jin-mo

Lifestyle

Flucht aus der Stadthektik: „Einwandern“ auf die Insel Jeju-do

Lee Jin-joo

reisen in die koreanische literatur

Entgiftung der Gewaltsamkeit Uh Soo-woong Wie er so ist, Geunwon Paik Ga-huim

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[ Spezial 1 Höfe und Gärten ]

Eher Höfe statt Gärten

Was ist der Grund dafür, dass sich der traditionelle koreanische Garten von den europäischen Gärten der Neuzeit mit ihrer geometrischen Ordnung oder den chinesischen und japanischen Gärten mit ihren elaborierten Strukturen so stark unter-

scheidet? Vielleicht liegt es an der völlig anderen Art der Wohnraumnutzung. Han Kyung-koo Kulturanthropologe, Professor am College of Liberal Studies, Seoul National University | Foto: Suh Heun-gang

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raditionell gesehen haben sich die Koreaner im Gegensatz zu ihren chinesischen und japanischen Nachbarn nie besonders darum bemüht, beim Bau eines Wohnhauses prachtvolle Gärten anzulegen. Das galt natürlich für die mittellosen einfachen Leute, aber auch die Reichen und Mächtigen pflanzten meist nichts in den großen Vorderhöfen ihrer stattlichen Anwesen an. Der Lehmbo­ den des Vorderhofes wurde festgestampft und als ebene, saubere Fläche gepflegt, auf der nicht einmal der kleinste Kiesel oder Gras­ halm zu sehen war. Das heißt natürlich nicht, dass es in Korea keinen allgemeinen Begriff von „Garten“ gegeben hätte. Gärten wie der Soswaewon in Damyang und der Buyongdong auf der Insel Bogil-do, die nicht nur schön sind, sondern auch von tiefem philosophischen und symbo­ lischen Gehalt, zeugen auch heute noch von dem Anspruch, den die Koreaner des alten Joseon-Reiches an die Gartenkultur stell­ ten. Aber solche Gartenanlagen sind eher Ausnahmen. Die meisten

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Koreaner schienen bemüht zu sein, ihre Höfe sauber und ordent­ lich zu halten, anstatt dort große und prachtvolle Gärten anzulegen.

Ein weiteres, großes Zimmer Bei den traditionellen koreanischen Häusern war der Vorderhof das Aushängeschild des gesamten Anwesens. Die koreanische Schrift­ stellerin Choi Myeong Hee beschreibt in ihrem Werk Honbul (dt. Geist-Feuer) einen Hof, der „so glatt und fest ist, dass kein Stück­ chen Erde an den Füßen kleben bleiben würde, selbst wenn man barfuß darüber läuft". Denn man hatte den Hof „so spiegelblank gefegt, wie man sein Gesicht wäscht“. In Die Mythen des Passes Jilmajae besingt der Dichter Seo Jeong-ju (1915-2000) das „Hof-Zim­ mer“ (so genannt, weil der Vorderhof quasi auch als Zimmer genutzt wurde) als so „glatt und himmlisch duftend wie das Gesicht von Chunhyang", der lieblichen Protagonistin aus der populären gleich­ namigen volkstümlichen Liebesgeschichte. Der Hof war neben der Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


Der Garten der Herrengemächer im alten Haus von Jeong Yeo-chang in Hamyang; der größte Teil des Raums wurde leer belassen, nur einzelne Teile hat man garten­ architektonisch gestaltet, so z.B. den Steingarten unterhalb der erhöhten Holzveran­ da, der weit zur umgebenden Landschaft hin offen ist.

Maru-Holzdiele und den bodenbeheizten Ondol-Räumen ein wichti­ ger Bestandteil der traditionellen koreanischen Hanok-Häuser. Als ein Raum der Überleitung und als Pufferraum hatte der Vorder­ hof verschiedene Funktionen: Je nach Jahreszeit oder kleinen und größeren familiären Anlässen war er mal ein „Innenraum“, mal ein „Außenraum“. Einmal war er ein Kinderspielplatz, dann ein Arbeits­ platz. Bei Festen oder Ahnenverehrungszeremonien wurde er mit einer Plane überdacht wie ein Zimmer genutzt. Verschiedene Wild­ gemüse und Chili wurden dort getrocknet oder Getreide gelagert. Im Sommer aß die Familie im Hof zu Abend, plauderte mit Wasser­ melonenstücken in der Hand, und schlief dort auch schon mal ein. Hochzeitszeremonien fanden im Hof statt und bei einem Todesfall in der Familie wurden hier die kondolierenden Trauergäste empfan­ gen. Der Höhepunkt des „Tret-Ritus für die Schutzgötter der Erde“, der am ersten Vollmondtag des Mondjahres unter Begleitung von Trommel- und Gongspiel abgehalten wurde, war das Festtreten des K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 13

Hofbodens. Auch die Austreibung der bösen Geister zum Schluss des Rituals wurde auf dem Hof abgehalten. Wie oben beschrieben, war der Hof ein Ort der Arbeit und des Spiels, der Erholung und der Festlichkeiten und Riten, manchmal auch ein Ort der Produktion und Lagerung. Da im Hof so viele Akti­ vitäten stattfanden und er so viele Funktionen hatte, wurde das Wort „Madang“ (Hof) auch dafür genommen, eine bestimmte Situ­ ation oder einen bestimmten Raum, in dem sich etwas ereignet, zu bezeichnen. Es wird auch für die einzelnen Akte des epischen Sologesangs Pansori oder des Talchum- Maskentanzes verwendet. Eine Person mit vielen Talenten, der überall Freunde und Bekann­ te hat, nennt man „Madang-bal ", wörtlich „Hof-Fuß“.

Ein absichtlich leer belassener Raum So gesehen war der Hof für die Koreaner auf keinen Fall ein äuße­ rer Bereich des Hauses. Er war auch kein Raum, in dem man

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Die modernen, in Städten lebenden Koreaner scheinen ein akutes Bedürfnis danach zu empfinden, die Natur in ihre Wohnungen oder Parkanlagen zu bringen. In den Wohnhochhaus-Komplexen sind die Anstrengungen der Bewohner zu sehen, an jedem nur verfügbaren Ort innerhalb und außerhalb des Wohnraums grüne Oasen zu kultivieren, um der Natur möglichst nahe zu sein. die Natur in verkleinerter oder imitierter Form nachbildete. Kurz gesagt: Der Vorderhof war nie ein Garten. Nur an der Peripherie des Vorderhofes vor den Mauern, die das Anwesen umgaben, oder hinter dem Hauptgebäude legte man kleine, liebliche Blumenbeete an und im hinteren Hof pflegte man auch Gemüse zu pflanzen. Warum machten die Koreaner nicht viel Aufhebens, wenn es um Gärten ging? Könnte es an der konfuzianistischen Lehre liegen, die die verschwenderische Lebensweise der herrschenden Schicht strikt

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kritisierte und zu regulieren suchte? Oder lag es daran, dass die Koreaner Bäume und Blumen lieber ihrer Natur nach wachsen lie­ ßen und daher vermieden, sie zu beschneiden oder künstlich in Form zu bringen? Kann das auch der Grund dafür gewesen sein, warum sich der traditionelle koreanische Garten von den europäischen Gär­ ten der Neuzeit mit ihrer geometrischen Ordnung oder den chinesi­ schen und japanischen Gärten mit ihren elaborierten Strukturen so stark unterscheidet? Oder lag es daran, dass die Reisanbau-basierte Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


Der Garten der Frauengemächer im alten Haus von Yi Sang-ik (1848-1897), in Asan, Provinz Chungcheongnam-do; innerhalb der Frauengemächer gibt es einen Hof für Haushaltsarbeiten. Vor der niedrigen Mauer am hinteren Ende des Hofes wurden Blumen und Bäume angepflanzt. Vor der Küche befinden sich ein Mühlstein und ein Brunnen. Rote Chilis wurden ausgestreut, um im direkten Sonnenlicht zu trocknen.

Wäre es nicht denkbar, dass die alten Koreaner auf Gärten ver­ zichteten und den Hof bewusst leer ließen, um die Schönheit des leeren Raums zu genießen, da sie überall in ihrer Nähe herrliche Landschaften erblicken konnten?

Wirtschaft es schwierig machte, genügend Wohlstand zu generieren, um sich große, prächtige Gärten leisten zu können? Wie wäre die Erklärung, dass die Koreaner Raum auf ihre ganz eige­ ne Art und Weise nutzten? Vielleicht sahen sie gar keine Notwendig­ keit, innerhalb ihres Anwesens einen Garten anzulegen, da sich nur ein paar Schritte vor dem Haus schöne Landschaften erstreckten. Oder vielleicht zogen sie es vor, in einer Gegend mit Naturschönhei­ ten lieber allen zugängliche Pavillons zu bauen, statt Räume, die als Siedlungs- oder Agrarflächen genutzt werden konnten, durch das Schaffen künstlich gestalteter Natur zu monopolisieren. Die Einwohnerzahl von Seoul lag bis Ende des 19. Jahrhunderts bei rund 200.000 und die Stadt war von allen Seiten von hohen Bergen und dichten Wäldern umgeben. Sowohl die armen, gemeinen Leute als auch die Reichen und Mächtigen konnten von ihrem Zuhause aus auf die Berge blicken und mussten nur ein paar Schritte um in Täler mit klaren Bächen zu gelangen. K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 13

Vom Hof zum Garten Aber die Koreaner können diese Muße von einst nicht länger genie­ ßen. Die Einwohnerzahl von Seoul liegt mittlerweile schon bei um die 10 Millionen und die landesweite Urbanisierungsrate beträgt mehr als 80%. Da in kurzer Zeit so viele Menschen in die Städ­ te strömten, rückte die Natur infolge der Urbanisierung in immer weitere Ferne, weshalb die Koreaner, wenn auch etwas spät, nun verzweifelt versuchen, in ihren Wohnungen oder in der Stadtmitte Naturräume zu schaffen, und seien sie auch noch so klein. Der Hof, der im Zuge der Industrialisierung seine Rolle als ein Ort der Produktion, Aufbewahrung und Arbeit verloren hatte, ver­ wandelte sich rasch in einen Garten. Anhänger der traditionellen koreanischen Hanok-Häuser behaupten zwar, dass nur ein lee­ rer Vorderhof, auf den die Sonne brennt, seine Funktion als eine natürliche indirekte Beleuchtung für das Hausinnere erfüllen kann und der Wind, der aus dem schattigen Hinterhof ins Haus bläst, die Temperatur regeln hilft, aber die koreanischen Hausfrauen in den Städten sind nichtsdestoweniger damit beschäftigt, ihre Höfe mit Rasen, Blumen und Bäumen zu schmücken. So entstehen in fast jedem Haushalt der koreanischen Städte entzückende Mini-Gärten. Familien, die wirklich noch einen Hof besitzen, können sich glück­ lich schätzen, aber die meisten Koreaner wohnen aus Bequemlich­ keit in einem Apartment-Hochhaus ohne Hof. 50% der Bevölkerung von Seoul und mehr als 60% der Einwohner von Daejeon und Busan wohnen in Apartments oder Mehrfamilienhäusern, trotzdem legen sie auf eigene Art und Weise Mini-Gärten an: Die Balkone stehen voller Blumentöpfe, manchmal sind auch in den Fluren, auf den Treppen oder vor den Eingängen zahllose Blumentöpfe zu sehen. Wenn man sich etwas aufmerksamer umsieht, zeugen die Blumen­ beete zwischen den einzelnen Häusern eines Apartment-Komplexes oft von der liebevollen Hand eines Gartenfreundes. Die Koreaner hielten in der Vergangenheit die leeren Plätze inner­ halb ihres Anwesens in Form des Hofes frei. Aber die modernen, in Städten lebenden Koreaner scheinen ein akutes Bedürfnis danach zu empfinden, die Natur zu sich zu holen. In den WohnhochhausKomplexen sind die Anstrengungen der Bewohner zu sehen, über­ all grüne Oasen zu kultivieren. Es ist zu hoffen, dass das Konzept der alten Koreaner, Räume bewusst frei zu lassen, dabei sinnvoll zum Tragen kommen kann.

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[ Spezial 2 Höfe und Gärten ]

Mein Hof Ein Traum, der wahr wurde Wie die meisten berufstätigen Frauen führte auch ich ein ungeregeltes und geschäftiges Leben. Aber wenn ich nennen sollte, was in all dem Umgetriebe meine besten Taten gewesen seien, dann wären das die Geburt meiner drei Kinder und der Kauf dieses Hauses. In unserem Vorderhof blühen von Frühling bis Herbst ununterbrochen Blumen. Suh Hwa-sook Journalistin, Tageszeitung The Hankook Ilbo | Fotos: Ahn Hong-beom, Ha Ji-kwon

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Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


I

ch wohne in einem freistehenden Haus im Seouler Stadtviertel Buam-dong. Buam-dong liegt hinter dem alten Königspalast Gyeongbok-gung aus der Joseon-Zeit. Da die Landschaft so bezaubernd schön war, bauten die hochrangigen Hofbeamten hier ihre Ferienhäuser und die Hofdamen gingen ins Tal, um in den Bächen dort die Wäsche zu waschen. Auch die Sojabohnenblöcke für die Herstellung der Doenjang-Soja­ bohnenpaste für den Königshof sollen in dieser Gegend fermentiert worden sein. Die Festungsmauer, die den nördlichen Teil der Joseon-Haupstadt Hanyang (alter Name Seouls) einschloss, verlief über den Berg Bugak-san, dessen Hänge ins Tal abfallen. Das klare Bergwasser wurde von dem dort ansässigen Hof­ amt genutzt, das Papier für den Königshof herstellte. In diesem Viertel ist bis heute noch das Tor Jaha-mun (offizielle Bezeichnung: Changui-mun) erhalten, eins der vier Nebentore der Hauptstadt. Da sich gleich hinter dem Gyeongbok-gung Cheong Wa Dae (das Blaue Haus), die Residenz des Präsidenten befindet, liegt Buam-dong natürlich auch hinter der Residenz. Es war auch in diesem Viertel, wo es 1968 zu einem blutigen Gefecht kam, als nordkoreanische bewaffnete Spione, die den Auftrag hatten, den damali­ gen Präsidenten Park Chung-hee zu ermorden, auf südkoreanische Polizisten trafen. Von Buam-dong aus ist das Tor Gwanghwa-mun, das Zentrum des alten Seoul, in etwa einer halben Stunde zu Fuß zu erreichen. Buam-dong hat zudem an internationalem Flair gewonnen, da sich hier der Drehort der südkoreanischen Fernsehserie The 1st Shop of Coffee Prince (2007) befindet, die sich in Japan, Taiwan, Hongkong, Thailand, den Philippinen und Malaysia großer Beliebtheit erfreute, weshalb auf den Straßen nicht selten ausländi­ sche Touristen mit Stadtplan in der Hand zu sehen sind. Obwohl im Zuge der Modernisierung Seouls überall Hochhäuser aus dem Boden schossen, blieb Buamdong aufgrund seines hügeligen Terrains dasselbe Schicksal erspart. Hier entstanden Wohnviertel aus niedrigen Mehrfamilienhäusern oder freistehenden Wohnhäusern – ein in Seoul sonst seltener Anblick. Selten ist auch, dass man von überall in diesem Viertel schnell zu Fuß in Berge und Täler gelangt. Daher nennt man das Viertel schon lange „das Seoul, das nicht wie Seoul aussieht". Da Buam-dong 190 m über dem Meeresspiegel liegt, sind auch die Temperaturen hier niedriger als in der Innenstadt. Während es dort im letzten Winter auf -17° sank, waren es in Buam-dong -20°. Im Schnitt liegt die Temperatur immer um etwa 2 Grad unter dem Durchschnitt des Seouler Stadtzentrums. Buam-dong war auch ein Viertel mit niedrigen Immobilienpreisen, da die Winter kalt und die Häuser alt waren.

Die Autorin Suh Hwa-sook (Mitte) entspannt sich zusam­ men mit ihren Nachbarn aus Buam-dong im hinteren Hof ihres Hauses, während in der Ferne die Abenddämmerung die Bergspitzen des Bukhansan färbt.

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Traum von einem Haus mit Hof Ich wurde auf dem Land in der Provinz Gangwon-do geboren und kam erst mit sieben nach Seoul. Die Häuser, in denen ich von da an wohnte, spiegeln die Veränderungen der koreanischen Gesellschaft wider: Zunächst wohnten wir in einem der modernisierten koreanischen Hanok-Häuser, wie sie in der japanischen Konlonialzeit in Massen hochgezogen worden waren. Dann zogen wir in ein winziges, schlampig gebautes einstöckiges Haus in einer hügeligen Gegend. Ab Mitte der 1970er Jahre wohnten wir in einem der zu die­ ser Zeit üblichen, freistehenden zweistöckigen Häuser, die keinen Platz für einen Hof hatten, weil fast das gesamte Grundstück vom Gebäude eingenommen wurde. 1983 zogen wir in ein Hochhaus-Apartment. Bis Ende 2007 wohnte ich – mit Ausnahme von zwei Jahren – in verschiedenen Hochhauswohnungen in ver­ schiedenen Vierteln. Der Grund für die „zweijährige Pause“ war folgender: Ein Hochhaus-Apartment ist der häufigste Wohnungstyp in Korea. Aber egal, wie lange ich auch in einem Wohnhochhaus wohnte, ich konnte mich einfach nicht daran gewöhnen. Ein Apartment war für mich kein Zuhause, sondern nur ein Ort zum Schlafen. So eine Hochhauswohnung ohne Hof, wo man nicht die Erde unter den Füßen spüren und Blumen ziehen kann, war für mich kein Zuhause. Alle meine Freunde und Verwandten fühlten sich wohl in ihren Hochhauswohnungen. Nein, sie fühlten sich nicht nur wohl, sondern sie versuchten mich auch mit allen Mitteln davon abzuhalten, in ein Haus mit Hof umzuziehen. Sie schüchterten mich mit der Warnung ein, dass ein freistehendes Haus schwer instand zu halten und kaum wieder zu verkaufen sei, und dass es dann zu spät sei, den Entschluss zu bereuen. Mit Mitte Dreißig gab ich meine Kaufpläne schließlich auf und mietete erst einmal ein Wohnhaus mit Hof, in dem ich zwei Jahre lebte. Damals dachte ich, dass ich immer noch ein Haus kaufen könne, wenn mir das Leben dort gefiele. Zu dem Zeitpunkt waren meine Kinder noch klein. Und das Leben im Haus mit Hof gefiel mir! Meine Kinder, die früher in der Hochhauswohnung vor dem

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Fernseher gehockt oder Computerspiele gemacht hatten, rannten in den Hof hinaus. Sie gruben Löcher in die Erde, sammelten Äste und machten kleine Feuer damit. Wir brieten Kartoffeln in der Feu­ erstelle im Hof. Im Winter fuhren wir mit dem Schlitten den Hügel, der zum Nachbarhaus führte, hinunter. Leider hatte dieses Leben bald ein Ende. Mit der Asienkrise, die Korea 1997 traf, verlor mein Mann seinen Arbeitsplatz und es war finanziell nicht mehr möglich, unsere Eigentumswohnung im Wohnhochhaus und das gemietete Haus zu unterhalten, so dass wir nolens volens in die Hochhaus­ wohnung zurückziehen mussten.

Die Freuden des Lebens in einem Haus mit Hof Meiner Enttäuschung, wieder in einem mir nicht passenden Umfeld leben zu müssen, machte ich durch Hausbesichtigungstou­ ren Luft. Ich hatte keinerlei Absicht, tatsächlich ein Haus zu kau­ fen, suchte aber trotzdem Immobilienmakler auf, tat so als ob, und schaute mir die Häuser auf dem Markt an. Naja, wenn ich ein güns­ tiges Haus gefunden hätte, hätte ich es schon gekauft. Aber alle Häuser, die ich mir anschaute, waren entweder teurer als gedacht, oder zu klein für eine sechsköpfige Familie. Jede freie Minute, die ich auf der Arbeit hatte, nutzte ich, um durch die Viertel in der Nähe meiner Firma neben dem Gyeongbok-gung zu streifen. Anders als in Gangnam, wo nur noch Hochhäuser dicht an dicht stehen, fühlte ich mich in dieser Gegend, wo die Zeit in den 1970er Jahren stehen geblieben zu sein schien, wohler. Meine Haussuch-Odyssee in der Nähe des Gyeongbok-gung brachte mich schließlich über den Berg Bugak-san nach Buamdong, weil hier zu der Zeit, wie schon erwähnt, die Häuser billiger als anderswo in Seoul waren. Mit nur etwas mehr Kapital, als ich schon besaß, konnte ich ein Haus mit einem großen Hof kaufen. So wurde ich endlich Eigentümerin eines Hauses mit Hof, das 1977 gebaut wurde. Im Winter ist unser Haus so kalt, dass man im Inneren einen Man­ tel tragen muss. Verglichen mit der Hochhauswohnung, in der man auch im Winter in kurzen Ärmeln herumlaufen konnte, kam ich mir anfangs vor wie in einer Hütte in freier Natur. Wir ersetzten die Fenster, durch die der Wind gepfiffen hatte, und hingen dicke Vor­ hänge auf, was etwas half, aber die Häuser hier scheinen im Ver­ gleich zu Apartments immer aus dem Jahreszeitentakt zu sein. Der Winter kommt einen Monat früher als im Stadtzentrum und die Frühlingblumen blühen zwei Wochen später auf. Ein kaltes Haus bedeutet zudem hohe Heizkosten im Winter. Es gefällt mir aber trotzdem. Es gefällt mir so gut, dass ich mich sogar wundere, wie es einem so gut gefallen kann. Und wenn mich jemand nach den besten Taten meines Lebens fragt, dann nenne ich immer die Geburt meiner drei Kinder und der Kauf dieses Hau­ ses. In unserem Vorderhof blühen von Frühling bis Herbst unun­ terbrochen Blumen. Im Winter stehe ich am Wochenende spät auf. Aber wenn der Früh­ ling kommt, wache ich automatisch frühmorgens auf und möchte

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schnell in den Garten laufen. Abends fällt es mir schwer, nicht länger im Hof zu bleiben und zum Schlafen hineingehen zu müssen. Gibt es denn im Garten etwas Besonderes zu tun? Nein. Ich laufe nur herum und schaue, wie sich jede einzelne Blume von gestern auf heute ver­ ändert hat. Wenn neue Sprossen oder Knospen erscheinen, hocke ich mich davor und betrachte sie lange. Dann rupfe ich das Unkraut im Rasen aus und schneide allzu wild wuchernde Pflanzen zurück. Ist für den Nachmittag Regen angesagt, stelle ich die Topfbäume um und säe neue Samen aus. Wenn ich verspätet merke, dass Pflanzen, die Halbschatten brauchen, in der sengenden Sonne stehen, brin­ ge ich sie an einen geeigneteren Platz. Auf diesem rund 160m2 gro­ ßen Raum sehe ich Tag für Tag dieselben Pflanzen, aber jeden Tag erfreue ich mich aufs Neue daran.

Mein Garten bis zum Berg Bukhan-san Während die traditionellen koreanischen Gärten, wie sie vor den Ferienhäusern der Oberschicht zu finden waren, Nachbildungen natürlicher Berglandschaften mit Tälern waren, wurde in den Pri­ vathäusern der Bürger der Vorderhof täglich sauber gefegt. Man pflanzte vielleicht noch entlang der Einfassungsmauern des Anwe­ sens ein paar Ume-, Bambus-, Granatapfel- oder Obstbäume und setzte einige Strauch-Pfingstrosen und Taglilien. Aber jede ein­ zelne dieser Pflanzen hatte eine eigene Bedeutung: Ume oder Bambus symbolisierten die Loyalität und Integrität eines Seonbi, eines koreanischen Gelehrten; Pfingstrosen standen für Reichtum, Granatapfelbäume für Fruchtbarkeit und Taglilien für männliche Nachkommen. Schnurbäume und Kreppmyrten, die jeweils den Wunsch nach einer erfolgreichen Hofbeamtenlaufbahn eines Seon­ bi bzw. Bruderliebe symbolisierten, wurden am Eingangstor oder vor der Einfassungsmauer angepflanzt. Auch hatten Privathäu­ ser immer einen Gemüsegarten. In der Gesellschaft der JoseonZeit, die konfuzianistischen Idealen huldigte, erwartete man von einem Seonbi nicht nur ein fleißiges Studium der Bücher, sondern auch körperliche Arbeit, die der täglichen Kultivierung des Ich dien­ te. Im Gegensatz zu den prächtigen Ferienhaus-Gärten der Ober­ schicht waren die Gärten der Bürgerhäuser nicht zum Bewundern gedacht, sondern stellten ganz gewöhnliche, praktisch genutzte Räume dar. Mein Hof bzw. Garten ist keinesfalls ein traditioneller koreanischer Garten. Der Garten, den ich mag und von dem ich bei meinem Einzug träumte, war auch kein vom Konfuzianismus geprägter, schlichter Garten. Es war vielmehr eine Mischung aus den einsa­ men Hügeln, die ich in meiner Kindheit gesehen hatte, und einem chinesischen Garten, der von bunten Blumen überquoll. Nach dem Einzug beschäftigte ich mich daher die nächsten sechs Jahre damit, meinen Hof langsam diesen Vorstellungen anzupassen. Ich 1, 2 Der Hof des Hauses von Hahn Moo-sook in Myeongnyun-dong, Seoul, wo die verstor­ bene Schriftstellerin Hahn Moo-sook ihre Romane schrieb. Das Haus mit dem zentralen Innenhof hat die typische ㅁ-Form eines modernen Hauses im koreanischen Stil. Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


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Ich lade oft Leute in unseren Hof ein. Als Anlass nenne ich „Blumen verschenken“, „ein Blumenfest veranstalten“ oder „einfach so“. Lebt man in einer Hochhauswohnung, ist es nicht einfach, Gäste zu sich einzuladen, wenn man nicht bereit ist, ihnen auch seinen intimsten Privatbereich zugänglich zu machen. Im Gegensatz dazu ist ein Hof zwar ein privater, aber kein so persönlicher Bereich wie die Innenräume des Hauses, was es bequemer und leichter macht, Nachbarn zu sich zu bitten. 2

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brachte zwar bunte Blumen hinein, vermied aber seltsam auffal­ lende „Deko-Steinbrocken“. Um die einsamen Hügel nachzubilden, pflanzte ich – d.h. eher gesagt, erweckte ich zu neuem Leben – das Zoysia-Gras auf dem Hügelchen oberhalb der Garage. Der erste Eigentümer, der dieses Haus 1977 bauen ließ, schien, was Gärten anbelangt, einen ähnlichen Geschmack wie ich gehabt zu haben. Um das in der Mitte stehende Haus hatte er im östlichen Teil des Hofes Japanische Blütenkirschen gepflanzt, im westlichen Aprikosen. Beide Bäume bringen im Frühling rosarote Blüten her­ vor, die an Wolken oder glühende Sonnenuntergänge erinnern. Er soll auch den Rasen im Hof angelegt und hier und da verstreut Strauch-Pfingstrosen und Milchweiße Pfingstrosen angepflanzt haben. Jedenfalls erzählte mir das ein Nachbar, der sich noch an diese Zeit erinnert. Dazwischen setzte der Besitzer weiße YulanMagnolien, dunkelrot blühende Chinesische Zierquitten und laven­ derfarbene Koreanische Azaleen. Aber als der erste Besitzer das Haus nach einer Geschäftspleite aufgeben musste, ließ der 1996 eingezogene zweite Besitzer die Rasenfläche im hinteren Hof zubetonieren und stellte ein Plas­ tikzelt auf, wo er Golf übte. Als ich das Haus übernahm, war der Rasen vor dem Haus, der völlig vernachlässigt worden war, bis auf ein Stückchen vor dem Eingangstor gänzlich abgestorben. Die Bäume waren noch am Leben, aber der Hof bestand nur noch aus Erde, aus der hier und da Unkräuter wie Wegerich sprossen. Von den Pfingstrosen fehlte jede Spur. Auch von den Korea-kirschbäu­ men waren nur dürre Äste ohne Knospen geblieben. Trotzdem freute ich mich, dass ich nun einen großen Hof mit alten Bäumen besaß. Vom hinteren Hof aus konnte ich auf einen Blick den ganzen Berg Bukhan-san sehen. Der kleine, noch nähere Hügel davor war jeden Frühling von den hellrosafarbenen Blüten

wilder Kirschbäume übersät. Die traditionellen koreanischen Gär­ ten wurden nach dem wichtigen Konzept der „geborgten Land­ schaft" nur spärlich geschmückt, um die in der Ferne zu sehende, umgebende Landschaft „borgen" und in den eigenen Garten mit­ einbeziehen zu können. Aus dieser Sicht reicht mein Garten bis zum in der Ferne zu sehenden Bukhan-san.

Den Garten pflegen Von dem Sommer, als ich das Haus kaufte, bis zum darauf folgen­ den Winter, als wir schließlich einzogen, schaute ich häufig dort vorbei und kümmerte mich um den vorderen Hof. Ich jätete das Unkraut und zupfte das Gras in dem noch lebenden Rasenstück aus, um das leere Erdreich im Hof quasi Halm für Halm damit zu besticken. Ich goss die Hälmchen häufig und nach einigen Monaten begannen die Gräser in alle Richtungen zu wachsen, als würde der Hof geflickt. Als ich eines Tages im bermenförmigen Vorhof saß, entdeckte ich das Ende eines dicken Astes, der aus dem Geflecht von Rasen und Unkraut hervorragte. Ich zog daran, um zu sehen, ob es nicht viel­ leicht eine verrottete Wurzel war, aber es bewegte sich nichts. Im nächsten Frühling blühten daran Strauch-Pfingstrosen. Der Baum an der Westseite, der im Sommer nur aus trockenen Ästen bestan­ den hatte, schien wieder Wasser durch die Wurzeln gezogen zu haben und trieb weiße Blüten. Er war ein Kirschbaum. Entlang des Wegs zum Eingang waren auch wieder die Knospen von Milchwei­ ßen Pfingstrosen zu sehen. Es schien, als ob die Pflanzen mysteriö­ 1 Der Hof eines Hauses in Pyeongchang-dong, Seoul, der den Fuß des Berges Bukhan-san als natürliche Einfriedungsmauer nutzt. 2 Ein älteres Paar bei der Arbeit in einem Gemüsebeet in einer Ecke ihres Hofes in Yeoju, Provinz Gyeonggi-do. 3 Der Hof eines Hauses in Gunsan, Provinz Jeollabuk-do.

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serweise auf den Ruf dessen, der sie zu schätzen weiß, antworteten. Sobald ich einen Hof hatte, kamen auch viele Leute, die mir Blu­ men schenken wollten. Einer rief mich zu sich nach Hause und belud meinen ganzen Kofferraum mit Blumen. Ein anderer brachte eine Kofferraumladung zu mir und pflanzte sie eigenhändig im Hof. Der Besitzer eines Mini-Ladens um die Ecke, der das freie Grund­ stück am Ende der Gasse wie einen Garten genutzt hatte, pflanzte seine Strauch-Pfingstrosen, Milchweißen Pfingstrosen und gelben Deutschen Schwertlilien in unseren Hof um, als das Grundstück im Rahmen der Stadtplanung in einen Parkplatz verwandelt wurde. Auch vom Verein der Pflanzenfreunde erhielt ich viele Blumensa­ men geschenkt, die ich aussäte. Mein Vater brachte mir Narzissen, wie es sie im Hof meines Heimatortes gegeben hatte. Ich kaufte auch auf den Blumenmärkten Bäume ein.

Meditation beim Jäten Manche Blumen waren traumhaft schön, nur um dann nach zwei Jahren zu verschwinden. Andere wucherten von Jahr zu Jahr stär­ ker, so dass sie fast nicht mehr zu zähmen waren. Einige Blu­ men starben mir im Schatten fast ab, erholten sich aber wieder, wenn ich sie in die Sonne brachte. Es gab auch Blumen, die die pralle Sonne oder den harten Winter nicht überlebten. Vielblütige Rosen und Asiatische Kornelkirschen blühten dank der Vögel, die die Samen brachten, überall im Hof prächtig auf. Blumen, die im Überfluss wachsen, verschenke ich gern an meine Nachbarn. Wir erzählen dann einander, wenn sie den Winter überlebt haben und im Frühling zu blühen beginnen. Wenn seltene Blumen in Blüte stehen, lade ich die Nachbarn zu mir ein, um sie ihnen zu zeigen. Das geschieht natürlich bei Essen und Trinken. Das Gute an einem Hof ist, dass jeder jedem etwas geben und

jeder von jedem etwas bekommen kann. Für mich bedeutet es, den Reichtum des Lebens zu teilen, wobei ich mit gleichermaßen leich­ tem und frohem Herzen gebe und nehme. Ich lade oft Leute in unseren Hof ein. Als Anlass nenne ich „Blumen verschenken“, „ein Blumenfest veranstalten“ oder „einfach so“. Lebt man in einer Hochhauswohnung, ist es nicht einfach, Gäste zu sich einzuladen, wenn man nicht bereit ist, ihnen auch seinen intimsten Privatbereich zugänglich zu machen. Im Gegensatz dazu ist ein Hof zwar ein privater, aber kein so persönlicher Bereich wie die Innenräume des Hauses, was es bequemer und leichter macht, Nachbarn zu sich zu bitten. Außerdem ist ein Hof bzw. Garten für ein Individuum auch ein Raum zur Meditation. Unkrautjäten kann tatsächlich süchtig machen, wie Schriftsteller aus verschiedenen Jahrhunderten, verschiede­ nen Ländern und unterschiedlichen Geschlechts zugeben: Zu nen­ nen seien etwa Robert Louis Stevenson, Herman Hesse und Diane Ackerman. Jeder, der sich schon einmal um einen Garten geküm­ mert hat, kennt das Vergnügen, das die einfache Gartenarbeit mit sich bringt, bei der man stundenlang im Hocken hart arbeiten muss und doch nicht merkt, wie schnell die Zeit vergeht. Und jeder wird dabei auch die mysteriöse Erfahrung gemacht haben, dass sich nach stundenlangem Sinnieren über eine Frage der Knoten plötzlich löst und alle Sorgen verfliegen. Für jemanden, der einen Garten pflegt, ist es zudem normal, dass ein einfacher Spaziergang durch den Gar­ ten, eine ähnliche reinigende Wirkung wie eine Pilgerfahrt hat. Im koreanischen Schamanismus heißt es, dass die Seele nach dem Tod auf Blumen in eine Welt voller Blumen fliegt. Was unsere Seele begehrt, ist wohl solch eine schöne Welt. Warum also, nicht schon im diesseitigen Leben einen Garten pflegen?

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[ Spezial 3 Höfe und Gärten ]

Die Höfe alter Häuser Ich bin ein auf traditionelle Hanok-Häuser spezialisierter Tischler und führe den Familienbetrieb in fünfter Generation weiter. Die letzten 20 Jahre über habe ich mir auf der Suche nach den noch im Land verstreuten Hanok die Hacken abgelaufen. Es war natürlich nicht so, dass sich bei diesen alten Häusern meine Augen und mein Herz nur zu den Holzarbeiten hingezogen gefühlt hätten. Meine unendliche Pilgerreise in Sachen Hanok begann eines Tages im Hof eines Bergtempels mit einer erstaunlichen Erkenntnis.

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Cho Jeon-hwan Tischler, CEO von Eyoun Hanok | Fotos: Ahn Hong-beom, Suh Heun-gang, Ha Ji-kwon

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Der Tempel Buseok-sa liegt auf neun Terrassen an einem Berghang. Anyang-ru, der Pavillon des Friedens und der Ruhe, und der dazugehörige Hof (auf der rechten Seite) wurden auf der siebten Terrassenstufe gebaut.

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ines Tages im Jahr 1995 fuhr ich zum ersten Mal zum Tempel Buseok-sa in Yeongju, Provinz Gyeongsangbuk-do. Da gerade ein Taifun vorbeigezogen und der direkte Weg zum Tempel wegen des starken Regens abgeschnitten war, machte ich einen Umweg über den Bergrücken, bis ich das Ilju-mun, das erste Tor am Ein­ gang des Tempels, erreichte. Als ich mich nach dem Passieren des Tores umdrehte, war mein Blick in die Ferne durch die Wand der dunklen, bewaldeten Berge blockiert, was mich beengt fühlen ließ. Die neun Höfe des Tempels Buseok-sa Nachdem ich eine Weile den steilen Bergpfad hochgestiegen war und mir langsam der Atem ausging, erschien vor mir das zwei­ K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 13

te Tor Cheonwang-mun, das Tor der Vier Himmlischen Wäch­ ter. Während ich die Treppen hochstieg, konnte ich jenseits des Tors vor mir nur eine Reihe von mit Steinen eingefassten Terras­ sen sehen. Aber als ich mich umdrehte und zurückblickte, war der bedrückende Anblick der dunklen Bergwälder, die ich durchs Ilju-mun gesehen hatte, verschwunden. In einigem Abstand von den Bergen war es mir jetzt möglich, ihr Ausmaß einigermaßen einzuschätzen. Als ich nach einer kurzen Verschnaufpause wei­ ter hochstieg, gelangte ich zu einer Steintreppe, über die ich auf die erste der prächtigen Terrassen hochstieg. Am Ende der Stu­ fen blickte ich mich erneut um und da war das grüne Dunkel der Berge verschwunden. Stattdessen blickte ich auf den Himmel, der

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1 Ein Pfad verbindet das Haupttor mit den Gemächern des Hausherren beim Haus Songhwa in Asan, Provinz Chungcheongnamdo. Der Hof ist von einer natürlichen Schönheit, wie sie selten in den standardisierten Höfen anderer Oberschichthäuser der Joseon-Zeit zu finden ist. 2 Der Hof der Frauengemächer im alten Haus von Chusa in Yesan, Provinz Chungcheongnam-do. Der quadratische Hof ist von Gebäuden eingeschlossen, was die schädlichen Einflüsse von Sonnenhitze und schwerem Regen mildern hilft. 1

sich zu öffnen schien. Vor mir war hinter dem Glockenpavillon, in dem neben der Tempelglocke andere rituelle Samul-Schlagins­ trumente hingen, schon das Dach der Muryangsujeon zu sehen, der Halle des Ewigen Lebens, wo die Buddhastatue eingeschreint ist. Ich passierte den Glockenpavillon, stieg erneut Treppen hoch, ging durch den Pavillon Anyang-ru, den Pavillon des Friedens und der Ruhe, und stieg nochmals Treppen hoch. Da lag dann plötz­ lich die prächtige Halle des Ewigen Lebens, das Hauptgebäude des Tempels, vor mir. Als ich mich wieder umdrehte, tat sich vor mir ein weiter Blick über die Sobaek-Berge auf, die – vom Regen von Dunst und Staub befreit – in den blauen Himmel ragten. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich mit einem Riesenhammer einen

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Schlag auf den Kopf bekommen: Ich sah mich lebendiger Archi­ tektur gegenüber, die mit den Bauwerken, die ich bisher gesehen hatte, nicht zu vergleichen war. Der Schock, den mir dieses Erleb­ nis versetzte, brachte mich zu dem Entschluss, mich ernsthaft mit dem Studium der traditionellen Hanok-Architektur zu befassen. Ich gab meine Arbeit, bei der ich mit modernen Tischlerarbeiten beschäftigte und 150.000 Won (etwa 100 Euro) pro Tag bekam, auf. Stattdessen suchte ich mir eine Stelle im Rahmen des Pro­ jektes zur Restaurierung des Königspalastes Gyeongbok-gung, wodurch sich mein Lohn auf 38.000 Won (etwa 26 Euro) pro Tag reduzierte. Erst nach ein paar Jahren wurde mir klar, dass der Schock, der Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


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mich an jenem Tag aufgerüttelt hatte, kein Zufall, sondern das Ergebnis eines rationalen Entwurfs gewesen war, konzipiert vor über 1000 Jahren. Der auf abfallendem Gelände errichtete Tempel Buseok-sa verfügt über eine originäre Struktur mit neun Terras­ senhöfen. Auf dem Weg vom Tor der Vier Himmlischen Wächter bis zur Haupthalle Muryangsujeon befinden sich drei Höfe, die wie­ derum jeweils in drei kleinere Höfe unterteilt sind. So entstehen insgesamt neun Höfe mit jeweils unterschiedlicher Bedeutung. Ein Pilger leert seinen Geist von allen quälenden Gedanken, indem er die 108 Stufen durch die Höfe hinaufsteigt. Dabei ist ein komplexes Zusammenspiel von drei Faktoren wirksam: der logische Prozess, den der Geist der mit Leid beladenen Kreatur bei der Annäherung K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 13

an das Utopia, wo Buddha sich befindet, durchläuft; der physische Prozess, den der den steilen Berg hochsteigende Körper erfährt; und der ästhetische Prozess des Auges, dem sich bei jedem Schritt ein neues landschaftliches Panorma bietet. Auch heute noch besuche ich den Buseok-sa ein, zwei Mal pro Jahr. Und jedes Mal erkenne ich aufs Neue den perfekten Grund­ riss des Tempels mit seinen auf mehreren Ebenen angelegten terrassenartigen Höfen, von denen sich jeweils ein unterschied­ licher Blick auf die vielen, sich weit und fern erstreckenden Gip­ fel der Sobaek-Berge ergibt. Dabei spüre ich genau, dass auf dem Weg vom Tempeleingang bis zur Haupthalle Murayangsujeon der Zustand meines Körpers und meines Geistes und der Wandel der

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natürlichen Umgebung immer wieder aufs Neue interagieren und neue Eindrücke schaffen.

Pavillon und Numaru-Holzveranda Im Joseon-Reich war es nichts Ungewöhnliches für einen konfuzi­ anischen Gelehrten, ein abgeschiedenes Leben in einem entlege­ nen Winkel des Landes zu führen, wo er sich in einer waldreichen Berggegend ein Haus mit Garten baute. Diese Häuser und Gär­ ten wurden ebenfalls so angelegt, dass Gedanken, Emotionen und Funktionen in einem komplexen Wechselspiel standen. Beson­ ders erwähnenswert sind hier Gyosu-jeong (Pavillon des Lehrens) in Hamyang und Doksu-jeong (Pavillon der einsamen Treue) in Damyang, die in den Gärten von Jo Seung-suk bzw. Jeon Sin-min stehen. Diese beiden Gelehrten, die am Königshof des GoryeoReiches (918-1392) treu gedient hatten, verweigerten nach dessen Zusammenbruch dem 1392 neu gegründeten Joseon-Reich ihre Dienste und kehrten in ihre Heimatorte zurück. Die beiden Pavil­ lons dienten als Modelle für die vielfältige Pavillon-Kultur, die sich in der Folgezeit am Fuße der Berge Deogyu-san und Mudeung-san entwickelte und schließlich zur Schaffung des heute noch erhalte­ nen Soswae-won (Garten von Soswae; „Soswae“ ist der Künstler­ name des Bauherrn Yang San-bo und bedeutet „Klarheit und Rein­ heit“) führte, der besonders repräsentativ für die Gärten der adli­ gen Joseon-Literati ist. Diese Pavillon-Kultur beeinflusste wieder­ um deutlich die Wohnhausarchitektur, wo sie ihren Niederschlag in den erhöhten Holzveranden Numaru fand, die normalerweise auf einer Seite der Herrengemächer eines traditionellen Hanok-Anwe­ sens der Oberschicht angebracht sind. Als Beispiel sei die Numaru des alten Hauses von Jeong Yeo-chang im Dorf Gaepyeong, Hamyang, genannt: Während auf dieser an der Ostseite der Herrengemächer angebrachten Veranda Vorträge über den Neo-Konfuzianismus gehalten oder die kleinen und gro­ ßen Angelegenheiten des Staates diskutiert wurden, bot sich den Gelehrten gleichzeitig ein hervorragender Blick auf den MiniaturSteinberg Seokga-san in der Ecke des Hofes. Dieses traditionelle landschaftsarchitektonische Element gilt als dermaßen archety­

pisch, dass es von modernen Hanok-Architekten häufig als Modell genommen wird. Die beiden alten Kiefern an der Einfriedungsmauer werfen mit ihren gewundenen Ästen kühle Schatten auf die Numa­ ru. Die Numaru fungierte also als eine Art „Innen-Pavillon“, wo man Gäste empfing und unterhielt sowie Poesie und Gesang über die Schönheit der umgebenden Landschaft genoss. Der Hof der Her­ rengemächer war hingegen größtenteils völlig leer gehalten.

Gezügelte Kommunikation mit der Natur Früher achtete man beim Bau eines Hauses zunächst auf die geo­ graphischen Merkmale des Baugrundstückes wie Ausrichtung und Form der umgebenden Berge und Fließrichtung des Gewäs­ sers in der Nähe. Dies basiert auf dem Gedanken, dass Mensch und Natur nicht in einer Subjekt-Objekt-Besitzbeziehung stehen, sondern in einer Beziehung der Koexistenz. Ein besonders wichti­ ger Faktor war dabei das mentale Bild, das sich durch das Blicken durchs Fenster auf die Berge im Geist formte. Es war Kriterium für die Ausrichtung des Hauses und der Fenster. Wenn man auf dem wichtigen Platz des Hauses saß, hatte man durch die offenen Fens­ ter, die in verschiedene Richtungen gingen, einen Blick auf unter­ schiedliche Landschaften: einen Fernblick auf die Landschaft, die sich jenseits der Einfriedungsmauer auftat; einen Nahblick auf die Szenen, die sich in der Nähe innerhalb des Hofes abspielten, und einen direkten Blick auf das Innere des Zimmers. Diese Perspekti­ ven mit ihren jeweils unterschiedlichen Bedeutungen wurden kom­ biniert und erweckten im Geiste des Betrachters eine bestimmte Repräsentation. Der Blick in die Ferne gehörte der Natur, weshalb man daran nichts zu ändern versuchte. Durch Ausrichtung und Größe der Fenster regulierte man den Blick in die Ferne. Der Blick auf die nahe Szenerie wurde durch moderate Verzierung der funk­ tionalen Elemente des Wohnbereichs wie Einfriedungsmauer oder Kamine optisch verschönert und durch gartenarchitektonische Komponenten wie Bäume, seltsam geformte Felsen und Blumen ergänzt. Diese dienten nicht nur als Augenweide, sondern trugen auch jeweils symbolischen Gehalt. Lag das Haus in der Stadt oder waren die landschaftsgestalterischen Möglichkeiten begrenzt, hing

Wenn man auf dem wichtigen Platz des Hauses sitzt, hat man durch die offenen Fenster, die in verschiedene Richtungen gehen, einen Blick auf unterschiedliche Landschaften: einen Fernblick auf die Landschaft, die sich jenseits der Einfriedungsmauer auftut, einen Nahblick auf die Szenen, die sich in der Nähe innerhalb des Hofes abspielen, und einen direkten Blick auf das Innere des Zimmers. Diese Perspektiven mit ihren jeweils unterschiedlichen Bedeutungen werden kombiniert und erwecken im Geiste des Betrachters eine bestimmte Repräsentation. 18

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Die erhöhte Veranda der Herrengemächer des alten Hauses von Myeongjae in Nonsan, Provinz Chungcheongnam-do, bietet nicht nur einen Blick über den Hof, sondern über das ganze Dorf.

man Landschaftsbilder an die Wand oder schmückte den Hof mit Miniaturbergen oder Lotosteichen. Als bestes Beispiel für ein Haus, das die Natur geballt ins Haus holte, könnte das Dongnakdang in Gyeongju genannt werden. Yi Eon-jeok (1491-1553), ein eminenter Neo-Konfuzianist aus dem Joseon-Reich des 16. Jahrhunderts, trat aus politischen Grün­ den von seinem Hofamt zurück und ließ ein Haus bauen, das er Doknakdang nannte: Haus des einsamen Genusses. Er errichtete das Haus an einem Bach, der aus den Jaoksan-Bergen hinunter­ floss, und sicherte das Anwesen durch doppelte Einfriedungsmau­ ern vor dem Zutritt von Fremden. Gleichzeitig ließ der Gelehrte im hintersten Innenbereich des Anwesens einen Pavillon bauen K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 13

und holte so das fließende Wasser aus der Bergschlucht und den üppigen Wald ins Haus. Gerade an diesem Ort gelang es ihm, das Fundament für den koreanischen Neo-Konfuzianismus, der sich eindeutig von seinem chinesischen Gegenstück unterschied, zu legen. Diese Lehre wurde an den berühmten Neo-Konfuzianisten Yi Hwang (1501-1570) weitergegeben und zu einer der Hauptsäu­ len des koreanischen Neo-Konfuzianismus entwickelt. Das Anwe­ sen ist so strukturiert, dass man vom präzise konzipierten Vorder­ hof aus beständig auf wilde Natur blicken kann, ein Konzept, das in Einklang steht mit den philosophischen Ideen des Hausbesitzers, der dem metaphysischen Li (Ordnungsprinzip, Rationalität), gegen­ über dem materalistisch-realistischen Qi (Ätherstoff, materieller

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Aspekt der Wirklichkeit) den Vorrang gab. Heute, 500 Jahre spä­ ter, sind an diesem Haus noch immer sehr gut die Gedanken sei­ nes Bauherren Yi abzulesen, was vielleicht daran liegt, dass dieses Haus mit seiner Struktur die Weichen für die Kommunikation zwi­ schen der sich verändernden Natur und dem Menschen gestellt hat. Interessant sind auch die Gitterfenster, die der starken, hohen Ein­ friedungsmauer mit ihren vielen Schichten aufeinander gelegter Dachziegel und Lehm ein wenig von ihrer angespannten Trutzwir­ kung nehmen. Dank dieser Gitterfenster an der Einfriedungsmauer in Richtung Bergschlucht blickte man, wenn man die Tür zur Holz­ diele Maru aufschob, direkt auf die Schlucht. So wurde die Form

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der Einfriedungsmauer beibehalten und trotzdem eine zurück­ haltende Kommunikation mit der Natur ermöglicht. (Eigentlich ist schon die Tatsache, dass die Bergschlucht gleich seitlich der Holz­ diele liegt, sensationell. In typischen Häusern der Zeit schloss sich zu beiden Seiten der Holzdiele ein Raum an, was bei diesem Haus nicht der Fall ist, da man den Blick auf die Schlucht nicht blockie­ ren wollte.) Richten wir an dieser Stelle unser Augenmerk kurz auf das Stadt­ viertel Bukchon (Nördliches Dorf) in Seoul. Während sich im angrenzenden Viertel die Hochhäuser dicht an dicht drängen, sind in Bukchon noch überall niedrige Hanok-Wohnhäuser, deren vier­ eckige Höfe den Himmel umarmen, zu finden. Aber worauf hier Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


verwiesen sei, ist ein kleines Hanok-Haus namens Mumuheon (Haus der Leere), das an einer Ecke in Gahoe-dong die Blicke der Passanten auf sich zieht: Die anderen Hanok-Häuser in dieser Gegend sind meistens so strukturiert, dass das Gebäude mit sei­ ner Längsseite an die Gasse grenzt und so eine Feuermauer bildet. Bei diesem Eckhaus bildet jedoch das Hauptgebäude an der vor­ deren Gassenseite den Eingang, während die Einfriedungsmauer mit dem Gitterfenster zur seitlichen Gasse hinausgeht. Durch das Gitterfenster ist oft der Hausherr zu sehen, der die Pflanzen im Hof gießt. Auch wenn ein Passant durch das Fenster schaut und es dabei zu einem Blickwechsel mit dem Hausherrn kommt, kommt keine Verlegenheit auf. Dieses Fenster erfrischt die Atmosphäre dieser einsamen kleinen Gasse. Es ist die moderne Version des Git­ terfensters von Dongnakdang.

Höfe eines Privathaushaltes In der Vergangenheit hatte ein typisches Hanok-Anwesen der Oberschicht vier Höfe, die sich je nach Funktion unterschieden: Haengnang-madang war ein Hof im Gesindebereich, wo landwirt­ schaftliche Arbeiten und Wartungsarbeiten ausgeführt wurden; Sarang-madang war der Hof in den Herrengemächern, wo Gäste empfangen oder besondere Familienzeremonien abgehalten wur­ den; An-madang war der innere Hof der Frauengemächer, der für Hausfrauenarbeiten genutzt wurde; Dwit-madang war der hinte­ re Hof, wo sich die Kamine, die Plattform für die Vorratskrüge mit Würzpasten und –soßen befanden und ein Garten angelegt war. Dabei wurden die topographischen Gegebenheiten, die sich nach dem Prinzip bei der Bestimmung des Baugrundstücks „Berge auf der Hinterseite, Wasser auf der Vorderseite“ ergaben, zur Geltung gebracht, indem man den Blumenbeeten terassenförmig aufstei­ gende Form verlieh. Daher bot sich ein schöner Ausblick, wenn man die hinteren Zimmertüren der Frauengemächer öffnete. Das alte Hanok-Haus Myeongjae in Nonsan ist ein typisches Haus einer Adelfamilie der Joseon-Zeit. „Myeongjae“ ist der Beiname von Yun Jeung, einem großen Wissenschaftler des 17. Jahrhun­ derts, für den dieses Haus von seinen Schülern gebaut wurde. Das

Haus bringt Yuns philosophische Weltsicht sehr gut zum Ausdruck: Er lehnte die neo-konfuzianistische Richtung, die den absoluten Wert aller Wesen im Himmel und auf der Erde postulierte, ab und behauptete stattdessen, dass das Herz (Xin) und das Ordnungs­ prinzip (Li) identisch seien und daher im Herzen (Xin) des Men­ schen das Ordnungsprizip (Li) zu finden sei. Das kann man sehr gut an der Struktur des Hofes ablesen. So ist zwar z.B. der Hof in den Frauengemächern rundum von Mauern umgeben, ermöglich­ te es aber trotzdem, alle Veränderungen im gesamten Haushalt oder in der Umgebung zu verfolgen. Aufgrund der Tradition der Joseon-Zeit, streng zwischen den Rollen von Mann und Frau zu unterscheiden, spielte sich das Leben der Hausherrin von einigen Ausnahmefällen abgesehen in den Inneren Gemächern, den Frau­ engemächern, ab. Aber im Myeongjae-Haus waren Gebäude und Strukturen so angeordnet, dass es den Frauen möglich war, von den Frauengemächern aus mitzuverfolgen, wer in den Gemächern des Hausherren kam und ging. Der Hof der Frauengemächer ver­ band die Räume der Frauen auch mit dem den Lager- und Vorrats­ räumen, kürzte also die Wege bei der Arbeit ab. Außerdem wurden Luftzirkulation und Regenwasser-Drainage nach wissenschaftli­ chen Prinzipien gewährleistet, was den Alltag erleichterte. An den erforderlichen Stellen wurden Mauern angebracht und der Chine­ sische Wacholder am Brunnen bot einen natürlichen Sichtschutz, der die Frauen vor den Blicken männlicher Besucher verbarg – Ergebnisse einer rücksichtsvollen und intelligenten Raumplanung. Öffnete man das Fenster in der großen Holzdiele der Frauengemä­ cher, hatte man einen weiten Blick auf den hinteren Hof. Die Numaru-Veranda westlich der Herrengemächer ähnelte einem Wachturm, da man von hier aus einen Blick auf das ganze Dorf hatte. Im großen Hof davor gab es einen Lotosteich, einen MiniaturBerg und eine Quelle.

Wissenschaft des Inneren Hofes der Frauengemächer Im alten Haus von Chusa (Chusa: Künstlername von Kim Jeonghui) , das von den Hofzimmerleuten gebaut wurde, wohnten im 18. Jhdt. Prinzessin Hwasun, der Augapfel ihres Vaters König Yeongjo

1 Die Plattform für Vorratskrüge und die Scheune im hinteren Hof des Seobaekdang im Dorf Yangdong, Gyeongju, Provinz Gyeongsangbukdo. Das historische Dorf ist als Welterbestätte der UNESCO gelistet. 2 Dongnakdang, neben der konfuzianischen Akademie Oksan in Gyeongju, ist an einem Fluss vor einem üppigen Wald gelegen. In der Haupthalle sitzen Han Kyung-koo (rechts), Professor für Anthropolo­ gie, der die Einleitung für diese Spezial-Serie über koreanische Höfe und Gärten verfasste, und Cho Jeon-hwan, Tischler und Autor dieses Artikels.

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(reg. 1724-1776), und ihr Gatte Kim Han-sin. Kim Han-sin war der Urgroßvater von Kim Jeong-hui, Kalligraph und Gelehrter der Sil­ hak-Schule des Praktischen Wissens. Da nur noch etwa die Hälfte der ursprünglichen Gebäude erhal­ ten ist, lässt sich zwar schwer genau erfassen, wie das Gesamt­ anwesen einmal ausgesehen hat, aber die Herren- und Frauen­ gemächer reichen aus, um sagen zu können, dass es sich um eins der repräsentativsten Häuser der Oberschicht des 18. Jhdts. han­ deln dürfte. Besonders die Frauengemächer, in denen Prinzes­ sin Hwasun wohnte, weisen die typische Rechteckform auf. Wenn die pralle Sommersonne auf das mit Ziegeln gedeckte Dach der Gebäude brannte, stieg die Bodentemperatur aufgrund der Strah­

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lungswärme, was dann einen Luftstrom nach oben erzeugte. Öff­ nete man dann das Fenster zum hinteren Hof, strömte die kühle Luft aus dem Wald hinter dem Haus durchs Fenster hinein und brachte eine angenehme Abkühlung der Innentemperatur. Das kann mit dem Einreiten eines Wildpferdes verglichen werden. Der Innere Hof ist in diesem Sinne das Kerninstrument zur Regulie­ rung der manchmal gewaltigen Kraft der Natur. Einen starken Wind verwandelt er zum Zwecke der kühlenden Durchlüftung in eine sanfte Brise, so dass die sengende Hitze des Tages zu einer sanften Wärme für die Nacht wird; gießt es wie aus Kübeln, leitet der Hof die überflüssigen Wassermassen in den Lotosteich ab. (Ein leer belassener, mit grobkörnigem Sand ausgestreuter Innerer Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


1 Der Hof des alten Hauses von Jeong Yeochang in Hamyang, Provinz Gyeongsang­ nam-do. Das Fenster rahmt eine alte Kiefer und einen Miniaturfelsen auf schöne Weise ein. 2 Der am Fluss gelegene Pavillon des Dongnakdang, in Gyeongju. Der Pavillon bietet einen weiten Blick über das fließende Wasser und den dichten Wald. 2

Hof maximiert diesen Effekt. Der restaurierte Innere Hof des alten Chusa-Hauses ist jedoch mit Kies belegt.)

Epilog Als ich 15 war, trat ich in die Fußstapfen meines Vaters und wurde Tischler für traditionelle Hanok-Häuser. Während ich von einer Baustelle zur nächsten wanderte, um Kulturgüter zu restaurie­ ren, bekam ich auf einmal Lust, mich lieber dem Bau von Häusern für Menschen von heute zu widmen, statt Paläste zu restaurieren. Daher konzentrierte ich mich auf den Bau von Hanok-Häusern für moderne Menschen. Die Hanok der alten Koreaner waren dabei immer Quelle der Inspiration für mich. K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 13

Zurzeit erforsche ich die traditionellen Häuser auf einer Insel im Westmeer. Es sind baufällige, verlassene Häuser, die aufgegeben wurden, als die Insel vor 15 Jahren durch eine Brücke mit dem Festland verbunden wurde und es zu einem Immobilien-Boom kam. Aufgrund der topographischen Eigenschaften einer Insel sind diese Häuser zwar nicht besonders imposant. Da sie jedoch gute Studienobjekte für traditionelle Bautechniken und Gartenarchitek­ tur sind, kann ich durch Erforschen, Ausmessen und Dokumentie­ ren viel dazulernen. Jedoch sind diese Häuser vom Abriss bedroht, was mich weiter antreibt. Denn ich möchte, bevor es zu spät ist, einen kleinen Beitrag dazu leisten, unsere alte Lebensweise der Koexistenz von Mensch und Natur wiederzubeleben.

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[ Spezial 4 Höfe und Gärten ]

Gartendesignerin Hwang Jihae: Gärten voller ursprünglicher Essenz Suh Hwa-sook Journalistin der Tageszeitung The Hankook Ilbo | Fotos: Ahn Hong-beom

1 1 Gartendesignerin Hwang Ji-hae glaubt, dass bescheidene Materialien verwebt werden können, um reiche Geschichten zu schaffen. Für ihr jüngstes Werk Lugworm Path (Wattwürmer-Wege) benutzte sie recycelte Materialien und Abfälle von einer Baustelle in der Nähe. 2 Die wattwurmförmige Struktur, die Hwang als Konzept genommen hat, führt den Besucher zu einer Galerie und einer Bibliothek. 3 Die Skulptur Die säende Hand erinnert den Besucher daran, dass es sich bei dem Ausstellungsgelände ursprüng­ lich um Reisfelder handelt, die lange Zeit den Lebensunterhalt der Bauern vor Ort sichergestellt haben.

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n der in der Provinz Jeollanam-do im Westosten Koreas gele­ genen Stadt Suncheon und der angrenzenden Suncheon-Bucht, einem der fünf Naturfeuchtgebiete der Welt, findet vom 20. April bis zum 20. Oktober sechs Monate lang die International Garden Expo­ sition Suncheon Bay Korea 2013 statt. Diese international aner­ kannte Gartenschau, deren Gastgeber zum ersten Mal Korea ist, bietet den Besuchern die Gelegenheit, einen Blick auf Gartenbau­ konzepte zu werfen, mit denen Gartendesigner aus verschiedenen Ländern der Welt Innen- und Außengartenanlagen gestaltet haben. Der Garten Lugworm Path (Wattwürmer-Wege), eine der Hauptat­ traktionen der Expo, wurde von der Designerin Hwang Jihae, Gold­ medaillenträgerin der von der britischen Royal Horticultural Soci­ ety veranstalteten Chelsea Flower Show 2011, entworfen. Hwang, die 2012 in Chelsea ebenfalls mit dem RHS President’s Award aus­ gezeichnet wurde, macht sich derzeit schnell international einen Namen. In ihrem Wattwürmer-Garten mit seinen sanften Hängen, Bächen, Mauselöchern, Ameisenhaufen, einem Biotop und einem Feld, wo Hunde frei herumlaufen, sind Erinnerungen an ihre Kindheit eingewoben. Hwang legte auch sich windende Pfade sowie eine Bib­ liothek und eine Galerie mit gewundenen, Wattwurm-ähnlichen Lini­ en an. Ihr Garten ist einer der bei den Besuchern beliebtesten Werke. Wenn man den Garten betritt, hat man sofort das Gefühl, sich in einem alten koreanischen Dorf zu befinden. Dafür sorgt der Anblick der leicht gebogenen Schnurbäume, die die Wege so natürlich säu­ men, als stünden sie schon seit Ewigkeiten dort. Allerdings gab es hier ursprünglich flache Reisfelder. Daher bringt es jeden zum Staunen, wenn erklärt wird, dass die Designerin für diesen schönen Anblick eine natürliche, leicht gewellte Landschaft schuf, bei der bis zum letzten Winkel alles genauestens berechnet und die Bäume entsprechend gepflanzt wurden. Geht man diesen Weg entlang, kommt man zur Galerie und Bibliothek, die in ihrer Form eben­ falls an Wattwürmer erinnern. In der Bibliothek hängt am Fens­ ter ein Schild mit dem Hinweis: „Bitte nicht klopfen! Hier wohnen Schwanzmeisen.“ Ich erfuhr, dass nur hundert Tage nach der Fer­ tigstellung des Gartens ein Schwanzmeisen-Pärchen in der Heilund Gewürzstaude Isodon vor dem Fenster sein Nest gebaut und vier Eier gelegt hatte. Während ich dort war, flog das Weibchen her­ bei und brachte den Jungen Futter.

Ein Garten, der etwas zu erzählen hat Seo Hwa-suk: Es ist erstaunlich, dass Vögel so schnell in einem neu angelegten Garten nisten Hwang Jihae: Ein Garten ist erst dann fertig, wenn nicht nur die Bienen und Schmetterlinge kommen, sondern auch die Vögel. S: Meinen Sie, dass Sie hier bewusst solche Pflanzen gesetzt haben, die sogar Brutvögel in den Garten locken? H: Ich habe mich bemüht, die Natur möglichst in einem unberühr­ ten Zustand zu belassen, um die charakteristische Stille eines tra­ ditionellen koreanischen Gartens zu bewahren. Vögel, Schmet­ terlinge und das unsichtbare Ökosystem erkennen diese Stille am K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 13

schnellsten. Um die Wattwurm-Galerie und die Wattwurm-Bib­ liothek herum habe ich beliebte Pflanzenarten gesetzt wie Isodon oder Asiatische Pestwurz, die die Koreaner oft in ihrem Küchengar­ ten anbauen und als Gemüsebeilage essen. S: Was dient bei Ihrer Arbeit als inspirierendes Kriterium? H: Ich suche zuerst nach der Geschichte, die der jeweilige Standort ursprünglich in sich birgt und webe darum herum meine Kern-De­ sign-Geschichten. S: Was ist denn die Geschichte dieses Standorts? H: In der Suncheon-Bucht gibt es ein natürliches, mehrere hun­ derttausend Quadratmeter großes Watt. Und der Ausstellungs­ ort dieser Gartenschau, der sich hinter diesem Watt befindet, war eigentlich ein künstlich gewonnenes Wattgebiet, dessen Felder den Bauern als Existenzgrundlage dienten. Ich dachte, dass die Essenz von Suncheon in diesem Wattenmeer liegt. Durch die Wattwürmer, die hier leben, wollte ich von dem unsichtbaren Ökosystem erzäh­ len. Den Protagonisten der Natur Ehrfurcht bezeugen und sich im Einklang mit diesen mit dem menschlichen Leben auseinanderset­ zen – das ist die Geschichte, die ich durch diesen Garten erzählen wollte. In dem Bereich, der den Bauch des Wattwurms darstellt, habe ich die Galerie und die Bibliothek anlegen lassen, wobei ich die Höhe aller Türen auf 1,20m senkte. Die Idee dahinter ist, dass wir jedes Mal, wenn wir mit nolens volens gesenktem Kopf durch die niedrigen Türen gehen, gemeinsam über den Wert der kleins­ ten Kreaturen nachdenken sollen. Die Besucher müssen auch leise sein, wenn sie durch das Dickicht der Sauergrasgewächse spazie­ ren, da gerade Fortpflanzungszeit ist. S: Auch die Wasserkaskade, die sich aus der Skulptur eines Frauenkopfes ergießt, der wie beim Haarewaschen nach hinten gestreckt ist, ist äußerst eindrucksvoll. H: Im Zentrum der Suncheon Gartenschau liegt der Seegarten von Charles Jencks, einem renommierten Architekturtheoretiker und Landschaftsdesigner. Um diesen Garten herum wurden einige Anhöhen mit Graslanderde angelegt. Formen wie diese finden sich jedoch normalerweise nicht in der natürlichen koreanischen Land­ schaft, weshalb ich vom Expo-Organisationskomitee beauftragt wurde, einen Garten zu gestalten, der den Seegarten mit der natür­ lichen Umgebung in Einklang bringt. Daher kam ich auf die Idee mit der Wasserkaskade, um den Ursprung des Wassers, das in Jencks Seegarten hineinfließt, darzustellen. Der Kopf symbolisiert dabei Mutter Erde.

Koreas acht Jahreszeiten S: Was fiel Ihnen am schwersten bei der Gestaltung des Wattwurm­ weg-Gartens? H: Da der Boden aus Wattenmeerschichten bestand, war es nicht möglich, große Bäume zu setzen, da selbst künstlich angeleg­ te Anhöhen dafür nicht ausgereicht hätten. Die Schnurbäume und die Steine am Dorfeingang wurden auf einer Baustelle hier in der Nähe weggeworfen. Auf einigen Zementböden habe ich interessan­

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„Ich dachte, dass die Essenz von Suncheon in diesem Wattenmeer liegt. Durch die Wattwürmer, die hier leben, wollte ich von dem unsichtbaren Ökosystem erzählen.“

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1 Der Wattwurmweg-Garten aus der Vogelperspektive; der frei entworfene Garten beinhaltet Spaß-Konzepte wie die Wattwurm-Galerie, die Wattwurm-Bibliothek, das Mauseloch-Café und eine Ameisentunnel-Lounge. 2 Die Skulptur eines nach hinten gelehnten Frauenkopfes steht für die Lebenskraft der Mutter Erde. Das Wasser fließt in den von Charles Jencks konzipierten Seegarten, der sich im Zentrum der Sunche­ on Garden Expo befindet. 3 Das Rast-Areal des Wattwurmweg-Gartens wurde mit lokalen Pflanzen Steinen gestaltet.

te Muster mit Metallstücken gestaltet, die ich bei örtlichen Alteisen­ händlern gefunden habe. So entsteht aus bescheidenen Materialien eine reiche Fülle an Geschichten. So kann ich zwar die Kosten sen­ ken, dafür muss ich aber mehr Zeit und Mühe investieren. S: Das Konzept hinter einem koreanischen Garten ist eigentlich, die Natur in ihrem natürlichen Zustand in den Garten zu holen, trotz­ dem versucht man oft ein idealisiertes, möglichst prächtiges Bild der Natur zu schaffen. Dieser Garten allerdings hat die natürliche Landschaft, die den Koreanern so vertraut ist, eingefangen, was wirklich herzerwärmend ist. H: Ich denke, dass es in Korea nicht vier, sondern acht Jahreszei­ ten gibt. Die natürliche Landschaft ist so facettenreich, dass sie fast jeden Monat ein anderes Bild zeigt. Deshalb verwendete ich das Konzept der „geborgten Landschaft“, um die natürliche Umgebung durch den Ausblick, den man vom Garten aus hat, in den Garten zu integrieren. So hat man z.B. auf einer kleinen Anhöhe, wo eine frische Brise weht, einen Pavillon eingerichtet, von wo aus man die Welle der Bäume und den Wald als Ganzes genießen kann. In meiner Kindheit ging der hintere Hof unseres Hauses in die Berge über. Ich spielte Tag für Tag in diesen Bergen. S: Es sollen sich auch Kindheitserinnerungen in Ihrem Garten und Designs widerspiegeln? H: Ich bin in einem Hanok-Haus im Dorf Gokseong in der Provinz Jeollanam-do aufgewachsen. Meine Mutter ließ sich scheiden, als ich sechs war, und zog uns drei Kinder alleine groß. In einer Ecke des Hofes legte sie ein Gemüsebeet an und zog auch Obstbäume. Wenn die Korea-Kirschen reif waren, sagte sie: „Jihae, pflück dir die Kirschen und iss sie, bevor die Vögel sie fressen.“ Als ich den Wattwurmweg-Garten gestaltete, spendete Mutter eine Sitzbank. Dahinter setzte ich einen Korea-Kirschbaum. Auf einer Plakette an der Bank kann man lesen, was meine Mutter immer zu sagen pflegte: „A flower or animal, all speak their mind.“

Traditionelle koreanische Toiletten und die DMZ S: Wie kam es, dass Sie Gartendesignerin geworden sind? H: Gartendesignerin? Umweltkünstlerin? Ich weiß nicht, welche Bezeichnung es besser trifft. Ich bin jemand, der für jeden Ort, den er sieht, ein Design macht. Eigentlich habe ich an der Universi­ tät Westliche Malerei studiert. Einmal malte ich im Rahmen eines Lehrpraktikums an einer Schule auf dem Land für die Kinder Bil­ der an die Wände. Als ich sah, wie sehr diese Landkinder, die kaum Zugang zu Kunst und Kultur hatten, diese Wandmalerein liebten, begann ich mit Umweltkunst. Ich beschäftigte mich dann gut zehn K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 13

Jahre lang damit, angefangen mit Wandmalereien in Gassen über Installationen und Straßendesigns bis hin zu kleinen Parkanla­ gen. Aber die Arbeit mit leblosen Dingen weckte in mir die Sehn­ sucht nach der Natur. Das führte dazu, dass ich 2009 einfach nach England ging. Nach einem Sprachkurs bewarb ich mich bei der Inchbald School of Design , die einen guten Ruf für Gartendesign genießt. Gleichzeitig bewarb ich mich auch für die Teilnahme an der 2011 Chelsea Flower Show, und wurde von beiden angenom­ men. Ich entschied mich für die Chelsea Gartenschau. So kam 2011 mein erstes Werk, Hae Woo So: Emptying your Mind - Traditional Korean Toilet, zustande. „Haewooso“ ist das Wort für die traditio­ nelle koreanische Toilette und bedeutet wörtlich „ein Ort zum Hin­ einlassen der Sorgen“. Und ist eine Toilette denn nicht wirklich ein Ort, an dem Körper und Geist Erleichterung finden? Während mei­ ner Studienzeit war der einzige Ort, an dem ich zu mir kommen und mich selbst finden konnte, die Toilette. So brachte ich für mein erstes Werk Hae Woo So Wildkräuter wie Asiatische Wegeriche, Rundblättrige Flieder, Gestieltblättrige Schaublätter, Tigerglocken und Löwenzahn aus Korea nach England. Es war sehr interessant, dass die britische Jury und die ausländischen Besucher die ruhi­ ge Gelassenheit, die mir diese Pflanzen vermitteln, nachempfinden und bestätigen konnten. S: Der Garten Quiet Time: DMZ Forbidden Garden aus dem Jahr 2012 sorgte ja genauso wie Ihr erstes Werk für Furore. Er wurde in einer Sendung des Fernsehsenders BBC als ein Werk vorgestellt, das an die Emotionen der Koreakrieg-Veteranen rührte und auch bei der britischen Königsfamilie großen Anklang fand. H: Der schönste Garten auf der Welt ist der, in dem Gefühle in ihrer Ursprünglichkeit noch zu spüren sind. In diesem Sinne ist die Demi­ litarisierte Zone zwischen Süd- und Nordkorea, in die die Menschen seit Jahrzehnten keinen Fuß mehr setzen dürfen, ein Raum, der die ursprünglichste Geschichte eines Gartens erzählen kann. Damit meine ich Emotionen in ihrer Ursprünglichkeit und die Regenerie­ rungskraft der Natur. Dieser Garten wird anlässlich des 60. Jahres­ tags des Waffenstillstandes im Korea-Krieg und zum 130. Jubiläum der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen dem Vereinig­ ten Königreich und Südkorea in die London Pleasure Gardens an der Themse verlegt und ist dort bis 2016 zu sehen. S: Was sind Ihre Hauptpläne für das nächste Jahr? H: Ich würde ja ganz gern wieder an der Chelsea Flower Show teilnehmen. Aber ich muss erst mal abwarten, wie sich die Dinge entwickeln. Für ein Garten-Design müssen Hunderte von Pflan­ zenarten transportiert werden, was mit hohen Kosten verbunden ist. Ohne Sponsoring ist es schwer, jedes Jahr an der Show teilzu­ nehmen. Da in Korea aber noch kein so großes Interesse an Gar­ tendesign besteht, weiß ich nicht, ob sich ein Unternehmen finden lässt, das bereit zur Unterstützung ist. Im Gegensatz dazu glauben aber viele Europäer, dass man in 30 Jahren rund 3.000 weitere psy­ chiatrische Kliniken brauchen wird, wenn man zum jetzigen Zeit­ punkt nicht mehr Gärten anlegt.

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fokus

Das Tor Sungnye-mun wurde wiederhergestellt. Das Sungnye-mun mit einem zweigeschรถssigen Wehrgang-Aufbau auf einer Steinbasis war das Haupttor in der Festungsmauer, die das alte Hanyang (heute Seoul), die Hauptstadt des Joseon-Reiches, umschloss.

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Die Restauration des Sungnye-mun und danach Im Mai 2013 wurde die Restaurierung des Tors Sungnye-mun – 1398, im siebten Regierungsjahr des ersten Joseon-Königs Taejo (reg. 1392-1398), als Haupttor der Hauptstadt Hanyang (alter Name Seouls) erbaut – abgeschlossen. Die diesmalige Restaurierung des 2008 durch Brandstiftung teilweise zerstörten Stadttors soll über den reinen Wiederaufbau hinausgehen und als Ansatz dazu dienen, die Umrisse der alten Festungsstadt Hanyang zu rekonstruieren und die Spuren des Lebens, das einst hier atmete, neu zu entdecken.

Kim Chang-hee Journalist | Foto: Suh Heun-gang

Das restaurierte Haupttor von Seoul Das Sungnye-mun, Koreas Nationalschatz Nr. 1, wurde uns nach mehr als fünfjähriger Restauration im Mai 2013 zurückgegeben. Genauer gesagt stand das alte Haupttor Seouls 1.191 Tage nach dem Brand wieder in seiner ursprünglichen Form vor uns. In die 35.000 Personentage in Anspruch nehmende Restaurierung flossen insgesamt 27,67 Mrd. Won (ca. 18,56 Mio. Euro): Staatsgelder in Höhe von 24,5 Mrd. Won (ca. 16,5 Mio. Euro) – darunter 14,7 Mrd. Won (ca. 9,86 Mio. Euro) aus dem Budget der Kulturerbeverwaltung (Cultural Heritage Administration) – und Spenden von Banken und Unternehmen sowie private Spenden. Anlässlich der abgeschlossenen Restaurierungsarbeiten wurden verschiedene Feierlichkeiten ausgerichtet: Am 1. Mai wurde im Königlichen Ahnenschrein Jongmyo, der die Ahnentafeln der Jo­seon-Könige beherbergt, ein Ritual zur feierlichen Verkündigung der Fertigstellung der Restaurierungsarbeiten abgehalten. Am 4. Mai folgte eine weitere Gedenkzeremonie, an der zahlreiche Bürgerinnen und Bürger Seouls teilnahmen. Seitdem kann nicht nur jeder nahe an das Tor treten, sondern sogar die Steine des Sockels, auf dem mehr als 600 Jahre lang der hölzerne Aufbau stand, berühren und das Bogentor durchschreiten. Am Wochenende können die Besucher sogar zu bestimmten Zeiten (Sa: 11:00, 13:00, 15:00 Uhr; So:13:00, 14:00,15:00 Uhr) auf den Wehrgang steigen und wie die Könige von einst ihren Blick über Seoul und die Umgebung schweifen lassen. Damit wurde das Sungnye-mun als liebenswertes Tor zur Stadt Seoul wiedergeboren. Fehlte einer Stadt ein Zugangstor, wies das auf das Fehlen beschützenswerter Haushaltsgüter und Erbstücke hin. In jungen, modernen Städten existieren selbstverständlich keine Tore mehr, da es keine Stadtmauern mehr gibt. Es ist vielmehr selbstverständlich geworden, dass die Städte von heute durch Autobahnnetze kreuz und quer mit den Nachbarstädten oder gar Nachbarländern verbunden sind. Aber historisch gewachsene Städte sind anders. Auch heute noch trägt das alte Zentrum Seouls unzählige K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 13

historische Schichten in sich. Rechnet man ab der Gründung des Joseon-Reichs im Jahre 1392, leben wir seit über 600 Jahren mit den Spuren der Geschichte Seouls als Hauptstadt; geht man bis ins Goryeo-Reich (918-1392) zurück, sind es 900 Jahre. Damals war Seoul unter dem Namen Namgyeong (Südliche Hauptstadt) eine der drei Reichshauptstädte neben der Westlichen Hauptstadt Seogyeong (heute Pjöngjang) und der Östlichen Hauptstadt Dong­ gyeong (heute Gyeongju). Die fünf Königspaläste, der Königliche Ahnenschrein Jongmyo und der Sajikdan-Altar für die Götter der Erde und des Getreides, das aufrichtige, von Loyalität und Treue geprägte Leben der SeonbiGelehrten, die Protagonisten der Kunst mit ihrem offenen und eigenständigen künstlerischen Geist, die Händler in der lebendigen städtischen Gemeinschaft: All diese Lebensspuren sind in der Hauptstadt Seoul – umschlossen von den vier Haupttoren (Sungnye-mun, Sukjeong-mun, Heungin-mun und Donui-mun) und den vier Nebentoren (Changui-mun, Gwanghui-mun, Hyehwa-mun und Soui-mun) – bis heute noch lebendig. In dieser Hinsicht stellt die Restaurierung des Sungnye-mun, des Haupttors der Stadt, nicht lediglich die Wiederherstellung eines alten Bauwerks dar. Sie steht vielmehr dafür, dass ein erster Schritt getan wurde, das innerhalb der alten Stadtmauern von Seoul befindliche historische Erbe seinen ursprünglichen Platz finden zu lassen und zu neuem Leben zu erwecken. Die verschiedenen Bauwerke und Straßen, die nach der der Stadt eigenen Logik angeordnet waren, der alte Kern Seouls als Anhäufung all dieser alten Spuren und des Lebens, das die Bewohner dieser Stadt führten: Jetzt ist es an der Zeit, diesen Charme von einst wiederzubeleben und all dem wieder seinen einstigen und eigenen Platz zuzuweisen. Wer das neu geborene Sungnye-mun in Augenschein nimmt, möchte sich – sei er nun Koreaner oder nicht – unbedingt auf die Spuren des alten Seoul, das so geschichtsträchtig wie das Sungnye-mun ist, begeben. Wie kann man das tun?

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Wer das neu geborene Sungnye-mun in Augenschein nimmt, möchte sich – sei er nun Koreaner oder nicht – unbedingt auf die Spuren des alten Seoul, das so geschichtsträchtig wie das Sungnye-mun ist, begeben. Wie kann man das tun? Harmonie von alten und neuen Technologien Das Sungnye-mun hat ein sehr gutes Beispiel für die Restaurierung historischer Bauwerke gesetzt: An dem Projekt nahmen die jeweils besten Handwerksmeister ihres Fachs, die mit dem Titel Wichtiges Immaterielles Kulturgut ausgezeichnet sind, teil und gaben dem Sungnye-mun seine ursprüngliche Gestalt zurück. Um die traditionellen Techniken und Materialien, mit denen das Tor ursprünglich gebaut worden war, zu finden, wurden unter Einsatz hochmoderner Kulturgut-Restaurationstechniken historische Belege geprüft und Forschungen durchgeführt, deren Ergebnisse dann alle in die eigentliche Restauration einflossen. Dachziegel wurden von Hand geformt und in traditionellen Dachziegel-Brennöfen gebrannt. Für die fünffarbigen DancheongDekormalereien wurden statt künstlicher Farbpigmente, wie sie bei der vorletzten Restaurierung nach dem Koreakrieg eingesetzt wurden, Farben auf natürlicher Basis verwendet. Die während des Koreakriegs beschädigte Kalligraphie auf der Schrifttafel, die nach dem Krieg grob wiederhergestellt worden war, wurde auf Grundlage eines Abzugs aus der Joseon-Zeit originaltreu erneuert. Dazu noch: Die linke und rechte Seite der Festungsmauer, die während der japanischen Kolonialherrschaft (1910-1945) von den Besatzern abgerissen worden war, wurde teilweise an ihrem ursprünglichen Platz ihrer originalen Gestalt getreu wieder errichtet, was dem Tor

quasi Flügel verlieh. Wichtig ist, dass alle Restaurationsschritte in perfekter Harmonie von alten und neuen Technologien durchgeführt wurden. Die Bestimmung der ursprünglichen Gestalt und die Suche nach den ursprünglichen Materialien fand unter Einsatz von hochmodernen Technologien statt, während die Restaurierung an sich strikt nach traditionellen Methoden vor sich ging. Ein Beispiel: Seit den 1970er Jahren verwenden Steinmetze fürs Schneiden und Bearbeiten moderne Werkzeuge. Mit ElektroSchneidwerkzeugen werden Granitsteine so glatt wie Tofublöcke gespalten und anschließend wird die Oberfläche mit einem Meißel, an dessen Ende Industriediamanten angebracht sind, poliert. Aber dieses Mal war es anders: Zwar wurde bei der Auswahl der Granitsteine, die eine ähnliche Beschaffenheit wie die Originalsteine der alten Festungsmauer aufwiesen, hochmoderne Techniken eingesetzt, aber alle nachfolgenden Arbeitsschritte wurden mit traditionellen Methoden durchgeführt: Zunächst wurden mit einem Keil in angemessenen Abständen Löcher in der Oberfläche der Granitblöcke angebracht. Dann wurde der Keil in die Löcher getrieben und der Stein mit Hammerschlägen gespalten. Die entlang ihrer Maserung natürlich gespaltenen Granitblöcke wurden danach mit einem auf traditionelle Weise hergestellten Eisenmeißel bearbeitet. Selbstverständlich stumpfen traditionelle Meißel leicht ab, weshalb auf der Baustelle eine Schmiede eingerichtet wurde, um die Werkzeuge vor Ort herzustellen und nachzuschärfen. Das Stahlunternehmen POSCO fertigte Stahlbrammen von derselben Metallzusammensetzung wie in der Joseon-Zeit an, die dann bei der Werkzeugherstellung in der Schmiede eingesetzt wurden. Da das Sungye-mun auf diese Art und Weise restauriert wurde, bedurfte es natürlich eines Mehrfachen an Zeit und Anstrengungen bis zur Fertigstellung. Aber diese Beharrlichkeit zahlte sich aus. Anders als die restaurierten Festungsmauern der Stadt Seoul oder die der Bergfestungen Bukhansanseong im Norden und Namhan­ sanseong im Süden Seouls, für die die Steine glatt mit Elektrosägen geschnitten wurden, strahlen die Steinmauern des Sungnyemun dank möglichst originalgetreuer Materialien und Techniken Natürlichkeit aus.

Die Zeit der Zerstörung und Auflösung hinter sich lassen Jetzt ist es an der Zeit, diese Harmonie von alten und neuen Technologien auch auf die historischen Stätten innerhalb des alten Stadtkerns anzuwenden. Beispielsweise könnten bei der momentan im Gang befindlichen Restaurierung des Palasts Gyeongbokgung die Wiederherstellungsarbeiten des Dancheong-Dekoran1

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1 Im Rahmen der jüngsten Restaurierung des Tors wurden auch Teile der Festungsmauer rechts und links des Tores wiederhergestellt. 2 Die Decke des hölzernen Aufbaus wurde mit Farben aus natürlichen Pigmenten geschmückt, wobei der Dekorstil sich an dem in der frühen Joseon-Zeit vorherrschenden Stil orientiert. Die Inschrift im Firstbalken besagt: „Die Restaurierung der Rahmenstruktur wurde am 8. März 2012 fertiggestellt“. 2

strichs auf hochmodernste und gleichzeitig traditionelle Art und Weise durchgeführt werden. Auch könnte der Weg, den der erste Joseon-König Taejo nach der Errichtung des Gyeongbok-gung nahm, um am gleichzeitig gebauten Sajikdan, dem Königlichen Altar für die Verehrung des Gottes der Erde und des Gottes des Getreides, das erste Opferritual durchzuführen, rekonstruiert und erneuert werden, wenn die alte Karte und der Wasserweg gefunden werden. Aber es geht noch weiter: Mittels Computersimulation könnten Standort und Ausrichtung von alten Bauwerken ermittelt werden, was eine genaue Restaurierung ermöglichen würde. Im heutigen Zeitalter, in dem man anhand von über mehreren hundert Kilometern über der Erde aufgenommenen Satellitenfotos unterirdisch verlaufende Adern entdecken kann, sollts es ein Leichtes sein, die nur mehrere Meter unter der Erde liegende Originalgestalt des alten Seoul auszumachen. Es ist vor allem eine Frage des Wollens. Und dann? Seoul sollte im Rahmen des Möglichen und in machbaren Bereichen mit traditionellen Konstruktionsmethoden in seiner originalgetreuen Form wiederhergestellt werden. Das 20. Jhdt. war für Seoul eine Zeit der Zerstörung und der Auflösung. Die koloniale Modernität hinterließ tiefe Narben in der ursprünglichen Form der geschichtsträchtigen Hauptstadt. Die davon verschont gebliebenen Relikte des alten Seoul fielen der K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 13

planlosen Wirtschaftsentwicklung nach der Befreiung von der japanischen Kolonialherrschaft (1945) und dem Koreakrieg (1950-1953) zum Opfer und wurden rücksichtslos beseitigt. Auch das Sungnyemun war davon betroffen. Anfang des 20. Jhdts. wurden Teile der Festungsmauer an der linken und rechten Seite abgerissen, um den Weg für die erste Straßenbahn-Linie der Stadt frei zu machen, und im Koreakrieg wurde das Tor ernsthaft in seiner Form verunstaltet. 2009, am Neujahrsfeiertag nach Lunarkalender, fiel das Sungnye-mun dann einer Brandstiftung zum Opfer. Nach all diesen Gefahren wurde es jetzt wieder zu neuem Leben erweckt. Ist diese „Rückkehr des Sungnye-mun“ begrüßens- und dankenswert? Wenn dem so ist, dann sollten wir dem wiederbelebten Sungnye-mun Gehör schenken. Wenn wir die Steinmauer, die seit mehr als 600 Jahren dort steht, streicheln und durch das Bogentor gehen, wird das Tor zu uns sprechen. Es wird uns zuflüstern, dass es für die Restaurierung dankbar ist, und fragen, ob wir nicht dafür sorgen könnten, dass es seiner wahren Bestimmung als Tor nachkommen könne. Dann ist es an uns, zu antworten, dass wir dankbar für seine Rückkehr sind. Dass wir uns überlegen, wie wir auch die anderen Stätten des alten Seoul, die noch erhalten geblieben sind, zu uns zurückkehren lassen könnten. Und dass wir Wege finden würden, Seoul in eine Stadt, in der Traditionelles und Modernes koexistieren, zu verwandeln.

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interview

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Arirang-Forscher Kim Yeon-gap Arirang ist das repräsentativste Volkslied Koreas. Nicht nur in Nord- und Südkorea, sondern überall auf der Welt, wo Koreaner leben, kann man dieses Lied hören. Das Leben von Kim Yeon-gap, der sich der Erforschung und dem Aufspüren noch unbekannter Arirang-Versionen gewidmet hat, ist quasi gleich der modernen Geschichte des Arirang und in gewisser Hinsicht auch der modernen Geschichte Koreas.

Lim Jong-uhp Journalist, Tageszeitung The Hankyoreh | Foto: Ahn Hong-beom

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n der Ausstellung Arirang: Lied der Straße und Klang des Hügels, die in diesem Frühling im Mungyeong Old Road Museum in Mungyeong in der Provinz Gyeongsangnam-do zu sehen war, wurden zwei seltene Schellackplatten präsentiert. Es waren Arirang-Aufnahmen gesungen von zwei koreanischstämmigen Russen, die während des Ersten Weltkriegs in deutsche Gefangenschaft geraten waren. Dass diese Platten überhaupt zu sehen sein konnten, ist einem „von Arirang besessenen“ Mann zu verdanken.

Alles über Arirang sammeln Schon seit den 1980er Jahren folgte Arirang-Forscher Kim Yeongap (59) den Spuren dieser Platten. Im Zuge seiner Nachforschungen erfuhr er, dass Deutschland im Ersten Weltkrieg Sprachwissenschaftler einsetzte, die die rund 230 in den deutschen Kriegsge-

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fangenenlagern gesprochenen Sprachen erforschten. Zu diesem Zweck machten sie mit der alten Wachswalzen-Aufnahmetechnologie Tonaufzeichnungen von Liedern oder Geschichten, u.a. auch von dem von Korea-Russen gesungenem Arirang. Kim fand aber erst einmal nur heraus, dass die Originalaufnahmen 1933 auf Schellackplatten gepresst wurden und sich irgendwo in Ostdeutschland befanden, d.h. er musste auf die Wiedervereinigung Deutschlands warten. Und selbst nach der Wiedervereinigung brauchte er noch einmal 15 Jahre, bis er entdeckte, wo die Schallplatten aufbewahrt wurden. Danach gingen weitere Jahre ins Land. Erst im Februar 2013 konnte er diese beiden Platten, die das Lautarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin beherbergte, in den Händen halten und digitale Tonaufzeichnungen erhalten. Seit Kim Yeon-gap vor 30 Jahren (1983) die Arirang-Vereinigung Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


rückversichern. Das gemeinsame Singen bekräftigt, Zusammendes Koreanischen Volkes (Korea People´s Association of Arirang) halt und Solidarität. im Westen des Königspalastes Changdeok-gung gründete, ist hier quasi sein Hauptquartier. Mit gutem Grund: Gleich auf der anderen Seite der Hauptstraße befindet sich das Kunst- und AntiquitäEin Lied „voller pochender Lebendigkeit“ tenviertel Insa-dong. Sobald Kim erfuhr, dass Arirang-bezogene Kim Yeon-gab traf zum ersten Mal 1978, als er seinen Militärdienst Materialien angeboten wurden, ging er dahin und kaufte sie. Seine ableistete, auf Arirang. Als er an der Militärischen DemarkationsliLager in Gye-dong in Seoul, in Jeongseon in der Provinz Gangwonnie Wache stand, hörte er eine Arirang-Version aus den in Richtung do und auf der Insel Jin-do sind voll von Arirang-Sammelstücken: Süden gerichteten Propaganda-Lautsprechern Nordkoreas. Er Angefangen von Materialien mit direktem Arirang-Bezug wie schrieb die Verse nieder: Da, der Berg da ist doch der Baekdu-san / Noten und Langspielplatten bis hin zu Zigaretten- und StreichholzSelbst im tiefsten Winter steht er in Blüte. Als einer seiner Armeeschachteln sowie Zeitschriften mit der Arirang-Marke. Kim kann kumpel das sah, riet er ihm, die Verse nur ja nie in den Mund zu viele Geschichten vom Aufspüren einzelner Stücke erzählen. Was nehmen, da der Berg Baekdu-san für den nordkoreanischen FühArirang-Materialien betrifft, so ist er der reichste Mann in Korea, rer Kim Il-sung stehe. Wenn ein südkoreanischer Soldat ein nordweshalb keine Arirang-Ausstellung – selbst keine des Nationalen koreanisches Lied singe – und dann gar noch ein als staatsfeindlich Folkloremuseums – ohne seine Sammlung Anspruch auf Vollstängeltendes Lied – würde er sofort inhaftiert. digkeit erheben könnte. Nach dem Wehrdienst nahm Kim sein Studium wieder auf und Was für ein Lied ist dieses Arirang? Es gibt auf der koreanischen begann mit seinen Arirang-Forschungen. Zuerst stellte er fest, dass das Arirang, das er an der DMZ gehört hatte, schon gesunHalbinsel je nach Region unterschiedliche Arirang-Versionen, darunter z.B. das Jeongseon-, Jindo-, Miryang- und Gyeongju-Arirang gen worden war, bevor das nordkoreanische Regime überhaupt an in Südkorea und das Haeju-, Tancheon- (Dancheon), Onsong- (Onsedie Macht kam. Obwohl die Verse ursprünglich also nichts mit der ong) und Musan-Arirang in Nordkorea. Überall, wo Koreaner leben, Ideologie zu tun hatten, wurde das Lied als ideologisch eingestuft, wird das Arirang gesungen. Allein auf der koreanischen Halbinsel weil es bei der Propaganda gegen Südkorea eingesetzt wurde. „Ende der 1970er Jahre waren die Minjung(Volksmassen)-Literatur wurden rund 140 Arirang-Versionen gesammelt. Rechnet man die der Demokratiebewegung und Reisen durchs Land der große RenArirang-Versionen hinzu, die von in Japan, China, Russland usw. ner. Als Student der Abteilung für Koreanische Sprache und Litelebenden ethnischen Koreanern gesungen werden, liegt die Zahl ratur an der Dankook Universität habe ich eine Volkslieder-Reise noch höher. Die repräsentativste Version ist das Arirang ohne regiogemacht. Mit einem Kassettenrekorder bewaffnet bin ich nicht nale Spezifizierung. Auf den Eingangsrefrain Arirang, arirang, arariyo nur zu Arirang-Geburtsstätten wie Jeongseon, Miryang und Jindo ∕ Arirang gogaero neomeoganda (über den Arirang-Hügel gehend ) gefahren, sondern überallhin, wo Arirang gesungen wurde. Und folgen Verse mit der gleichen Struktur. Jeder kann spontan einen ich fand, keine eingestaubten Volkslieder, sondern Lieder voller eigenen Vers hinzufügen. Zählt man auch solche individuellen Versiopochender Lebendigkeit. nen, dann gibt es wohl so viele Arirang-Versionen wie Koreaner. Durch diese Erfahrungen stellte Kim fest, dass Volkslieder lebenDas Arirang wurde an jedem kritischen Punkt der Geschichte Korede Organismen sind, die wachsen, indem sie „von Mund zu Mund as gesungen: Bei der Restaurierung des Palastes Gyeongbokgesungen“ werden. Daher organisierte er gung unter König Gojong zu Ende des Jo­­­ 1979 eine Arirang-Reisegruppe, eine Grupseon-Reiches, beim Eisenbahnbau während pe von Studenten für Vor-Ort-Studien. der japanischen Kolonialherrschaft, beim Nachdem Kim seinen Hochschulabschluss Widerstandskampf der Unabhängigkeitshatte, kam es 1983 zur Gründung einer kämpfer gegen die japanischen Besatzer, „Arirang-Gruppe“, für die er als Sekretär während des Koreakriegs, während des fungierte, und zu der die Dichter Ko Un und Kampfes gegen die Militärdiktatur in den Park Jae-sam sowie der Bühnenschriftstel1960er und 70er Jahren, beim Gwangju-Aufler Heo Gyu gehörten. 1989 wurde daraus stand für Demokratie (1980), bei den Olymdie Vereinigung von Arirang-Vorführenden pischen Sommerspielen in Seoul (1988) und der Fußballweltmeisterschaft Korea/Japan aus dem ganzen Land und dann die Natio2002. D.h. Arirang spiegelt die Geschichte nale Vereinigung zur Bewahrung des Ari2 rang. 1994 wurde sie in Arirang-Vereinigung des koreanischen Volkes in komprimier1 Kim Yeon-gap hat alle direkt oder indirekt mit Ariter Form wider. Wenn irgendwo Arirang im rang in Verbindung stehenden Materialien gesammelt des Koreanischen Volkes e.V. umbenannt. und Herkunft sowie Überlieferung des Liedes in den Chor gesungen wird, dann gibt es dort eine Diese Vereinigung führt Forschungsarbeiten letzten 30 Jahren erforscht. 2 Cover der Platte Arirang Versammlung von Koreanern, und dann ist durch und organisiert Feste zur Verbreitung Symphony, die 1972 in Nordkorea veröffentlicht wurde. es an der Zeit, dass sie sich ihrer Identität und Bewahrung von Arirang-Versionen. (mit freundl. Genehmigung von Kim Yeon-gap) K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 13

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„Die allgemeine Haltung war lange: Was gibt es beim Arirang schon groß zu erforschen? Es ist zwar erfreulich, dass das Arirang mittlerweile als Kulturerbe anerkannt wird, aber damals wie heute kommt man finanziell mit solch einer Forschungsarbeit auf keinen grünen Zweig. Die Arirang-Vereinigung des Koreanischen Volkes ist nur eine Organisation, die Arirang-bezognenen Arbeiten nachgeht. Es gibt keine Mitgliedsbeiträge und die Mitglieder meiden organisatorische Straffungen. Sie denken, dass, wenn man einmal damit beginnt, Spendengelder anzunehmen und die Organisationsstrukturen zu systematisieren, das Wesentliche der Arbeit aus dem Fokus gerät. Wie wir finanziell durchkommen können, weiß ich selber nicht. Ich schreibe nur fleißig.“ Kim Yeon-gap publizierte seine Forschungsergebnisse in Büchern wie Arirang-Reise durch acht Provinzen (1994), Arirang (1998) und Der Ursprung des Arirang – Forschungen zum Jeongseon-Arirang

hat Kim auch das Nordost-Projekt der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, mit dem China seinen Anspruch auf die Grenzgebiete im Nordosten zu untermauern versucht, im Hinterkopf. China, das die in China lebenden ethnischen Koreaner als eine seiner ethnischen Minderheitsgruppen betrachtet, designierte 2011 das Arirang zum staatlichen Kulturerbe. China erklärt, dass das Lied von Chinesen, die ihre zurückgelassenen Familien vermissten, gesungen wurde, als sie über den Jabiryeong-Pass in die vier Kommandanturen zogen, die der chinesische Kaiser Han Wudi im Jahre 108 v. Chr nach dem Untergang von Gojoseon auf der koreanischen Halbinsel errichten ließ. Dahinter steht eine der Strategien des Nordost-Projekts, die Geschichte des Gojoseon- (Alt-Joseon; 2333108 v. Chr.) und des Goguryeo-Reiches (37 v. Chr.-668 n. Chr.) in die Geschichte Chinas zu integrieren. Kim Yeon-gap glaubt, dass sich das Arirang aus den Menarijo entwickelte und verschiedene Geschichten und Verse im Laufe der Zeit hinzugefügt wurden. Als „Ich gehe davon aus, dass die Anfänge des Arirang bis auf Beispiel führt er den Text des Jeongseon-Arirang die Bronzezeit zurückreichen. Seitdem sich die Stämme der an: Wird es schneien? ∕ Wird es regnen? ∕ Wird die Regenzeit anbrechen? / Über dem Berg Mansu-san Ye, Maek und der Han, die als Vorfahren der heutigen Kobrauen sich schwarze Wolken zusammen. In diesen reaner gelten, auf der koreanischen Halbinsel niederließen, Versen sollen sich die Gefühle der 72 treuen Untertanen des Goryeo-Herrscherhauses widerspiegeln, die haben sie das Arirang gesungen.“ vor dem Rebellen-General Yi Seong-gye, der Goryeo zu Fall brachte und 1392 das Joseon-Reich gründete, flohen und sich in einem Bergdorf in Gangwon-do versteckten. und Mogeun Yi Saek (2006). Er gab auch das in Nordkorea veröffentNach Kim ist der Mansu-san der Wächterberg in Songdo (heute lichte Buch Joseon Volkslied Arirang (2011) als Fotokopie-Ausgabe Gaeseong), der Hauptstadt von Goryeo, über dem sich schwarze heraus und verteilte es kostenlos an Wissenschaftskreise im Süden. Wolken, i.e. die Armee von Yi Seong-gye, sammeln. Nach der offiziell von Nordkorea vertretenen Theorie, soll das AriTheorien über den Ursprung des Arirang rang zum ersten Mal Anfang des Joseon-Reichs erschienen sein, „Arirang wird zum ersten Mal in Maecheon Yarok (1894), das von sich dann in der ersten Hälfte der Joseon-Zeit zum Lied mit einem dem Dichter und Historiker Hwang Hyeon (1855-1910), verfasst eigenen und verfeinerten Stil entwickelt haben, bevor es sich lanwurde, erwähnt. Aber ich gehe davon aus, dass die Anfänge des desweit verbreitet und in der modernen Zeit in verschiedenen RegiArirang bis auf die Bronzezeit zurückreichen. Seitdem sich die onen tief verankert wurde. Stämme der Ye, Maek und der Han, die als Vorfahren der heutiIn Joseons Volkslied Arirang , einer offiziellen nordkoreanischen gen Koreaner gelten, auf der koreanischen Halbinsel niederließen, haben sie das Arirang gesungen.“ Publikation, findet Autor Yun Su-dong (Direktor des Forschungsinstituts für die Volksmusik Joseons) den Ursprung von Arirang in Kim begründet seine Theorie mit den sog. Menarijo, melodischen Klängen, die er entlang der Bergkette Baekdu-daegan v.a. in der der Volkserzählung von Seongbu und Rirang. Demnach revoltierten nordkoreanischen Provinz Hamgyeong-do sowie in den südkoredie Bauern Anfang der Joseon-Zeit häufig gegen die Tyrannei der anischen Provinzen Gangwon-do und Gyeongsangbuk-do gesamGrundherren, so dass es zur Niederschlagung der Aufstände kam. melt hat. Menarijo sind beim Weinen von Kindern, beim Spielen Als der Jüngling Rirang, der sich den Rebellen angeschlossen der Weidenflöte, in den Klageliedern des Trauerzugs oder beim hatte, vor den königlichen Truppen über einen Bergpass flüchtete, Auswendiglernen des Einmaleins zu hören. Diese melodische sang seine Geliebte Seongbu ein Klagelied: Ah-Rirang, ah-Rirang, Klangfolge soll der Archetypus der Klänge sein, die die Koreaner ah-nalliyo (Es ist die Hölle los.) ∕ Ah-Rirang Gogaero Neomeoganam liebsten hören und am angenehmsten empfinden. Ihre regida (Ah-Rirang geht über den Pass). Ihre spontan gesungene Klage onale Verteilung soll mit den Wanderrouten der Nomadenstämwar so bewegend, dass sich das Lied schnell weit verbreitete. me der Ye, Maek und Han übereinstimmen. Bei dieser Theorie, die Diese Theorie ist von der Sichtweise der nordkoreanischen Intelauf Geschichtsforschungen und Vor-Ort-Untersuchungen basiert, lektuellen geprägt, die die Geschichte als Klassenkampf betrach-

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ten. Sie unterscheidet sich stark von Kim Yeon-gaps Ansatz, nach dem das Wort „Arirang“ von „Ari“, was „Sprache“, „Laut“ und „Lied“ bedeutet, kommt. Nord- und südkoreanische Wissenschaftler sind sich jedoch darin einig, dass der 1926 von Na Un-gyu gedrehte Film Arirang entscheidend zur Verbreitung des Liedes beitrug: Der Protagonist, der sein Studium in Seoul selber finanziert, nimmt an der Unabhängigkeitsbewegung vom 1. März teil und landet im Gefängnis. Er wird von den Japanern gefoltert und kehrt gebrochen an Leib und Seele in seinen Heimatort zurück. Seine Familie fristet ihr Dasein als Pächter eines japanfreundlichen Landbesitzers. Einer seiner Freunde ist der Schatz seiner Schwester. Ein Vorarbeiter des Landbesitzers, der mit der japanischen Polizei kollaboriert, versucht

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1 Blatt mit den Noten für Arirang , das in dem 1926 herausgekommenen Film Arirang von Na Un-gyu zu hören war. Die Melodie wurde weltweit bekannt. (mit freundl. Genehmigung von Kim Yeon-gap). 2 Album-Cover von Song of the Hill, Mungyeong Arirang , veröffentlicht zur Feier der Aufnahme von Arirang in die UNESCO-Liste des Immateriellen Erbes der Menschheit. 3 Bücher über Arirang , verfasst von Kim Yeon-gap.

diese zu vergewaltigen, während sich die Dorfbewohner bei einem Herbstfest vergnügen. Der auf ihren Schrei herbeigeeilte Freund gerät in eine tätliche Auseinandersetzung mit dem Vorarbeiter. Der Protagonist, der hinzugekommen ist, tötet den Vorarbeiter. Er wird festgenommen, während die Dorfbewohner hilflos zusehen und das Arirang singen.

Wiedervereinigung durch Arirang Kim betrachtet das Arirang als Verkörperung des Geistes des koreanischen Volkes. „Die Koreaner nannten die erste Filterzigarette Arirang und auch den ersten Satelliten des Landes. Viele haben vorgeschlagen, den KTX, den ersten Hochgeschwindigkeitszug, Arirang zu nennen. Wenn Korea eine diplomatische Vertretung eröffK o r e a n a ı H e r b s t 2 0 13

net, heißt das erste koreanische Restaurant in der Nähe meistens Arirang. Eine in den 1970er Jahren populäre Zeitschrift hieß Arirang und viele Noraebang (koreanisches Karaoke) trugen bis vor kurzem diesen Namen. Das bedeutet, dass das Arirang bei den Koreanern immer an erster Stelle steht. Es ist eine Bestätigung der koreanischen Identität.“ Sichtlich gerührt erzählt Kim folgende Geschichte aus der Zeit der japanischen Kolonialherrschaft: „In Japan fand ein Baseballspiel zwischen einer koreanischen und einer japanischen Oberschule statt. Darüber informiert, dass ein japanfreundlicher Kollaborateur an dieser Veranstaltung teilnehmen werde, schickte Korea einen Killer. Als die koreanischen Mannschaftsfans sich nach dem Spiel versammelten, zog der Attentäter ein Messer. Der Kollaborateur begann in diesem kritischen Moment, das Arirang zu singen. Der Attentäter ließ ihn mit folgenden Worten am Leben: ‚Du bist also doch auch ein Koreaner.‘ Danach hörte man nie wieder davon, dass der Mann mit den Japanern kollaborierte.“ Für Kim hat das Arirang die Wiedervereinigung Koreas schon vollbracht. Im März 1989 einigten sich Nord- und Südkorea auf Arirang als Hymne für die gemeinsame Mannschaft bei den Asienspielen 1990 in Peking. Bei der 1991 im japanischen Chiba ausgetragenen Tischtennisweltmeisterschaft gewann eine gemeinsame nordsüdkoreanische Damenmannschaft zum ersten Mal gegen die Chinesinnen. Damals sangen Sportlerinnen, und Zuschauer aus Nord- und Südkorea das Arirang gemeinsam. „Überall auf der Welt gibt es schöne Volkslieder. Aber es dürfte nur wenige Völker geben, die sich über ein Lieblingslied einig sind Arirang ist das Lied, das 99 Prozent aller Koreaner mögen und singen können. Daher ist es ein Schlüssel für die 3 Einheit des Volks und wie geschaffen als Nationalhymne für ein wiedervereinigtes Korea.“ Kim überreichte mir seine Visitenkarte, eine Spezialanfertigung. Auf der Vorderseite steht sein Name und auf der Rückseite folgender Aufruf: „Alle Koreaner! Lasst uns am 25. Juni (Datum des Ausbruchs des Koreakriegs) um 6 Uhr 25 am Abend zum Himmel hinaufschauen und jeder, wo er gerade ist, einen Vers von Arirang singen!“ Für Kim ist das Arirang eine Bewegung zur Wiedervereinigung Koreas. Aber da er weder von Regierungs- noch von Nicht-Regierungsseite offiziell beauftragt wurde, wird er oft angegriffen: Linksgerichtete kritisieren ihn als Konservativen, der auf seine Prinzipien pocht, während er von den Rechten als Nordkorea-freundlicher Kommunist attackiert wird. Dies ist wohl auch das Schicksal von Arirang bis zum Tag der Wiedervereinigung auf der koreanischen Halbinsel.

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kunstkritik

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in Oreum (Jejudo-Dialekt für „Vulkankegel“), um den ein Schneesturm wütet, und das Heulen des Windes, der darüber fegt. Es klingt wie ein Wehklagen. Das fest verschlossene Tor einer strohgedeckten Hütte in einem Bergdorf, das scharfe Geräusch des Tors, das geöffnet wird, und ein Soldat, eingehüllt in dichtem Rauch. Dem Zuschauer, der auf die verstreut herumliegenden Utensilien für die Ahnenverehrungszeremonie blickt, strömt förmlich der Geruch der abgebrannten Räucherstäbchen in die Nase. Gefolgt von Wind- und Wellengeräuschen, die über den aschgrauen Bildschirm rauschen und ins Herz schneiden. So beginnt der Film Jiseul – Die unvollendeten Jahre 2 mit den Geräuschen der Insel Jeju-do. Doch wohin sind die Leute, die eben noch die Ahnenverehrungsriten abhielten, gegangen?

Wind, Wolken und Bäume als Schauspieler Zusammengedrängt in nicht enden wollender Dunkelheit offenbaren sich die Menschen gegenseitig ihre Ängste und Träume. Ob es an diesem Tag vor 65 Jahren wohl so gewesen war? Das Publikum spürt, wie sich dieser Tag, wie sich dieses Stück verschlossene Geschichte direkt vor ihren Augen im Hier und Jetzt entfaltet. So schafft es Jiseul, die Zuschauer von Anfang an Szene für Szene in sei-

nen Bann zu ziehen. Sie empfinden einen Schmerz und eine Beklommenheit, als würden die Wunden von damals ihnen selbst zugefügt. Als der Abspann des Films zu den Klängen eines Volkslieds von Jeju-do lief, war ich zu keiner Bewegung fähig. Über den wunderschönen Grat des Oreum-Vulkankegels wogte die Trauer. Der Film war brutal, aber auf fesselnde Weise faszinierend und schmerzhaft bis ins Mark. Ob die traurigen Seelen der Toten etwas Trost erfahren haben? Jeju-do, eine Insel des Windes und der Oreum-Vulkankegel. Überall an den wunderschönen Küsten, den Bergen und Feldern sind Spuren des Massakers vom 3. April zu finden. In einem Interview sagt Regisseur O Muel: „Ich hatte nicht gewusst, dass dieser Ort mit dem Massaker in Zusammenhang stand. Doch dann hörte ich das klagende Weinen des Windes und sah, wie sich das Schilf in einem traurigen Tanz wellte. Ich spürte, wie sich dieser Ort an die Begebenheiten von damals erinnerte. Ich dachte, das Wolken, Bäume, Wind, die ganze Natur, die ich mit der Kamera erfasste, Schauspieler geworden seien.“

Ahnenzeremonie als Rahmen des Films Das Jejudo-Massaker vom 3. April, bei dem 30.000 Inselbewohner

Jiseul – Die unvollendeten Jahre 2 Independent-Film thematisiert Hoffnung trotz tragischen Massakers Jiseul – Die unvollendeten Jahre 2 ist ein schwarzweißer Independent-Film, der die tragischen Ereignisse behandelt, die sich inmitten der Turbulenzen der modernen koreanischen Geschichte 1948 auf der vor der Südküste Koreas gelegenen Insel Jeju-do abspielten. Der Film sorgte für eine große Sensation im Indie-Filmbereich, da er alle bisherigen Kassenrekorde brach. Beleuchtet wird ein bislang weitgehend im Dunkeln gehaltenes Kapitel der Geschichte, nämlich das Schicksal der zahlreichen Zivilisten, die in den Wirren des ideologisch aufgeheitzten Konflikts zwischen Linken und Rechten zu „Roten“ erklärt und ermordet wurden.

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Heo Young-sun Dichterin, Lektorin an der Jeju University

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der Staatsgewalt zum Opfer fielen, ist eine Tragödie der neueren koreanischen Geschichte. Im November 1948 wurde ein Evakuierungsbefehl für die Insel Jeju-do erlassen, die nach der Befreiung von der japanischen Kolonialherrschaft (1945) noch unter US-amerikanischer Militärverwaltung stand. Der Film fasst die Ereignisse in einem knappen Untertitel zusammen: „Jeder, der sich mehr als 5 Kilometer von der Küste entfernt aufhielt, wurde als Aufständischer betrachtet und sofort erschossen.“ Und dann beginnt die Geschichte der Inselbewohner, die vor der Taktik der Verbrannten Erde, die das Militär einsetzt, mal hierhin und mal dorthin fliehen. Auf der einen Seite sind da die Dorfbewohner, die sich vor dem Evakuierungsbefehl in einer Höhle tief in den Bergen verstecken, auf der anderen die Soldatentruppen, die sie verfolgen. Die 120 Inselbewohner mussten fürs nackte Überleben irgendwohin fliehen und suchten Schutz in einer großen, weiten Höhle, in der sie über 50 Tage ausharrten. Die natürlichen Lava-Höhlen auf Jeju-do, die heutzutage allgemeine Bekanntheit als Weltnaturerbe erlangt haben, dienten den Opfern des Massakers als letzte Fluchtmöglichkeit, als zeitweiliges Refugium, in dem sie in absoluter Dunkelheit zu überleben versuchten. So sehr sie auch den Himmel sehen und den Wind spüren wollten, außerhalb der Höhle erwartete sie

Szene aus Jiseul , die Dorfleute aus Jeju-do zeigt, die sich in der „großen, weiten Höhle“ vor den Soldaten verstecken und Kartoffeln miteinander teilen, um ihren Hunger zu stillen.

der sichere Tod. Als sie von einem Erkundungstrupp entdeckt wurden, verbrannten sie Decken und Chilischoten und leiteten den scharfen Wind zum Höhlenausgang, um das Eindringen der Soldaten zu verhindern. Diese Szene basiert auf Erfahrungsberichten Überlebender. Der Film zeigt es zwar nicht, aber die meisten Höhlenbewohner wurden später festgenommen, bei den JeongbangWasserfällen bei Seogwipo ermordet und ins Meer geworfen. Hauptdarsteller des Films sind die Menschen, die damals getötet wurden, und die Soldaten, die den Tötungsbefehl ausführen mussten. Natürlich kann der Film das „Damals“ dieser Menschen nicht in all seinen Facetten abdecken. Nachdem Regisseur O Muel vor vier, fünf Jahren in die besagte Höhle hinabgestiegen war, beschloss er, einen Film zu drehen, der die Seelen der Opfer des Massakers vom 3. April 1948 trösten sollte. So weist der Film die Rahmenform einer Ahnenzeremonie auf, gewidmet denen, die sich in der unendlich finsteren Höhle versteckt hielten. Er besteht aus vier Teilen, deren Titel Objekten des Ahnenverehrungsritus entlehnt sind: Sinwi (Ahnentafel), die Seelen von damals; Sinmyo (Ahnenschrein), der Ort, in dem die Seelen aufgehoben sind; Eumbok, das gemeinsame Essen der rituellen Speisen nach der Zeremonie; Soji , das Verbrennen des Papiers mit dem Namen des Verstorbenen am Ende der Zeremonie. Durch diese Riten sollen die Seelen derjenigen besänftigt werden, deren Leben so fragil wie Grashalme waren zu einer Zeit, zu der sie nicht die Freiheit zu Trauern besaßen, zu der Unschuld bestraft wurde und selbst Tränen verboten waren. Jiseul erinnert an ein schamanistisches Gut-Exorzismusritual zur Reinigung der Seelen der Verstorbenen und auch an ein Requiem. Der Film bietet Heilung und Trost. Regisseur O Muel sagt: „Der Film fokussiert auf den Menschen und nicht auf die Ideologie. Das Massaker vom 3. April wurde während der Zeit des Kalten Krieges totgeschwiegen. Ich hoffe, dass der Film Beachtung findet und in der koreanischen Gesellschaft ein - wenn auch spätes - Geschichtsbewusstsein in Bezug auf dieses Ereignis schafft.“ Obwohl es Os erster Film ist, der diesen Stoff behandelt, erhielt er den Untertitel Die unvollendeten Jahre 2. Dadurch sollte eine Verbindung zu dem Film Die unvollendeten Jahre (2005) des Regisseurs Kim Gyeong-ryul hergestellt werden, der ebenfalls das Jejudo-Massaker behandelte, aber verstarb, ohne dass sein Film größere Beachtung fand.

Der Symbolgehalt von Jiseul Die Kartoffel ist für Menschen in aller Welt „Soul-Food“. Die Bewohnern von Jeju-do nennen sie in ihrem Dialekt Jiseul. Zurzeit des Jejudo-Massakers bestand die Hauptmahlzeit der Flüchtlinge aus Süßkartoffeln und Kartoffeln. Ihre Dörfer waren zwar niedergebrannt, jedoch gehörte zu jedem Haus ein Nul, ein strohbedecktes Kartoffellager in Form eines Erdloches. Die Szene, in der vom Feuer verbrannte Kartoffeln über den Hof verteilt liegen, ist ein typisches Bild des Massakers vom 3. April. Ein K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 13

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Die Bewohner eines Dorfes auf Jeju-do, die sich in dem Versuch, dem Evakuierungsbefehl zu entgehen, in Höhlen tief in den Bergen verstecken, und die Truppe ihrer Verfolger - das sind die Hauptcharaktere des Films: i.e. die unschuldigen Zivilisten, die ermordet wurden, und die Soldaten, die denTötungsbefehl auszuführen hatten. paar Kartoffeln, die eine Mutter bei den Feuerflammen aufgehoben hat, spendeten den Flüchtlingen in der Höhle Wärme. Unter ihnen befindet sich ein Mann, der sich auf die Sorge um seine zurückgelassenen Schweine versteift; ein alter Junggeselle, der sich übers Heiraten Sorgen macht; ein Jugendlicher, der damit angibt, mit seinen „Pferdebeinen“ so schnell wie der Wind rennen zu können; ein junger Mann, der in eine Frau aus dem Dorf verliebt ist, und eine hochschwangere Frau. Das Gemeinschaftsleben mit all seinen Insel-Eigenheiten wird auch im Zufluchtsort, der Höhle, aufrechterhalten. Trotz ihrer hoffnungslosen Lage geben die Menschen im Schein eines einzelnen Feuers den Glauben nicht auf, dass sich die Dunkelheit bald heben wird. Die Kartoffel steht dabei für positives Denken, Optimismus und Gelassenheit, die auch im Dunkeln nicht

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verloren geht. Der Dialekt von Jeju-do, der in Untertiteln in Standard-Koreanisch übersetzt wird, wirkt fremd und exotisch.

Ein mit Preisen geehrter Independent-Film Der Independent-Film Jiseul wurde von einem aus Jeju-do stammenden Regisseur gedreht und mit unbekannten Schauspielern von der Insel besetzt. Regisseur O castete aus Geldmangel persönlich eine Riege von Amateuren, denen er dann das Schauspielern beibrachte. Fürs Filmen musste die notwendige Ausrüstung aus Seoul eingeflogen werden. Die Produktionskosten beliefen sich auf 250 Mio. Won (ca. 170.000 Euro), nicht mal ein Zehntel der Kosten für einen normalen, kommerziellen Film. Viele sponserten den Regisseur, der sich aber auch selbst noch verschulden musste.

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Der unter solch schwierigen Umständen fertiggestellte Film konnte 2012 beim 17. Internationalen Filmfestival von Busan in vier Kategorien Preise gewinnen und so von sich reden machen. Und schon vor seiner Korea-Premiere erregte er auch international Aufsehen: Beim 29. Sundance-Filmfestival gewann Jiseul den Großen Preis der Jury in der Kategorie „World Cinema Dramatic“. Gelobt wurden sowohl das Drehbuch als auch die Regiearbeit von O Muel, der es auf überraschend zurückgenommene Art schafft, Emotionen auszudrücken. Selten sei es einem Film gelungen, die Absurdität des Krieges mit derartig großem Feingefühl darzustellen. Danach gewann der Film in Frankreich den Goldenen Cyclo-Preis beim 19. Internationalen Vesoul-Filmfestival für Asiatisches Kino. Jiseul wurde am 1. März 2012 auf der Insel Jeju-do aufgeführt, dem Tag, an dem es zu dem Auslöser für das Massaker kam. Allein in der ersten Woche zog er landesweit 40.000 Zuschauer in die Kinos. Nach zwei Monaten (Stand: 26. Mai 2012) hatte Jiseul mehr als 140.000 Menschen für sich begeistert. Mund-zu-Mund-Propaganda tat ihr Übriges. Doch warum weinen und applaudieren die Leute bei einem einfachen Schwarz-Weiß-Film mit schwer verständlichem Jejudo-Dialekt und extrem zurückhaltender Erzählweise?

Der Soldat Park richtet seine Waffe auf eine junge Frau aus dem Dorf. Er zögert, abzudrücken, da er in ihr keine Rebellin sehen kann.

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Tristesse der Farblosigkeit und Hoffnung Jiseul behandelt zwar eine außerordentliche Tragödie der Geschichte, der Film bedient sich aber keiner politischen Idee oder Ideologie als Grundlage. Von Anfang bis Ende wird die Geschichte einzelner Personen in den Mittelpunkt gerückt, die den Betrachter zum Lachen und zum Weinen bringt. Selbst auf der Schwelle des Todes wird hier ein Lied der Hoffnung im alltäglichen Leben gesungen. Die Filmszenen sind beseelt von menschlicher Zuneigung und mütterlicher Liebe und erfüllt von universellen, warmen Emotionen, die jeden ansprechen. Regisseur O Muel, der Kunst studiert hat, zeichnete Bilder von Jeju-do, die die Farbenpracht der Insel aufs Maximalste zurückgenommen haben, wodurch an ausgewaschene Tuschebilder erinnernde Szenen entstanden. Ich wusste nicht, dass Schwarz und Weiß Trauer und Schmerz noch tiefer auszudrücken vermögen als Farben, und zurückhaltene Musik und Bilder dermaßen ästhetisch und packend sein können. „Es war wichtiger, Farben zu finden, durch die die Trauer der Farblosigkeit ausgedrückt werden kann. Ich wollte, dass die Zuschauer diese Farben selber mit ihren eigenen Sinnen und Gefühlen entdecken“, sagt Regisseur O. Er verbrachte seine Jugend mit Kunst, Theater, Regiearbeiten und dem Schreiben von Drehbüchern. Sein Filmstudium bestand darin, sich Hunderte von Filmen anzuschauen. Mit 25 faszinierten ihn die Filme Nostalghia (1983) und Opfer (1985-86) des Regisseurs Andrei Tarkowski. Jiseul wurde zwischen Weihnachten 2011 und Februar 2012 produziert. An den jeweiligen Drehorten wie der großen, weiten Höhle in Andeok-myeon bei Seogwipo oder im Stone Culture Park (Steinkulturpark) und Dongbaek Hill Park in Seonheul-ri herrschte Eiseskälte. Während der Dreharbeiten litten Aufnahmeteam und Darsteller sehr und die meisten von ihnen bekamen Frostbeulen. Selbst lange nach Beendigung der Dreharbeiten hatte O Muel noch mit der Kälte zu kämpfen. Er sagt, er brauche nur an diese Zeit zu denken, und schon fange er an zu frieren. Sein Körper erinnere sich als Erstes an diese Kälte. Jiseul beschreibt zwar eine Tragödie, aber nicht durch tragische Darstellung. Auch wenn es nicht explizit hervorgehoben wird, so geht es in diesem Film letzten Endes um Hoffnung. Die letzte Szene zeigt ein Baby, das sich weinend neben der toten Mutter windet. Das Weinen des Kindes steht ohne Zweifel für Hoffnung. Der Regisseur wollte durch das kleine Kind das „Ich“ oder „Wir“ darstellen. Am Ende des Films dachte ich nach: Was war das für eine Energie, die mich einhüllte wie der dichte Nebel, der den Film von Anfang bis Ende bestimmt? Noch immer höre ich das Wehen des Windes und das Atmen der Menschen. Selbst in Extremsituationen bleibt die Hoffnung unbeugsam wie der winterliche Baum auf dem Berg Halla-san. Dieser Baum wuchs damals dort und wird es wohl auch heute noch tun.

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auf der weltbühne

Jazzsängerin Nah Youn-sun nimmt die Welt durch Musik auf Von der Jazzsängerin Nah Youn-sun, die hauptsächlich auf Frankreichs Bühnen aktiv ist, sagt man, dass sie den europäischen Jazz brilliant verinnerlicht hat und dennoch nichts von ihrer östlichen Gefühlswelt missen lässt. Seo Jeong Min-gap Popmusik-Kritiker

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eicht senkt die Frau, die schlicht gekleidet auf der Bühne steht, ihren Kopf mit dem langen, schwarzen Haar, blickt mit einem schüchternen Lächeln ins Publikum und schließt dann die Augen. Als sie mit leiser Stimme zu singen beginnt, setzt langsam und vorsichtig auch die Klavierbegleitung ein. Über die hohen Tonlagen in der Mitte des Stückes hinaus bis zu den Scat-Abschnitten (Silben und Wortfragmente, die im Jazz lautmalerisch instrumentale Phrasen nachahmen) im zweiten Teil hält sie die Spannung aufrecht, die ohne sich zu verlieren die Zuschauer in ihren Bann schlägt. Nur mit ihren langen, schlanken Fingern drückt sie ruhige, meditative Bewegungen aus, um diese Ruhe schließlich mit einem kraftvollen Spreizen der Arme zu durchbrechen. Egal, ob sie von einem Klavier begleitet wird oder ein Ensemble zur Seite hat, egal, aus welchem Land das Lied stammt: Nahs Gesang zeichnet sich weniger durch Pracht als vielmehr durch ruhige Gelassenheit und Schlichtheit aus. Besonders die melancholische Note, mit der sie koreanische Volks- und Kinderlieder interpretiert, geht den Zuhörern zu Herzen. Man könnte fast meinen, dass der Reiz ihrer Kunst bei einem europäischen Publikum stärker ankommen könnte als bei einem koreanischen, das schon nach den ersten Takten weiß, um welches Lied es sich handelt.

Ohne Schweiß kein Preis Wenden wir uns zunächst einigen Erfolgen zu, die sie mit ihrem siebten Album Same Girl, welches sie 2010 zusammen mit dem weltbekannten schwedischen Gitarristen Ulf Wakenius veröffentlichte, erreichen konnte: Verkauf von mehr als 100.000 Alben; Platz 1 in der Jazz-Sektion der französischen Verkaufscharts FNAC und 80 Wochen Steady-Seller; Golden-Disc-Preis in Frankreich und erster Platz in den Jazz-Charts in Deutschland, Schweden, Norwegen und Belgien. Im März dieses Jahres sorgte ihr ausverkaufter Auftritt im traditionsreichen, 150 Jahre alten Théâtre impérial du Châtelet in Paris für 15-minütige stehende Ovationen und ihr neues Album Lento ist neben Same Girl auf den vordersten Plätzen der französischen Amazon-Verkaufscharts zu finden. Bis April nächsten Jahres ist ihr Tour-Plan mit Auftritten in den USA, Frankreich, Deutschland, Spanien, Japan, Italien, Slowenien, der Türkei und Schweden ausgefüllt. Dabei hat sie, im Extrem fall 17 Mal pro Monat auf der Bühne zu stehen. Zwischendurch wirkte sie im Juli 2013 auch noch beim Montreux Jazz Festival 2013 in der Schweiz mit, wo sie in der 11. Shure Montreux Jazz Voice Competition der Jury vorsaß. Nah Youn-sun sagt, der ganze Erfolg komme ihr nach wie vor wie ein Traum vor. Nah wurde 1969 als Tochter eines Musikerehepaars geboren: Ihr Vater Nah Yeong-su ist der ehemalige Leiter des Nationalchors, ihre Mutter Kim Mi-jeong ist Musical-Darstellerin. Nah studierte im Hauptfach Französische Literatur und gewann im zweiten Studienjahr bei einem Chanson-Wettbewerb des französischen Kulturinstituts Alliance Française Seoul den ersten Preis. Nach ihrem Studienabschluss arbeitete sie in der PR-Abteilung eines großen Unternehmens, kündigte jedoch nach nur acht Monaten in dem Bewusstsein, dass ihr diese Arbeit nicht zusagte. Das Blatt wendete sich, als ihr nach einem Vorsingen für die koreanische Fassung des Musi-

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Die Jazz-Vokalistin Nah Younsun beherrscht die Bühne mit ihrem von Einfachheit und Klarheit geprägten Gesang. Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


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cals Linie 1, umgesetzt von dem Singer-Songwriter Kim Min-gi, die Hauptrolle zugesprochen wurde. „Als Musical-Darsteller muss man normalerweise singen, tanzen und schauspielern, aber für die Rolle der Musical-Heldin Seon-nyeo brauchte ich nur zu singen.“ Soweit ihre bescheidene Interpretation, wie sie der Hauptrolle gerecht werden konnte. Nach zwei weiteren Musicals dachte sie, dass es so nicht weitergehen könne und sie erst noch mehr lernen müsse, weshalb sie 1995 nach Frankreich ging. Diese Entscheidung sollte ihr späteres Leben prägen, ihren Namen in Europa bekannter als in Korea werden lassen und ihre Alben zu Must-have-Titeln der Musiksammlung vieler JazzLiebhaber machen. Doch angesichts dieser Erfolge bricht die Sängerin, die die 40 überschritten hat, nur wie ein junges Mädchen in Lachen aus: „Ich hatte nie den Gedanken, eine berühmte Jazz-Sängerin werden zu wollen. Es kamen lediglich ständig neue Arbeiten auf mich zu und ich habe nur fleißig im Hier und Jetzt gelebt.“ Der Erfolg hat sich jedoch nicht von selbst eingestellt. Allein mit dem festen Willen, Jazz, eine der wichtigsten Strömungen der Musikwelt, von Grund auf studieren zu wollen, schrieb sie sich am CIM, einem der ältesten Jazz-Institute Europas, ein. Darüber hinaus studierte sie an drei weiteren Schulen, u.a. dem Nationalen Musikinstitut in Beauvais und dem Nadia und Lili Boulanger Konservatorium. Während dieser Zeit habe sie Jazz wie ein Schwamm aufgesaugt, sagt sie. Natürlich stieß sie aber auch an Grenzen: „Als ich die Standardtechniken des Jazz lernte, spürte ich, dass die Virtuosität, die ich mit einer Stimme wie meiner erreichen konnte, Grenzen hatte. Doch meine Lehrer gaben mir die diversen Werke verschiedener europäischer Jazz-Vokalisten zu hören und ich begriff, dass die eine Interpretation genauso Jazz ist wie die andere. Das machte mir Mut, weiterzumachen.“ Rückblickend sieht sie Paris, wo Menschen aus aller Welt unter einem Dach versammelt sind und sich daher die Welt sozusagen bei einem zu Hause befindet, als exzellente Standortwahl. „Bei Freunden, die einen zum Essen nach Hause einladen, läuft indische Musik. Das Essen, das bei aufgeschlagenem Kochbuch zubereitet wird, ist thailändisch und der süß-herbe Tee, der serviert wird, stammt aus Afrika. Nach dem Essen wird zu orientalischer Musik aus dem Nahen Osten getanzt. Durch solche Freunde habe ich etwas über Vielseitigkeit gelernt. Egal, wo ich hingehe, ob nach Malaysia, Singapur oder Estland: Ich arbeite mit verschiedenen Musikern zusammen und lerne dabei durch die Musik etwas über die Welt.“ Am CIM Jazz-Institut entwickelte sie ihre natürliche Begabung als Musikerin und bildete ihre eigene Musikwelt heraus, um nach ihrem Abschluss mit dem Nah-Youn-sun-Quintett ihre musikalischen Ideale Realität werden zu lassen. „Ich hinterließ in jedem kleinen Jazz-Club mein Demo-Band und rief mehrmals am Tag an, ob nicht einer Interesse an mir habe.“ Der Tatsache bewusst, dass auch große Musiker-Veteranen am Anfang „so hart wie Firmenangestellte“ geschuftet haben, um Bekanntheit zu erlangen, folgte sie deren Beispiel und machte sich durch viel „Klinkenputzen“ langsam einen Namen.

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© Chris Jung

Schlichtheit und Freiheit Abolut unverzichtbar ist für Nah der Auftritt auf der Bühne: „In der Vorbereitungszeit lernt man, durch den Auftritt selber lernt man und wenn man danach auf den Auftritt zurückblickt, lernt man ebenfalls.“ Des Weiteren sind nach Nah Auftritte auch Momente der Kommunikation mit dem Publikum, was für sie bei der Musik am wichtigsten ist. „Ein Musiker muss v.a. über zwei Dinge verfügen: Technik und Gefühl. Technik ist natürlich sehr wichtig. Aber danach folgt Gefühl, eine Art Herz-zu-Herz-Verbundenheit mit dem Publikum. Auch z.B. von einem einheimischen Lied aus Finnland, dessen Text man nicht versteht, kann man ergriffen werden. Gefühle sind unabhängig von der Sprache, ihr Ausdruck hängt von der Offenheit und Ehrlichkeit des Vortragenden ab. Es ist fast unheimlich, wie das Publikum einen siebten Sinn dafür hat.“ Nah Youn-suns Gedanken über Auftritte gehen noch weiter: „An einigen Tagen spürt man, wenn man auf der Bühne steht, eine bestimmte Energie. Man weiß einfach, dass es heute wohl gut laufen wird und 80% von diesem Gefühl kommt aus dem Publikum. Deswegen mag ich kleine Bühnen, auf denen ich spüren kann, ob zwischen dem Publikum und mir ein Gleichklang der Herzen besteht.“ Obwohl sie schon fast 20 Jahre Musik macht, lotet Nah noch immer ihre Grenzen aus, experimentiert und stellt durch solche Prozesse ihre Weiterentwicklung sicher. „Ich mache viele Stimmübungen. Dabei übe ich jeden Tag auf andere Weise. So gibt es Momente, in denen

Eine Szene aus Nah Younsuns Konzert im Théâtre du Châtelet in Paris im March 2013. Alle 2.500 Plätze waren ausverkauft und sie erhielt eine 15-minütige stehende Ovation des Publikums.

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mir Töne gelingen, die ich mir nie zugetraut, an die ich nicht einmal als Möglichkeit gedacht hätte. Dann denke ich: Das Unmögliche ist also doch möglich, so weit habe ich mich also schon frei gemacht.“ Die Grundlage für diese Freiheit bildet ein einfacher Lebensstil: „Da mein ganzer Körper mein Instrument ist, esse ich gut und schlafe viel. Internet und Handy nutze ich kaum. Zum einen, weil ich faul bin, zum anderen, weil ich bemüht bin, ein einfaches Leben zu leben. In gewisser Weise sind es auch die vielen Reisen, die mir ermöglicht haben, ein einfaches Leben zu führen. Alles, was ich zum Leben brauche, befindet sich in einer einzigen Reisetasche. Diese antrainierte Genügsamkeit scheint mir dabei zu helfen, Musik zu machen und eine gute Konstitution zu bewahren.“

„Koreanerin“ als Bestimmungswort Die nach einem einfachen Leben strebende Nah Youn-sun hat ihr neues Album Lento mit einfacher Instrumentenbesetzung aufgenommen, der Klang ihrer Stimme lässt sich aber keineswegs als „einfach“

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Š younsunnah.com

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„Wenn ich auf Englisch, Französisch oder Koreanisch singe, ist es, als würde ich ständig das Instrument wechseln. Trotzdem bin und bleibe ich Nah Youn-sun.“

„In gewisser Weise sind es auch die vielen Reisen, die mir ermöglicht haben, ein einfaches Leben zu führen. Alles, was ich zum Leben brauche, befindet sich in einer einzigen Reisetasche.“ K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 13

bezeichnen. Zu einer großen Varibilität ihrer Stimme kommt eine nie nachlassende Spannkraft. Ihre Stimme umgibt eine überwältigende Aura, die nicht von dieser Welt zu sein scheint. „Für Lento habe ich alles an einem Tag aufgenommen. Beim ersten Versuch ist die Spannung am höchsten und ich kann mich zu 200% konzentrieren. Deswegen ist die Spannung bei Live-Auftritten auch am größten. Ehrlich gesagt sind die Stücke Arirang und Momento Magico die einzigen auf dem Album, für die vorher geprobt wurde. Bei den anderen haben wir ohne Proben gleich aufgenommen. Ich wollte nämlich das Momenthafte einfangen.“ Musik ist etwas, das sich in einem Moment verflüchtigt. Ohne Spuren zu hinterlassen verschwindet sie von den Fingerspitzen der Musizierenden und aus den Ohrmuscheln der Zuhörer. Energie und Nachhall der Musik lassen sich zwar wahrnehmen, aber nicht archivieren. Um beides einzufangen, stellt sich Nah Younsun furchtlos diesem ersten Moment der Begegnung mit der Musik und bringt so nicht nur den Klang des Moments, sondern auch die Luftvibration zur vollen Geltung. Wo sieht Nah eigentlich selber ihre Identität als jemand, der in Korea geboren, aber in Europa aktiv ist? „Ehrlich gesagt habe ich alles über Musik in Frankreich gelernt. Von meinen ersten Schritten auf der Bühne an haben mich die Franzosen als Künstlerin angenommen, ohne dass es wichtig war, woher ich komme oder was ich davor gemacht habe. Einfach gesagt, sehen mich die Franzosen als eine der ihren an. Dafür bin ich sehr dankbar.“ Aber wo auch immer sie hingeht, folgt ihr die Erklärung, dass sie Koreanerin ist. Eine Jazzsängerin aus Asien erweckt immer noch auch eine Spur Neugier bei den Leuten. „Wie man die Stimme, die man von seinen Eltern geerbt hat, benutzt, kann man nicht lernen. Liefert das nicht auch eine Erklärung dafür, wie das Koreanischsein in meine Musik einfließt? Wenn ich auf Englisch, Französisch oder Koreanisch singe, ist es, als würde ich ständig das Instrument wechseln. Trotzdem bin und bleibe ich Nah Youn-sun.“ Die bisherigen Alben der Künstlerin beinhalten koreanische Stücke wie Nostalgia, Heart of Glass, Senoya Senoya und Arirang. Die Motivation hierfür lag aber nicht darin begründet, koreanisches Liedgut in die Welt hinaustragen zu wollen: „Die Musiker, mit denen ich zusammen arbeite, mögen Arirang. In traditioneller Volksmusik scheint mir eine besondere Kraft zu liegen. Es handelt sich um ein Stück, dessen Sprache für das ausländische Publikum nicht verständlich ist. Aber die Melodie ist einfach, weshalb auch jeder das Lied anders aufnimmt. Es gehört zu den Stärken des Arirang, dass es frei interpretierbar ist. Das ausländische Publikum ist überaus erstaunt, wenn ich erkläre, dass es ein altes Volkslied ist, das jeder Koreaner kennt und von dem mehr als 8.000 Text-Variationen existieren.“ Nah, die auf der Bühne immer noch Lampenfieber hat, ist während unseres Gesprächs weniger aufgeregt und scheint es zu genießen, wobei sie sich aber nie in den Vordergrund rückt. Übertriebener Ehrgeiz ist ihr fremd und ihre Wünsche sind entsprechend schlicht: „Ich lebe bereits meinen Traum. Es wäre schön, weiter auftreten und singen zu können und den jungen Sängern auch weiterhin ein Vorbild dafür sein zu können, dass jemand mit einer Stimme wie meiner, die eigentlich wenig für Jazz geeignet ist, es trotzdem schaffen kann.“ Sie fügt hinzu: „Ich empfinde es als großes Glück, dass ich mit der Zeit immer begeisterungsfähiger werde und es mehr und mehr Dinge gibt, die ich machen möchte.” Angesichts dieser Einstellung der Künstlerin, sehe ich mit freudiger Erwartung den Ergebnissen ihrers zukünftigen Schaffens entgegen. (Homepage von Nah Youn-sun: www.younsunnah.com)

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Meister der Darstellenden Künste

Yu Ji-hwa Meisterin des Federblumentanzes Yu Ji-wha, Trägerin des Kulturgutes der Jeongeup-Bauernmusik, ist eine Großmeisterin, die Nongak, traditionelle koreanische Bauernmusik und -tanz, zu einer komplexen Darstellenden Kunstform entwickelte. Yu, die sich immer noch für die Förderung des Nachwuchses einsetzt, ist „Noreum Machi“, d.h. der Spielmeister (wörtlich: Spielvollender. Der Bauerntanz Nongak wird wie manch andere volkstümliche Tänze sprachlich und begrifflich als „Spiel (Nori/Noreum)“ verstanden. ). Wenn sie dafür auf die Bühne steigt, fesselt die 72-Jährige auch heute noch das Publikum mit ihrem Charme und Charisma.

Choi Hae-ree Tanzanthropologin | Foto: Ahn Hong-beom

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obald die Lichter im Publikumsbereich des Saals ausgehen, sticht die große Lotosblüte auf dem Hut von Yu Ji-wha, der Sangsoe (Spielführerin und Handgong-Spielerin), blendend weiß hervor. Die Blüte senkt schüchtern den Kopf, um dann mit dem Klang des Handgongs prächtig aufzublühen. Yu bewegt ihren Kopf im Takt als schwinge sie in einer Brise, während sich die Lotosblüte den rhythmischen Bewegungen entsprechend öffnet und schließt. Das Publikum, das den Federblumentanz (Bupo Noreum, oder Bupo Nori) verfolgt, wird von dem Nachbildeffekt der wirbelnden Federblume auf dem Hut und den flinken Bewegungen der Tänzerin, deren Füße nach rechts und links springen, während sie den Handgong schlägt, unwillkürlich in einen taumelnden Bann geschlagen.

Kopfbewegung und Atmung Die Federblume (Bupo), ein Requisit für Nongak (traditionelle Bauernmusik und -tanz), besteht aus Vogelfedern, die in Form einer großen Blüte arrangiert sind. Der lange, steife Blumenstängel ist auf der Kopfbedeckung des Tanzenden angebracht, die dem Soldatenhut der Joseon-Zeit (1392-1910) nachempfunden ist. Mit subtilen Kopfbewegungen stößt der Tänzer den Stängel in eine Richtung und zieht ihn wieder zurück, wodurch die Blume sich öffnet und schließt. Nongak wird mit Perkussionsinstrumenten wie Handgong (Kkwaenggwari), Sanduhrtrommel (Janggu) und Handtrommel (Sogo) gespielt, wobei sich von der ganzen Band dargebotene Teile und Soloauftritte der einzelnen Instrumentenspieler abwechseln. Der Leiter der Band, der den Handgong spielt, führt dabei den Federblumentanz auf. „Zuerst muss man Kopf und Hals bewegen, als ob sie zwei unterschiedliche Teile wären, aber doch eine unzertrennliche Einheit darstellten. Man muss den Oberkörper von der Schulter ab bis zur Taille im Einklang miteinander bewegen. Das Atmen ist auch wichtig. Man muss kurz den Atem anhalten und dann mit einem Stoß ausatmen und daraus exakte Rhythmen schaffen. Nur so steigen die Federn auf dem Hut wie Nebelschwaden auf und formen sich zu Knospen, die dann plötzlich zu voller Blüte aufspringen.“

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Yu Ji-hwa bei der Aufführung des Federblumentanzes, bei dem sie ihre nur aus Frauen bestehende Truppe anführt. Durch geschicktes Kreisen ihres Kopfes im Rhythmus des Handgongs bringt sie die Federblume auf ihrem Hut zum blumengleichen Öffnen und Schließen.

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Die Federblumen-Tänzer halten auch schon mal mitten in der Aufführung beim Tanzen inne und geben Lieder oder witzige Geschichten zum Besten. Weil Federblumen-Tänzer vielfältige Bewegungen, dynamisches Instrumentalspiel, anrührenden Gesang und geistreiches Geschichtenerzählen meistern müssen, gibt es in diesem Bereich nur sehr wenige Meister. Yu Ji-wha, Meisterin der Jeongeup-Bauernmusik, ist eine Großkünstlerin, die nicht nur den Federblumentanz geschickt aufführt, sondern auch andere Solotänze mit dem Handgong und der Sanduhrtrommel.

Charme der Synkope Seit 2008 hat die Kulturerbe-Stiftung Koreas (Korea Cultural Heritage Foundation) jährlich die Veranstaltung Acht Tanzmeister ausgerichtet, bei der acht Großmeister des traditionellen koreanischen Tanzes auf der Bühne des Koreanischen Kulturhauses (Korea Cultural House, KOUS) auftreten. Bei der fünften Veranstaltung im Mai 2013 führte Yu Ji-wha den Federblumentanz auf. Die Experten des traditionellen koreanischen Tanzes, die sich ihren Auftritt ansahen, waren sich einig, dass ihre Aufführung den Höhepunkt des Tages darstellte. Die Reaktion des Publikums war auch außergewöhnlich: Die Zuschauer, die sich mit Bauernmusik und -tanz einigermaßen auskannten, feuerten die Tänzerin mit Ausrufen wie „Gut!“ und „Brava!“ an. Einige stiegen sogar auf die Bühne und steckten ihr Geldscheine in Kostüm und Instrumente.

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Bedenkt man die heutigen Gepflogenheiten im Bereich der Darstellenden Kunst, mag es befremdend wirken, dass sich Zuschauer während der Aufführung den Künstlern auf der Bühne nähern und ihnen sogar noch Geld geben. Aber bei traditionellen koreanischen Darstellenden Künsten wie dem schamanistischem Exorzismusritual Gut, dem Federblumentanz Bupo Nori und dem epischen Sologesang Pansori, bei denen die Grenzen zwischen Publikum und Vorführenden verschwommen sind, ist es völlig natürlich, dass begeisterte Zuschauer auf die Bühne steigen und zusammen mit den Künstlern tanzen. Es ist auch eine traditionelle und humorige Sitte, dass enthusiastische Zuschauer den besten Spieler belohnen, indem sie ihm auf der Bühne Geld in Kostüm oder Instrument stecken. Der Spieler, der mit dem besten Auftritt die Nongak-Aufführung zum Ende bringt, wird als Noreum Machi, wörtlich „Spielvollender“ bezeichnet. Die Zuschauer der Veranstaltung Acht Tanzmeister erkannten Yu Ji-wha als Noreum Machi an, indem sie ihr Geld zusteckten. Beim Interview erinnert sich Yu Ji-wha mit einem zufriedenen Lächeln an diese Aufführung: „Ich stand nach langer Zeit wieder einmal auf einer Bühne in Seoul und habe ein bisschen auf der ‚Trommel in der Kehle‘ gespielt.“ Mit diesem Ausdruck beschreibt sie die in ihren Auftritt eingestreuten witzigen Bemerkungen zur Belustigung des Publikums. Ihre Auftritte sind einzig und allein nur für das Publikum gedacht: Darstellende Künstler sollten ihrer

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Zeit an den Kursen teilgenommen hatte, erkannte die Gesangslehrerin ihre Begabung und soll ihr eine große Zukunft vorausgesagt haben. Yu konnte jedoch ihr Verlangen nach Musik und ihr künstlerisches Talent nicht länger unterdrücken und lief mit 15 von zu Hause weg, als sie zufällig ein Plakat zur Anwerbung von Mitgliedern für die Jeonbuk Damen-Bauernmusikband sah. Nongak, Bauernmusik und -tanz, ist eine Gemeinschaft-basierte Kunst, bei der die Dorfbewohner seit alters her bei gemeinsamen Arbeiten oder Dorfritualen spielend mit Perkussionsinstrumenten wie Handgong, gro2 ßen Gong (Jing), Eieruhrtrommel und Fasstrommel musizieren und tanzen. 1 Die Bauernmusik-Band der Gemeinde Jeongeup, angeführt von Yu Ji-hwa, bei einem Bühnenauftritt. 2 Der Handgong wird vom Nach der Modernisierung der LandLeiter der Band gespielt. Das Ohr mit den aufregenden Rhythmen gemeinden entwickelte sich Nongak des Handgongs fesselnd, zieht der Tänzer den Blick mit dem zu einem unabhängigen Genre der bezaubernden Spiel der Federblume auf sich. Darstellenden Künste. In den 1950er Jahren, kurz nach dem Koreakrieg, gab es nur wenige Aufführungen für die Öffentlichkeit. Die Damen-Bauernband, der Yu angehörte, war für die Landbewohner damals eine besondere AttrakVorstoß in eine Männer-Domäne tion, da Nongak bis dahin eine so gut wie rein männliche DomäYu Ji-wha wurde 1942 in der Stadt Jeonju geboren. Schon sehr früh ne war. Daher zog ihre Band überall viele Zuschauer an und war verlor sie ihren Vater, aber dank der Mutter hatte sie keine schweimmens erfolgreich. Yu Ji-hwa verbrachte ihre Jugendjahre bis in re Kindheit. Ihre Mutter, eine Nachfahrin der Yi-Königsfamilie des ihre 20er damit, als Mitglied dieser Band durchs Land zu ziehen. Joseon-Reichs, wünschte, dass die Tochter zu einer wohlerzogeDamals wurde Yu von Großmeistern unterrichtet wie Bak Nam-sik nen jungen Dame heranwachse, weshalb sie sie streng erzog. Aber und Kim Jae-ok, Spielführer und Spieler des kleinen Gongs; desYu Ji-wha machte die Hoffnungen der Mutter zunichte, als sie 12 weiteren Park Seong-geun, einem namhaften Federblumen-TänJahre alt war. Als sie eines sonntags einen Botengang für ihre Mutzer, Yi Myeong-sik und Yi Jeong-beom, Sanduhrtrommel-Spieler, ter erledigte, wurde sie von einer Darbietung des epischen Sologeund Hong Yu-bong, einem Handtrommel-Spieler. Darüber hinaus sangs Pansori, die sie zufällig hörte, dermaßen fasziniert, dass sie lernte sie auch durch ihre Auftritte in der traditionellen koreanisofort in einem Gwonbeon, einer Einrichtung zur Ausbildung von schen Oper Changgeuk, die ebenfalls zum Repertoire der Bauernprofessionellen Unterhalterinnen (Gisaeng), den Gesang erlernte. musik gehört, tanzen, den epischen Sologesang Pansori singen Die Institution Gwonbeon wurde während der japanischen Kolonialund schauspielern. Nach der Auflösung der Damen-Band schuf sie herrschaft (1910-1945) als Verband professioneller Unterhaltungsselbst Bühnen für ihre Aktivitäten, indem sie verschiedene Bands künstlerinnen eingerichtet. Der Verband ersetzte das Gyobang, das gründete, darunter eine mit ihrem Namen, eine Arirang-Band, eine staatliche Gisaeng-Ausbildungsinstitut der Joseon-Zeit, und bot Saemaeul-Band usw. Um diese Zeit kreierte sie auch einen neuen Kurse in allen Kunstformen an, die die Gisaeng beherrschen mussNongak-Aufführungsstil, für den sie Instrumentalspiel, Gesang, ten, darunter Poesie, Gesang, Tanz usw. Nach der Befreiung von Tanz und Schauspielkunst kombinierte. Das heißt, sie schuf Nongder Kolonialherrschaft wurde der Verband aufgelöst und durch priak als komplexes Genre der Darstellenden Kunst neu, wobei sie die vate Einrichtungen wie das Gwonbeon ersetzt. von ihren Lehrern weitergegebenen Techniken des InstrumentalIn der Hoffnung, Pansori singen zu lernen, schwänzte sie tagtägspiels und des Tanzens integrierte und mit improvisierten verbalen lich die Schule, bis ihr Lehrer die Mutter darüber informierte, dass Späßen würzte. sie bereits seit einem Monat fehlte. Letzten Endes konnte sie sich Yu gewann immer größere Beliebtheit und wurde in den 1960er dem harten Tadel und dem Drängen ihrer Mutter nicht widersetund 1970er Jahren als „Protagonistin, die Damen-Nongak zur Blüte zen und ging nicht mehr zu diesem Institut. Obwohl sie nur kurze Meinung nach „das Publikum schätzen und es fürchten.“ Das Geheimnis für ihre Beliebtheit bei den Zuschauern soll in ihrem „Charisma und Charme“ liegen. Obwohl sie klein von Gestalt ist, strahlt sie ein Charisma aus, das das Publikum überwältigt. Sie sagt: „Sei es Instrumentalspiel oder Federblumentanz, der einzigartige Reiz der Bauernmusik liegt in der Synkopierung. Wie etwa bei der Synkope im Jazz wird der normale rhythmische Akzent von einem betonten auf einen unbetonten Takt verlagert. Beim Tanz bedeutet das, dass der Tänzer bei einem betonten Takt den Atem anhält und sich bei einem unbetonten bewegt. Die alten Tänzer des traditionellen koreanischen Tanzes bezeichneten das als ‚Schlucken eines Taktes‘“. Ihr Tanz, bei dem sie die reizvolle Synkopierung meisterhaft zur Geltung bringt, wirkt, als bewege sich Yu Jihwa zwischen den Rhythmen.

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Yu Ji-hwa verwendet StrauĂ&#x;enfedern. Sie wĂźnscht sich eine Federblume aus den Federn des Rotkronenkranichs, die etwas schwerer sind und sich noch eleganter bewegen.

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„Man muss kurz den Atem anhalten und dann mit einem Stoß ausatmen und daraus exakte Rhythmen schaffen. Nur so steigen die Federn auf dem Hut wie Nebelschwaden auf und formen sich zu Knospen, die dann plötzlich zu voller Blüte aufspringen.“ bringt“ und „Superstar der Damen-Nongak-Bands“ gelobt. In den 1980er Jahren verlor Nongak-Bauernmusik jedoch allmählich an Boden, als das von Nongak abgeleitete traditionelle Perkussionsquartett Samulnori an Popularität zu gewinnen begann. Demzufolge gab es für Yu immer weniger Gelegenheiten, auf der Bühne aufzutreten.

Zwei Wünsche Auf Vorschlag der Jeongeup-Stadtregierung entschied sich Yu Jihwa schließlich dafür, sich der Ausbildung des Nachwuchses zu widmen, und zog 1993 nach Jeongeup. Die Stadtregierung eröffnete für sie das Städtische Gugak-Zentrum (Gugak: traditionelle koreanische Musik) und im Gegenzug belebte Yu die seit dem Koreakrieg ausgestorbene Nongak-Bauernmusik-Tradition von Jeongeup wieder. Sie leistete einen großen Beitrag dazu, dass die Jeongeup-Bauernmusik 1996 zum Immateriellen Kulturgut der Provinz Jeollabuk-do designiert wurde. Nongak-Bauernmusik unterscheidet sich je nach Region. In der Honam-Region, zu der die Provinzen Jeollanam-do und Jeollabukdo gehören, teilt sich Nongak wiederum in zwei Unter-Versionen, die Udo (rechtes Gebiet)- und die Jwado (linkes Gebiet)-Version. Die Jeongeup-Version gehört zur Variante von Honam-Udo, das regional die weiten Ebenen im Südwesten von Jeollanam-do mit Städten wie Gochang, Gimje, Gwangju und Jeongeup umfasst. Nach Yu Ji-wha sind charakteristische Kennzeichen von Udo-Nongak sanfte Melodien, schnelle Taktfolgen und dynamische Rhythmen. Seit alter Zeit waren in Jeongeup Volksreligionen und Erbschamanismus weit verbreitet, was wiederum zur Entwicklung der schamanistischen Ritualmusik führte. In den 1920er Jahren wurde Nongak als Ritualmusik der in dieser Region entstandenen Religion Bocheongyo ausgewählt. Der geistige Führer dieser religiösen Richtung lud anlässlich der Einweihung einer Zeremonialhalle ausgezeichnete Nongak-Künstler ein. Dank dieses besonderen regionalen, musikalischen und religiösen Umfelds entwickelte sich die Nongak-Bauernmusik von Jeongeup sprunghaft weiter. Yu Jiwha führte die künstlerischen Traditionen der Udo-Nongak fort, während sie einige Charakteristika der Jwado-Version adaptierte. Dadurch sublimierte sie die Bauernmusik-Variante von Jeongeup zu einer komplexen Darstellenden Kunst, in der Gesang, Tanz, Musik und Schauspiel in Einklang stehen. Es sind nun schon 60 Jahre, dass Yu sich der Nongak-Bauernmusik widmet. Kim Bok-man, Professor an der School of Korean Traditional Arts, Korea National University of Arts, sagt: „Meisterin Yu Ji-wha ist nicht nur eine herausragende Künstlerin, sondern verK o r e a n a ı H e r b s t 2 0 13

dient es auch, in Bezug auf ihre Persönlichkeit als ‚Nongak-Mutter der Nation‘ bezeichnet zu werden“. Damit verweist er auf Yus mütterliche Hingabe, mit der sie junge Talente heranzieht. In der Tat geht sie an jeden Ort, wo ihre Fertigkeiten und Techniken zur Tradierung der Nongak-Kunst gebraucht werden: Sie unterrichtet an der Korea National University of Arts und am National Gugak Center in Seoul, an der Chung-Ang University in Ansan und an der Sebul University in Yeongam. Yu sagt: „Man kann Eiter erst ausdrücken, wenn sich die Pustel hinreichend entwickelt hat.“ Das heißt, dass der Pool an motivierten Studenten, die sie zu talentierten Künstlern heranziehen kann, möglichst groß sein sollte. Das ist unmöglich, wenn sie nur in Jeongeup unterrichtet, weshalb sie die Hälfte der Woche landesweit in anderen Regionen unterwegs ist, um Talente zu entdecken. Darüber hinaus hat sie zwei Schüler aus finanzschwachen Familien bei sich zu Hause aufgenommen und bietet ihnen kostenfrei Unterkunft, Verpflegung und Privatstunden. In diesem Sinne ist sie eine Lehrerin, die die traditionelle Methode der Kunsterziehung, ‚mit Worten vermitteln und mit dem Herzen lehren‘, d.h. den natürlichen Erwerb im alltäglichen Leben fördern, treu umsetzt. Vor zwei Jahren überredete sie die Jeongeup-Stadtregierung zur Gründung der Jeongeup-Stadtbauernmusikband, um ihren Schülern berufliche Wege zu öffnen. Meisterin Yu Ji-wha hat noch zwei Wünsche: Zum einen hofft sie, mit ihren Kolleginnen von den Damen-Bauernmusikbands, in denen sie früher aktiv war, eine „große Bühne“ für ein Wiedersehen zu arrangieren. Diese Kolleginnen sind u.a. An Suk-seon, O Gap-sun und Gang Gyeong-suk, die als Meistersängerinnen des Pansori verehrt werden. Laut Yu fehlt es den jungen Künstlern von heute an Warmherzigkeit, weshalb sie die alten Zeiten vermisst und glaubt, dass es den einstigen Kolleginnen nicht anders geht. Sie ist überzeugt davon, dass sie zusammen eine herausragende Aufführung bieten können, da ihre künstlerischen Fertigkeiten denen der jungen Künstler in Nichts nachstehen. Zum anderen wünscht sie sich authentische Federblumen. Mit Federblumen aus den Federn des Rotkronenkranichs kann sie wirklich richtig tanzen. Der Rotkronenkranich steht jedoch als Naturdenkmal Koreas unter Schutz, so dass dessen Federn nicht gesammelt werden dürfen. Als Ersatz werden Straußenfedern verwendet. Aber die daraus gefertigten Federblumen sind zu leicht. Es bleibt auf den großen Tag zu warten, an dem Yu Ji-wha in einem Hut mit Rotkranich-Federblumen auf die Bühne tritt und mit den besten Meistersängerinnen unserer Zeit die Quintessenz der traditionellen koreanischen Kunst vorführt.

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den eigenen weg gehen

Jokbo : Wurzeln der Familie und Teil der Volksgeschichte

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Park Byung-ho, der zweite Pr채sident von Hoesangsa, einem Jokbo-Verlag, sieht sich im Museum im 6. Stock des Verlagsgeb채udes die Genealogien an, die seine Firma herausgegeben hat.

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Hoesangsa ist ein Pionier in Sachen Jokbo-Veröffentlichung. Der Verlag, der mehr als 80 Prozent aller zeitgenössischen koreanischen Familienclan-Genealogien, genannt „Jokbo“, publiziert hat, begeht 2014 sein 60. Gründungsjubiläum. Zwar stellt man den Zeitläuften entsprechend mittlerweile auch digitale Genealogie-Formate her, aber sowohl der Verlagsgründer als auch sein Sohn, der den Familienbetrieb übernommen hat, sind der festen Überzeugung, das Jokbo aus Papier „tausend Jahre überdauern“.

Kim Hak-soon Journalist | Foto: Ahn Hong-beom

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ie Suche nach den eigenen Wurzeln geht über die Grenzen von Ethnien und Regionen hinaus. Jede Familie hat ihre eigene Tradition und Geschichte und diese erfahren zu wollen, ist ein menschlicher Instinkt. Wurzeln (Roots: The Saga of an American Family ), der 1976 veröffentlichte semi-dokumentarische Roman des Afroamerikaners Alex Haley (1921-1992), war eine weltweite Sensation und wurde sofort in 37 Sprachen übersetzt. Erzählt wird die sich über sieben Generationen erstreckende tragische Familiengeschichte der Nachfahren von Kunta Kinte, der 1767 im afrikanischen Gambia verschleppt und in Amerika in die Sklaverei verkauft wurde. Das Werk führte zu einem weltweiten Boom der Wurzelsuche. Die Wahl der irischstämmigen Präsidenten John F. Kennedy, Ronald Reagan und Bill Clinton sorgten in diesem Zusammenhang z.B. in ganz Irland für Furore.

Ein Jokbo für jede Familie Es dürften sich aber wenige Länder wie Korea finden lassen, wo fast alle Familien in Buchform gestaltete, weit zurückreichende Familienclan-Genealogien besitzen. Bei der Tradition der koreanischen Clan-Genealogien, die unter dem Einfluss des antiken China stand, geht es nicht um einfache Familien-Stammbäume, sondern um Dokumente von historischer Bedeutung. Weil in den Jokbo kleine und große Dokumentierungen nicht nur bezüglich des ganzen Familienclans, sondern auch bezüglich einzelner Individuen festgehalten werden, können damit Lücken in der Geschichte gefüllt werden. Anders als die in anderen Ländern üblichen genealogischen Aufzeichnungen, die meist auf Personen aus der Herrscherfamilie oder der Adelsschicht fokussieren, ist der Protagonist der koreanischen Genealogien der Normalbürger, so dass die Jokbo mit ihrer formalen und inhaltlichen Vielfalt die Kultur des Landes breit widerspiegeln. Darüber hinaus sind sich Experten einig, dass die Jokbo-Kultur Koreas dank der vergleichsweise früh entwickelten Drucktechnik rascher als anderswo florierte. Eine riesige Sammlung von rund 13.000 genealogischen Aufzeichnungen 600 verschiedener Arten befindet sich im Archiv des Koreanischen Nationalmuseums und sogar die HarvardUniversität in den USA besitzt zahlreiche Jokbo auf Microfiche. Jokbo wird im englischsprachigen Raum als „family tree“ bezeichnet, in China als 宗譜 (Zongpu) und in Japan als 族譜 (Kahu). Nach historischen Quellen soll die erste koreanische Famlienclan-Genealogie das Wangdaejongnok (Königliche Genealogische Aufzeichnungen) sein, das von dem Gelehrten Kim Gwan-ui verfasst K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 13

wurde, der während der Regentschaft des Goryeo-Königs Uijong (reg. 1146-1170) lebte. Sieht man von den königlichen Genealogien ab, dann ist das Yeongnakbo des Ryu-Clans aus Munhwa, das 1423 während der Herrschaft von König Sejong dem Großen (reg. 14181450) verfasst wurde, das erste private Stammbuch. Seine Existenz ist allerdings nur durch Aufzeichnungen überliefert. Das älteste, heute noch erhaltene Jokbo ist das Gajeongbo des Ryu-Clans aus Munhwa, das 1565 unter der Regentschaft von König Myeongjong erschien. In China gilt das Supu, das von Su Shi (Su Dongpo (10371101)), als erste private genealogische Aufzeichnung.

Hintergrund des Verlags Hoesangsa Park Hong-gu (1922-2012), der letztes Jahr im Alter von 89 Jahren verstarb, ist aus der Publikationsgeschichte der modernen genealogischen Aufzeichnungen Koreas nicht wegzudenken. Hoesangsa, der 1954 von ihm gegründete Verlag, ist im wahrsten Sinne des Wortes der größte Jokbo-Verlag Koreas. Mehr als 80 Prozent aller zeitgenössischen koreanischen Jokbo wurden hier publiziert, was rund 6 Millionen Buchbänden entspricht. Im fünften Obergeschoss des Hoesangsa-Hauptquartiers in der Stadt Daejeon befindet sich das Hoesang Munbowon, das 1988 eingerichtete, erste Genealogie-Museum Koreas. Es beherbergt die vom Verlag gedruckten 25.000 Jokbo-Bände von 900 Familienclans. Darunter sind 500 Gesamtclan-Genealogien (Daedongbo) mit allen Ästen und Zweigen seit dem Urstammvater des Gesamtclans, 1.500 genealogische Aufzeichnungen von Gründerpersongebundenen Zweigclans des zweiten Grades jeweils seit dem Gesamtclan-Gründer (Pabo), und 900 Aufzeichnungen, die die Genealogien von Familien bis zur Kindergeneration der jeweils gegenwärtigen Familienoberhäupter beinhalten (Gaseungbo). Die Gesamtzahl übertrifft den Bestand der in der Koreanischen Nationalbibliothek befindlichen Sammlungen. Rechnet man alte Bücher, Gedicht- und Schriftensammlungen, die Schriften der den regionalen, konfuzianistischen Schreinen angegliederten öffentlichen Lehreinrichtungen (Hyanggyo), buddhistische Schriften usw. hinzu, beläuft sich die Sammlung des Verlagsmuseums auf rund 50.000 Exponate. Die Bücher stehen nach dem koreanischen Alphabet geordnet in den Regalen. Abgedeckt sind fast alle der rund 280 koreanischen Familiennamen, ca. 800 Zweigclans des ersten Grades, die mit dem Heitmatort ihrer jeweiligen Gründer verbunden sind, und ca. 3.400 Zweigclans des zweiten Grades, die eine bedeutende Persönlichkeit als Gründer haben.

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Die Schwiegertochter des Haushalts „Mein Vater nannte den Verlag Hoewusste nicht, dass mein Vater dort sangsa (wörtlich: Verlag Erinnerung) saß, und schüttete das Reiswaschim Sinne von „durch die Erinnerung wasser nach draußen. Vater waran Altes Neues schaffen“. Ich denke, tete triefend vor Schmutzwasser dass er mit diesem Namen eine schöin der eisigen Kälte weiter. Als der ne Zukunft schaffen wollte, indem Hausherr ihn schließlich entdeckte, man sich an die schöne Vergangenwar er voller Mitleid und beauftragheit, in der die Weisheit der Vorfahren te Vater ohne Zögern mit der Jokboverborgen liegt, erinnert und so die Herstellung. Vater stand immer vor Gegenwart richtig erkennt“, erklärt 1 5 Uhr morgens auf. Er schlief in seiPark Byeong-ho (67). 1 Ein elektronisches Jokbo, produziert von Hoesangsa. Um nem Büro im dritten Stock auf einem Park war früher als Apotheker, Mitmit der Zeit zu gehen, läutete die Firma 2004 das Zeitalter des Feldbett und beschäftigte sich selbst glied des Stadtrats von Daejeon und „digitalen Jokbo” ein. 2 Von Hoesangsa gedruckte Genealogien. im Bett noch mit der Jokbo-Arbeit.“ Leiter des Bezirksamts von DongTrotz hochmoderner Medien schätzt Park nach wie vor auf Papier gedruckte Jokbo hoch. Park Byeong-ho erzählte auch die gu in Daejeon tätig, d.h. er hatte mit Geschichte eines Neureichen, der dem Familienbetrieb wenig zu tun. das Jokbo dazu nutzen wollte, seinen und den gesellschaftlichen Als ältester Sohn konnte er jedoch den Wunsch seines Vaters nach Status seiner Familie zu „waschen“: „Ein Herr Anfang 50 fuhr in Fortführung des Familienbetriebs nicht ignorieren, so dass er 2007 einem ausländischen Luxusauto vor und bat meinen Vater, seine Vizepräsident des Verlags wurde. Familie in die Genealogie einer Familie von Rang und Namen einzufügen. Er hatte hart gearbeitet, viel Geld gemacht und war zum Rührende Episoden Chef von mehreren Firmen aufgestiegen, wusste aber überhaupt Ende der 1970er Jahre, als das Nationaleinkommen stieg, kam es zu nichts über die Wurzeln der eigenen Familie und des Familieneinem Boom der Suche nach Vorfahren und Wurzeln, was die Nachclans. Er wollte seine Tochter verheiraten, aber die Familie des frage nach Jokbo enorm in die Höhe trieb. Ab Mitte der 1980er Jahre künftigen Bräutigams wollte zuvor das Stammbuch der Braut strömten dann die Aufträge zur Aktualisierung der vorhandenen sehen, das er deshalb aufzupolieren gedachte. Selbstverständlich Jokbo herein, was das Wachstum des Verlags beförderte. Aber hinlehnte Vater seine Bitte schlankweg ab.“ ter diesem Erfolg stehen Anstrengungen und rührende Episoden. Seiner Funktion als Vizedirektor der nationalen konfuzianistischen „An einem kalten Wintertag ging mein Vater in aller HerrgottsfrüAkademie Seong Kyun Kwan entsprechend, hinterließ Verlagshe wegen eines Auftrags zum Haus eines Clan-Ältesten. Dort wargründer Park Hong-gu in der Manier der traditionellen koreanitete er unter der Dachtraufe, während der Hausherr noch schlief.

Seiner Funktion als Vizedirektor der nationalen konfuzianistischen Akademie Seong Kyun Kwan entsprechend, hinterließ Verlagsgründer Park Hong-gu in der Manier traditioneller koreanischer Seonbi-Gelehrter zahlreiche Kalligraphien, die überall in den Verlagsbüros und in der Druckwerkstatt zu finden sind. Die wohl bemerkenswerteste liest sich folgendermaßen: „Wer ein kluger Kopf ist, gebe seine Weisheit weiter! Wer keine Weisheit besitzt, biete Arbeit im Schweiße seines Angesichts! Wer weder Weisheit noch Arbeitskraft anzubieten hat, möge leise gehen!“ 54

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schen Seonbi-Gelehrten zahlreiche Kalligraphien, die überall in den Verlagsbüros und in der Druckwerkstatt zu finden sind. Die wohl bemerkenswerteste liest sich folgendermaßen: „Wer ein kluger Kopf ist, gebe seine Weisheit weiter! Wer keine Weisheit besitzt, biete Arbeit im Schweiße seines Angesichts! Wer weder Weisheit noch Arbeitskraft anzubieten hat, möge leise gehen!“ Und eine andere: „Möge Etikette auf deiner Stirn eingraviert sein, Weisheit in deinen Augen, Freundlichkeit in deinem Mund, Aufrichtigkeit in deinem Herzen und Arbeit in deinen Händen!“

Papier-Jokbo und digitales Jokbo Seit 2004, als Hoesangsa sein 50. Gründungsjubiläum beging, stellt der Verlag neben Papier-Jokbo auch digitale Jokbo her. Gibt man den Namen einer Person im koreanischen Alphabet und in chinesischen Zeichen ein, erscheinen verschiedene Daten wie Porträts oder Fotos der betreffenden Person, Infos zu Leben und Werk, hinterlassene Kalligraphien oder Malereien, Fotos der Familienclan-Grabstätten, Videoclips etc. Aber Park Byeong-ho hat in Speichermedien wie Disketten, CD-ROM und Internet kein Vertrauen: „Papier-Jokbo können über Hunderte, ja sogar Tausende von Jahren aufbewahrt werden. Ehrlich gesagt kann niemand sagen, wie lange die Daten auf den hochmodernen Speichermedien haltbar sein werden. Es ist meine Aufgabe, das Datenmaterial mittels der eigens von Hoesangsa entwickelten und akkumulierten Techniken und Materalien zu drucken und zu bewahren.“ Park nennt die enorme Datenmenge und deren hohe Genauigkeit als Gründe für das Ansehen, das Hoesangsa genießt. Der Verlag entwickelte Fonts für den Druck von 700 seltenen chinesischen Zeichen, die hauptsächlich für Namen verwendet werden - ein wertvolles Kapital, das kein anderer Verlag in Korea besitzt. Hoe-

sangsa verwendet für die Jokbo-Schriftzeichen nur den Schrifttyp Chunjeon-che, der von Park Hong-gu entwickelt wurde. „Chunjeon“ (Frühlingsfeld) ist Parks Künstlername. Die Firma entwickelte zudem eine eigene Bindetechnik, mit der die Jokbo für lange Zeit in Buchform aufbewahrt werden können. „Angesichts der Entwicklung von digitalen Geräten und Internet kommen heutzutage nicht mehr besonders viele Leute in den Verlag, um ihr Jokbo Korrektur zu lesen. Aber mein Vater erzählte, dass vor der Jahrtausendwende noch viele alte Herren im traditionellen Gewand über eine Woche im Verlag verbracht hätten, um die Druckfahnen zu korrigieren.“ Auch das alte Ritual, einen gekochten Schweinekopf als Opfer darzubringen und dabei um die erfolgreiche Herstellung des in Auftrag gegebenen Jokbo zu bitten, ist ausgestorben. Wie Relikte aus alter Zeit finden sich im Verlagsgebäude noch eine Pension und ein Restaurant für Leute, die früher zum Korrekturlesen von weit her angereist kamen. Nachdem mittlerweile auch Frauen das Recht zugestanden wurde, sich als Familienoberhaupt registrieren zu lassen, und die Zahl der internationalen Eheschließungen steigt, verliert das FamilienclanKonzept immer mehr an Bedeutung, was wiederum zur Folge hat, dass das allgemeine Bewusstsein über den Wert der Jokbo allmählich abnimmt. Darüber hinaus bringt das Erscheinen von digitalen Jokbo eine drastische Reduzierung der Aufträge für PapierJokbo mit sich, was sich negativ auf die Auftragslage des Verlags auswirkt. Obwohl es daher nicht zum Besten um Hoesangsa bestellt ist, bleibt Park unerschütterlich in seinem Entschluss, auch weiterhin Papier-Jokbo zu drucken, denn „Mein Vater betonte, dass Jokbo die Wurzeln der Familie darstellen und Teil der Geschichte des Volkes sind.“

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neuerscheinung Charles La Shure Professor an der Graduate School of Interpretation and Translation, Hankuk University of Foreign Studies

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Konfuzianische Werte und Krieg: Die Seele berührender, autobiografischer Roman einer koreanischamerikanischen Autorin

The Voices of Heaven Von Maija Rhee Devine, 305 Seiten, $16.00/12.000 Won, Irvine: Seoul Selection USA, Inc. (2013)

Maija Rhee Devines Debüt-Roman beruht auf ihren Memoiren, in denen sie ihre Erfahrungen vor und während des Koreakrieges beschreibt. Auf Vorschlag ihres Verlagsagenten schrieb sie die Memoiren in einen Roman um, wobei sie ihre Geschichte von der Protagonistin Mi-na – einem jungen Mädchen, dessen Eltern sich innig lieben, aber keinen Sohn zeugen konnten – erzählen lässt. Mi-na leidet unter den missbilligenden Blicken der Nachbarn, die ihr vorwerfen, nicht als Junge geboren worden zu sein, und letztendlich sie dafür verantwortlich machen, dass ihr Vater eine Zweitfrau nehmen muss, um den für die Fortsetzung der Blutlinie so wichtigen männlichen Erben zu zeugen. Der erste und längste Teil des Romans setzt im Vorkriegsjahr 1949 an und beschreibt das Leben der Familie, die sich an die Anwesenheit der Zweitfrau, die von Mi-na „Kleine Mutter“ genannt wird, gewöhnt. Dann bricht der Krieg aus und die Familie wird entzwei gerissen. Obwohl die Familienmitglieder nach dem Krieg wieder vereint werden, empfinden sie sich nie wieder als volle Einheit und Mi-na setzt alles auf ihre Ausbildung, um in Amerika ein neues Leben beginnen und ihre Eltern wieder zusammenbringen zu können. Der Epilog, der rund 50 Jahre nach dem dritten Teil des Romans spielt, beschreibt, wie Mi-na von dem Familiengeheimnis erfährt, das die Grundfesten ihrer Identität erschüttert, mit dem sie sich aber schließlich abfinden kann. Neben den zeitlichen Sprüngen weist der Roman auch perspektivische Sprünge auf. Während die ursprünglichen Memoiren aus der Perspektive der Autorin geschrieben wurden, springt der Roman vor und zurück und erzählt die Geschichte einmal aus der Sicht Mi-nas, dann abwechselnd aus der ihres Vaters, ihrer Mutter und der der Kleinen Mutter. Obwohl die Protagonistin Mi-na ist, wird dem Leser zunächst Soo-yang vorgestellt, die junge Frau, die Mi-nas Kleine Mutter wird. Die Perspektivwechsel verleihen dem Werk eine größere Tiefe und machen jeden Charakter auf seine eigene Art und Weise sympathisch. Die wahren Antagonisten sind letztendlich die Umstände, in denen sich die Charaktere befinden, und die Gesellschaft, in die sie hingeboren wurden. Die Geschichte an sich ist beeindruckend: Erzählt wird das Leben von Menschen, die mit den Auswirkungen weitreichender historischer Ereignisse zurechtkommen müssen, und einer Gesellschaft, die in den Fesseln konfuzianischer Werte gefangen ist. Ringen und Kampf der weiblichen Charaktere werden dabei besonders beleuchtet: Mi-na, das Mädchen, das ein Junge hätte sein sollen; Eum-chun, die liebende Ehefrau, die eine andere Frau im Bett ihres Mannes dulden muss, weil sie ihm keinen Sohn gebären kann; Soo-yang, eine junge Frau, die von ihrem Bräutigam sitzen gelassen wurde und daher zum Mätressen-Dasein verdammt ist. Die dahinter stehende Kritik konfuzianischer Werte ist nichts Besonderes für die moderne Zeit, aber selten findet sie sich in dermaßen hoher emotionaler Eindringlichkeit thematisiert. Das vielleicht auffälligste Merkmal des Buches ist aber die Sprache. Der Leser wird mit sehr fremd wirkenden Ausdrücken und Wendungen konfrontiert. Allein auf den ersten Seiten finden sich Beschreibungen wie „giggling like an idiot who couldn’t tell red beans from black beans“, „mandarin duck sweethearts“ und „the luck of having a gold-filled pumpkin drop on you“. Der Roman ist auch durchsprenkelt mit Onomatopoetika, für die man im englischsprachigen Raum vergeblich nach Vergleichbarem sucht. Die Autorin lässt ihre Charaktere sogar manchmal Sätze ohne Angabe des Subjekts sprechen, was im Koreanischen allgemein üblich ist. Der Schreibstil erinnert sehr an „auf Englisch geschriebenes Koreanisch“. Leser, die Land und Sprache kennen, mögen das anfänglich als etwas störend empfinden, aber es ist nicht zu leugnen, dass die Autorin mit einzigartiger Stimme erzählt. Leser, die weniger mit Korea und der Sprache vertraut sind, dürften diesen seltenen Blick auf das Korea von vor rund sechzig Jahren, sicher zu würdigen wissen. Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


Gedichte eines Zen-Meisters zur Begegnung mit der Wahrheit

Magnolia & Lotus: Selected Poems of Hyesim Von Hyesim (Choe Sik), übers. von Ian Haight / Ho Tae-yong, 97 Seiten, $16.00, New York: White Pine Press (2012)

Die Seon (oder Zen) Meditationstradition des Buddhismus steht im Gegensatz zur Texttradition: Während die letztere die schrittweise Erleuchtung durch das Studium der Sutren zum Ziel hat, verfolgt die erstere eine eher plötzliche Erleuchtung durch Meditation und Kontemplation – so die Erklärung der Übersetzer. In diesem Sinne versteht der SeonBuddhismus den Widerspruch, der der Sprache immanent ist: Sie ist notwendig zur Kommunikation, während sie gleichzeitig unserer Fähigkeit, zu kommunizieren, Grenzen setzt. So gesehen ist die Poesie, die mehr ausdrücken möchte als die Summe der Wörter, vielleicht die ideale Ausdrucksform für diese Schule des buddhistischen Denkens. Hyesim war ein buddhistischer Mönch, der Ende des 12., Anfang des 13. Jhdts im Südwesten Koreas lebte und der erste Seon-Meister, der sich der Poesie widmete. Der Gedichtband, der eine Auswahl aus Hyesims Werk bietet, beginnt mit einer einleitenden Beschreibung seines Lebens von seiner Kindheit als Schüler des Konfuzianismus und Buddhismus über seine Ernennung zum Hauptabt des Tempels Songgwang-sa bis hin zu seiner posthumen Ernennung zum „Nationalen Präzeptor“ (Guksa: Lehrer der Nation), der höchsten Ehre für einen Mönchen. Inhalte und Themen der Gedichte werden ebenfalls diskutiert und in einem separaten Teil wird auf Anordnung, Übersetzung und Lesart der Gedichte eingegangen. Die 58 Gedichte sind chronologisch in 3 Abschnitte unterteilt: Hyesims frühe Jahre als Mönch, seine Jahre als Abt und seine letzten Lebensjahre. Es gibt zwar auch einige längere Gedichte, aber die meisten sind recht kurz und können auf einen Blick gelesen werden. Gedichte wie Instead of Heaven or Earth, I Answer, die die Prinzipien des Zen-Buddhismus lehren und in wenigen Zeilen tiefe Bedeutung komprimieren, mögen zwar zunächst schleierhaft erscheinen, aber sie zwingen den Leser innezuhalten und sich mit der in den Worten versteckten Wahrheit zu befassen. Der Akt des Lesens an sich bringt Einsichten in die Prinzipien und Übungen des Seon-Buddhismus. In anderen Gedichten wird die Natur betrachtet, wobei es nicht nur um ihre Schönheit geht, sondern um die Wahrheit, die sie zu offenbaren vermag. Das Gedicht Plantain z.B. ist eine Meditation darüber, in welchem Maße unsere Wahrnehmung der Dinge diesen Dingen nicht gerecht zu werden vermag. Water Clock ist eins der Gedichte, die über ein Objekt sinnieren, wobei die Zeitmessvorrichtung als Metapher für die flüchtige Natur der menschlichen Existenz genommen wird. Dann K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 13

gibt es noch Meditationen über das Wesen der Realität an sich wie z.B. die vier Vierzeiler mit dem Titel Emotions of the Seasons. Diese kurze, bildreiche Betrachtung jeder einzelnen der vier Jahreszeiten geht im Ausdruck über die traditionellen Erwartungen hinaus und ermutigt den Leser, dem Dichter in seiner Kontemplation des Lebens zu folgen. Magnolia & Lotus lädt zu wiederholtem Lesen ein, wobei jede Begegnung dazu führt, in die tiefere Bedeutung vorzudringen.

Online-Studienkurse in Korea-Studien für Schüler amerikanischer Highschools

Sejong Korean Scholars Program Stanford University: http://spice.stanford.edu/docs/sejong_korean_scholars_program/

Das Stanford Program on International and Cross-Cultural Education (SPICE) ist Teil der Bemühungen der Universität Stanford, interkulturelle Bildung im primären und sekundären Schulsektor in allen Teilen der USA zu verwirklichen. Zu den diesbezüglichen Aktivitäten gehört auch das Sejong Korean Scholars Program, ein auf Highschool-Schüler zugeschnittener Online-Kurs in Korea-Studien. Unter 60 Bewerbern wurden die 27 herausragendsten aus dem ganzen Land ausgewählt, um an Online-Unterricht teilzunehmen, der eine große Fächerbandbreite unter dem Oberthema „Korea-Studien“ abdeckt. Das im März 2013 gestartete Programm ist das erste, das Korea-Studien für Oberschüler anbietet. Die englischsprachigen Kurse werden von anerkannten Experten geleitet und decken Themen wie koreanische Geschichte, Kultur, Religion, Kunst, Politik und Wirtschaft ab. Zu nennen sind z.B. Einführung in den koreanischen Buddhismus, Wirtschaftliche Entwicklung in Korea , oder Hallyu-Koreawelle-Bewegung , wobei der letzte Kurs sicherlich bei Schülern, die sich für die Populärkultur Koreas interessieren, beliebt sein dürfte. Die Schüler können unter 12 OnlineKursen wählen, an Online-Diskussionen teilnehmen und haben ein wöchentliches Lese- und Hausaufgaben-Pensum zu erfüllen. Das kostenfreie Programm bietet amerikanischen Oberschülern die seltene Gelegenheit, etwas über Korea zu lernen und sich so einen Bildungs- und Karrierevorsprung im Bereich Korea-Studien zu sichern. Shin Gi-wook, der Direktor des Stanford University’s Korean Studies Program und einer der Kursleiter des Sejong Korean Scholars Program , hofft, dass das Programm dazu beiträgt, irrige Vorstellungen über Korea in Amerika zu korrigieren und den Schülern die Gelegenheit bietet, „sich eine breitere Sichtweise anzueignen und ihr Wissen und Verständnis über Korea zu vertiefen“.

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Sonderbeitrag

Jenseits von Gangnam Style Philipp Richardsen Professor für Konzertfach Klavier, Mokwon University

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as Land der Morgenstille ist vor allem eines nicht: still. Zur alltäglichen Geräuschkulisse, verursacht durch Industrie, Verkehr und Konsum und aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte noch gegenwärtiger als in manch anderer Wohlstandsgesellschaft, gesellt sich musikalische Dauerbeschallung: ob Einkaufszentrum in Seoul, Schipiste in den Bergen von Gangwon-do oder Strand in Busan – klangliche Erbauung aus Lautsprechern, Radio und Fernsehen hat ihren festen Platz. Der Besucher mag sich gelegentlich Ruhe wünschen und die Zwangsbeglückung als belästigend empfinden, allem unterbewusst-suggestiven werbetechnischen Kalkül zum Trotz jedoch zeigt sich der Drang eines Volkes, Musik zu schaffen und zu erleben. Koreanische Unterhaltungsmusik, kurz K-Pop genannt, ist Lebenselixier einer ganzen Generation geworden; wer den weltweiten Siegeszug von Gangnam Style verfolgt oder vor einigen Jahren erlebt hat, wie die Gruppe Girls' Generation mit ihrem Hit Gee die Jugend des Landes in einen monatelangen Dauertrancezustand versetzte, erahnt, wie sehr die Volksseele nach Ausdruck durch Musik giert. Diese Verbundenheit mit Kunst reicht weit zurück und ist untrennbar mit der leidvollen Geschichte Koreas verbunden. Das Land musste sich wiederholt und über Jahrhunderte gegen Besatzung und Einfälle von außen zur Wehr setzen, so dass Musik und Tanz Mittel waren, Seelenqualen auszudrücken und zugleich auf feinfühlige, indirekte Weise die Kritik zu üben, deren wörtliche Formulierung kaum ungestraft geblieben wäre. Schon die traditionelle Musik, mit Instrumenten wie etwa der Wölbbrettzither Gayageum und dem epischen Sologesang Pansori reich beschenkt, stellt Motive des Leidens, des inneren Aufbegehrens und des geduldigen Ertragens in den Mittelpunkt – eine Tradition, die in den Jahrzehnten nach der Befreiung des Landes 1945, also in einer Zeit rasanter wirtschaftlicher Entwicklung und stetigen Kampfes um Demokratie und Menschenrechte, in Vergessenheit geriet und erst vor wenigen Jahren wieder aufzublühen begann. Das Lied des K-Pop wiederum, in branchenüblicher Art trivialisiert, verzichtet größtenteils auf Gesellschaftskritik und beschränkt sich auf die romantische Liebe: Die in der Lyrik am häufigsten auftretenden Worte „saranghae“ (Ich liebe dich.), „mianhae“ (Tut mir Leid!) und „sijak“ (Anfang bzw. Neuanfang) legen davon Zeugnis ab. Abseits von historisch-nationalistisch geprägten Genres oder westlich beeinflusster Unterhaltungsmusik hat in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts die westliche Klassik Einzug gehalten: In den Jahren nach dem Koreakrieg waren es noch wenige Exoten, die die Musikhochschulen Europas und Nordamerikas als Studenten besuchten und anschließend die Menschen im eigenen Land mit klassischer Musik vertraut machten – den christlichen Missionaren nicht unähnlich, die bereits ein halbes Jahrhundert früher die koreanische Halbinsel bereist hatten und deren Eifer das

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Christentum schließlich zur dominierenden und politisch einflussreichsten Religion im Land machte. Spätestens seit den frühen 1980er Jahren jedoch kann man von Massen sprechen, die, nach Abschluss ihres Studiums eines klassischen Musikinstruments im Ausland, als Pianisten, Sänger, Dirigenten oder Orchestermusiker Teil eines schnell wachsenden Musikbetriebs wurden. In den Anfängen noch wie Helden im eigenen Land empfangen und mit prestigeträchtigen Positionen und hochdotierten Verträgen bedacht, hat sich das Bild gründlich gewandelt: Selbst Diplome berühmter Schulen, Preise bei angesehenen internationalen Wettbewerben oder Auftritte in allseits bekannten Konzertsälen führen heute keineswegs selbstverständlich zum beruflichen Erfolg. Der sprichwörtliche „asiatische Fleiß“ in Verbindung mit dem in Korea so oft anzutreffenden Willen, durch harte Arbeit außergewöhnliche Leistungen zu erbringen, haben technische und nicht selten auch künstlerische Standards in luftige Höhen geschraubt – Korea auf der globalen Überholspur, nicht nur bei Handys und Plasmabildschirmen, sondern auch auf der Bühne und im Orchestergraben. Das enorme Angebot an Qualität hat das Selbstbewusstsein einer Nation nun auch im Konzertsaal und in der Oper gestärkt. Zugleich hat im Zuge des gestiegenen sozialen Bewusstseins ein Nachdenkprozess über Arbeitslosigkeit unter Künstlern, niedrige Gehälter und Gagen sowie oft mangelnde vertragliche Absicherung, also über die Schattenseiten der Entwicklung, begonnen: Musikervereinigungen werden gegründet, Versammlungen abgehalten, und der lebhafte Diskurs unter Kunstschaffenden blüht. Auch hier zeigt sich ein scheinbar widersprüchliches und doch sehr typisches Antlitz der Mentalität: Schier grenzenloser persönlicher Ehrgeiz, schon im Kindergarten gefordert und gefördert, vereinigt sich mit dem Bewusstsein, der Gesellschaft dienen zu müssen. Der Wille, besser als alle anderen zu werden, lässt dennoch den Blick frei auf die, die für ihre Mühe keinen gerechten Lohn empfangen. Die soziale Kluft, durch den rasanten Aufstieg Koreas vom Armenhaus Asiens zur Wirtschaftsgroßmacht erbarmungslos auseinanderdriftend, beginnt viele Bürger zu beunruhigen: Sei es die Angst, selbst die Seiten wechseln zu müssen, sei es das Erbe des im Joseon-Reich (1392-1910) als Staatsideologie propagierten Neo-Konfuzianismus, nach dem das Wohl des anderen über dem eigenen Vorteil zu stellen ist – eine wachsende Zahl von Koreanern beginnt, den eigenen Aufstieg zu hinterfragen und so den Grundstein für eine nicht nur ökonomisch potente, sondern sozial gereifte Gesellschaft zu legen, und das zeigt sich auch und gerade in der Kunst. Dem Fremden präsentiert sich das Land teils als sympathisches, teils als leicht chaotisches, in jedem Fall aber buntes Mosaik musikalischen Erlebens. In nicht wenigen Bezirken der Großstädte finden sich Gebäude, bei deren Betreten der Besucher bemerkt, dass Telekom-Shops, Schneidereien oder Immobilienmakler die Lage zu ebener Erde bevorzugen und bei allen Unterschieden die Affinität zu Lautsprechern teilen, aus denen Gangnam Style und Girls' Generation entströmen. Der Aufstieg in den ersten oder zweiten Stock führt zu kleinen Privatinstituten, aus deren Wänden nicht nur die englische Sprache, sondern oft auch Mozart-Sonaten und Chopin-Nocturnes dringen. In den oberen Stockwerken vermischen sich die Eindrücke: Studenten, die K-Pop hören oder ihre Songs gleich selbst schreiben, von Pensionisten, die kleine Radios tragen, um auf die Volksmusik ihrer Jugendtage in keiner Lebenslage verzichten zu müssen, Kindern, die von ihren Müttern zum fleißigen Klavierüben angehalten werden, oder Mittvierzigern, die die Eindrücke des Europa-Besuchs mit der Reisegruppe durch Klassik-CDs warmhalten wollen. Vielfalt also nicht nur, wohin das Auge blickt, sondern auch, wo immer das Ohr hört, und vielleicht ist es gerade diese Mehrdimensionalität auf kleinem Raum, die Korea zum Mikrokosmos der Sinne macht, schnell atmend, heftig pulsierend und aus einer bewegten Vergangenheit in eine spannende Zukunft drängend.

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Entertainment

Mit seinem neuen Album Hello ist es dem Sängerveteranen Cho Yong-pil gelungen, sich über die in der Popwelt gängige Unterscheidung zwischen Jung und Alt hinwegzusetzen. Das Album sorgte für eine Sensation, da Cho sich jüngerer Genres wie Electronic Sound, Modern Rock oder Rap bedient, ohne den Kern seines eigenen Musikstils aufzugeben.

Lim Jin-mo Musikkritiker

Cho Yong-pil ist

zurück!

© YPC Production

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ie Reaktionen auf das Comeback des Sängers Cho Yong-pil nach 10 Jahren sind so gewaltig, dass selbst die Idol-Gruppen, die die K-Pop-Welle anführen, davon an den Rand gedrängt werden. Auch in den Blogs oder Chat-Rooms des Internets, die vorwiegend von jungen Leuten in den Zwanzigern besucht werden, erklingen ohne Unterlass Chos neue Songs und überall wird sein Bounce und Hello gesummt. Sein Album belegte den ersten Platz der Musik-Charts, was bedeutet, dass die Musik dieses 63-jährigen Sängers die junge, digitale Generation für sich gewinnen konnte. Dasselbe gilt auch für TV-Programme für junge Leute wie Music

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Bank und Music Core, bei denen seine Lieder ebenfalls an der Spitze stehen. Ende Juni, etwas über zwei Monate nach der Veröffentlichung, waren bereits mehr als 230.000 Alben verkauft – bislang ein Rekord unter den Neuerscheinungen für 2013. Ein kleines Wunder, hervorgerufen von einem Veteranen Jahrgang 1950.

Mut eines „Oldtimers“ „Cho Yong-pil, was für ein Erlebnis die Kostprobe via digitale Musikquellen! Bounce Bounce, klopft mein Herz! Ich hab Angst, man hört es.“ Dieser mit einem Zitat aus dem Liedtext versehene geistKorean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


reiche Tweet von Taeyang, Sänger der Boygroup Big Bang , hat bereits ähnliche Berühmtheit erlangt wie das 19. Album Cho Yongpils selbst, dessen erster Track Bounce schon vor der eigentlichen Veröffentlichung auf einer Musik-Seite im Internet zu hören war. Der Hype brach unter den Teens und Twens aus: „Was!!! Diese Stimme soll wirklich einem 63-Jährigen gehören!?” Sie fanden es unglaublich, dass diese Musik mit Elektrosound, Rock-Beat und sogar Rap von einem Oldtimer stammte. Die jungen Leute überschlugen sich geradezu, um die Songs eines Sängers, der bei der Generation ihrer Eltern angesagt gewesen war, zu hören, zu streamen oder herunterzuladen. Die älteren Fans waren begeistert, in einem Maße, das weit über die bloße Freude, mal wieder etwas Neues von Cho Yong-pil zu hören, hinausging. Besonders die Tatsache, dass er den Mut hatte, nicht den Vergleich mit dem internationalen Star Psy und seinem neuen Song Gentleman zu scheuen, sondern ihn zeitgleich mit Bounce herausforderte, rührte an die Gemüter. So stellte Cho wieder einmal unter Beweis, dass er für die älteren Koreaner nicht nur ein Sänger, sondern ein Symbol für die ganze Generation ist. Ein 40-jähriger Bankangestellter empfand gar, dass „der Erfolg Cho Yong-pils auch mein eigener zu sein scheint“. Die ältere Generation, die sich in Sachen Populärkultur von der jüngeren abgehängt fühlen dürfte, erfüllte Chos ungewöhnlicher Erfolg mit neuem Selbstbewusstsein und lässt sie sagen: „Ich gehöre noch nicht zum alten Eisen!“ Auch die besondere Rücksichtnahme, dass das Album nicht nur als CD, sondern auch als LP erschien, bewegte die ältere Fangemeinde. Die LP galt schon fast als ausgestorben, doch die Nachricht, dass der Erfolg Cho Young-pils jetzt sogar der Nachfrage nach Plattenspielern Auftrieb verlieh, spricht dafür, dass die Analog-Kultur wohl doch nicht ganz verschwinden wird. Dieses Mal hat sich Cho Young-pil bei der Konzeption des Albums bewusst für rocklastigere Inhalte entschieden. Das ist wohl der größte Unterschied zu dem vor zehn Jahren erschienenen 18. Album Over the Rainbow. Zusammen mit der Entschlossenheit, der neuen Generation nicht hinterherzuhinken, ist auch die Absicht zu erkennen, den Älteren durch den Rocksound der Jugend Mut einzuflößen.

Der König des koreanischen Pops Selbst unter den zahllosen Popstars am Firmament der koreanischen Musikgeschichte gilt Cho Yong-pil als „die Nummer Eins“. Nicht umsonst lautet sein Spitzname „König des koreanischen Pops“, hat er doch mit Hits wie Kehr zurück in den Hafen von Busan oder Die Frau vor dem Fenster weitaus mehr Erfolge vorzuweisen als so manch anderer. Es gibt bestimmt mehr als 50 Lieder, die ältere Fans allein am Intro sofort erkennen können. Nimmt man als Kriterium, dass das Musical Mamma Mia 17 Songs der Gruppe ABBA enthält, könnten mit den Hits von Cho Young-pil gleich drei Musicals produziert werden. Cho ist ein Künstler, der in seiner Musik sämtliche Richtungen, die K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 13

während seiner goldenen Jahre von Mitte der 1970er bis Anfang der 1990er in Korea existierten, vereint. Sein Schwerpunkt liegt zwar auf Rock, aber es gibt kein Genre, an dem er sich nicht versucht hätte, sei es Soul, Blues, Country, Folk, die koreanische Schlagermusik Trott oder traditionelle koreanische Musikformen wie Minyo-Volkslieder oder Gagok-Vokalmusik. Aus diesem Grunde wird er auch „Schmelztiegel der koreanischen Popmusik“ genannt und gilt als „Sänger der Nation“. Cho Yong-pils Lieder gehen nicht nur ins Ohr, sie gehen auch mitten ins Herz. Bei flüchtigem Hören klingt seine Stimme näselnd, aber sie wird von einer tiefen Resonanz getragen. Es ist seine lebendige, starke Stimme, die Bounce so gut bei den Teenagern von heute ankommen lässt, und es ist ebenfalls seiner Gesangskunst zu verdanken, dass das weibliche Publikum in den 1980er Jahren bei seinen Auftritten schier außer sich „Oppa!“ [„Großer Bruder“. Junge Mädchen verwenden diese Bezeichnung oft für einen Jungen, den sie mögen.] schrie.

Die zwei Prinzipien des Cho Young-pil Die Neuerfindung seiner selbst, die Cho Yong-pil dieses Mal an den Tag legte, ist in Wirklichkeit nichts Neues für ihn. Noch nie hat er sich auf einem Erfolg ausgeruht, sondern war stets bereit, nach neuen Horizonten zu streben. Seine Alben waren jedes Mal die Ergebnisse dieser Bemühungen. Das Werbeplakat für das jüngste Erfolgsalbum formuliert es so: „Das Ergebnis eines zehn Jahre währenden Prozesses der Innovation und der Leidenschaft“. Stets betont Cho die Wichtigkeit der Bühne. Für ihn gehören regelmäßige Bühnenauftritte zu den Fundamentalien seines Berufs. Das scheint allzu selbstverständlich zu sein. Doch für die derzeitig erfolgreichen Sänger oder Agenturen der neuen Generation, die meinen, sich als Universal-Entertainer bei TV-Unterhaltungssendungen präsentieren zu müssen, um möglichst schnell Erfolg zu haben, dürfte das schwer nachvollziehbar sein. Cho sagte einmal: „Je voller der Terminplan, desto weniger freie Zeit bleibt, sich der Musik zu widmen. Man muss auf der Bühne stehen, um zu einem großen Sänger heranzuwachsen.“ Auch wenn auf seinen Hit Traum von 1991 kaum noch hohe Chartplatzierungen folgten, konnte er seinen hohen Status durch seine ständige Bühnenpräsenz bewahren. Schon früh hat er dem Publikum bewusst gemacht: Wer mich sehen möchte, muss zu meinen Konzerten kommen. So konnte er sich erfolgreich auf der Bühne halten. Und tatsächlich hat er gesagt, dass auch sein neues Album bühnengerechte Musikstücke enthält. In der koreanischen Musikwelt von heute, die stark von der Musik einzelner Idol-Gruppen dominiert wird, hat er sich noch einmal auf den Flügeln seiner beiden Grundprinzipien in die Lüfte geschwungen: das Beharren auf Grundlegendem bei gleichzeitiger Offenheit für Neues. Da diese beiden Tugenden heute dringender als je zuvor vonnöten sind, gewinnt seine Musik über die Generationen hinweg Sympathie.

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Lifestyle

Flucht aus der Stadthektik „Einwandern“ auf die Insel Jeju-do

Die des modernen Stadtlebens müden Koreaner blicken mit Neid auf die Insel Jeju-do. Abgesehen von (frühen) Ruheständlern im Alter zwischen 50 und 60 träumen nun auch junge, den Konkurrenzkampf ablehnende Koreaner in ihren Zwanzigern und Dreißigern sowie Eltern zwischen 30 und 60, die ihren Kindern ein gesünderes Bildungsumfeld bieten wollen, von einem besseren Leben auf Jeju-do.

Lee Jin-Joo Freier Journalist | Foto: Ahn Hong-beom

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im Tae-hwan, Besitzer des Dalparan-Gästehauses, war früher Koreanischlehrer an der Oberschule. Nach dem Universitätseintritt seiner beiden Kinder meldete er sich zusammen mit seiner Frau, ebenfalls Lehrerin, freiwillig für den Schuldienst auf der Insel Jeju-do. An der Daejeong Mädchen-Oberschule, wo er zuletzt unterrichtete, erlebte er, dass die Schüler dort genauso wie ihre Altersgenossen in Seoul unter dem Lernstress für die Universitätsaufnahmeprüfung litten. Da überkam ihn die desillusionierende Vorahnung, dass „die Schulbildung am Ende“ sei, und er begann an seiner Lehrtätigkeit zu zweifeln. Er war Ende vierzig und um seine Gesundheit war es nicht zum Besten bestellt. Mit dem Gedanken, dass er als einfacher Lehrer sowieso nicht viel ändern könne, entschied er sich für die vorzeitige Pensionierung.

Akt II im Leben der jungen Ruheständler Mit den 600 Mio. Won (circa 400.000 Euro), die Herr Kim für seine Hochhauswohnung in Seoul bekommen hatte, kaufte er sich ein Stück Land in der Ortschaft Wimi-ri, die zu Namwon-eup nahe der Stadt Seogwipo gehört, und baute dort. Sein neues Zuhause liegt an Olle-gil Nr. 5, einem über Flachland führenden Wanderweg. Der zweite Stock des Gebäudes beherbergt ein Café mit Meeresblick, von der anderen Seite schaut man auf den Berg Halla-san. Nicht wenige aus Kims Umfeld waren besorgt, als der Mann, den sie nur als Bücherwurm und Lyrik-Lehrer kannten, ein Gästehaus

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mit Café eröffnete, doch dank der Hilfe vieler Menschen schafft er es irgendwie. Es geht dabei nicht immer „romantisch“ zu, denn an einem wasserreichen Ort hat man das ganze Jahr über mit hoher Luftfeuchtigkeit, Insekten und Schimmelpilzen zu kämpfen. Auch als Gästehaus-Besitzer muss er bei den unangenehmeren Tätigkeiten wie Hundefüttern, Abwasch oder Toillettenputzen selbst Hand anlegen. Herr Kim lacht, als er sagt, dass er sich langsam an die harte körperliche Arbeit und das „Leben als Diener“ gewöhnt. Seine Frau, die zunächst in Seoul zurückgeblieben war, ist im letzten August ebenfalls aus dem Lehrberuf ausgeschieden und nach Jeju-do gezogen. So ein Leben auf Jeju-do ist für Stadtbewohner, die sich dem Ruhestand nähern, Inbegriff der Romantik. Schon in dem Schlager Blaue Nächte auf Jeju-do aus den 1980ern wird Jeju-do als Utopia besungen, das nah und doch fern sei und wo man einmal hin möchte, „wenn man das Gefesseltsein an Zeitung, Fernsehen und monatliche Lohntüte nicht mehr mag“. Heutzutage steigt die Zahl derer, die früh in den Ruhestand gehen und Akt II ihres Lebens beginnen, wenn sie noch vergleichsweise jung und gesund sind, erheblich. Unter denjenigen, die nach Jeju-do „ausgewandert“ sind, um ihre romantischen Träume zu realisieren, ist es zu einem regelrechten Trend geworden, an einer Stelle der Olle-gil-Wanderwege oder an der Küste ein Café oder Gästehaus zu errichten.

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„Kultur-Auswanderung“ junger Künstler Ko Pil-heon (Künstlername: Mega Shocking), Betreiber des Gästehauses Jjolgit Center unweit des Strandbades Hyeopjae, war ein erfolgreicher Manhwa-Zeichner, der durch gut gehende, eher zweitklassige Comics einige Beliebheit erlangte. Doch vor drei Jahren beendete er plötzlich seine Serie und ließ sich auf Jeju-do nieder. Nach einer Lebenskrise, der eine Scheidung zugrunde lag, gab er seinem Leben eine völlig neue Richtung. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder und sieben jüngeren Kollegen übernahm er ein schäbiges zweistöckiges Haus im Dorf Hallim-eup bei der Stadt Jeju und eröffnete ein Gästehaus. In sein Gästehaus zieht es v.a. junge Leute jenseits des Mainstreams, die sich vom Kapitalismus und seinen Werten distanzieren, wie z.B. Mitglieder von Indie-Bands. 20- bis 30-jährige, die sich weigern, erwachsen zu werden, melden sich über die Twitter-Seite von Herrn Ko für gemeinnützige Freiwilligenarbeit an und machen sich mit großem Vergnügen ohne Bezahlung nützlich. Für sie ist es mehr Spiel als Arbeit. Herr Ko meint „Es ist eine Illusion zu glauben, dass man irgendwann im Leben glücklich sein wird“, und fordert dazu auf, „sofort das zu machen, was das Herz höher schlagen lässt.“ Ähnlich verhält es sich mit dem Maler Lee Myung-bok und seiner Frau Kim Eun-joong. Lee führte ein zwiegespaltenes Leben als Maler des Antikapitalismus einerseits und als hochbezahlter Angestellter einer Rundfunkanstalt andererseits. Als er gerade fürchten musste, „angesichts dieser ständigen Hochspannung durchzudrehen“, habe Jeju-do ihn „gerufen“. Seine Frau, die bei einer anderen Rundfunkanstalt arbeitete, folgte im bereitwillig nach Jeju-do. Dort eröffneten sie schließlich die Gallery Nori, die sich am Eingang des Jeoji-Künstlerdorfes in der Nähe des Jeju-Museums der Modernen Künste befindet. Als sie Veranstaltungen in Kombination mit Konzerten und Performance-Kunst planten, nahmen auch die angesagtesten Künstler des hippen Seouler Stadtviertels Cheongdam-dong wie die PopKünstlerin Mari Kim oder Vandal, der Vorreiter der koreanischen Graffitti-Kunst, daran teil. Das Ehepaar hat auch schon den Kindern der örtlichen Grundschule einen Ausstellungsraum zur Verfügung gestellt, so dass die Großeltern kommen konnten, um die Werke ihrer Enkel zu besichtigen. Man kann von einer Kulturbewegung sprechen, die von Top-Künstlern bis hin zu Grassroot-Künstlern reicht. Ursprünglich war die Insel Jeju-do kulturelles Ödland, das kaum über eine kulturelle Infrastruktur wie Theater oder Aufführungshallen verfügte. Doch mit dem Zuzug der „Kultur-Immigranten“ wie dem Ehepaar Lee entstehen Kultur- und Kunststandorte, wie man sie von der Kunst- und Designhochschule Hongik University in Seoul oder von Heyri bei Paju kennt. Die Zuzügler engagieren sich auch in einer Art des kulturellen Widerstands, indem sie z.B. die Demonstrationen gegen die Errichtung von Marinestützpunkten auf Jeju-do anführen oder bei Gemeindekampagnen aktiv werden. Eine weitere auffällige Besonderheit ist, dass unter den ZuwandeK o r e a n a ı H e r b s t 2 0 13

rern nicht nur die Zahl der „Babyboomer“ im Ruhestand, sondern auch die der 30- bis 40-Jährigen steigt. Sie befinden sich auf der Höhe ihres Lebens, in dem die Gesellschaft am meisten von ihnen abverlangt, suchen jedoch ihr Glück in einem langsamen Leben ohne unnötigen Ballast. Sie werden deshalb auch „Down­shifters“ (to downshift = herunterschalten) genannt, da sie quasi ihr Leben wie beim Auto von Hochgeschwindigkeit auf langsames Tempo heruntergeschaltet haben. Ihr Lebensmotto ist entsprechend: „Weniger verdienen, weniger ausgeben“. Wie sehr unterscheiden sie sich doch von der vorangegangenen Generation, die ohne es zu merken alt dabei geworden ist, wie Arbeiterameisen für Wohneigentum sowie Ausbildung und Verheiratung der Kinder zu schuften. Die Jüngeren schalten lieber jetzt herunter, um jetzt das Leben genießen zu können. Soziologen und Psychologen bewerten diesen Wandel positiv. Der Soziologe Kim Ho-ki von der Yonsei University analysiert ihn als „ proaktive Rückzugsstrategie der jüngeren Generation“. Er sagt: „Um mit den Ängsten vor Arbeitslosigkeit in den 20ern, dem Stress mit der Erziehung und Ausbildung der Kinder ab den 30ern und der Furcht vor dem Verlust des Arbeitsplatzes in den 40ern fertig zu werden, wählen sie den Weg zurück zur Natur.“ Es gibt sogar Wissenschaftler, die in diesem Phänomen „Anzeichen eines Exodus aus den Städten nach Art der fortgeschrittenen Industrieländer“ sehen.

Alternative Bildungsmöglichkeiten Der im September letzten Jahres auf die Insel „übergesetzte“ 37-jährige Kim Yeon-deok ist Augenarzt. Zuvor hatte er in einem großen Krankenhaus in der Metropolregion Seoul gearbeitet, auf Jeju-do ist er Angestellter in einer Praxis. Dass er seine sichere und gut dotierte Stelle aufgab und nach Jeju-do zog, war wegen seines 8-jährigen Sohns. Das hohe Ergebnis von 0,1% im Wechsler-Intelligenztest bescheinigte dem Kind Hochintelligenz, was ihm eine Anpassung an das öffentliche Schulsystem schwierig machte. Die Jeju International School mit ihrem vergleichsweise offen gestalteten Curriculum ermöglicht es, je nach Lernfähigkeit Klassen zu überspringen und bietet zudem eine engagierte Betreuung. Auch Kims Frau, die bei einer Rundfunkanstalt gearbeitet hatte, kündigte und folgte ihnen auf die Insel. Der Sohn, der an seiner alten Schule in Seoul unter Mobbing zu leiden hatte, wurde nach nur einem Halbjahr Schülersprecher. Er genießt die Schule, wo er u.a. in der Fußballmannschaft spielt. Herr Kim sagt: „Wenn ich sehe, wie mein Sohn sich verändert hat, dann weiß ich, dass sich die Opfer gelohnt haben.“ Es gibt viele „Bildungsimmigranten“ von den 30ern bis in die 50er, die aus ähnlichen Gründen wie Herr Kim gekommen sind, und sich in der Internationalen Schulstadt von Daejeong-eup bei Seogwipo oder der Stadt Jeju mit ihrem vergleichsweise hohen Lebensstandard niedergelassen haben. In den meisten Fällen wollten sie dem mörderischen Konkurrenzdruck der koreanischen Schulen entfliehen. Anders als die internationalen Schulen in der Hauptstadt, deren

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Besuch eine äusländische Staatsbürgerschaft oder beruflichen Langzeitaufenthalt im Ausland voraussetzt, ist der Besuch der internationalen Schulen von Jeju-do aufgrund des Status der Insel als Sonderverwaltungsprovinz auch für Inländer möglich. Für Eltern von schulpflichtigen Kindern gilt Jeju-do fast wie ein Mekka der alternativen Bildungsmöglichkeiten. Und so geht die Stadtflucht von Eltern, die ihr Kind „in der Natur aufziehen wollen“, weiter, auch unabhängig von den internationalen Schulen. Was die Grundschulen betrifft, so drängen sich in den öffentlichen Schulen von Seoul wegen der hohen Immobilienpreise der Stadt dreißig Schüler pro Klasse. Der mit wasserabweisendem Urethan ausgelegte Sportplatz ist so klein, dass nicht einmal ein 100-MeterLauf in der Diagonalen möglich wäre. Im Gegensatz dazu liegt die Klassenstärke in Schulen auf Jeju-do bei nicht einmal 10 Kindern. Selbst die Zweigschulen auf dem Lande verfügen über Sportplätze mit Rasenbelag, die es in der Qualität mit richtigen Fußballplätzen aufnehmen können.

Schattenseiten Das Leben auf Jeju-do ist jedoch nicht immer nur eitel Sonnenschein. Unter den Hinzugezogenen heißt es: „Im ersten Jahr ist man hingerissen von der herrlichen Landschaftszenerie. Ab dem zweiten Jahr stellt sich langsam die Langeweile ein und wenn das dritte beginnt, hält man es nicht länger aus und geht wieder.“ Insel und Festland unterscheiden sich hinsichtlich Klima und Kultur grundsätzlich voneinander. Würde man sonst anstatt „Umzug“ das Wort „Einwanderung“ gebrauchen? Spontane Entscheidungen ohne genügend Vorbereitung können daher leicht schief gehen. Auch ich bin ein „Bildungsimmigrant“, der im Herbst letzten Jahres hinunter nach Jeju-do gezogen ist. Seitdem ist zwar ein Jahr vergangen, an das wechselhafte Wetter konnte ich mich aber immer noch nicht gewöhnen. Auch eine Nachbarin, die vor zehn Jahren nach Jeju-do geheiratet hat, beschwert sich: „Selbst nach zehn Jahren auf Jeju-do kann ich mich nicht an das Wetter hier gewöhnen.“ Ist das Wetter nur etwas schlechter, hört man den Wind wie

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1 Kim Tae-hwan, der Besitzer des Gästehauses Dalparan. Zu der Zeit, zu der er früher normalerweise auf dem Weg zu der Oberschule, wo er unterrichtete, gewesen wäre, beginnt er heute den Tag mit einer Tasse Kaffee und dem Blick aufs Meer. 2 Lee Myoung-bok und seine Frau Kim Eun-joong eröffneten nach der Aufgabe ihrer Stellen beim Rundfunk die Galerie Nori auf Jeju-do.

Gespenster heulen. Zu fürchten ist auch der mehrmals am Tag seine Farbe ändernde Himmel und die Feuchtigkeit, die einem bis in die Knochen zu dringen scheint. Es gibt keine Leute, die ich mal treffen könnte, und es gibt keine Orte, wo ich mal hingehen könnte. Fällt einem die Decke auf den Kopf, möchte man sich irgendwo eine Vorführung ansehen, aber es gibt oft nichts Passendes. Der Kinderarzt, zu dem meine Kinder gehen, sagte mir einmal: Wenn man nicht Golf spielen kann, dürfte es schwierig werden, mehr als drei Jahre auf Jeju-do auszuhalten.“ Sie kamen zwar hierher, weil die vielen Beziehungen, die man in der Stadt unterhält, ihnen zu viel wurden, doch in der hiesigen Gwendang-Kultur (Gwendang: Jeju-Dialekt für „Verwandte“), in der man unter sich bleibt, werden die Leute vom Festland immer Außenseiter sein. In der Innenstadt der Städte, wo die meisten Zugezogenen leben, ist eine gewisse Anonymität garantiert, wie man sie aus den Kleinstädten auf dem Festland kennt, doch in den übrigen Teilen der Insel, wo das Leben auf engen Beziehungen mit den Nachbarn beruht, stoßen die Festländer bei dem Versuch, in die inneren Schichten der Gemeinschaft aufgenommen zu werden, auf Grenzen. Es ist, als ob man auf einer zweiten Insel auf der Insel stranden würde. Die „Alteingesessenen“ unter den Zugezogenen raten deshalb: „Man sollte mindestens sechs Monate bis hin zu einem Jahr auf Probe hier gelebt haben, bevor man sich endgültig entscheidet.“ Da sich Wetter und natürliche Bedingungen selbst auf der Insel je nach Region unterscheiden, sollten verschiedene Faktoren genau berücksichtigt werden, z.B. Familienstand, Kinder oder keine Kinder, eigenes Alter und das der Familienmitglieder, eigene Vorlieben und die der Familienmitglieder usw. Es gibt auch noch viele lokale Immobilienmakler, die Leute vom Festland übervorteilen. Korean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


Ein normaler Büroangestellter ohne besondere Fachqualifikation verdient auf Jeju-do nur 30 bis 50% dessen, was sein Kollege in Seoul bekommt. Dies bedeutet, dass Lebensstandard und Konsum-Level auf der gesamten Insel entsprechend niedriger sind. Die Realität zeigt, dass es mit dem bloßen Willen, „ein Café an einem Ort mit schöner Aussicht zu eröffnen“ schwer ist, erfolgreich zu sein.

halt von ein, zwei Tagen am Wochenende; dann folgen rund zwei Wochen Pilgern auf den Olle-gil; danach quartiert man sich einen ganzen Monat als Langzeitgast in einem Gästehaus ein, um sich am Ende für immer auf der Insel niederzulassen. Ein Fachmagazin beschrieb diese Bewegung so: „Die wie der Wind Umhereilenden haben sich schließlich wie die Dol-hareubang, die basaltsteinernen Großvater-Statuen, die überall auf der Insel wachen, niedergelassen.“ Die Olle-gil sind ein 425km langes Netzwerk aus Wanderwegen, die aus 26 Einzelrouten bestehen, und die ganze Insel überEine müde Gesellschaft und die Olle-Wanderwege ziehen. Suh Myung-sook, Vorsitzende der Jeju Olle Trail FoundaEs scheint aber, dass der Ansturm auf die Insel Jeju-do noch eine tion, die den ersten Wanderweg 2007 eröffnete, wurde auf Jeju-do Weile anhalten wird. Dem Nationalen Statistikamt zufolge betrug geboren. Es hat dreißig Jahre gedauert, bis sie nach dem Aufbruch die Zahl der 2012 neu Hinzugezogenen 25.000. Die Zahl der Netin die Stadt zu Studienzwecken und der Arbeit als Zeitungsreportoeinwanderer stieg 2010 mit 437 das erste Mal – ein Trend, der terin schließlich wieder den Weg in die Heimat fand. Auf dem spanischen Camino de Santiago, dem Es gibt einen triftigen Grund, den Umzug nach Jeju-do als „Einwandern“ Santiago-Pilgerweg in Spanien, soll zu bezeichnen. Die Heilwirkung des Meeres und der Hügellandschaft der sie die Heilkraft des Wanderns entdeckt haben. Die Olle-gil, die unter Insel übt gewiss einen Reiz auf die Stadtbewohner des Festlandes aus, dem Lokaldialekt-Motto „nolmeong, shimeong, georeumeong“ (Vergnüdoch auf Jeju-do haben sie es auch mit extrem unbeständigem Wetter, gen, Ausruhen, Wandern) stehen, schlechter Infrastruktur und der traditionellen Gwendang-Kultur (Gwenhaben das Reisekultur-Paradigma verändert und viele „Olle-Maniacs“ dang: Jeju-Dialekt für „Verwandte“) zu tun, die es allen Zugewanderten hervorgebracht. nicht gerade einfach macht, sich zu assimilieren. Mit dem Zustrom der letzten zwei, drei Jahre sind Immobilienpreise und Lebenshaltungskosten auf Jejudo sprunghaft gestiegen. Jedoch reicht das Geld, für das man sich danach an Fahrt gewann: 2011: 2.343, 2012: 3.052 und Mai 2013: im Seouler Stadtviertel Gangbuk nördlich des Han-Flusses ein klei3.401. In diesem Jahr hat auch die Bevölkerung von Jeju-do das nes Apartment leisten kann, noch immer aus, um sich auf Jejuerste Mal in der Geschichte die 600.000-Marke überschritten. do ein prächtiges zweistöckiges Landhaus mit Garten zu bauen. Abgesehen von Seoul verzeichnen nur Jeju-do und die neue, am Anders als in Seoul, dessen Straßen am Wochenende vollkomReißbrett entstandene Verwaltungshauptstadt Sejong City einen men verstopft sind, so dass man mit dem Auto nirgendwo mehr Anstieg der Einwohnerzahlen, wobei es sich im letzten Fall haupthinkommt, braucht man auf Jeju-do nur fünf bis zehn Minuten zu sächlich um Regierungsbeamte und ihre Familien handelt. fahren, um Wälder und Meer sehen zu können. Bei einem Umzug Mit dem Zustrom der Städter sind auch öffentliche Ansiedlungshandelt sich daher nicht bloß um einen einfachen Ortswechsel, programme entstanden, die den Neuzuzüglern bei Umzug und sondern um eine kolossale Veränderung. Nur auf Jeju-do gibt es Ansiedlung auf Jeju-do helfen. In den Buchhandlungen stapeln sich die Yeonse , eine Einjahres-Mietzahlung, mit der man für gerade unter dem Stichwort „Jeju-do“ neben Reiseberichten Erfahrungsberichte von oder über Leute, die sich auf der Insel niedergelassen einmal 2 Mio. Won (ca. 1.400 Euro) ein Haus für ein Jahr mieten haben. Bisher galten solche Menschen eher als verkrachte Exiskann. Viele arbeiten auch als Mandarinen-Pflücker oder Hafenartenzen oder Aussteiger, die es in der Stadt nicht geschafft haben. beiter und erkunden so das Leben auf der Insel. Das Image von Jeju-do änderte sich jedoch, als die städtische Elite In einem Interview hat Vorsitzende Suh Myung-sook den Erfolg der mit hohem Einkommen und Beförderung in Aussicht auf die Insel Olle-gil damit erklärt, dass „die koreanische Gesellschaft müde zu strömen begann. Auch in Rundfunk und Fernsehen werden sei“. All diejenigen, die vorbildhaft ordentlich lernen, einen ordentdie Erfolgsgeschichten von Menschen, die der Stadt den Rücken lichen Arbeitsplatz haben und nach einem ordentlich geregelten gekehrt und sich auf Jeju-do niedergelassen haben, thematisiert. Tagesablauf leben wollten, blicken beim Wandern auf ihr Leben Ein Beweggrund für die Ansiedlung sind die Olle-gil. Nicht wenige zurück und stellen fest, dass sie so nicht glücklich sind. Die Insel Jeju-Neuansiedler gestehen, diesen Wanderwegen der Insel verJeju-do steht für die Heilung der von Erschöpfung geplagten korefallen zu sein: Zuerst nimmt man sich Zeit für einen Kurzaufentanischen Gesellschaft“. K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 13

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reisen in die koreanische literatur

rezension

Entgiftung der Gewaltsamkeit Uh Soo-woong Journalist für Kunst und Kultur, Tageszeitung The Chosun Ilbo

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aik gilt als jemand, der in literarischen Kreisen als Hans Dampf in allen Gassen bekannt ist und Beziehungen pflegt. Sein Spitzname “Paik-daeri (gewissermaßen ein „Mann für alle Fälle“) der Literaturkreise“ ist wohl auch keine Übertreibung, weil er bei fast allen kleinen und großen Angelegenheiten der Kollegen mit helfender Hand zur Seite steht. Viele Schriftsteller rufen ihn ohne Rücksicht auf Zeit und Ort und lassen sich von ihm durchs ganze Land chauffieren. Zum Kulturzentrum Toji Foundation of Culture, das von der verstorbenen Schriftstellerin Park Gyeong-ni zur Nachwuchsförderung in Wonju errichtet wurde, soll er regelmäßig wie ein Shuttlebus-Chauffeur fahren. Das alles spricht wohl für seine Freundlichkeit und umsichtige Hilfsbereitschaft. Völlig unerwartet ist daher, dass zwischen dem Menschen Paik und seinen Erzählungen Welten liegen. In seinen Erzählungen sind sehr viele Menschen den verschiedensten Arten von Gewalt ausgesetzt. Auch die dort beschriebene Liebe entspricht nicht den Normalvorstellungen: Meistens handelt es sich um Formen perverser Liebe, die von Vergewaltigung, Mord, Besitzgier, Unterwerfung und Sadomasoschismus befleckt sind. Ich habe einmal einen Text gelesen, in dem die literarischen Werke des Autors Paik Ga-huim als „Leber“ beschrieben wurden. Es war ein Text mit der Überschrift Bericht über die sonderbare Leber von Paik Ga-huim von Yi Gi-ho, einem zwei Jahre älteren Kollegen von Paik, der auch zwei Jahre vor ihm debütierte. In diesem vor Humor spritzenden Text schrieb der Kollege: „Es gibt nicht selten Leute, die glauben, dass eine Erzählung mit der Hand, mit dem Kopf oder mit dem Herzen geschrieben wird. Irrtum! Mit der Leber wird eine Erzählung geschrieben. Nur eine gesunde, kräftige Leber kann eine kontroverse Erzählung hervorbringen. Das ist das innere

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Geheimnis einer Erzählung.” Es folgt eine interessante Analyse über den Ausnahmefall Paik Ga-huim: „Wenn man sich jedoch die Werke von Paik Ga-huim anschaut, so scheint das aber nicht unbedingt der Fall zu sein. Urteilt man nach seiner Gesichtsfarbe, dann ist seine Leber zwar offensichtlich in einem prekären Zustand, seine Erzählungen sorgen jedoch für fruchtbare Kontroversen. [...] Paiks Leber ist eine in der koreanischen Literatur beispiellose Leber von erstaunlicher Elastizität. Eine Leber, die im Alltag zu TischtennisballGröße geschrumpft ist, um sich dann beim Schreiben wie ein Luftballon aufzublasen. Eine Leber, die durch häufiges Aufquellen und Zusammenschrumpfen von tiefen Falten durchzogen ist. Eine angeschwollene Leber. Eine schwache Leber. Eine weiche Leber. Eine sonderbare Leber.“ Eine der wichtigsten Funktionen der Leber ist doch das Entgiften. Sie beeinflusst die Beseitigung und Auflösung der Schadstoffe, also die Selbstreinigungskraft unseres Körpers entscheidend. Paiks eingeschrumpfte Leber, die zu normalen Zeiten diese Funktion nicht gut ausübt und daher Müdigkeit und geistige Erschöpfung hervorruft, quillt nur beim Schreiben auf. Denn sie muss die unzähligen Gewalttätigkeiten und unglücklichen Vorkommnisse, die sie in den Erzählungen ausgebreitet hat, selbst entgiften. Wenn wir Paiks Erzählungen lesen, fühlen wir uns irgendwo in der Mitte dieser Selbstreinigung unwohl und es stößt uns bitter auf. Aber gerade in dem Moment müssten wir vielleicht unser eigenes Entgiftungs- und Selbstreinigungsvermögen einmal in Zweifel ziehen. Der Antagonist der Erzählung Wie er so ist, Geunwon ist ein einfach-ehrlicher und solide gebauter Mann, der früher Schrubber in einem Badehaus war und jetzt Manager einer beliebten Sängerin ist. In der Erzählung wird GeunKorean i s ch e Ku l tu r u n d Ku n s t


Der Erzählschriftsteller Paik Ga-huim hat seit seinem Debüt 2001 originäre Werke geschaffen, die „die da“, von denen man sich, auch wenn es qualvoll sein mag, nicht abwenden kann, sowie deren extreme Innenwelt und unbequeme Realität in Ironie und Phantasie gießen.

Paik Ga-huim wons Leben durch häufige Wechsel der Zeitperspektive in komprimierter Form dargestellt: Die Mutter hat den jungen Geunwon und seinen jüngeren Bruder Geunbon verlassen. Vor ihr hatte bereits der Vater die Familie im Stich gelassen. Die Großmutter betete zum „allmächtigen Vater im Himmel”, ihren Sohn zurückzubringen, die Mutter heiratete in einen anderen Ort. Es steht außer Frage, dass es um das Leben von Geunwon und Geunbon schlecht bestellt war. Vor drei Jahren wurde Geunwon von einer Entertainment-Agentur eingestellt – sein 27. Job seit dem Umzug nach Seoul. Der 26. war, wie bereits gesagt, Schrubber im Badehaus. Der Direktor der Agentur, dem Geunwons einfache Ehrlichkeit, mit der er auch dann noch mit gleichmäßiger Kraft weiterschrubbte, wenn schon kein Dreck mehr herunterkam, gefiel, hat ihn angeworben. Geunwons jüngerer Bruder Geunbon war jedoch ein Problemkind. Anders als der schüchterne Geunwon war Geunbon schon als kleines Kind hemmungslos und presste mit größter Selbstverständlichkeit das Geld aus den Taschen der Gleichaltrigen. Er sitzt nun wegen vorsätzlichen Totschlags eine lebenslängliche Haftstrafe ab, nachdem er davor schon wegen Gelegenheitsmordes an einem Trödelhändler eine Gefängnisstrafe abgebüßt hatte. Geunwon, der Manager der Trottmusik-Sängerin Cash wird, vergisst keine Sekunde den Befehl des Direktors, Cashs Kontakt mit der Außenwelt völlig abzuschneiden und sie zu überwachen, und befolgt redlich alle Anordnungen. Als er so drei Jahre gearbeitet hat, gerät Geunwon in eine unerwartete Situation: Seine Mutter, die ihn vor 28 Jahren verlassen hatte, ruft plötzlich an. Geunwon lässt alle Dinge, die ihm Kopfzerbrechen bereiten, hinter sich und macht sich auf den Weg zu dem K o r e a n a ı H e r b s t 2 0 13

Bergdorf, wo seine Mutter leben soll. Auf dem finsteren Bergpfad, wo selbst der Mond verschwunden ist, bescheinen statt dessen Kirschblüten den Weg. Das neue Leben bei der Entertainment-Agentur scheint Geunwon nach außen hin zwar in einen schicken Mann von Welt verwandelt zu haben, aber das Wesentliche seines Lebens ist unverändert geblieben. Und auch Geunwons Ursprung und Herkunft sind dieselben geblieben, worauf bereits der Name des Protagonisten hinweist: „Geunwon“ bedeutet „Ursprung, Herkunft“. Das Haus seiner Mutter erscheint bis zum Ende nicht. Er landet schließlich in einem völlig fremden Haus, wo er die Nacht verbringt. Vielleicht ist Wie er so ist, Geunwon eine von Paiks Erzählungen, die den niedrigsten Grad an Gewalt und Brutalität aufweisen. Dafür könnte sie jedoch die Erzählung mit dem höchster Entgiftungs- und Selbstreinigungseffekt sein. Es scheint, als würde Paik Ga-huim dem Leser zuflüstern: „Was ist dein Geunwon (Ursprung, Herkunft) ? Ist bei deinem Geunwon alles friedlich? Ich wäre sehr froh, wenn diese Erzählung dir als Impfung für deine Qualen dienen könnte.” Zum Schluss sei hier auf die Einzigartigkeit der OriginalÜberschrift der Erzählung verwiesen, bei der zwischen dem Attribut und dem Namen Geunwon regelwidrigerweise ein Komma steht. In diesem Zusammenhang scheint es angebracht, eine Stelle der Interpretation des Literaturkritikers Seo Yeong-chae zu zitieren: „Während der Leser zwischen dem Attribut „geureon (wie er so ist)” und „Geunwon” einatmend verweilt, vergeht die Zeit von 28 Jahren. Die Zeit vergeht nicht alleine. In Wie er so ist, Geunwon erzählt der Autor über einen Mann, der von der Hand der Zeit geführt an einem unerwarteten Ort landet. Ist das wohl das Leben?”

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IMpressionen

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er Kakibaum ist groß, die Kinder sind klein. Wenn der Herbst tiefer wird, wird der Himmel immer höher, die Früchte hängen höher und höher. Die Blicke und Träume der kleinen Kin­ der klettern an der langen Stange über den Kakibaum hinaus in den blauen Himmel. Die Kinder pflücken die Früchte an den Zweigen des Kakibaums, der in einer Ecke des Gemüse­ beetes steht. Arme und Taille der Kinder, die mit der Stange den Zweig drehen, scheinen sich ebenfalls im Tanz zu drehen. Die Körbe sind voller orangeroter Früchte. Kakibäume sind überall in der Landschaft Koreas zu finden. Sie wachsen überall gut: am Fuße der Berge, in den Ecken der Felder, an den Seiten der Vorder- und Hinterhöfe. Ganz von selbst gedei­ hen sie gesund und brauchen keinen Dünger, keine Beschneidung. Daher wachsen große Kakibäu­ me überall von selbst in den Himmel. Die Kakibäume spiegeln die Landschaftsbilder Koreas zu den vier Jahreszeiten wider: Sie treiben zartgrüne Knospen im Vorfrühling, breite und glat­ te, kräftig-grüne Blätter im Sommer. Wenn im Juni die weißen Blüten abfallen, fädeln die Kinder sie auf und machen Halsketten und Armbänder daraus. Im Herbst fallen dann zunächst die Blätter ab, während die dicht an dicht an den Zweigen hängenden Kakifrüchte vor der Kulisse des blauen Himmels orangerot heranreifen. Im Winter verwandeln sich die in der Luft baumelnden, vom Frost getroffenen Kakifrüchte im Herzen eines jeden zur Sehnsucht: Plötzlich möchte man seinen alten Eltern im Heimatort einen Brief schreiben und fragen, wie es ihnen geht. Nicht alle Kakifrüchte werden gepflückt. Einige tief-orangerote Früchte an den obersten Zweigen werden dem blauen Himmel und den Vögeln als ihr Anteil überlassen. Sie heißen „Elster-Fres­ sen“. Wenn alle Blätter abgefallen sind und die Vögel alle Früchte an den dürren Zweigen gefres­ sen haben, werden Schneeflocken herumwirbeln. Dann wird die Familie in der Stube zusammen­ sitzen und gut gereifte, weiche Kaki oder auch getrocknete teilen. Aber heute ist ein klarer, frischer Herbsttag, an dem der Traum der Kinder die lange Stange ent­ lang zu den orangeroten Kakifrüchten klettert.

Blauer Himmel, orangerote Früchte Kim Hwa-young Literaturkritiker, Mitglied der National Academy of Arts


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