Koreana Spring 2011 (German)

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Koreanische Kultur

und

Kunst

J a h rg a n g 6 , Nr. 1 F r端 h j a h r 2 0 1 1

Die Insel Ganghwa-do

Ein reizvolles Fenster zur koreanischen Geschichte ISSN 1975-0617


KOREANISCHER SCHÖNHEITSSINN

Binyeo

Die traditionelle Haarnadel

© Suh Heun-gang

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er traditionelle Tanz Salpuri-chum verleiht der Grazie, die Frauen in ihren alltäglichen Gebärden an den Tag legen, Ausdruck. Dazu gehört die Gestik einer Frau vor dem Spiegel, die ihre Hände über ihr gekämmtes Haar gleiten lässt, um es zu einem Chignon zusammenzustecken. Das Haar wurde geflochten und anschließend im Nacken zu einem Knoten gewunden, der dann mit der dekorativen Chignon-Haarnadel Binyeo festgesteckt wurde. (Ohne Binyeo ähnelt dieser Chignon-Stil dem charakteristischen Stil der Models des Modehauses Chanel.) Gemeinsam mit der Binyeo wurde oft eine weitere dekorative Haarnadel, die Dwikkoji , getragen. Diese Frisur akzentuiert besonders die eleganten Linien des weiblichen Nackens. In der Vergangenheit trugen unverheiratete Mädchen ihr Haar zu einem langen Zopf geflochten, während der von einer Binyeo zusammengehaltene Chignon darauf hinwies, dass die Trägerin verheiratet war. Zudem war diese Frisur stilvoll. Die feinen Unterschiede in der Art und Weise, wie der Chignon zusammengesteckt und geschmückt wurde, zeigte nicht nur das Stilbewusstsein einer Frau, sondern signalisierte auch die politischen Affinitäten ihrer Familie: So unterschieden sich die Chignons der Frauen, deren Familien unterschiedlichen Parteien angehörten, auch in der Art des Haarschmucks. Die Binyeo umfassten eine breite Palette: von Haarnadeln aus Holz, die von den einfachen Frauen getragen wurden, bis hin zu Nadeln aus Gold oder Silber. Am Königshof, wo ständig verschiedene Zeremonien stattfanden, und in den Familien der Regierungsbeamten waren die Binyeo der Frauen extravagante, juwelenverzierte Schöpfungen, die von außergewöhnlicher Kunstfertigkeit und Kreativität zeugten. Normalerweise trugen verheiratete Frauen eine einfache, etwa

10 bis 12cm lange Binyeo ohne Dekor. Aber die Königin und die königlichen Konkubinen verwendeten manchmal über zehn Haarnadeln, um ihre Chignons zu schmücken. Bis heute sind Dutzende von alten Haarnadeln einstiger Königinnen erhalten, die aufwändig mit Edelsteinen in wunderschönen Farben und exquisiten Mustern verziert sind und das schwarze, glänzende Haar der Koreanerinnen wirkungsvoll zur Geltung bringen. Diese Artefakte sind aus verschiedenen Materialien wie Gold, Silber, Koralle, Cloisonné-Emaille, Russische Jade, Jade, Perlen usw. gefertigt. Unter den noch erhaltenen gibt es auch eine Binyeo, die sogar eine Länge von 33cm hat. Die Konkubine Kim (1831-1907), die mit 17 Jahren Konkubine von König Heonjong (reg. 1834-1849) wurde, hinterließ protokollarische Aufzeichnungen, aus denen hervorgeht, zu welcher Hofzeremonie welche Gewänder, Binyeo und Schmuckstücke getragen werden mussten. Danach wurden die verschiedenen Arten von Binyeo nach ihren dekorativen Elementen unterschieden: So gab es u.a. Yongjam, Binyeo mit Drachendekor, Bongjam, Binyeo mit einem Dekor des mythischen, phönixartigen Wundervogels Bonghwang, Moranjam , Binyeo mit Päonien-Dekor, Maejukjam , Binyeo mit Pflaumenblüten- und Bambusblätterdekor, Yeonjam , Binyeo mit Lotusblütendekor und Tteoljam, Binyeo mit feinen Sprungfedern, deren Enden mit Dekoranhängern geschmückt sind, die bei jeder Bewegung der Trägerin leicht erzittern. Konkubine Kim teilte die Binyeo in Kategorien wie „würdevoll-elegant“, „Autorität symbolisierend“ und „der Jahreszeit angemessen frisch“ ein. Auch normale Bürgerinnen trugen zur Hochzeit mehr als eine Binyeo, darunter auch größere Stücke wie die drachenverzierte Yongjam . Heutzutage sieht man den traditionellen, Binyeogeschmückten Chignon hauptsächlich zu besonderen Anlässen, zu denen man die traditionelle Tracht trägt. Verfasserin: Kim Yoo-kyung


Koreanische Kultur und Kunst

Jahrgang 6, Nr. 1 Frühjahr 2011

Die Halle Daeungbo-jeon im Tempel Jeongsu-sa auf dem Mani-san auf Ganghwa-do ist mit typisch koreanischem Gitterwerk aus Lotusund Päonienblüten in Blau, Orange, Rot und Grün geschmückt. © Ha Ji-kwon

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Die Insel Ganghwa-do 6 Gangwha-do: Reise durch ein reizvolles Fleckchen Erde

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Lee Dong-mi

14 Ganghwa-do: Prisma der koreanischen Geschichte

Kim Hyung-yoon

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24 Die Wege des Lebens auf der Insel Ganghwa-do

Ham Min-bok 50


30 FOKUS K-Pop Koreawelle durch Performance

| Shin Hyun-joon

36 KUNSTKRITIK Meisterwerke der buddhistischen Malerei der Goryeo-Zeit: Ein kurzes Wiedersehen nach 700 Jahren | Bae Young-il 44 KUNSTHANDWERKER S im Yong-sik Schreinermeister Sim Yong-sik bringt den Charme der Hanok zur Geltung | Park Hyun-sook 50 KOREA ENTDECKEN Five Looking West: Koreanischer Einfluss auf amerikanische Kunst Charles La Shure 56 Interview Hesung Chun Koh, Leiterin des East Rock Institute

| Shin Ye-ri

60 AUF DER WELTBÜHNE Kim Young Se Ein Imaginator, der durch Design die Zukunftswelt zeichnet Jeon Eun-kyung 64 MEISTERWERKE Traumreise eines Joseon-Prinzen ins Land der Pfirsichblüten Ahn Hwi-joon 68 UNTERWEGS Onyang Einst Erholungsort der Könige, heute Reiseziel für Flitterwöchner Kim Ha 76

KÜCHE

Pyeonyuk: Gekochtes und gepresstes Rindfleisch Lee Jong-Im

80 BLICK AUS DER FERNE Von Grenze zu Grenze

| Winfried Löffler

82 LEBEN Jugendträume werden wahr: Amateur-Bands der Mittelaltrigen Park Eun-kyung 87

Reisen in die koreanische Literatur

Chung Han-ah

Alchemie von Verzweiflung oder Hoffnung: hervorgebracht durch eine Familie Shin Soo-jeong

Der Geschmack von Mate Übersetzung: Anneliese Stern-Ko, Ahn In-kyoung

IMPRESSUM   Herausgeber The Korea Foundation 2558 Nambusunhwan-ro, Seocho-gu, Seoul 137-863, Korea   PRÄSIDENT Kim Byung-kook REDAKTIONSDIREKTOR Kim Sung-yup CHEFREDAKTEURIN Ahn In-kyoung KORREKTURLESERIN Anneliese Stern-Ko REDAKTIONSBEIRAT Cho Sung-taek, Han Kyung-koo, Han Myung-hee, Jung Joong-hun, Kim Hwa-young, Kim Moon-hwan, Kim Youngna   LAYOUT & DESIGN Kim’s Communication Associate               REDAKTIONSMITGLIEDER Lim Sun-kun FOTODIREKTOR Kim Sam KUNSTDIREKTOR Lee Duk-lim DESIGNER Kim Su-hye   Herausgabezweck: ideell SUBSKRIPTION Vierteljährlich herausgegeben Preis für Jahresabonnement: Korea 18.000 Won, Luftpost in Deutschland und Österreich 32 EUR (einschließlich Porto) Preis für Einzelheft: Korea 4.500 Won, Deutschland und Österreich 8 EUR (einschließlich Porto) Subskription/Korrespondenzanschrift:   Deutschland und Österreich The Korea Foundation Berlin Office c/o Botschaft der Republik Korea Stülerstraße 8-10, 10787 Berlin, Germany Tel: +49-(0)30-260-65-458  Fax: +49-(0)30-260-65-52 E-mail: koreana@kf.or.kr   Andere Gebiete inkl. Korea The Korea Foundation Diplomatic Center Building, 2558 Nambusunhwan-ro, Seocho-gu, Seoul 137-863, Korea Tel: +82-2-2151-6544 Fax: +82-2-2151-6592 WERBUNG CNC Boom co,. Ltd Towercrystal Building, 1008-1, Daechi 3-dong, Gangnam-gu, Seoul, Korea Tel: +82-2-512-8928 Fax: +82-2-512-8676   LAYOUT & DESIGN Kim’s Communication Associates 398-1 Seogyo-dong, Mapo-gu, Seoul 121-840, Korea Tel: +82-2-335-4741 Fax: +82-2-335-4743 www.gegd.co.kr   DRUCK Samsung Moonwha Printing Co. 274-34, Seongsu-dong 2-ga, Seongdong-gu, Seoul 133-121, Korea Tel: +82-2-468-0361/5  Fax: +82-2-461-6798

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Der Tempel Bomun-sa liegt auf der Insel Seongmo-do, die in zehn Bootsminuten vom Kai Oepori an der Westküste von Ganghwa-do zu erreichen ist. Der Tempel am Fuße des Berges Nakga-san bietet einen Panoramablick über das Westmeer. 4 Koreana | Spring 2011


Die Insel Ganghwa-do Die Insel Ganghwa-do ist reich an historischen Überresten, angefangen von Dolmen aus der vorgeschichtlichen Zeit bis hin zu Kirchen der Anglican Church of England aus der Neuzeit, weshalb sie auch als „lebendes Museum“ bezeichnet wird. Die Insel hat auch zahlreiche Kriegsgeschichten zu erzählen, die die Geschichte der koreanischen Halbinsel widerspiegeln. Viele Besucher aus der Hauptstadtregion zieht es zu Tagesausflügen auf die nahe gelegene Insel mit ihrem schönen Wattenmeer.


Gangwha-do: Reise durch ein reizvolles Fleckchen Erde Die Verfasserin dieses Beitrags, die seit mehr als zehn Jahren auf der Insel Ganghwa-do lebt, liebt den Salzgeruch des Windes, der ihr entgegenweht, wenn sie sich bei der Rückfahrt vom Festland der Insel nähert. Denn der Geruch des Watts, den der Wind mit sich trägt, erinnert sie an das salzige Meer, den Schweiß der Inselbewohner und an den unwiderstehlichen Reiz der Insel. Diese Inselbewohnerin wird uns heute über die Insel führen. Lee Dong-mi Reiseschriftstellerin | Fotos: Kwon Tae-kyun, Ha Ji-kwon

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enn man von Gimpo in der Provinz Gyeonggi-do den flussschmalen Meeresabschnitt vor der Küste überquert, auf dem hier und da ein Garnelenfischerboot zu sehen ist, gelangt man auf die Insel Ganghwa-do. Viele Besucher machen auf der Brücke Ganghwa-daegyo, die das Festland bei Gimpo mit der Insel Ganghwa-do verbindet, eine Wette, ob das Wasser, das unter der Brücke hindurchfließt, nun ein Meeresabschnitt oder ein Fluss sei. Die richtige Antwort lautet „Yeomha“, also „salziger Fluss“. Das bedeutet, dass es sich um einen Teil des Meeres handelt. Die offizielle Bezeichnung ist „Straße von Ganghwa“. Sie ist aber so schmal, dass sie wie ein Fluss aussieht. Wenn man vom südlichen Ende von Ganghwa6 Koreana | Frühjahr 2011

do durch die Straße von Ganghwa aufwärts fährt, gelangt man über den Fluss Han-gang schließlich in die Hauptstadt Seoul, weshalb während der Joseon-Zeit die ausländischen Mächte, die die Hauptstadt Hanyang (alter Name von Seoul) einnehmen wollten, ihr Auge auf diesen Wasserweg richteten. Überqueren wir diese Wasserstraße, die im Sonnenlicht friedlich glitzert, unter deren Oberfläche jedoch die turbulenten Strömungen der Geschichte fließen, und betreten wir die Insel Ganghwa-do, ein geschichtsträchtiges Fleckchen Erde. Der Steinaltar Chamseongdan Wenn man die Küstenstraße, die sich von der Brücke zur lin-


Die Höhe Yongdu ist eine der 53 Erhebungen der Insel, deren natürliches Terrain man für die Einrichtung von Verteidigungsanlagen ausnutzte. Von Yongdu aus kann man auf die Halbinsel Gimpo auf der anderen Seite der Straße von Ganghwa blicken.

dan, auf dem bei den Ritualen zur Verehrung des Himmels die Opfergaben dargebracht wurden. Der Altar liegt genau in der Mitte zwischen den beiden höchsten Bergen der koreanischen Halbinsel, dem Baekdu-san im Norden und dem Halla-san im Süden. Auf beiden Seiten der Straße, die zum Mani-san führt, erstrecken sich weite Reisfelder. Schließen Sie auf der Fahrt einmal die Augen und stellen Sie sich vor, nicht im Auto zu sitzen, sondern in einem Boot. Denn als „Großvater Dangun“ sich zum Altar Chamseongdan begab, um die Opferrituale abzuhalten, war diese Gegend von Ganghwa-do noch Meer und der Berg Mani-san war eine Insel, die Goga-do hieß.

ken Seite erstreckt, entlang fährt, gelangt man zum Berg Manisan mit dem Steinaltar Chamseongdan und zum DongmakStrand. Die Geschichte Koreas beginnt mit Danguns Gründung von Gojoseon, des ersten Reiches auf der koreanischen Halbinsel (2333 v. Chr.). Dem Mythos nach stieg Hwanung, der Sohn des Himmelskönigs, auf die Erde herab und zeugte mit einer Bärenfrau Dangun, eine Figur, die den Koreanern als Gründervater der Nation nahe steht und bis heute für sie von Bedeutung ist. Dangun, der manchmal auch „Großvater Dangun“ genannt wird, ist offiziell als „Dangun Wanggeom“ (König Dangun) bekannt. Dieser Urvater der Koreaner errichtete auf dem Gipfel des Mani-san den Steinaltar Chamseong-

Der 1000 Jahre alte Tempel Jeondeung-sa Auf dem Weg zum Mani-san befindet sich der uralte Tempel Jeondeung-sa. Der Legende nach hatte Dangun drei Söhne - Buso, Buu und Buyeo -, die er die Festung Samnang-seong („Festung der drei Söhne”, Historische Stätte Nr. 130) bauen ließ. Auf dem Festungsgelände befindet sich in abgeschiedener Lage der Tempel Jeondeung-sa. Der Jeondeung-sa ist ein geschichtsträchtiger Tempel, der entsprechend viele registrierte Nationalschätze besitzt, darunter Daeung-jeon (Haupthalle des Tempels mit den Buddhastatuen), Yaksa-jeon (Halle mit der Statue des heilenden Buddha) und eine Glocke. Der Tempel blickt schließlich auf eine tausend Jahre alte Geschichte zurück. Dieser Tempel mit seiner langen Geschichte hat so viel zu erzählen, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll. Hier sei eine besonders interessante Geschichte herausgegriffen, die mit einer der Tempelattraktionen zu tun hat, die sich kein Besucher entgehen lassen sollte. In der Regel ist in einem buddhistischen Tempel die Halle Daeung-jeon das Hauptgebäude des Tempels. Hier werden Zeremonien zu Ehren des historischen Buddha Siddhartha Gautama, dessen Statue in der Halle eingeschreint ist, abgehalten. Auch der Jeondeung-sa hat eine Daeungjeon-Halle, die zwar eher klein und beschaulich wirkt, aber eine ganz eigene Atmosphäre ausstrahlt. Das Besondere an dieser Halle sind nämlich die Figuren an den vier Ecken der Dachtraufe: Es sind nackte Frauen. Was haben nackte Frauenfiguren an einem solch heiligen Ort, an dem die Worte Buddhas verkündet werden, zu suchen? Gibt es einen besonderen Grund dafür? Da kann man nur neugierig werden. Vor langer Zeit musste die Halle Daeung-jeon restauriert werden. Ein geschickter Zimmermannmeister wurde mit der Aufgabe beauftragt. Da es damals noch keine Brücke zum Festland gab, muss er wohl mit einem Boot übergesetzt haben. Dieser Zimmermannmeister, der allein auf die Insel kam, logierte während seines Aufenthalts in einem Gasthaus am Fuße Frühjahr 2011 | Koreana 7


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1 Der altehrwüdige Tempel Jeondeung-sa wurde 381 gebaut, kurz nach der Einführung des Buddhismus in Korea. Bei Bedrohungen der Nation von außen diente der Tempel den buddhistischen Gläubigen als stärkende Kraft zur Verteidigung des Vaterlandes.

2 Ein Panoramablick über die Insel Ganghwa-do, deren Rolle in der koreanischen Geschichte unbestritten ist. In Zeiten nationaler Krisen diente Ganghwa-do aufgrund ihrer strategischen Vorteile als Insel und ihrer Bedeutung für den Seeverkehr vorübergehend als Sitz der Hauptstadt.

3 An den vier Ecken der Halle Daeung-jeon des Tempels Jeondeung-sa finden sich Figuren nackter Frauen, die die Dachtraufe zu stützen scheinen. Um diese Schnitzereien rankt sich eine interessante Geschichte.

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des Berges. Die Besitzerin des Gasthauses soll eine Schönheit gewesen sein. Bald verliebte sich der Zimmermannmeister in sie und vertraute ihr seinen Lohn zur Aufbewahrung an, da er sie nach Ende der Restaurierungsarbeiten zu heiraten gedachte. Eines Tages, als sich die Arbeiten am Tempel dem Ende näherten, kehrte er abends ins Gasthaus zurück, aber die Geliebte war verschwunden. Und mit ihr auch das Geld. Der in Kummer versunkene Zimmermann brachte unter dem Dachvorsprung der Halle Daeung-jeon die geschnitzte Gestalt seiner Geliebten an. Dort sollte sie bleiben – in alle Ewigkeit mit beiden Händen das schwere Dach der Halle stützend – und über ihre Missetaten nachdenken. Die nackte Frauenfigur wird „Nanyeosang (Figur der nackten Frau)“ genannt. Der interessanteste Teil der Geschichte kommt aber erst noch. Auf den ersten Blick sieht es tatsächlich so aus, als würde die nackte Frau zur Strafe das Dach abstützen. Aber wenn man den Dachvorsprung genau betrachtet, kann man feststellen, dass strukturell gesehen das Gewicht des Daches überhaupt nicht auf den vier Figuren ruht. Es finden sich zwar ähnliche Frauenfiguren an allen vier Ecken der Halle, aber die Figuren auf der hinteren Seite stützen das Dach in ruhender Pose nur mit einer Hand. Der Zimmermann muss die Frau wohl wahrhaft geliebt haben. Oder wollte er die Liebe Buddhas zu den fühlenden Geschöpfen darstellen? Denn obwohl es so aussieht, als ob die Frau schwer bestraft würde, ist es in Wirklichkeit nicht der Fall. Im Hinterhof des Tempels befindet sich der Pavillon Jangsagak, der auch als Jeongjoksan Sago bekannt ist. Sago war ein Archiv zur Aufbewahrung historischer Aufzeichnungen und entsprechend bedeutsam. Sago, in denen die Annalen des Joseon-Reiches Joseonwangjo-Sillok , eine Sammlung von Aufzeichnungen über die Geschichte des Königreiches Joseon, aufbewahrt wurden, gab es landesweit nur vier, wobei dem Jeongjoksan Sago als Aufbewahrungsstätte für das Original der Annalen eine besondere Bedeutung zukam. Gleich neben dem Jeongjoksan Sago, das vor kurzem restauriert wurde, befindet sich Seonwonbogak, das die Genealogie der Könige von Joseon beherbergte. An diesen beiden Stätten lässt sich bereits hinrei-

chend der Status desTempels Jeondeung-sa ablesen. Templestay im Meditation Center Buddhistische Tempel wie der Jeondeung-sa gehören zu den wichtigsten Elementen zur Entzifferung des kulturellen Codes von Korea. Viele Menschen aus anderen Ländern und auch Koreaner fühlen sich von der spezifischen Kultur und Atmosphäre der tief in den Bergen gelegenen Tempel angezogen. Daher bieten viele Tempel wie auch der Jeondeung-sa Templestay-Programme an, aber für ausländische Besucher empfiehlt sich das Programm des Lotus Lantern International Meditation Center , das nicht weit weg von Jeondeung-sa liegt. Das Center, das hauptsächlich als Ort der Meditation dient, bietet ausländischen Interessierten die Gelegenheit, Meditation (Seon) zu lernen. Es wurde 1997 von dem verstorbenen Mönch Wonmyeong gegründet, der Schüler des Oberpriesters und Zen-Meisters Seongcheol (1912-1993) war. Wonmyeong, der sich rund zehn Jahre damit beschäftigte, Ausländern SeonMeditationstechniken nahe zu bringen, erkannte, dass es an entsprechenden Räumlichkeiten mangelte und rief daher das Zentrum ins Leben. Es besteht aus insgesamt fünf Gebäuden, darunter der Meditationshalle und Unterkünften, sowie 6.000m2 landwirtschaftlicher Nutzfläche. Zur Bequemlichkeit und Zufriedenheit der Gäste sind die sauberen und warmen Zimmer jeweils mit Waschgelegenheiten ausgestattet. Sprachschranken gibt es keine, da die Mönche und Nonnen meist aus dem Ausland wie Russland und der Schweiz kommen. An dem Tag, an dem ich an den Meditationsübungen teilnahm, waren die anderen Kursteilnehmer Danielle und Charlotte aus Neukaledonien und die Französin Isabelle vom Spracheninstitut der Sogang University in Seoul. Nach dem Abendessen wird in der kleinen und heimeligen Daeungjeon-Halle eine Andacht zur Verehrung des historischen Buddha abgehalten und anschließend die Seon-Meditation durchgeführt. Wenn man beim Meditieren im Lotussitz mit aneinander gelegten Händen und geschlossenen Augen sitzt, gehören der Lärm der Autohupen, das grelle Flimmern der Frühjahr 2011 | Koreana 9


TV-Bildschirme, der Radau der Internetspiele usw. in eine andere Welt. Die Morgengebetszeremonie wird mit noch größerer Andacht durchgeführt. An das Frühstück schließt sich Pohaeng an, ein meditativer langsamer Spaziergang, begleitet vom Hündchen Yeondeungi, dem Maskottchen des Zentrums. Es geht durch die Reisfelder zwischen den Dörfern, durch Kiefernwälder und am Grab des renommierten Gelehrten und Literaten Yi Gyu-bo aus der Goryeo-Zeit vorbei, währenddessen man sich mit den Mönchen über dies und jenes unterhalten kann. Das Abschreiben von Sutren ist ein weiteres ProgrammHighlight. Das handschriftliche Kopieren der Lehren Buddhas gehört zu den traditionellen Methoden, sich in Askese zu üben. Die Teilnehmer können die Worte Buddhas in chinesischen oder koreanischen Zeichen oder auf Englisch abschreiben. Nach dieser rund 50 Minuten langen Askese-Übung wird die Abschrift mit dem roten Stempel des Tempels versehen, was die Teilnehmer als eine so große Ehre empfinden, als hätten sie eine Goldmedaille gewonnen. Auf diese Weise kann man erleben wie Menschen unabhängig von Nationalität, Sprache, Geschlecht

und Beruf in einem Tempel in Korea eins werden. Das Watt und die Warte Während die Ostküste Koreas sich durch besonders klares Wasser und steile Klippen auszeichnet, ist die Westküste für ihren großen Tidenhub und ihr weitläufiges Watt bekannt. Das Watt im Süden der Insel Ganghwa-do zählt neben den Watten an der Ostküste Kanadas, an der Ostküste der USA, an der Nordseeküste und am Ufer des Amazonasbeckens zu den weltweit größten und wichtigsten Wattenmeeren. Besonderer Stolz der Insel ist das Wattenmeer am DongmakStrand. Dort erscheint bei Ebbe ein Watt von 59,5km2, das sich in gerader Linie vier Kilometer weit ins Meer erstreckt. Das Watt ist dermaßen weitläufig, dass, obwohl man in Richtung Meer blickt, am Horizont nicht das Meer, sondern das Watt zu sehen ist. Es nur mit den Augen zu genießen, heißt, auf das halbe Vergnügen zu verzichten. Krempelt man die Hosenbeine hoch und wagt sich barfuß ins Watt, quillt der weiche Schlamm angenehm zwischen den Zehen hoch. Es kitzelt ein bisschen,

Vor dem Dongmak-Strand erscheint bei Ebbe ein Watt von 59,5km2, das sich in gerader Linie vier Kilometer weit ins Meer erstreckt. Das Watt ist dermaßen weitläufig, dass, obwohl man in Richtung Meer blickt, am Horizont nicht das Meer, sondern das Watt zu sehen ist. Krempelt man die Hosenbeine hoch und wagt sich barfuß ins Watt, quillt der weiche Schlamm angenehm zwischen den Zehen hoch. Hinter dem Strand steht eine Reihe von alten Kiefern, die zu einer gemütlichen Rast einladen. Möchte man die wunderschöne Wattlandschaft bei Ebbe richtig genießen, empfiehlt es sich, auf die Aussichtswarte Bunori Dondae, eine alte Verteidigungsanlage, zu steigen, von wo aus man einen freien Blick über den gesamten Dongmak-Strand hat.

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aber es fühlt sich weich und wohlig an. Wattlebewesen wie Sandkrabben und Venusmuscheln spielen – bedeckt vom schwarzen Schlamm – Verstecken. Hinter dem weißen Sandstrand lädt eine Reihe von alten Kiefern zu einer gemütlichen Rast ein. Möchte man die wunderschöne Wattlandschaft bei Ebbe richtig genießen, empfiehlt es sich, auf die Aussichtswarte Bunori Dondae, eine alte Verteidigungsanlage, zu steigen, von wo aus man einen freien Blick über den gesamten Dongmak-Strand hat. Das Landschaftspanorama, das sich unter einem ausbreitet, ist spektakulär. Der Anblick der Fischerboote, die bei Flut am Kai festgemacht waren und die bei Ebbe hilflos-einsam auf dem Schlamm festsitzen, reizt zum Lachen. Historische Stätten Bewegen wir uns vom südlichen Teil der Insel nach Norden. Ganghwa-do ist ein sehr interessanter Ort, der oft als „Mikrokosmos der koreanischen Geschichte“ bezeichnet wird. Auf Ganghwa-do finden sich nämlich historische Stätten aus den

1 Bei Ebbe erstreckt sich das Wattenmeer am Dongmak-Strand über eine enorme Fläche von 59,5km2, so dass das Meer von der Küste aus nicht mehr zu sehen ist.

2 Die Dolmengruppe von Osang-ri am südlichen Fuß des Goryeo-san besteht aus 12 Dolmen im nördlichen Stil.

wichtigsten Perioden der Geschichte Koreas, so dass eine Tour der Insel einem Gang durch die Geschichte des Landes entspricht. Die Geschichte Koreas lässt sich grob in folgende Zeitabschnitte einteilen: Vorgeschichte, Zeit der Drei Königreiche (57 v. Chr.-668 n. Chr.), Zeit des Goryeo-Reichs (918-1392), Zeit des Joseon-Reichs (1392-1910), Zeit der Öffnung nach außen durch die ausländischen Mächte (Ende des 19. Jhdts. durch Öffnung der Häfen) und Gegenwart. Als Überreste der Vorgeschichte findet man auf der Insel Dolmen. Im Jahr 2000 wurde auf der 24. Versammlung des Welterbe-Komitees der UNESCO im australischen Cairns die Aufnahme der Dolmen in die Welterbe-Liste beschlossen. Die schönsten Dolmen auf koreanischem Boden befinden sich auf der Insel Ganghwado. Natürlich ist der Altar Chamseongdan auf dem Berg Manisan auch eine Stätte aus vorgeschichtlicher Zeit. Der Tempel Jeondeung-sa mit seinen Figuren nackter Frauen stammt aus der Zeit der Drei Königreiche. Kommen wir zur Goryeo-Zeit. Interessant ist, dass Ganghwado 39 Jahre lang die Hauptstadt des Goryeo-Reiches war. Als die Mongolen das Land überfielen, flüchtete der König mit seiner Familie nach Ganghwa-do, von wo aus er den Eindringlingen Widerstand leistete. Das Gelände, auf dem einst der Fluchtpalast stand, ist heute noch zu sehen (Goryeo-gungji). Als weiterer Überrest der Goryeo-Zeit ist Seonwonsaji zu nennen, eine Stätte, auf der einst der Tempel Seonwon-sa stand. Es wird angenommen, dass dort die Holzdruckstöcke der Tripitaka Ko-

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1 Das Ganghwa Ginseng Center steht für den hohen Ruf, den die Insel als Produzent von hochwertigem Ginseng schon seit langem genießt.

reana hergestellt wurden. Heute wird dieses Welterbe im Tempel Haein-sa in Hapcheon in der Provinz Gyeongsangnam-do aufbewahrt. Ganghwa-do hat also eine beachtliche Rolle in der Entwicklung der Buchdrucktechnik Koreas gespielt. Das historische Archiv Jeongjoksan Sago und Seonwonbogak, wo die Annalen des Joseon-Reiches Joseonwangjo-Sillok und die Genealogie der Könige von Joseon aufbewahrt wurden, sowie der Tempel Seonwon-sa, Herstellungsort der Holzdruckstöcke der Tripitaka Koreana , belegen diese Tatsache. Im heutigen Sprachgebrauch könnte man Ganghwa-do vielleicht als Vorreiter auf dem Gebiet der neuesten IT-Technologien bezeichnen. Spuren aus der Joseon-Zeit sind in noch weit größerer Anzahl vorhanden. Der Palast Yongheung-gung, die Residenz von König Cheoljong (reg. 1849-1863) des 25. Herrschers von Joseon, existiert heute noch im Städtchen Ganghwa und die Kirche der Anglican Church of England, die zur Zeit der Hafenöffnung errichtet wurde, blickt auf über 110 Jahre Inselgeschichte zurück. Die Kirche ist ein wunderschönes Bauwerk, das Elemente der traditionellen koreanischen Tempel- und Palastarchitektur mit dem traditionellen Basilika-Stil der Anglican Church of England vereint. Für den Bau dieser Kirche besorgten die britischen Missionare über hundert Jahre alte Kiefern vom Berg Baekdu-san am nördlichen Ende der koreanischen Halbinsel. Es dauerte sechs Monate, um das Holz vom Baekdu-san über das Westmeer nach Ganghwa-do zu transportieren, und weite12 Koreana | Frühjahr 2011

re sechs Monate, um es zu trocknen – ein Zeichen für die Hingabe und Sorgfalt, mit der dieses Gotteshaus errichtet wurde. Es steht auf einem Hügel, von wo aus man einen wunderschönen Blick auf das Städtchen Ganghwa hat. Traditioneller Markt Die überschäumende Lebenskraft der Insel und ihrer Bewohner ist besonders auf dem traditionellen Markt Pungmul-sijang zu spüren. Die traditionellen Märkte Koreas finden alle fünf Tage statt. Man arbeitet also vier Tage lang fleißig und verkauft am fünften Tag seine Landwirtschafts- oder Handwerksprodukte auf dem Markt oder tauscht sie gegen andere Waren ein. Außerdem ist der Markt ein Umschlagplatz für Neuigkeiten, und Pungmul-gruppen (traditionelle Percussion-Bands) geben traditionelle Stücke zum Besten, was für eine weitere Vergnügung sorgt. Geht man an einem der Kalendertage, die auf 2 oder 7 enden, auf den Markt, kann man die landwirtschaftlichen Produkte, die kulinarischen Spezialitäten und auch die Wesensart der Menschen der Insel kennen lernen. Der Pungmul-sijang umfasst ein zweistöckiges Hauptgebäude, ein Annex-Gebäude und einen Platz im Freien. Im Erdgeschoss werden die lokalen Landwirtschaftsprodukte wie goldgelbe Ganghwa-Süßkartoffeln und Ganghwa-Rüben angeboten. Im Stockwerk darüber werden Gerichte wie der Heringsfisch Sardinella zunasi (Baendaengi), Rote-Bohnen-Brei und GerstenBibimbap (Gerste und Reis, vermischt mit Fleisch, verschiedenen Gemüsen und Chilipaste) angeboten. Der Heringsfisch Baendaengi ist eine Spezialität von Ganghwa-do. Baendaengi sind kleine Fische, deren Eingeweide entsprechend winzig sind, und die nach dem Fang rasch verenden. Deshalb werden in Ko-


rea Menschen, die sich schnell aufregen und nicht großherzig und großzügig sind, spöttisch als Personen mit einem „Baendaengi-Herz“ bezeichnet. Diese Fischart wird als Sashimi oder Sashimi-Gemüse-Salat mit Würzsoßen gegessen, kommt aber auch in Form von Fisch-Klößchen in einen feurigen Fischeintopf. Baendaengi sind zwar zwischen Mai und Juni am leckersten, können aber das ganze Jahr über gegessen werden. Zu einem Baendaengi-Gericht muss man auch unbedingt ein Glas Ginseng-Makgeolli aus Ganghwa-do probieren. Ganghwa-do ist nämlich auch für seinen besonders guten Ginseng bekannt, der selbst Tote wieder zum Leben erwecken soll. Setzt man dem gegorenen Reiswein Makgeolli Ginseng hinzu, erhält man ein Getränk mit einem leicht bitteren Geschmack, der nichtsdestotrotz den Gaumen anspricht. Im Annex-Gebäude werden hauptsächlich Heilkräuter und das Lokalprodukt Hwamunseok angeboten. Hwamunseok sind aus Binsen gewebte Matten mit Blumenmuster. Diese Matten, in die auch oft symbolhaltige Tiergestalten wie Drachen und Tiger oder glücksverheißende Zeichen eingewebt werden, kühlen im Sommer und konservieren im Winter die Wärme. Hwamunseok werden von den Inselnbewohnern gefertigt und auf dem Pungmul-Sijang verkauft. Im Freien werden Agrarprodukte der Saison angeboten. An normalen Tagen dient der Platz als Parkplatz, aber an Markttagen werden hier große Sonnenschirme aufgestellt und die Großmütterchen und Großväterchen der Insel verkaufen dort ihre selbst gezogenen oder hergestellten Produkte. Ihre Güte ausstrahlenden, faltigen Gesichter und ihr heiteres Lächeln

sind herzerwärmend. Ein Bummel über den Markt mit seinen kulinarischen Köstlichkeiten wie Fritiertem und Teigwaren an Verkaufsständen und der lebensfrohen Musik im Hintergrund ist ein wahrhaft erfreuliches Erlebnis. Dort ist Lebensart und Gemüt der Inselbewohner am authentischsten zu erfahren. Festivals im Jahresreigen Nun sind wir schon fast am Ende unserer Insel-Rundreise angekommen. Es gibt eigentlich noch vieles, was sich zu sehen lohnt: die Straße Bungmun-gil, an der im Frühjahr die Kirschbäume prächtig blühen, das Ganghwa-Friedensobservatorium, von dem aus man mit bloßem Auge bis nach Nordkorea blicken kann, die Insel Seongmo-do, ein Paradies für Seemöwen usw. Die Seemöwen vor der Küste von Seongmo-do fangen die Kekse, die die Schiffspassagiere ihnen vom Deck aus zuwerfen, gekonnt mit dem Schnabel. Das Ganghwa-Friedensobservatorium befindet sich nur 2,8km entfernt von der Grenze zu Nordkorea. Es ist einer der wenigen Orte auf der Halbinsel, von denen aus man Nord- und Südkorea gleichzeitig sehen kann. Im Frühjahr, wenn der Berg Goryeo-san ins Scharlachrot der Azaleenblüten getaucht ist, wird am Berg das Azaleen-Festival gefeiert; im Sommer wird zu Beginn der Lotusblüte vor dem Tempel Seonwon-sa ein Laternenfest abgehalten und im Herbst wird am Jeondeung-sa ein Bergtempel-Konzert veranstaltet. Im Herbst wird zudem am Kai in Oepo-ri das Salted Shrimp Festival gefeiert, in dessen Mittelpunkt fermentierte Garnelen stehen. Und jedes Jahr wird am 3. Oktober am Altar Chamseongdan ein Opferritual zum Gedenken an den Tag, an dem sich vor über viertausend Jahren (2333 v. Chr.) der Himmel öffnete und ein erstes Reich auf der koreanischen Halbinsel gegründet wurde, abgehalten. Im Herbst verwandeln sich die endlosen Felder, die der See abgewonnen wurden, in ein wogendes Meer aus goldenen Ähren und im Winter sammeln sich im Watt Scharen von Zugvögeln, deren Tänze Herz und Seele erfreuen. Ganghwa-do ist ohne Zweifel ein reizvolles Fleckchen Erde.

2 Der Ganghwa Pungmul-sijang bietet ein reichhaltiges Angebot, darunter heimische Rüben, eine Inselspezialität, die auch exportiert wird.

3 Sashimi aus Baendaengi, (Mitte). Eine Portion Baendaengi zusammen mit einem Glas Ginseng-Makkeoli ist ein absolutes Muss bei einem Besuch auf Ganghwa-do. Der Heringsfisch wird in rauen Mengen in den Gewässern um die Insel gefangen.

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Ganghwa-do: Prisma der koreanischen Geschichte Ganghwa-do ist zwar nicht weit vom Festland entfernt, diente aber wegen der schnellen Strömungen und der gefährlichen Strudel vor der Küste während der Goryeo-Zeit (918-1392) und der Joseon-Zeit (1392-1910) bei Unruhen im Reich als Zufluchtsort der Könige. Während der Goryeo-Zeit war die Insel sogar fast 40 Jahre lang Residenz des Königs. Im turbulenten 19. Jahrhundert fuhren die damaligen Großmächte ihre Kriegsflotten in den Gewässern vor der Insel auf, um das Königreich Joseon zur Öffnung zu zwingen. Die Einwohner von Ganghwa-do, die bei Krisen in der Geschichte von Wellen des Leids überrannt wurden und sie trotzdem jedes Mal überlebten, gelten als Menschen, die sich nicht einfach von ihren Gefühlen hinreißen lassen, sondern vernünftig sind und eine starke Überlebenskraft besitzen. Kim Hyung-yoon Essayist | Fotos: Kwon Tae-kyun, Suh Heun-gang


Das Wattenmeer der Insel Donggeom-do kann von Chojijin auf der Ostseite von Ganghwa-do über Land erreicht werden. Das Watt bietet bei Sonnenuntergang einen unvergesslichen Anblick.

Ein schmaler, aber gefährlicher Fluss Ganghwa-do befindet sich vor der Westküste der koreanischen Halbinsel und umfasst 22 größere und kleinere Inseln, von denen fünf bewohnt sind. Ganghwa-do ist die viertgrößte Insel Südkoreas. Im Gegensatz zu den drei größeren Inseln liegt sie äußerst nah am Festland. Bis vor kurzem, als eine zweite, neue Brücke zum Festland gebaut wurde, gab es nur eine einzige Festlandverbindung, nämlich die 780 Meter lange Brücke Ganghwa-daegyo am nordöstlichen Ende der Insel. Mit dem Auto ist man innerhalb einer Minute auf der Insel, zu Fuß dauert es nur zehn Minuten über die Brücke. Vor dem Bau der Ganghwa-daegyo im Jahr 1969 war es nicht einfach, zwischen Insel und Festland zu verkehren. Das einzige Verkehrsmittel war eine Fähre, die nur bei Flut zwischen Insel und Festland hin- und herfuhr. Diese Holzfähre, die per Hand gerudert wurde, ermöglichte auch noch lange nach dem Aufkommen moderner motorgetriebener Fähren den Transport zwischen Ganghwa-do und dem Festland. Im nördlichen Teil der Insel vereinen sich drei Strömungen zu einem Fluss, der an der Ostküste der Insel entlang fließt und schließlich ins Gelbe Meer (Westmeer) mündet. Dieser Fluss heißt Yeomha („Salzfluss“) und war seit jeher gefährlich. Der Yeomha ist zwar schmal, weist aber eine hohe Strömungsgeschwindigkeit und gefährliche Strudel auf. Daher konnten nur erfahrene Fährleute, die an diesem Fluss aufgewachsen waren, ihre Passagiere sicher mit der Holzfähre ans andere Ufer bringen. Heimat der Dolmen Von den rund 60.000 Dolmen, die bis heute weltweit entdeckt worden sind, befinden sich etwa 40.000 auf der koreanischen Halbinsel. Ganghwa-do ist zwar nicht die quantitativ bedeutendste Dolmenstätte der Halbinsel, aber ohne Zweifel ein Ort, an dem man die Megalithkultur der Bronzezeit gut kennen lernen kann. Diese großen Steingräber sind vom Nordwesten der Insel in Richtung Süden verteilt. Bis die Insel im Rahmen eines Landgewinnungsprojekts flächenmäßig erweitert wurde, lagen die Dolmenstätten alle an der Küste. Das Trockenlegungsprojekt machte aus der einst fünftgrößten Insel Südkoreas die viertgrößte. Diese umfangreiche Landgewinnung war nur möglich, weil bei Ebbe ein Wattenmeer erscheint, das sich weit ins Meer hinaus erstreckt. Das Watt an der Küste von Ganghwa-do ist ein Zuhause für zahlreiche Lebewesen wie z.B. Austern und andere Muschelarten. Sie haben schon vor der Altsteinzeit Überleben und Frühjahr 2011 | Koreana 15


1 Die Brücke Ganghwa-daegyo, gesehen von der Festung Munsusan-seong in Wolgot-myeon, Gimpo-si, Gyeonggi-do. Die Festung wurde 1694 von König Sukjong gebaut, um in Zeiten der Invasion des Joseon-Reiches als sichere Zuflucht für die königliche Familie zu dienen. Auf der anderen Seite der Brücke liegt Gapgotjin auf Ganghwa-do.

2 Auf Ganghwa-do finden sich zahlreiche Dolmen wie dieser aus der Bronzezeit in Bugeun-ri, Hajeom-myeon, der im nördlichen Stil angelegt ist. Mit einer Höhe von 2,6m und einer Deckenplatte von 7,1m Länge und 5,5m Breite ist es der größte Dolmen in Südkorea. Die Dolmen von Ganghwa-do stehen seit 2000 auf der Welterbe-Liste der UNESCO.

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Verbreitung des Menschen in dieser Region gesichert. Bereits in der Bronzezeit kamen auf Ganghwa-do Menschen zu Macht und Reichtum und hinterließen monumentale Steingräber als Zeugnisse. Das erste Reich Gojoseon und der Altar Chamseongdan Die Bewohner der koreanischen Halbinsel, die die Steingräber bauten, gründeten gegen 2.300 v. Chr. ein Reich. Dieses Reich namens Gojoseon (Alt-Josoen; 2333-108 v. Chr.) war das erste auf der koreanischen Halbinsel. König Dangun von Gojoseon suchte zwei Mal pro Jahr den Berg Mani-san in der Nähe der Westküste von Ganghwa-do auf. Auf dem Gipfel dieses 469,2 Meter hohen Berges, der genau in der Mitte zwischen den höchsten Bergen der Halbinsel, dem Baekdu-san (2.744m) im Norden und dem Halla-san (1.950m) im Süden, liegt, hielt Dangun Rituale zur Verehrung des Himmels ab. Chamseongdan, der Steinaltar für die Opfergaben, existiert bis heute. Auch heutzutage noch halten die Inselbewohner am Chamseongdan Opferrituale zur Verehrung des Himmels ab. Darüber hinaus suchen sie – wie ihre Ahnen bereits seit alter Zeit – im Watt nach Nahrung zur Sicherung ihrer Existenz. Das Meer rund um die Insel und der Fluss bieten ein reiches Angebot an Fischen und Meeresfrüchten. Besonders bekannt sind Garnelen und Krebse. Die Einwohner von Ganghwa-do sind aber auch stolz auf Reis und Süßkartoffeln von hoher Qualität, die sie auf der Insel anbauen, und auf den besonders guten Ginseng. Das heißt, Ganghwa-do war schon immer ein Ort mit guten Lebensbedingungen für den Menschen. Die Insel mit ihren reichen lokalen Erzeugnissen und dem ozeanischen Klima, das für Frische im Sommer und nicht zu kalte Winter sorgt, bietet dem Menschen die besten Gegebenheiten zur Niederlassung. Der Provinzgouverneur von Ganghwa-do bezeichnet daher die Insel in der Werbung auch als „auf dem Meer schwimmende Blume“. 16 Koreana | Frühjahr 2011

Die Mongolen-Invasionen (1231-1273) Die koreanische Halbinsel hat zahlreiche Kriege erlebt, die sich ausnahmslos auch auf die Insel Ganghwa-do auswirkten. Die Kriegsgeschichten der Insel geben Einblick in die Geschichte des koreanischen Volkes. Der schlimmste Krieg auf der koreanischen Halbinsel war der Koreakrieg, in dem sich der Norden und der Süden des Landes drei Jahre lang (1950-1953) bekämpften. Dieser Krieg forderte auf Seiten des Nordens und des Südens sowie deren Verbündeten mehr als vier Millionen Tote und Verletzte. Die Verheerungen dieses grausamen Krieges zogen sich durchs ganze Land und es bedarf keiner besonderen Erwähnung, dass auch die Insel Ganghwa-do stark davon betroffen war. Gehen wir in die Zeit vor 780 Jahren zurück: Das GoryeoReich, das 918 aus der Vereinigung mehrerer Reiche hervorgegangen war, wurde von den Mongolen überfallen. Die Mongolen hatten unter der Führung von Dschingis Khan ein Großreich geschaffen und fast den gesamten eurasischen Kontinent erobert. Nach der ersten Invasion im Jahre 1231 drangen sie in den folgenden 29 Jahren sechs Mal auf koreanischen Boden vor, wobei die kürzeste Invasion sich über ein Jahr, die längste über sechs Jahre hinzog. Damals (1232) verlegte der König von Goryeo die Hauptstadt von Gaeseong, einer Stadt in der Mitte der Halbinsel, nach Ganghwa-do. Und erst mehr als zehn Jahre nach Beendigung des Kriegs durch die Unterwerfungserklärung (1258) von Goryeo wurde Gaeseong wieder die Hauptstadt des Reiches. Während dieses recht langen Zeitraums mussten die Einwohner von Ganghwa-do vieles über sich ergehen lassen, um dem König und seinem Hofstaat zu dienen. Die Invasionen der Japaner und Mongolen 1592, also 320 Jahre nach dem Abzug der Mongolen von der koreanischen Halbinsel, brach der Krieg Imjinwaeran aus. Ursache war die zweifache Invasion des Nachbarlandes Japan zwi-


Das Watt an der Küste von Ganghwa-do ist ein Zuhause für zahlreiche Lebewesen wie z.B. Austern und andere Muschelarten. Sie haben schon vor der Altsteinzeit Überleben und Verbreitung des Menschen in dieser Region gesichert. Bereits in der Bronzezeit kamen auf Ganghwa-do Menschen zu Macht und Reichtum und hinterließen monumentale Steingräber als Zeugnisse.

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schen 1592 und 1598. Der König von Joseon, des Nachfolgereiches von Goryeo, gab die Hauptstadt auf, flüchtete aber nicht wie sein Vorgänger nach Ganghwa-do, sondern nach Norden. Er entschied sich gegen die Insel, da der japanische Feind über eine starke Kriegsflotte verfügte. 30 Jahre nach der Invasion der Japaner wurde das koreanische Reich Joseon vom chinesischen Qing-Reich überfallen (1627). Während dieses als „Jeongmyo-horan“ bekannten Krieges suchte der Joseon-König wie einst der König von Goryeo Zuflucht auf Ganghwa-do. Allerdings forderte der Feind diesmal nach nur rund einem Monat die Einstellung der Feindlichkeiten, der Joseon-König kapitulierte und zog mit seinem Gefolge von der Insel ab. Das war für die Einwohner von Ganghwa-do ein großes Glück. Zehn Jahre nach Ende des Jeongmyohoran-Kriegs griff das Qing-Reich die koreanische Halbinsel erneut an. 1636 brach der Krieg Byeongja-horan aus. Der koreanische König versuchte wie schon seine Vorgänger, sich in der „Zuflucht der Könige“ in Sicherheit zu bringen, jedoch war der Feind schneller als erwartet eingetroffen, so dass es ihm nur noch gelang, die Namenstafeln der verstorbenen Könige und Königinnen (Wipae), 18 Koreana | Frühjahr 2011

1 Der Steinaltar Chamseongdan auf dem Mani-san soll von dem mythischen Gründervater Dangun gebaut worden sein, der 2333 v. Chr. Gojoseon, das erste Reich auf der koreanischen Halbinsel, gründete.

2 An der Festung Ganghwa-sanseong, deren äußere Schutzmauern die Stadt Ganghwa umschließen, kam es von der Goryeo- bis in die Joseon-Zeit immer wieder zu Kämpfen mit ausländischen Invasoren.

die im königlichen Schrein aufbewahrt wurden, und seine Familie auf die Insel zu schicken. Dem König selbst blieb keine Zeit mehr, das rettende Schiff nach Ganghwa-do zu besteigen. Aus diesem Grund ergab sich Joseon frühzeitig und der Krieg ging schnell zu Ende. Die Einwohner von Ganghwa-do blieben daher davon verschont, sich erneut für die Königsfamilie aufzuopfern. Die Abschottungspolitik Joseons Mitten im Zentrum des Dorfes Ganghwa-eup stehen an einem sonnigen Platz zwei Gebäude mit Blick nach Süden. Es ist ein Ort, den jeder, der die Insel zum ersten Mal besucht, aufsucht:


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Goryeo-gungji. Eine historische Stätte, die auf dem Gelände errichtet wurde, auf dem Anfang des 13. Jahrhunderts rund 40 Jahre lang der Palast des vor den Mongolen nach Ganghwado geflüchteten Königs von Goryeo stand. Ursprünglich gab es in der Umgebung mehrere Gebäude, die aber zerstört wurden, nachdem sich der König dem Feind ergeben und die Insel verlassen hatte. 400 Jahre später, also zur Joseon-Zeit, wurden auf dem verlassenen Gelände neue Gebäude errichtet. Es herrschte nämlich wieder Krieg und der König ließ einen Fluchtpalast bauen. Jedoch überfielen schon bald die chinesischen QingTruppen die Insel und brannten die neu errichteten Palastgebäude nieder. König Injo (reg. 1623-1649) ließ nach dem Rückzug der Qing-Truppen auf dem Gelände ein Gebäude für das Amt Yusubu bauen. Yusubu war während der Joseon-Zeit eine Art Sonderverwaltungsamt, das jeweils in den vier Militärlagern, die im Norden, Süden, Osten und Westen des Königspalasts lagen und der Verteidigung dienten, eingerichtet wurde. Das 19. Jahrhundert war für die meisten Länder der Welt eine turbulente Zeit. Auch das Joseon-Reich geriet entgegen seinem Willen in den Sog der weltgeschichtlichen Turbulenzen. Das „Land der Morgenstille“ weigerte sich, zu anderen Ländern

− mit Ausnahme von China, mit dem es seit frühester Zeit gutnachbarliche Beziehungen gepflegt hatte −, freundschaftliche Beziehungen aufzubauen. Das grundlegende Prinzip der Außenpolitik Joseons lautete: Ablehnung der westlichen Länder sowie Japans. Darüber hinaus waren die Koreaner dagegen, dem Christentum aus dem Westen, das zur traditionellen konfuzianistischen Lehre im Widerspruch stand, die Türen zu öffnen. Die imperialistischen Großmächte der Welt versuchten mit abenteuerlichen Mitteln den Isolationismus des „Einsiedlerkönigreichs“ auf die Probe zu stellen. Ein Beispiel war der Pjöngjang-Besuch des amerikanischen Handelsschiffes General Sherman, das im August 1866 übers Gelbe Meer kam und auf dem Fluss Daedong-gang bis in die im Norden gelegene Stadt Pjöngjang segelte. Die Beamten und Einwohner von Pjöngjang hatten die fremden Besucher, die von weit her gekommen waren, mit aller Höflichkeit empfangen, aber diese forderten nachdrücklich die Aufnahme von Handelsbeziehungen und unterstrichen dies sogar mit Schusswaffen. Entrüstet über so viel Arroganz griffen die Koreaner das Schiff schließlich an und steckten es in Brand. Frühjahr 2011 | Koreana 19


1 Das Sonderverwaltungsamt Yusubu wurde während der Joseon-Zeit auf dem Gelände des alten Goryeo-Palastes, in dem der König Zuflucht gesucht hatte, gebaut.

2 Das Schlachtfeld Gwangseongbo, auf dem es 1871 zu einem heftigen Gefecht zwischen der amerikanischen Ostasienflotte und den koreanischen Verteidigern kam. Die US-Kriegsflotte war die Straße von Ganghwa hochgesegelt und verlangte die Öffnung der Häfen von Joseon.

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Katholikenverfolgung und Überfall der Franzosen Zu Beginn des Jahres, in dem sich der sog. „General ShermanZwischenfall“ ereignete (1866), hatte die Regierung von Joseon eine breit angelegte Katholikenverfolgung gestartet. Landesweit wurden über 8.000 Mitglieder der katholischen Kirche hingerichtet. Von den zwölf französischen Missionaren, die nach Joseon gesandt worden waren, starben neun den Märtyrertod. Auf der Insel Ganghwa-do wurden in Gapgot drei koreanische

Katholiken hingerichtet. Als Antwort darauf drang im Oktober 1866 Admiral Roze von der französischen Kriegsmarine mit sieben Schiffen und 1.000 Mann in die Gewässer vor der Westküste der koreanischen Halbinsel ein. Unter dem Vorwand, Gerechtigkeit für die hingerichteten französischen Priester zu fordern, griffen die Franzosen am 16. Oktober die Festung Ganghwa-sanseong auf der Insel Ganghwa-do an, die das Tor zur Hauptstadt war, und nahmen die Festung nach heftigem Gefecht ein. Die Eindringlinge blieben einen Monat lang auf der Insel, brannten in dieser Zeit die Gebäude von öffentlichen Behörden wie Yusubu nieder und raubten Waffen, Nahrungsmittel und Schätze. Die Franzosen verbrannten dabei über 4.700 Bücher, die in der Bibliothek Oegyujanggak im Yusubu aufbewahrt wurden, sowie Wertsachen der Königsfamilie; einen Teil der geplünderten Wertgegenstände nahmen sie nach Frankreich mit.

Heilige Stätten des Katholizismus und die Anglican Church of England Gapgot ist ein kleines Fischerdorf am Westufer des Flusses Yeomha in der Nähe der Brücke Ganghwa-daegyo. Wie bereits erwähnt, zwang hier der Kaiser von Quing-China nach der Mandschu-Invasion von 1636 (Byeongja-horan) den Kronprinzen von Joseon zur Unterwerfung. Gapgot ist auch ein Ort, wo 1866 drei Katholiken enthauptet wurden und wo die Franzosen landeten, um die Festung Ganghwasanseong anzugreifen. Im Jahre 1876 wurde hier der Japanisch-Koreanische Freundschaftsvertrag unterzeichnet. 1893 richtete die Regierung Joseons in einem verspäteten Versuch, die Verteidigungskraft der Marine zu stärken, in Gapgot die Marineakademie Tongjeyeong-hakdang ein. Heute findet man hier den Wachturm Gapgot-Dondae und eine heilige Stätte der katholischen Kirche, die dem Andenken der katholischen Märtyrer gewidmet ist. Die Marineakademie Tongjeyeong-hakdang nahm bei ihrer Eröffnung 50 Offiziere und 300 Marinesoldaten auf und lud britische Marineoffiziere und Maate als Ausbilder ein. Die Akademie, die mit hohen Erwartungen ins Leben gerufen worden war, wurde aufgrund der unsicheren politischen Lage Joseons bereits nach vier Jahren wieder geschlossen. Die britischen Ausbilder mussten in ihre Heimat zurückkehren, während ihre Landsleute von der Anglican Church of England, die etwa zur gleichen Zeit auf die Insel gekommen waren, hier erfolgreich Fuß fassen konnten . Die Anglican Church of England begann 1893 mit ihrer Missionsarbeit auf der Insel und errichtete 1897 im Dorf Ganghwa-eup eine erste Kirche. Dieses im traditionellen Baustil von Joseon gehaltene Gebäude, das mit seinen eleganten Linien an ein Schiff erinnert, ist auch heute noch, nach über 110 Jahren, ein Ort der Gottesverehrung. Drei Jahre später wurde in Onsu-ri eine weitere Kirche gebaut, die durch ihren ebenfalls traditionell koreanisch gehaltenen Baustil belegt, dass die ersten Missionare der anglikanischen Kirche die einheimische Kultur und Traditionen wertschätzten. Die beiden anglikanischen Kirchen sind zwar im Vergleich zu den buddhistischen Bauwerken auf der Insel wie dem bekannten Tempel Jeondeung-sa relativ klein, werden aber neben der methodistischen Kirche, einem 1923 in Seodo-myeon ebenfalls im Joseon-Stil errichteten Gotteshaus, von den Besuchern der Insel als wertvolles Kulturerbe anerkannt.

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Es wurden insgesamt 199 Werke bzw. 340 Bände nach Frankreich gebracht, von denen 296 Bände unter der Bezeichnung „Oegyujanggak-Dokumente“ bis heute von der französischen Regierung aufbewahrt und von Korea zurückgefordert werden. Frankreich hatte 1993 einen Band zurückgegeben. Die beiden Staaten erreichten vor kurzem die Einigung, dass die restlichen Bände unter der Bedingung einer Leihgabe-Vereinbarung zurückgegeben werden sollen. Japan zwingt Joseon zur Öffnung Nach dem Überfall von Qing-China zu Anfang des 17. Jahrhunderts hatte die Regierung von Joseon die Wichtigkeit der Insel Ganghwa-do für die Verteidigung des Landes erkannt. So wurden die Festungen auf der Insel instand gesetzt oder es

wurden neue gebaut und entlang der Küste Militärlager errichtet. Außerdem wurden sogar fünf Generäle auf der Insel stationiert. 1871, also nur fünf Jahre nach dem Zwischenfall mit der General Sherman, schickten die USA fünf hochmodern ausgerüstete Kriegsschiffe mit 1.230 Soldaten nach Joseon. Das amerikanische Flottengeschwader nahm am 10. Juni die Befestigungen Chojijin und Deokjinjin an der Ostküste der Insel Ganghwa-do ohne große Mühe ein, aber am darauf folgenden Tag kam es zu einer erbitterten Schlacht um die Festung Gwangseongbo. Die Amerikaner hatten drei Tote und zehn Verletzte zu beklagen, auf Seiten der Koreaner waren es 53 Tote, darunter zwei Generäle, und 24 Verletzte. Damit waren die Verteidigungseinheiten Joseons auf Ganghwa-do fast vollständig vernichtet und die Frühjahr 2011 | Koreana 21


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Befestigungen verwüstet. Die USA hatten die Schlacht zwar gewonnen, es gelang ihnen aber trotzdem nicht, die Türen von Joseon zu öffnen und sie zogen wieder ab. Der Wille des Einsiedlerkönigreichs Joseon, das Land abzuschotten, war nicht zu brechen. Wie zuvor die Franzosen scheiterten auch die Amerikaner bei dem Versuch, Joseon unter Einsatz moderner Waffen zur Öffnung zu zwingen. Erst fünf Jahre nach dem Rückzug der Amerikaner vollbrachten die Japaner diese „historische Aufgabe des Imperialismus“. Japan griff die koreanische Halbinsel mit dem aus Großbritannien importierten modernen Kriegsschiff Unnyo-ho an und versuchte mit Waffengewalt, das Land einzunehmen. Fünf Monate später, im Februar 1876, kam es schließlich zum Abschluss des Japanisch-Koreanischen Freundschaftsvertrags , eines Handelsabkommens, das nach dem Ort der Unterzeichnung auch als Ganghwa-do Joyak (Vertrag von Ganghwa-do) bekannt ist. Dieser Vertrag ebnete Japan den Weg dazu, die koreanische Halbinsel unter seine Kolonialherrschaft zu bringen. Die Einwohner der Insel In den Augen der Bauern und Fischer von Ganghwa-do haben sich die Herrscher des Landes nicht nur während der GoryeoZeit, sondern auch danach nicht besonders für das Wohlerge22 Koreana | Frühjahr 2011

hen des Volkes interessiert. Sie besaßen auch nie hinreichend Kraft, um das Land angemessen zu verteidigen, und verfügten weder über Weisheit noch diplomatische Geschicklichkeit, mit der sie das hätten kompensieren können. Das ist eine traurige Wahrheit. Zum Glück aber waren und sind die Einwohner von Ganghwa-do keine Menschen, die sich angesichts solcher Kalamitäten in sich selbst flüchten, sondern sie gewinnen stets neue Lebenskraft durch den klaren und frischen Seewind. Sie weisen ein starkes Durchhaltevermögen auf, das sie im Laufe der turbulenten Geschichte der Insel erworben haben. Auf dieser Insel wird die Tradition der Lehre der so genannten Ganghwa-Schule gepflegt. Die Ganghwa-Schule wurde von Gelehrten ins Leben gerufen, die sich um Jeong Je-du, der sich Anfang des 18. Jahrhunderts aus dem Hofbeamtendienst zurückzog und in seine Heimat zurückkehrte, sammelten und das „Erkennen des Selbst und dessen Umsetzung im Alltag“ betonten. In Joseon entwickelte sich ab dem 18. Jahrhundert die Silhak-Philosophie des Praktischen Wissens, deren Vertreter mit einer objektiven und empirischen Herangehensweise die bis dahin vernachlässigte Geschichte, Geographie und die alten Schriften der Nation erforschten und sich für die Entwicklung einer Volksidentität interessierten. Die Ganghwa-Schule leistete einen großen Beitrag zur Entwicklung und Umsetzung dieser Silhak-Philosophie.


1 Die Anglikanische Kirche aus dem Jahr 1900 vereint Elemente der buddhistischen und der Palast-Architektur Koreas mit Stilmerkmalen traditioneller anglikanischer Kirchen. Auf der Tafel oben steht „Kirche Gottes“. Rechts und links an den Säulen sind hölzerne Schrifttafeln zu sehen, wie sie sich oft an den Gebäuden traditioneller Tempel befinden.

2 Aus Binsen, dem Grundmaterial für die Blumenmatten von Ganghwa-do, lassen sich viele Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs fertigen.

Die Einwohner von Ganghwa-do gelten als Menschen, die sich nicht leicht von ihren Gefühlen hinreißen lassen, sondern vernünftig sind und eine starke Überlebenskraft besitzen. Diese Eigenschaft stimmt auch mit dem Motto der Ganghwa-Schule, „die Wahrheit in den Tatsachen suchen“, überein. Eigentlich ist die Insel auch heute noch ein „gefährlicher Ort“, da sie von Nordkorea, mit dem sich der Süden, da nie ein Friedensvertrag abgeschlossen wurde, de facto noch im Krieg befindet, nur durch einen Fluss getrennt ist. Besucher der Insel finden jedoch eine friedliche Landschaft aus Bergen und Feldern vor und Einwohner, deren Gesichter Zufriedenheit und Gelassenheit widerspiegeln. Denn die Einwohner von Ganghwa-do, die bei jeder Krise in der Geschichte von Wellen des Leids überrannt wurden und überlebten, sind tatsächlich gelassen und selbstbewusst.

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Seladonkanne und Blumenmustermatten Ein Kulturerbe, das von den Koreanern besonders geschätzt wird, ist die Seladonkanne in Lotusblütenform mit ZinnoberpigmentDekor. Dieses Kunstwerk, das in Form, Dekor und Farbe von vollendeter künstlerischer Schönheit ist, wurde im Grab von Choe Hang, der im 13. Jahrhundert lebte, gefunden. Choe Hang war der dritte Oberherr des Militärregimes des Choe-Clans. Der ChoeClan entriss den Königen von Goryeo die Macht für über 60 Jahre (bis 1258) und übte über den Militärrat absolute Macht im Reich aus. Während den Mongolen-Invasionen kontrollierte Choe Hang die nach Ganghwa-do geflohene Regierung und wurde nach seinem Tod auf der Insel beigesetzt. Dieses Meisterwerk der Goryeo-Seladonkunst, das in seinem Grab lag, gibt Aufschluss über den außergewöhnlichen Kunstsinn der Menschen dieser Zeit. Die Töpfer, die dem König auf die Insel gefolgt waren, brachten selbst an diesem Fluchtort ihre künstlerische Begabung zum Ausdruck. Die Zeiten der Seladon-Herstellung gehören zwar schon lange der Vergangenheit an, aber in den Hwamunseok, den gewebten Binsenmatten mit Blumenmuster, die bis heute als repräsentivstes traditionelles Handwerksprodukt von Ganghwa-do gelten, lebt der künstlerische Geist der alten Koreaner weiter. Dieses aufwändige Produkt erinnert aber auch an den extravaganten Lebensstil der Machthaber von einst, denen das Volk dienen musste. Die Herrscher des Landes behaupteten, dass sie das Land verteidigten, aber in Wirklichkeit überließen sie das Volk der Gewalt und den Plünderungen des Feindes, während sie sich auf der Insel versteckten. Es waren Fluss und Meer, die das Leben der Könige und Mächtigen bei Angriffen des Feindes schützten. Die Mongolenheere waren zu Lande stark, aber schwach zu Wasser, so dass bei den Invasionen hauptsächlich die einfachen Bürger auf dem Festland dem Feind zum Opfer fielen. Das bedeutet aber nicht, dass die Einwohner der Insel Ganghwa-do es besser gehabt hätten. Sie wurden in Kriegszeiten zum Bau von Festungen und Gebäuden zwangsmobilisiert, hatten Unmengen von Nahrungsmitteln und Gütern zur Verfügung zu stellen und Handwerksprodukte liefern, um der Königsfamilie und den hochrangigen Hofbeamten ein bequemes Leben zu sichern, während sie selbst, unter Armut und Hunger leidend, von den Beamten ausgebeutet wurden.

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Die Wege des Lebens auf der Insel Ganghwa-do Der Verfasser dieses Beitrags, ein Dichter und Fischer, verliebte sich 1996 bei einem zuf채lligen Besuch in die Insel Ganghwa-do. Er war so sehr von ihr fasziniert, dass er gleich ein leer stehendes Bauernhaus mietete und dort einzog. Die tiefen Gedanken, die ihm das einfache Leben auf der Insel eingaben, brachte er in seiner Gedichtsammlung Warum Tr채nen salzig sind und dem Prosawerk Alle Wege sind verwandt zum Ausdruck. Ham Min-bok Dichter | Fotos: Ahn Hong-beom

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In den Gew채ssern vor Ganghwa-do herrscht ein ewiges Kommen und Gehen der Fischerboote.

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Das Janghwa-ri Tidal Flat Ecosystem Experience Center (1) und das Wattenmeer der Insel Hwangsan-do (2). Das südliche Wattenmeer von Ganghwa-do, das sich von Janghwa-ri im Südwesten bis zu der kleinen Insel Hwangsan-do im Südosten erstreckt, gehört zu den fünf größten Wattenmeeren der Welt.

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er Blick vom Berg Mani-san auf das Watt ist spektakulär. Vor einem erstreckt sich ein weitläufiges Watt von fast 60 Millionen Quadratmeter. Im Watt lassen sich Wasserwege erkennen, die sich wie Adern verzweigen. Hoch vom Berg aus betrachtet, ähneln sie knorrigen Baumwurzeln. Die faserartigen Wurzeln an der Küste verdicken sich in Richtung Meer und fließen zu kräftigeren Wurzeln zusammen. Schließlich münden sie in einem mächtigen Stamm, auf dem sich eine „Baumkrone aus Meerwasser“ erhebt. Wasserwege Die Bewohner von Ganghwa-do bevorzugen Kalender mit Gezeitendaten. Jeder Haushalt besitzt mindestens einen Gezeitenkalender, der meist an der exponiertesten Stelle hängt. Darüber hinaus findet man auch oft in den Kabinen von Fischerbooten Gezeitenkalender, nach denen die Fischer ihre Fangaktivitäten ausrichten. Die Kalender geben für jeden Tag den Höchst- und Niedrigststand des Wassers auf die Stunde genau an und schätzen den Tidenhub ab. Die Fischer werfen bei Flut ihre Netze aus und die Frauen der Insel gehen bei Ebbe ins Watt, um Muscheln zu sammeln. Daher ist der Gezeitenkalender quasi der Terminkalender der Inselbewohner. Vor ein paar Jahren irrte sich eine alte Frau und ging zur falschen Zeit zum Muschelsammeln. Sie 26 Koreana | Frühjahr 2011

wurde vom plötzlich steigendem Wasser überrascht und ertrank. Das Kommen und Gehen von Ebbe und Flut hat auch den Alltag der Inselbewohner stark beeinflusst. So machen sie z.B. bei Flut niemals die rote Chilipaste Gochujang. Denn es heißt auf der Insel, dass die Gochujang-Paste bei der Zubereitung auf dem Feuer überschwappt, wenn man sie bei Flut herstellt. Das Kommen und Gehen des Wassers entscheidet auch über den Zeitpunkt, an dem die Verstorbenen zu Grabe getragen werden. In Ganghwa-do werden Bestattungen nämlich nur bei steigendem Wasserstand abgehalten. Niemand konnte mir erklären, wie es zu dieser Tradition gekommen ist, so dass ich mich schließlich an den Vorsitzenden des Seniorenclubs wandte. Aber auch er antwortete, dass ihm der Ursprung dieser Tradition unbekannt sei und die Inselbewohner einfach den Sitten und Gebräuchen ihrer Vorväter folgten. Er fügte noch hinzu, dass bezüglich der Gezeiten auch folgende Weisheit weitergegeben werde: „Ein Kalb, das am 8. oder 23. Tag eines Monats nach Lunarkalender, also an Halbmondtagen, an denen der Tidenhub am wenigsten ausgeprägt ist, zur Welt kommt, ist dem Muttertier gegenüber nicht sehr anhänglich.“ Dies, sagte der alte Mann, habe er durch seine eigenen Erfahrungen bestätigen können. Ein jüngerer Nachbar, der vor kurzem seine Flitterwochen an der Ostküste des Festlandes verbracht und zum ersten Mal das Ostmeer gesehen hatte, beschrieb seinen Eindruck in lebendigen Worten: „Ich war wie von bösen Geistern besessen und wäre fast gestorben. Auch nach der Wanderung im Gebirge Seorak-san, also nachdem wir den Heundeulbawi (Wackelfelsen) ins Wanken gebracht hatten, war das Meer immer noch an Ort und Stelle. Genauso am nächsten Tag und nach jeder Mahlzeit – immer dasselbe Bild, ohne jede Variation. Es war erstickend und nervtötend.“ Da mein Nachbar rund 30 Jahre lang mit einem Meer gelebt hatte, das sich in regelmäßigen Abständen vier Kilometer von der Küste zurückzog, musste das Ostmeer, bei dem sich lediglich der Wasserspiegel verändert, nur befremdlich auf ihn wirken. Selbst ich, der ich nur zehn Jahre auf der Insel gelebt habe, habe mich schon an das Kommen und Gehen des Wassers


Nach den Worten des Architekten Gaudi sind „gerade Linien vom Menschen gemachte und gekurvte Linien von Gott geschaffene Linien“. In diesem Sinne kann man die Nadeulgil, die Wanderpfade von Ganghwa-do, als von Gott geschaffen betrachten. Diese Wege kann man nicht befahren, sondern nur zu Fuß erleben und meistens stellen sie eher einen Umweg als eine Abkürzung dar, was sie etwas anstrengend macht. Aber je anstrengender die Strecke ist, desto intimer ist das Erleben von Zeit und Natur, das das Herz bereichert.

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gewöhnt. Wie perplex muss dann erst jemand, der auf der Insel geboren und aufgewachsen ist, sein, wenn er das „unbewegliche“ Ostmeer zum ersten Mal erlebt? Meereswege Im Hafen herrscht immer reges Leben und eine gewisse Anspannung. Vielleicht, weil es sich um die Schnittstelle von befestigten Wegen und schwankenden Wegen handelt. Und weil es das Tor zu einer Welt der Horizontalen ist, in der nur Menschen senkrecht stehen und die Vertikalität in der Natur wie die der Bäume und auch die aller künstlichen Strukturen aufgehoben wird. Der Hafen ist das Tor zur Insel. Hier trifft das Ende der Insel auf den Anfang des Meeres, während das Ende des Meeres zum Anfang der Insel gelangt. Die Straßen der Insel laufen hier wie die Rippen eines Faltfächers im Griff zusammen und die Schiffswege sammeln sich wie in einem Trichter. Es ist die Pforte, durch die die Fischer zur Arbeit gehen und durch sie wieder nach Hause zurückkehren. Es ist der Ort, an dem die 28 Koreana | Frühjahr 2011

Fischer vor dem Auslaufen auf einen guten Fang am nächsten Tag hoffen. Hier kehren ihre Freunde auf vier Pfoten nach dem Abschied von ihnen um, hier verlassen die Fische mit Flossen das Meer. Wenn am Kai die festen Knoten der Seile gelöst und die Anker gelichtet werden, bahnen sich die Boote ihren Weg durchs Wasser und lassen das Land hinter sich. Wenn sich die Boote von der Insel entfernen, werden sie selbst zu Inseln. Auch auf den Wasserwegen gibt es Wegweiser: Sonne, Mond, Sterne, Wind, die Richtung der Wasserströmungen und Erhebungen an der Küste oder auf einer der hier und da verstreuten Inseln. Hilfreicher sind die Bojen, die anzeigen, wo Fischernetze ausgeworfen sind. Jedoch helfen all diese Wegweiser bei starkem Nebel oder Schneegestöber nicht. Ich war mal auf einem Minikraken-Fang, wobei unsere Gruppe die Warnung, dass das Wetter ungünstig sei und der „Nebel die Augäpfel des Kapitäns stehlen würde“, ignorierte und in See stach. Der plötzlich dichter gewordene Nebel verwischte die Silhouetten der Erhebungen auf den Inseln und der Bojen auf dem Wasser. Der Kapitän suchte verzweifelt nach dem Weg und fragte uns schließlich,


1 Die Bewohner von Ganghwa-do sind für ihren Lebensunterhalt aufs Meer angewiesen.

2 Das Osttor der Festung Samnang-seong (Festung Jeongjok-sanseong), die der Legende nach auf den Geheiß von Dangun von seinen drei Söhnen gebaut worden sein soll. Der Tempel Jeondeung-sa befindet sich auf dem Festungsgelände.

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in welcher Richtung sich unser Starthafen befinde. Daraufhin zeigten alle vier Passagiere in eine jeweils andere Richtung. Von da an waren wir ohne jegliche Orientierung. Der Nebel war so dicht, dass wir gerade das Deck noch erkennen konnten und uns völlig eingeschlossen fühlten. In diesem Moment der Panik fragte ich mich, worin der Unterschied zwischen meinem eigentlichen Leben und diesem Eingeschlossensein im Nebel bestünde. Wenn man mein Leben von außen von einem Zeitpunkt in der Ferne betrachtete, würde es dann nicht wie von dichtem Nebel umgeben aussehen? Die Gegenwart ist nichts als eine Insel der Zeit. Spazierwege Auf der Insel Ganghwa-do gibt es jetzt Wege, die zu kontemplativen Spaziergängen einladen. Es wurden keine neuen Wege angelegt, sondern alte, in Vergessenheit geratene Pfade neu entdeckt und hergerichtet. Diese „Nadeulgil“ (Spazierwege) sind je nach Thema differenziert, so gibt es Themenpfade, die die Teilung des Landes widerspiegeln, oder die zu historischen Stätten oder zum Watt führen. Spaziert man diese sich windenden Themenpfade entlang, schlängeln sich immer wieder neue Gedanken hoch oder Gedanken werden völlig ausgeräumt. Die Natur auf diesen Wegen umarmt und reinigt den Wanderer. Diese Nadeulgil-Wege verlaufen lieber in Kurven als in Geraden und verästeln sich in zahlreiche kleinere Pfade, die ein Eigenleben führen und ständig ihre Gestalt verändern. Man kann sie nicht befahren, sondern nur zu Fuß erleben und meistens stellen sie eher einen Umweg als eine Abkürzung dar, was sie etwas anstrengend macht. Aber je anstrengender die Strecke ist, desto intimer ist das Erleben von Zeit und Natur, das das Herz bereichert. Diese Wege sind wie Poesie.

Nach den Worten des Architekten Gaudi sind „gerade Linien vom Menschen gemachte und gekurvte Linien von Gott geschaffene Linien“. In diesem Sinne kann man die Nadeulgil, die Wanderpfade von Ganghwa-do, als von Gott geschaffen betrachten. Bergwege Der Weg zum Osttor des Tempels Jeondeung-sa führt in sanft geschwungenen Bögen hinauf und der Wasserweg daneben folgt demselben Kurs. Unter den Füßen rascheln gefallene Blätter. Der Weg, den die Geräusche des Windes erzeugen, formt sich und verschwindet im selben Augenblick wieder. Ich mache vor einem knospenden Schneeflockenbaum halt und betrachte ihn. Der Anblick des flackernden Grüns vermittelt ein Gefühl der Zärtlichkeit und Milde, in dem ich Frieden finde. Seinen Schatten hinter sich herziehend, fliegt ein Vogel vorbei. Auf dem Berghang zur rechten Seite des Weges wachsen Pechkiefern, fein säuberlich in einer Reihe gepflanzt, während linker Hand am Felsabhang wilde Rotkiefern stehen, die von Wind und Sonne genährt werden. Die Rotkiefern sind gekrümmt, die Pechkiefern recken sich gerade in die Höhe. Ich laufe auf dem Weg, der sich zwischen Geradheit und Krummheit gebildet hat, die Bäume stehen da an ihren Plätzen außerhalb des Weges. An der Stelle, an der der Akazienweg beginnt, endet auf der rechten, dem Berg zugewandten Seite der Wald aus Pechkiefern und wird durch einen Wald aus koreanischen Weißbuchen und Weißeichen fortgesetzt. Die Bäume sind geradlinig und robust. Plötzlich raschelt es dringlich in den von den Buchen gefallenen Blättern. Ein Fasan fliegt auf. Ich blicke in den Himmel. Ich stelle mir die zahlreichen Wege des Lebens vor, die für das Auge unsichtbar sind. Frühjahr 2011 | Koreana 29


FOKUS

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Die beiden koreanischen Top-Mädchengruppen: KARA und Girls’ Generation. Rechts die nicht-koreanischen Mitglieder der koreanischen Idolgruppen: (von links) Nichkhun von 2PM (Thailand), TOMO von A’ST1 (Japan), Alexander Lee Eusebio von U-Kiss (Hongkong), und Hai Ming von A’ST1 (China).


K-Pop Koreawelle durch Performance Die koreanischen „Idolgruppen“ bahnen sich im Anschluss an rege Konzerttourneen in Asien jetzt den Weg auf den US-amerikanischen Markt. Welchen Stellenwert haben sie in der weltweiten Musikindustrie, die einen raschen Wandel durch die Konvergenz von medialer Kunst und Performance-Kunst erlebt? Shin Hyun-joon Musikkritiker, Professor an der Sungkonghoe University

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ouristen, die 2010 japanische Großstädte wie Tokio und Osaka besuchten, haben auf den Großbildschirmen in der Stadtmitte bestimmt Kara und Girls’ Generation gesehen. Diese beiden koreanischen Mädchengruppen, die seit 2008 hoch oben auf der Popularitätsskala in Korea stehen, erleben derzeit auch im Nachbarland einen Boom. Der Boom koreanischer Girlbands war auch eins der Top-Themen unter den Nachrichten aus der japanische Popmusikszene des Jahres 2010.

Japan im Visier: von BoA bis Kara Kara gab gleich zu Jahresanfang am 7. Januar 2010 in der Konzerthalle Akasaka BLITZ in Tokio vor 4.000 Fans ihr erstes Konzert in Japan (KARA First Showcase in Japan 2010 ). Bereits im August 2010 hatte es Mister , ihre erste Single für den japanischen Markt, in die Top Ten der Albencharts geschafft. Und Girls’ Generation veranstaltete vor der Veröffentlichung von Gee , ihrer ersten Single in Japan, am 25. August 2010 im Ariake Colosseum in Tokio einen Showcase. Etwa 20.000 Fans sowie 1.000 Vertreter der Musikindustrie kamen, und noch am selben Abend brachte der Sender NHK eine Hauptmeldung darüber in den Nachrichten. Aber auch über andere koreanische Mädchengruppen wird im japanischen Fernsehen und den Medien breit berichtet und in großen Musikläden wie Tower Record finden sich ihre Alben an besonders exponierten und nicht zu übersehenden Stellen. Bislang drehte sich die sog. Koreawelle „Hallyu“ in Japan hauptsächlich um TV-Serien, ausgelöst durch die Serie Wintersonata . Das heißt, es war gewissermaßen eine „TVSerien-Hallyu“ und die Popmusik war nicht besonders zugkräftig. Die Hallyu-Stars waren Schauspieler, die in den koreanischen TV-Serien mitgespielt hatten, und die Hallyu-Fans japanische Frauen in den mittleren Jahren. Ryu Si-won und der verstorbene Park Yong-ha wurden durch TV-Serien, in denen sie mitwirkten, zu Hallyu-Stars und setzten anschließend ihrer Karriere als Schauspieler auch noch eine als Sänger hinzu, aber das Singen war nicht ihr eigentliches Metier. Frühjahr 2011 | Koreana 31


Es ist ein allgemeiner Trend geworden, dass die derzeitigen Idolgruppen, die von Anfang an das Ziel der Erschließung ausländischer Märkte verfolgen, nicht-koreanische Mitglieder aufnehmen und trainieren. Han Gyeong, Mitglied der Boygroup Super Junior , ist Chinese und Nikkhun von 2PM ist Amerikaner thailändischer Abstammung.

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Unter den professionellen Sängern war es die Solosängerin BoA, die 2001 in Japan debütierte und sich zu einem Top-Star entwickelte. Danach erlangten Solosänger wie Rain und Seven und Jungengruppen wie TVXQ (Dongbangsingi) , SS501 und Bigbang eine gewisse Berühmtheit in Japan. Allerdings war BoA unter dem Konzept einer „J-Pop-Sängerin“ aktiv, so dass sie nicht im engen Sinne als „Hallyu-Sängerin“ gelten kann. Die Jungengruppen konnten sich bislang auch nicht zu einer Massensensation entwickeln, wie es bei den Mädchengruppen derzeit der Fall ist.

Von der TV-Serien-Hallyu zur Konzert-Hallyu Die japanischen Fans der koreanischen Mädchengruppen sind im Gegensatz zur bisherigen Hallyu-Welle weibliche Teens und Twens, also die Hauptkonsumentinnen der Populärkultur. Die japanischen Medien sprechen daher auch von einer „Neo-HallyuWelle“, ja sogar manchmal von einer „koreanischen Invasion“. Dieser Begriff stammt aus den 1960ern, als britische Pop- und Rockgruppen wie die Beatles und die Rolling Stones den amerikanischen Musikmarkt im wahrsten Sinne des Wortes stürmten, so dass dafür die Wendung „Britische Invasion“ aufkam. Bedenkt man diesen Hintergrund, dann lässt sich leicht erahnen, auf welche Resonanz die koreanischen Girlgruppen in Japan gestoßen sind. Es ist nicht einfach, die Gründe für diese Erscheinung aufzudecken. Schaut man sich die Bewertungen in Japan an, heißt es, 32 Koreana | Frühjahr 2011

dass die koreanischen Mädchengruppen „ein gewisses Etwas besitzen, das den japanischen Girlgroups fehlt“. Dazu gehört z.B. Gesangs- und Tanztalent, Stilbewusstsein, gutes Aussehen, Charisma usw. Dass NHK in seinen Nachrichten über die koreanischen Mädchengruppen unter dem Titel „Ein Wirbelsturm schöner Beine“ berichtete, weist in symbolischer Weise auf ihren Reiz hin. Ein weiterer Grund könnte sein, dass nach dem Erfolg der japanischen Girlgroup AKB 48 keine neuen Formate entwickelt werden konnten und es zu einer Flaute kam. Aber wichtiger als das WARUM ist das WIE. Nicht nur für die koreanischen Mädchengruppen sondern für die ganze koreanische Popmusik, also den K-Pop, ist der Vormarsch auf die ausländischen Märkte zwar eine Selbstverständlichkeit geworden, aber die Art und Weise dieses Vormarsches hat sich stark geändert. Anders als in der Vergangenheit werden nicht einfach nur mehr Alben exportiert, vielmehr gewinnt der PerformanceExport immer stärker an


1 Super Junior, eine Gruppe mit 13 Mitgliedern, erfreut sich in Taiwan höchster Beliebtheit..

2 Auf einem Gebäude im Viertel Shibuya in Tokio war Ende 2010 die koreanische Mädchengruppe Girls’ Generation auf einer riesigen Tafel zu sehen. 3 KARA schaffte es im August 2010 mit ihrer ersten Single Mister. in die Top Ten der Charts.

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Bedeutung. Betrachtet man dieses Phänomen in einem größeren Rahmen, dann kann man von einem Wandel der Koreawelle von der „TV-Serien-Hallyu“ zur „Konzert-Hallyu“ bzw. „PerfomanceHallyu“ sprechen.

Nach Rains Welttournee Bis jetzt haben wir uns hauptsächlich mit dem Vorstoß auf den japanischen Markt befasst, aber die Performance-Hallyu schwappte auch über den Pazifik bis nach Nordamerika. Rain , der Mitte des ersten Jahrzehnts des neuen Millenniums heißes Interesse auf sich zog, veranstaltete 2006/2007 unter dem Titel

Rain’s Coming an verschiedenen Orten in den pazifischen Randgebieten Mega-Konzerte. Es lief zwar nicht alles glatt - so wurden z.B. einige Konzerte abgesagt -, aber es war das erste Mal, dass ein koreanischer Sänger in Übersee Konzerte unter der offiziellen Bezeichnung „Welttournee“ gab. Am 4. September 2010 wurde die Bezeichnung „Welttournee“ erneut verwendet, diesmal für die SM Town Live 10 World Tour, die von der Entertainment Firma SM veranstaltet wurde. SM hat viele Top Stars wie die schon erwähnten Girls’ Generation, BoA oder TVXQ (Dongbangsingi) unter Vertrag, dazu Super Junior , Shinee , Fx usw. Die Sänger dieser Firma veranstalteten am 21. August in Seoul, am 4. September in Los Angeles und am 11. September in Shanghai erfolgreiche Konzerte, bei denen sie vor Zehntausenden von Fans auftraten. Das Konzert am 9. Oktober in Los Angeles nahm sogar in der Boxcore Chart, der vom Billboard Magazine veröffentlichten Einnahmen-Rangliste von Veranstaltungen, den 10. Platz ein. Nach diesen offiziellen Angaben brachte der Ticketverkauf 1.101.582 US-Dollar ein und es kamen 15.000 Fans zum Konzert.

Der Wandel des globalen Musikmarktes Aus welchem Grund wurden Konzertveranstaltungen zu einem solch wichtigen Element der Hallyu? Die Bezeichnung „Hallyu“ etablierte sich zwischen Ende der 1990er Jahre und Anfang des neuen Millenniums, als die ursprünglichen Idolgruppen wie Clon, H.O.T, N.R.G usw. in Beijing erfolgreich Konzerte veranstalteten. Welche Veränderungen hat es seitdem gegeben? Sehen wir uns zuerst die Statistiken an. Seit etwa 2005 ist der Export der koreanischen Musikbranche stark Japan-abhängig. Laut Statistik betrug 2008 der Export nach Japan 68%, während die USA und China trotz ihrer Bedeutung als Absatzmarkt im Außenhandel nur einen Anteil von jeweils 11,2% bzw. 2,1% stellten. Bei genauerer Analyse kann man feststellen, dass der Export nach China im ersten Millenniumsjahrzehnt deutlich schrumpfte und der in die USA trotz mehrerer Anläufe noch in der Anfangsphase steckt. Eine neue Tatsache ist, dass die Exporte der Musikbranche, die 2005 einen Höchstpunkt erreichten und danach ständig zurückgingen, ab 2008 wieder Aufwärtstrend zeigten, ein Wandel, der auf die Exportzunahme der Musik-PerformanceIndustrie zurückzuführen ist. Die vorab genannten zwei Welttourneen sind gute Beispiele dafür. Betrachtet man diese Tendenzen in noch größerem Rahmen, dann spiegeln sie die Veränderungen der gesamten Musikbran3

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1 Nach ihrem Japan-Debüt kurz nach der Jahrtausendwende entwickelte sich BoA zu einer Sängerin von erstklassigem Format..

2 Rain schaffte den Durchbruch mit seiner Welttournee Rain’s Coming. 3 Der Boom der koreanischen Mädchengruppen war 2010 einer der Haupttrends in der japanischen Popmusikkultur

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che wider. In der Musikindustrie verlieren die herkömmlichen Musikträger, die bislang eine zentrale Rolle spielten, immer mehr an Bedeutung. Die Branche verändert sich zu einem umfassenden Entertainment Business, das nicht nur Tonaufzeichnungen vermarktet, sondern auch Live-Veranstaltungen verschiedenster Art lanciert. Man muss nicht lange recherchieren, um zu erkennen, dass seit etwa 2005 Popmusik-bezogene Aufführungen und Veranstaltungen in Korea quantitativ und qualitativ zugenommen haben. Es entsteht eine neue Art von Verschmelzung zwischen Medien-Kunst und Perfomance-Kunst. In Korea haben sich die Popmusik und die Musikbranche gut an die rasanten Veränderungen, die das Umfeld in den vergangenen zehn Jahren erfahren hat, angepasst. Ende des ersten Millenniumsjahrzehnts versuchte man nicht nur in Korea, sondern auch im Ausland, einen Wandel in Gang zu setzen. Daher trat die Performance-Hallyu zu dieser Zeit als ein neues Phänomen auf.

ren. Han Gyeong von der Boygroup Super Junior ist Chinese und Nikkhun von 2PM ist Amerikaner thailändischer Abstammung. Victoria aus der Mädchengruppe Fx ist Chinesin und Amber Amerikanerin taiwanesischer Herkunft, während in der Gruppe Miss A Fei und Jia Chinesinnen sind. Warum nehmen die großen koreanischen Entertainment-Firmen ausländische Gruppenmitglieder auf, wenn in Korea die Teens Schlange vor ihren Türen stehen, um in einer dieser Starschmieden trainiert zu werden? Der Grund liegt auf der Hand: Durch diese nicht-koreanischen Mitglieder, die die Sprache der anvisierten Region fließend sprechen und die Kultur kennen, soll eine Brücke geschlagen werden, die alle Aktivitäten vor Ort in glattere

Neueste Trends bei den koreanischen Idolgruppen Diese Änderungen brachten auch einen Wandel bei der Formation von Idolgruppen mit sich. Irgendwann wurde man sich bewusst, dass es nicht mehr der Zeit entsprach, rein koreanische Idolgruppen zu bilden und im Ausland zu lancieren. Schon in den 1990er Jahren wurden Korea-Amerikaner oder Korea-Japaner als Gruppenmitglieder aufgenommen, was auch heute noch der Fall ist. Zurzeit ist es zudem ein allgemein verbreiteter Trend, dass die Idolgruppen, die von Anfang an ausländische Märkte anvisieren, nicht-koreanische Mitglieder anwerben und trainie34 Koreana | Frühjahr 2011

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Bahnen lenkt. Diese Erscheinung ist nicht nur auf Korea beschränkt. Aber in der asiatischen Region stößt Korea am aktivsten auf die ausländischen Märkte vor. Es scheint, dass weder auf dem japanischen Musikmarkt, der schon seit langem der zweitgrößte der Welt ist, noch auf dem chinesischen Markt, der ein enormes NachfragePotential besitzt, das Bedürfnis, in Übersee-Märkte vorzudringen, dermaßen stark wie in Korea empfunden wird. Korea besitzt im Vergleich zu den beiden Nachbarländern einen relativ kleinen Markt, weshalb die Idolgruppen, die immense Investitionssummen verschlingen, von vornherein den gesamtasiatischen Markt im Auge haben. Weil man diesen Markt aber nicht mehr allein mit Albenexporten angehen kann, ist es notwendig, dass die Sänger selbst über die Landesgrenzen hinaus aktiv werden. Diesen Wandel kann man positiv als erfolgreiche Anpassung der koreanischen Popmusik an das veränderte Umfeld bewerten, man kann ihn aber auch negativ sehen, nämlich als verzweifelten Überlebenskampf der koreanischen Popmusik in einer Zeit des grenzenlosen Wettbewerbs. Es kann sein, dass beides stimmt oder beides falsch ist.

Indie Bands Diese Veränderungen betreffen nicht nur die Popmusik. Ein paar andere Beispiele: In der dritten Septemberwoche 2010 traten in Shibuya/Tokio und an anderen Orten koreanische Indie Rockbands (Indie Bands: unabhängige Bands) zusammen mit japanischen Bands auf, wobei die einzelnen Vorführungen unabhängig

voneinander geplant wurden. Es waren die Gruppen Jang Gi-ha und die Gesichter , The Rock Tiger , Vodka Rain und Crying Nut . Auch Gruppen wie Vidulgy Ooyoo, die noch weiter vom Pop-Mainstream entfernt sind als die oben genannten Gruppen, wurden im letzten August zum Projekt Asian Echo 2010 eingeladen und machten eine China-Tour, bei der sie in fünf Städten auftraten. Es ist unmöglich, hier alles aufzuzählen, aber es ist mittlerweile völlig normal geworden, dass Indie Rockbands aus anderen asiatischen Ländern auch in Korea auftreten. Nimmt man andere Musikrichtungen wie Jazz oder Hip Hop hinzu, gibt es noch mehr Beispiele. Das waren einige Beispiele, die zeigen, dass der internationale Kulturaustausch auf Basis von Vorführungen sich nicht nur auf die „gut verkaufbare“ Musik bezieht. Man kann feststellen, dass sich die asiatischen Musiker und Musikfans nicht nach Nationalität teilen, sondern sich nach Musikgeschmack mischen. Bei der Performance-Hallyu wird die Musik durch das Treffen der Künstler und Fans, die sich von hier nach dort bewegen, vermittelt. Auch wenn die Welt durch die Globalisierung immer enger zusammenrückt, gibt es nichts Besseres, als sich von Angesicht zu Angesicht zu treffen, damit Herz und Herz sich verbinden. Ob nun Mainstream oder nicht: Damit die Perfomance-Hallyu ein kulturelles Phänomen von Bedeutung wird, werden nicht nur kalte wirtschaftswissenschaftliche Überlegungen unter dem Motto „Strategie zum Vordringen der koreanischen Musikindustrie auf die ausländischen Märkte“ benötigt, sondern vielmehr warme, vom Herzen ausgehende Kulturstudien. Frühjahr 2011 | Koreana 35


KUNSTKRITIK

Meisterwerke der buddhistischen Malerei der Goryeo-Zeit: Ein kurzes Wiedersehen nach 700 Jahren Die Ausstellung Meisterwerke der buddhistischen Malerei der Goryeo-Zeit (Masterpiece of Goryeo Buddhist Painting) war eine große Veranstaltung, bei der 61 der rund 150 überall auf der Welt verstreuten buddhistischen Gemälde der Goryeo-Zeit (918-1392) präsentiert wurden. Die buddhistischen Malereien der Goryeo-Zeit gelten als Inbegriff der buddhistischen Kunst Koreas. Die Ausstellung und das begleitende internationale Symposium sorgten nicht nur in der Fachwelt, sondern auch in der Öffentlichkeit für große Aufmerksamkeit. Bae Young-il Kurator des koreanischen Nationalmuseums (National Museum of Korea)

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ie Ausstellung Meisterwerke der buddhistischen Malerei der GoryeoZeit, die vom 12. Oktober bis zum 21. November 2010 in der Sonderausstellungshalle des Nationalmuseums gezeigt wurde, fand aus einem doppelten Anlass statt: der Veranstaltung des G20-Gipfeltreffens in Seoul und des fünften Jubiläums der Eröffnung des neuen Nationalmuseumskomplexes in Yongsan. Sie bot die Gelegenheit, den hohen künstlerischen Wert der buddhistischen Malerei von Goryeo anhand von 61 Werken von etwa 150 bis heute erhaltenen in der Welt bekannt zu machen. 27 der Exponate kamen aus Japan, 15 aus den USA und Europa und 19 aus Korea. Neben den 61 Gemälden aus der Goryeo-Zeit wurden auch noch andere, Buddhismus-bezogene Werke ausgestellt, so dass die Gesamtzahl der Exponate 108 betrug. Zu letzteren gehörten 20 buddhistische Gemälde, die für denselben historischen Zeitraum einen Vergleich der buddhistischen Kunst in Ostasien erlauben, 5 buddhistische Malereien aus der frühen Joseon-Zeit (13921910), die das Erbe der buddhistischen Malerei von Goryeo fortsetzte, sowie 22 kunsthandwerkliche Artefakte der Goryeo-Zeit wie z.B. Buddhastatuen.

Bedeutung der Ausstellung 1

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Die buddhistischen Malereien von Goryeo gehören, wie allgemein bekannt, zu den schönsten Schöpfungen der religiösen Kunst der Welt. Mit ihren feinen


Das Werk, das das Hauptaugenmerk auf sich zog, war Wasser-Mond- Avalokitesvara aus dem japanischen Tempel Sensoji. Es stellt den von einem zartgrünen, tropfenförmigen Heiligenschein umgebenen Bodhisattva des universalen Mitgefühls dar. Die graziösschlanke Gestalt und der feine Gesichtsausdruck, die das Schönheitsideal von Goryeo widerspiegeln, sind Zeugnis höchster Darstellungskraft: Die Subtilität ist so exquisit, dass die goldenen Linien mit einem Pinsel fein wie ein einziges Haar gemalt zu sein scheinen.

1 Wasser-Mond-Avalokitesvara aus der Sammlung des japanischen Danzanjinja zeigt einen ernsten und graziösen Bodhisattva bei der Begrüßung des knaben Sudhana.

2 Wasser-Mond-Avalokitesvara aus der Sammlung des Tempels Sensoji in Japan. Das Werk ist auch als Wassertropfen- Avalokitesvara bekannt.

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und eleganten Formen, die den ausgeprägten ästhetischen Sinn der Menschen der Goryeo-Zeit zum Ausdruck bringen, den prächtigen Farben, den leuchtenden und prachtvollen Goldpigmenten und den elegant fließenden, wiewohl kraftvollen Linien schufen die buddhistischen Malereien von Goryeo eine im Ostasien der damaligen Zeit einzigartige Welt der Ästhetik. Darüber hinaus zeugen sie von der sublimierten Spiritualität des Buddhismus und den Gefühlen der Menschen von Goryeo und zeichnen damit ein deutliches Bild von der Kultur der Zeit. In dieser Sonderausstellung waren auch buddhistische Malereien aus China, und zwar aus dem südlichen Song-Reich (1127-1279) und dem YuanReich (1271-1368), und Werke aus der japanischen KamakuraZeit (1185-1333) zu sehen, was es den Besuchern ermöglichte, die Pracht der Kunstwerke von Goryeo aus dem erweiterten Blickwinkel der zeitgenössischen buddhistischen Kunst Ostasiens zu betrachten. 38 Koreana | Frühjahr 2011

Insbesondere ist das Augenmerk darauf zu richten, dass die Ausstellung nicht nur in Korea aufbewahrte, sondern in der ganzen Welt (Japan, USA, Europa) verstreute Werke der buddhistischen Malerei der Goryeo-Zeit an einem Ort zusammenbrachte. Selbst eine Handvoll an einem einzigen Ort auszustellen, ist kein einfaches Unternehmen. Diese Mega-Ausstellung war daher eine wahrhaft seltene Gelegenheit für einen umfassenden und vergleichenden Einblick in die buddhistische Malerei von Goryeo. Viele der ausgestellten Bilder wie Wasser-Mond-Avalokitesvara aus dem japanischen Tempel Sensoji, Ksitigarbha aus dem Nezu Museum in Japan und Darstellung der Visualisierung der Sutra aus dem japanischen Tempel Otakaji wurden zum ersten Mal der koreanischen Öffentlichkeit präsentiert. Selbst der japanischen Öffentlichkeit war der Zugang zum ersten der genannten drei Werke, das unter dem Beinamen Wassertropfen-Avalokitesvara bekannt ist, für lange Zeit verwehrt, so dass auch japanische


1 Amitabha Buddha Trias. Eremitage in St. Petersburg, Russland 2 Amitabha Buddha Trias. Nationalschatz Nr. 218. Samsung Kunstmuseum Leeum, Korea Dieses für die buddhistische Malerei der Goryeo-Zeit repräsentative Gemälde zeigt den Amitabha Buddha bei der Begrüßung Verstorbener in einem paradiesischen Jenseits.

Wissenschaftler Schwierigkeiten hatten, das Bild direkt zu erforschen.

Buddhas, Bodhisattvas und Arhats Die Ausstellung bestand aus sechs Teilen und einer allgemeinen Einführung, die das Verständnis der buddhistischen Malerei von Goryeo erleichtern sollte. Der erste Teil Buddha: der Erleuchtete fokussierte auf Buddha-Darstellungen. Die buddhistische Malerei von Goryeo stellt Buddha in verschiedenen Identitäten dar wie Vairocana (transzendenter Buddha: der Sonnengleiche), Shakyamuni (der Weise aus dem Geschlecht der Shakya) und Maitreya (Buddha der Zukunft). Am häufigsten vertreten ist jedoch der Amitabha (Buddha des grenzenlosen Lichts), was die Blüte des Glaubens an Jeongto widerspiegelt (Jeongto: das paradiesische Reine Land des Amitabha Buddha, in dem kein Leid, sondern nur unendliche Glückseligkeit und Freiheit herrschen). Das Werk Amitabha Buddha Trias aus dem Leeum Museum/Seoul, das typische Merkmale der buddhistischen Malerei von Goryeo aufweist, zeigt den Amitabha Buddha, der einen Verstorbenen in einem jenseitigen elysischen Reich willkommen heißt. Diese 3 Darstellungsweise ähnelt der eines Gemäldes in der Eremitage in St. Petersburg, woran die gegenseitige Beeinflussung der Länder Ostasiens im Bereich der buddhistischen Kunst erkennbar ist. Der zweite Teil der Ausstellung Bodhisattva: Erlöser aller empfindsamen Wesen war Darstellungen von Bodhissattvas (erleuchtete Wesen) gewidmet; darunter waren Figuren, die sowohl Buddhisten als auch Nicht-Buddhisten bekannt sind, wie der Avalokitesvara, der Bodhisattva des allgemeinen Mitgefühls, und Ksitigarbha, ein v.a. im japanischen Buddhismus bekannter Bodhisattva, der die Verstorbenen in die Unterwelt begleitet. Von den heutzutage weltweit erhaltenen 24 Goryeo-Gemälden des Bodhisattva Avalokitesvara wurden 13 in der Ausstellung präsentiert, was den Besuchern erlaubte, die Unterschiede in Form und Stil von Avalokitesvara-Darstellungen der Goryeo-Zeit auf einen Blick zu vergleichen. Das Werk, das das Hauptaugenmerk auf sich zog, war Wasser-Mond-Avalokitesvara aus dem japanischen Tempel Sensoji. Es stellt den von einem zartgrünen, tropfenförmigen Heiligenschein umgebenen Bodhisattva des universalen Mitgefühls dar. Die graziös-schlanke Gestalt und der feine Gesichtsausdruck, die das Schönheitsideal von Goryeo widerspiegeln, sind Zeugnis höchster Darstellungskraft: Die Subtilität ist so exquisit, dass die goldenen Linien mit einem Pinsel fein wie ein

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einziges Haar gemalt zu sein scheinen. Das Bild Wasser-Mond-Avalokitesvara aus dem japanischen Tempel Danzanjinja zeigt einen ernsten und eleganten Bodhisattva, der auf einem Felsen auf dem Berg Potalaka-san sitzt und den Erleuchtung suchenden Knaben Sudhana begrüßt. Es weist die für die Goryeo-Zeit archetypischen Darstellungsmerkmale des Avalokitesvara auf. Zum Vergleich wurde ein im Besitz der russischen Eremitage befindliches Werk ausgestellt, das ebenfalls einen Avalokitesvara-Bodhisattva zeigt. Abgesehen von FarbFrühjahr 2011 | Koreana 39


2 1 Ksitigarbha. Metropolitan Museum of Art, USA 2 Wasser-Mond-Avalokitesvara. Eremitage in St. Petersburg, Russland

3 Arhat Nr. 329: Der ehrw端rdige Yuanshangzhou aus der Sammlung des Kunstmuseums Iramgwan, Korea. Dieses Werk ist f端r die dynamisch wirkende Haltung der Figur und die aussdrucksstarken Gesichtsz端ge bekannt.

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gebung und der Anordnung der Sakralobjekte wie der Kundikâ weist das Bild im Großen und Ganzen gesehen starke Ähnlichkeit mit der Goryeo-Darstellung auf, was den Einfluss des Westlichen Xia (1032-1227), eines Tanguten-Reichs am Rande der Inneren Mongolei in China, zeigt. Darüber hinaus wurden 10 Bilder von Ksitigarbha gezeigt, die den Bodhisattva entweder alleine, oder in Triaden- und Gruppenformation zeigen. Darunter ist das Gemälde aus dem Metropolitan Museum of Art in New York von beeindruckend hohem künstlerischen Gehalt: Es zeigt einen einzelnen Ksitigarbha-Bodhisattva mit ausgeglichenen Körperproportionen, transparenten Farben und aufwändigen Mustern von mythischen Wundervögeln (Bonghwang), Wolken und goldenen Arabesken. Im dritten Teil Arhat: Inbegriff des Asketen wurde die von 12351236 gemalte Werkreihe Fünfhundert Arhats präsentiert (Arhat: erleuchteter, vollendeter buddhistischer Heiliger, der im Gegensatz zum Bodhisattva den Schritt ins Nirwana nicht aufschiebt, um anderen Wesen aus dem Leiden zu helfen). Die Ausstellung zeigte 10 der weltweit 14 bekannten Arhat-Darstellungen aus der Goryeo-Zeit. Mit 7 Werken ist das koreanische Nationalmuseum im Besitz der meisten dieser Bilder. Das Bild Arhat Nr. 329: Wonsangjujonja (Arhat Nr. 329: Der ehrwürdige Yuanshanghzou), das in Iramgwan, einem privaten Kunstmuseum in Busan, aufbewahrt wird, bringt besonders die dynamische Körperhaltung und den lebendigen Gesichtsausdruck zur Geltung.

Werke von Joseon und aus den Nachbarländern Im vierten Teil Buddhas und Bodhisattvas aus den Nachbarländern waren Werke aus China und Japan, die in der Goryeo-Zeit gemalt wurden, zu sehen, so dass die Besucher die buddhistische Kultur und Malerei Ostasiens aus einer erweiterten Perspektive vergleichend betrachten konnten. Von den chinesischen Werken wurden 7 Bilder aus dem südlichen Song-Reich (11271279) und dem Yuan-Reich (12711368) präsentiert. Das in der

Yuan-Periode gemalte Bild Shakyamuni Buddha Trias aus dem japanischen Tempel Nisonin bringt die buddhistische chinesische Malerei der Zeit gut zum Ausdruck. Es lassen sich Unterschiede zu den Goryeo-Werken ausmachen, so z.B. die schmalen Kinne der Figuren und die Muster der roten Kesa. Drei Werke aus dem Westlichen Xia aus dem 12. und 13. Jahrhundert, die 1909 bei den Ausgrabungen des von Pjotr Kusmitsch Koslow geführten Expeditionsteams in Khara-Khoto (Tanguten-Stadt im Westen der Inneren Mongolei) entdeckt wurden, sind heute im Besitz der Eremitage. Aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit dem Bild Amithaba Buddha Trias im Leeum Museum/Seoul war die Existenz dieser Gemälde zwar schon wohlbekannt gewesen, aber es hatte kaum eine Gelegenheit gegeben, die realen Bilder einmal in Augenschein zu nehmen. Aus Japan wurden 10 gut erhaltene und künstlerisch hochwertige Werke der Kamakura-Zeit (1185-1333) präsentiert, die die Quintessenz der buddhistischen Malerei Japans verkörpern. Das Bild Aus dem Paradies herabsteigender Amitabha mit himmlischem Gefolge aus dem japanischen Nationalmuseum in Tokio zog aufgrund der stilistischen Unterschiede zu Goryeos Aus dem Paradies herabsteigender Amitabha besondere Aufmerksamkeit auf sich. Die Werke von Goryeo weisen allgemein eine vergleichsweise einfache Komposition auf, die den Amitabha entweder alleine oder flankiert von seinen beiden Begleitern Avalokitesvara und Mahasthamaprapta auf der rechten Seite zeigen. Das japanische Pendant ist wesentlich komplexer: Es zeigt links die BuddhaGestalt vor dem Hintergrund der Natur und himmlische Begleiter, die musizieren. Darüber hinaus sind die Farben verglichen mit den Goryeo-Werken eher matt, weshalb die Goldlinien-Muster nicht leicht zu erkennen sind. Im Mittelpunkt des epilogartigen fünften Teils Fortsetzung der Tradition standen buddhistische Gemälde, die die königlichen Familie Anfang der Joseon-Zeit in Auftrag gab. Das verdeutlicht, wie die Tradition der buddhistischen

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1 Shakyamuni Buddha Trias aus dem japanischen Tempel Nisonin ist ein Beispiel für die chinesische buddhistische Kunst während der Yuan-Dynastie.

2 Aus dem Paradies herabsteigender Amitabha mit himmlischem Gefolge. Nationalmuseum Tokio 3 Medizin-Buddha Trias. Koreanisches Nationalmuseum.

Malerei von Goryeo in Joseon weitergegeben wurde. Es waren zwei Bilder Medizin-Buddha Trias zu sehen, von denen bekannt ist, dass sie zu den 400 Bildern gehören, die Königin Munjeong, die dritte Gemahlin von König Jungjong (reg.1506-1544), anlässlich des Wiederaufbaus des Tempels Hoeam-sa im Jahr 1565 in Auftrag gab, um für die Gesundheit ihres Sohnes zu bitten. Obwohl diese Werke nicht die bestimmenden Merkmale der buddhistischen Malerei von Goryeo wie elegant fließende Linien, elaborierte Muster und prachtvolle Farben aufweisen, lassen sie ein für ihre Zeit charakteristisches, eigenes ästhetisches Empfinden erkennen.

Hintergründe Nach heutigem Kenntnisstand existieren rund 150 buddhistische Bilder aus der Goryeo-Zeit, die über den ganzen Globus - Korea, Japan, die USA und Europa - verstreut sind. Wie bereits erwähnt ist ihre Anzahl nicht besonders groß und es ist selten der Fall, dass sich mehrere Werke im Besitz eines einzigen Museums oder einer einzigen Sammlung befinden. Deshalb mussten für diese Ausstellung zeitaufwändige Verhandlungen mit weltweit 44 Institutionen geführt werden. Es war eine Zeit voller Aufs und Abs. Insbesondere in Japan, das v.a. im Zuge der Kolonialherrschaft über Korea in den Besitz der meisten buddhistischen Malereien von Goryeo gekommen ist, war man zögerlich mit der Verleihung, da man fürchtete, die Werke nicht wieder zurückzubekommen. Die Erlaubnis zu erhalten, verlangte hartnäckige Überzeugungsarbeit und unermüdliche Bemühungen um das Vertrauen der Besitzer. Einige zögerten noch bis kurz vor dem vereinbarten Liefertermin, andere machten im letzten Moment ihre Entscheidung rückgängig und lehnten die Ausleihe ab. Mitarbeiter von Institutionen, die die Genehmigung erteilten, sollen bemerkt haben: „Die buddhistischen Malereien möchten wahrscheinlich wenigstens einmal ihre Heimat besuchen.“ Manche haben gerade aus diesem Grunde der Ausleihe zugestimmt. Dank solcher Anstrengungen und sorgfältiger Koordinierung konnten die Bilder, die im alten Goryeo-Reich gemalt und dann in alle Winde verstreut worden waren, endlich in der Sonderausstellung gemeinsam präsentiert werden. Wie der Ausstellungsuntertitel Wiedersehen nach 700 Jahren andeutet, kamen die Malereien nach langer Zeit in ihre Heimat zurück. Für die Besucher

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war es ein freudiges Wiedersehen mit Werken, die sie wohl kein zweites Mal in ihrem Leben zu Gesicht bekommen dürften. Es bleibt zu hoffen, dass die Ausstellung zu einer Steigerung des Interesses an der buddhistischen Malerei von Goryeo und zur Entfaltung von regen wissenschaftlichen Forschungsaktivitäten führen wird. In der Vergangenheit mussten die Experten für die Erforschung von diesen Bildern Museen im Ausland aufsuchen. Aber diese Ausstellung ermöglichte es ihnen, die realen Werke an einem einzigen Ort zu betrachten. Darüber hinaus führte das begleitende internationale Symposium nicht nur in der Fachwelt, sondern auch in der allgemeinen Öffentlichkeit zu einem explosionsartigen Interesse an der buddhistischen Malerei von Goryeo. Mit diesem Erfolg verbindet sich die Erwartung, dass das Thema in Zukunft noch eingehender erforscht wird. Frühjahr 2011 | Koreana 43


KUNSTHANDWERKER

Schreinermeister Sim Yong-sik bringt den Charme der Hanok zur Geltung Für den Bau eines Hanok, eines traditionellen koreanischen Hauses, errichtet ein Zimmermannmeister das Grundgerüst, während die detaillierten Holzarbeiten von Bauschreinermeistern übernommen werden. Sim Yong-sik ist ein Schreinermeister, der im Bereich der Bauschreinerei auf die Herstellung traditioneller Fenster und Türen spezialisiert ist. Seine hochwertigen Qualitätsarbeiten sind in Königspalästen und Tempeln in ganz Korea zu finden. In jüngster Zeit werden von ihm gefertige Fenster und Türen auch in modernen Hochhauswohnungen, in denen heutzutage die meisten Städter leben, verwendet, was Tradition und Moderne auf harmonische Weise zu einem neuen Stil verbindet. Park Hyun-sook Freie Schriftstellerin | Fotos: Ahn Hong-beom

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in traditionelles Hanok-Haus ist eine ausdrucksstarke Konstruktion. Das ist auf die mit eleganten Gittermustern verzierten hölzernen Fenstern und Türen zurückzuführen. In Bezug auf die räumliche Struktur eines Hanok ist es schwierig, zwischen für Licht- und Luftzufuhr angebrachten Fenstern und Türen als Ein- und Ausgängen zu unterscheiden. Im Allgemeinen handelt es sich – bei ähnlicher Form und Größe – um ein Fenster, wenn es über einem hölzernen Abschlusssims (Meoreumdae) angebracht ist, bei Türen fehlt dieser Sims. Daher umfasst das koreanische Wort „Changho“ beides, meint also „Türen und Fenster“. Die Changho sind immer mit schönem Gitterwerk verziert, für das es Hunderte von Mustern gibt. Schreinermeister Sim Yong-sik (59), Träger des Titels „Immaterielles Kulturgut Nr. 26 der Stadt Seoul“, hat die meiste Zeit seines Lebens damit verbracht, solche Fenster und Türen in Hunderten von unterschiedlichen Designs zu fertigen.

Bauschreinermeister Sim Yong-sik sagt: „Wenn man ein Haus mit einem Menschen vergleicht, dann entsprechen Fenster und Türen dem Gesicht mit seinem distinktiven Persönlichkeitsausdruck.“

Gitterwerk: dekorativ und praktisch zugleich Cheongwonsanbang, die Werkstatt von Sim Yong-sik, befindet sich in Gye-dong, einem Viertel, das zum Seouler Stadtbezirk Bukchon (Nördliches Dorf) gehört, der für seine zahlreichen Hanok-Häuser bekannt ist. Die Werkstatt von Sim dient als eine Art Museum für traditionelle Fenster und Türen mit Gitterwerk, als Lernstätte für seine Lehrlinge und als privater Wohnraum für ihn und seine Frau. Frühjahr 2011 | Koreana 45


„Für Fenster eines sonnigen und nach Süden ausgerichteten Hauses sollten die Gitterwerkleisten dick genug sein, um das Licht abzuhalten. Bei einem Haus mit vielen Bäumen in der Umgebung hingegen sollten dünnere Leisten verwendet werden, um mehr Sonnenlicht hereinzulassen. Die Lichtmenge und die Strömung des Windes entscheiden ebenfalls über die Größe eines Fensters oder einer Tür.“

1 1 Die Verbindungstechniken, die bei der Fertigung des Grundgerüsts eines Hanok-Hauses zur Anwendung kommen, werden auch für die Herstellung von Fenstern und Türen eingesetzt. Die einzelnen Teile müssen in einem bautechnischen Präzisionsverfahren unter genauer Proportionierung exakt aneinander angepasst und miteinander verbunden werden.

2 Bulbalgi-chang ist ein sechseckiges Gitterfenster, das das natürliche Sonnenlicht einströmen lässt.

Dafür wurden die Räumlichkeiten zweier hintereinander stehender Hanok-Häuser verbunden, wobei sich die Privaträume des Meisters und der Ausstellungsraum in der Mitte zwischen der vorne gelegenen Werkstatt und der Lehrwerkstatt im hinteren Bereich befinden. Der ganze Werkstatt-Wohnkomplex ist zwar nicht besonders groß, aber überall finden sich Fenster und Türen mit jeweils eigenen Charakteristika, die ein harmonisches Ganzes bilden. Die Fenster und Türen mit Gitterwerk nach dem Muster von chinesischen Schriftzeichen wie 亞 und 卍 teilen die Fläche horizontal und vertikal ein und strahlen eine schlichte Schönheit aus, die an die nüchterne, abstrakte Malerei von Piet Mondrian erinnert. Andere Gitterwerke weisen wie echt wirkende, feine Blumendekore aus Zwetschgen-, Pflaumenbaumblüten oder Pfingstrosen auf. Meister Sim zog 2006 nach Bukchon und machte seine Werkstatt der Öffentlichkeit zugänglich, um die traditionellen Fenster und Türen mit Gitterwerk bekannt zu machen. Im selben Jahr wurde er zum Träger des Titels „Immaterielles Kulturgut der Stadt Seoul“ ernannt. Er ist der erste und bislang einzige Bauschreinermeister, der mit diesem Titel geehrt wurde. „In der Tourismussaison im Frühling und Herbst kommen täglich rund 200 bis 300 Besucher in meine Werkstatt. Obwohl ich mit meiner eigenen Arbeit und der Unterweisung der Lehrlinge alle Hände voll zu tun habe, bemühe ich mich, den Besuchern eine kleine Einführung über traditionelle Fenster und Türen zu geben. Wenn ich ihnen die Schönheit des Gitterwerkes und dessen komplizierte und stabile Struktur erkläre, können viele Ausrufe des Erstaunens nicht unterdrücken. Das verleiht mir neue Energie. Bislang habe ich von vielen Menschen Hilfe bekommen. Nun 46 Koreana | Frühjahr 2011

möchte ich teilen, was ich habe. Es bedarf nur noch etwas größerer Anstrengungen.“ Das runde Fenster, das hinter seinem vor Freude strahlenden Gesicht zu sehen ist, rahmt den Schatten sich sanft bewegender Bambuszweige ein und bietet damit einen ästhetischen Anblick. Die Bespannung aus Hanji (traditionelles koreanisches Papier aus der Rinde des Maulbeerbaums) dämpft das einfallende Sonnenlicht und lässt den Raum warm und gemütlich erscheinen. Die Fenster und Türen von Sims Werkstatt sind mit ihren Mustern nicht nur ästhetisch, sondern auch funktional. Es gibt kleine, niedliche Fensterchen, die Ventilation und Lichteinlass dienen, wie das Bong-chang (versiegeltes Fenster), breite, horizontal verlaufende Fenster wie das Gyo-chang, und Nungopjaegi-chang, eine Art Fensterschlitz, dessen koreanische Bezeichnung etwa soviel bedeutet wie „ein Fenster so klein, wie Sandmännchen im Auge“, und die hauptsächlich der Beobachtung des Kommens und Gehens im Hof dienen. Die Türen der Sabunhap-mun (vierteilige Schiebetür), die auf Innen- und Außenseite mit Hanji-Papier bespannt sind, weisen in der Mitte jeweils ein kleines Gitterfenster namens Bulbalgi-chang (ein Fenster zur Beleuchtung) auf, um mehr Licht in den Raum zu lassen. Die Gittermuster variieren dabei von einfachen, über Kreuz geführten Quer- und Längsleisten bis hin zu geometrischen Motiven wie 亞 und 卍. Diese Gitterfenster in den Schiebetüren sind so platziert, dass eine auf dem Fußboden sitzende Person bequem nach draußen schauen kann. Dies optimiert den traditionellen koreanischen Lebensstil in einem Hanok-Haus, in dem man auf dem Fußboden sitzt, isst und schläft. Bei Entwurf und Anbringung von traditionellen Fenstern und Türen richtet man sich nach der Statur des Benutzers, d.h. die


Fenster werden auf seine Körpergröße und Schulterbreite abgestimmt. Im Anbang, dem Hauptraum eines Hanok-Hauses, wird das Fenstersims hoch genug angebracht, um im Sitzen auf dem Boden seine Ellenbogen bequem auf den Sims legen zu können. Diese Simshöhe verhindert, dass auf dem Boden liegende Hausbewohner von außen gesehen werden können. Fenster und Türen können bei Bedarf, wie beispielsweise im Sommer oder bei Familientreffen, an den Griffen an speziellen Haken an der Decke befestigt werden, wodurch sich die einzelnen Räume des Hanok in einen offenen Großraum verwandeln. „Bei der Herstellung von traditionellen Fenstern und Türen sollten die Menge des Sonnenlichts, die Stärke des Windes, die Größe des Hauses, der Charakter der Hausbewohner usw. in Betracht gezogen werden. Für Fenster eines sonnigen und nach Süden ausgerichteten Hauses sollten die Gitterwerkleisten dick genug sein, um das Licht abzuhalten. Bei einem Haus mit vielen Bäumen in der Umgebung sollte das Gitterwerk hingegen möglichst niedrig platziert werden und aus dünneren Leisten gefertigt sein, um mehr Sonnenlicht hereinzulassen. Die Lichtmenge und die Strömung des Windes entscheiden ebenfalls die Größe eines Fensters oder einer Tür. Die Auswahl der Gitterwerkmotive bespreche ich eingehend mit dem Hausbesitzer. Ich schlage auch schon mal Muster vor, von denen ich glaube, dass sie gut zu seinem Charakter passen.“ „Meistens benutze ich Kiefernholz für Fenster und Türen, aber manchmal auch das Holz von Walnussbäumen, Chinesischen Gemüsebäumen und Zelkoven. Pro Jahr arbeite ich an rund zehn

Häusern und für jedes Haus werden Dutzende von Fenstern und Türen gebraucht. Weil ich dabei immer alle möglichen Faktoren berücksichtige, gibt es keine zwei Fenstern oder Türen, die ganz gleich aussehen. Diese unendliche Vielfalt und Schönheit von Fenstern und Türen haben mein 40-jähriges Arbeitsleben als Schreiner mit Freude erfüllt.“

Präzision der traditionellen Architektur Das Grundgerüst eines Hanok-Hauses besteht aus verschiedenen hölzernen Strukturelementen, die ohne den Einsatz von Nägeln horizontal, vertikal und diagonal zu einem systematischen Ganzen verbunden werden. Bei der horizontalen, vertikalen und diagonalen Verbindung von Hölzern werden verschiedene Techniken angewandt, um unter minimalem Einsatz von Materialien die maximale Stabilität einer Struktur zu erreichen. Unter diesen Techniken ist die Blattung (Sagae-matchum) eine Basistechnik. Es ist eine geniale Methode, um durch die Verbindung einer Säule mit zwei horizontalen Querbalken ein Grundgerüst zu bauen. Obwohl dabei kein einziger Nagel verwendet wird, sind die Hölzer so präzise und stabil aneinander angepasst, dass die Struktur selbst dann unbeschädigt bleibt, wenn alle Wände entfernt werden. Diese Techniken der strukturellen Verbindung werden auch auf die Herstellung von Fenstern und Türen angewendet. Dies ist kein einfacher und oberflächlicher Arbeitsprozess, bei dem Holzstücke aneinander gesetzt oder Holzstämme ausgehöhlt werden, sondern ein komplizierter bautechnischer Vorgang, der präzise Verbindung und Feinabstimmung sowie mathematisch genaue

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Proportionierung erfordert. „Als ich die Fenster und Türen von Injeong-jeon, der Thronhalle des Palastes Changdeok-gung, restaurierte, ließ mich die perfekte Struktur schaudern. Traditionelle koreanische Fenster und Türen sehen auf den ersten Blick einfach aus, aber bei genauerem Hinsehen weisen sie eine architektonisch strenge Präzision auf. Beim Anblick der von A bis Z perfekten, nach wissenschaftlichen Prinzipien ohne den kleinsten Fehler errichteten Innenstruktur, wurde mir die Beständigkeit und Kraft traditioneller Fenster und Türen, die Zeiten zu überdauern, deutlich bewusst.“ Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Sim an allen Restaurierungsprojekten von wichtigen traditionellen Gebäuden Koreas teilgenommen hat. So restaurierte er die Fenster und Türen von rund 500 traditionellen Gebäuden. Zu nennen sind die Hallen Gyeongchun-jeon und Munjeong-jeon im Palast Changgyeong– gung, die Halle des Vairocana-Buddha des Tempels Haein-sa (Biro-jeon), die Halle des Bodhisattva Avalokitesvara des Tempels 48 Koreana | Frühjahr 2011

Naksan-sa (Wontongbo-jeon), der Diamant-Altar des Tempels Tongdo-sa (Geumgang-gyedan), die Haupthalle des Tempels Songgwang-sa und die Halle des Bodhisattva Ksitigarbha des Tempels Jogye-sa (Jijang-jeon). Darüber hinaus fertigte er die Fenster des Koreanischen Pavillons (Korea Foundation Gallery) im Britischen Museum, die nach dem Vorbild der Fenster der Herrenzimmer der alten koreanischen Gelehrten gestaltet wurden, und war am Bau des Goam Seobang beteiligt, eines traditionellen Hanok, das in Paris zum Gedenken an den Maler Yi Ung-no errichtet wurde.

Fenster zur Welt Sim engagiert sich auch dafür, traditionelle koreanische Fenster und Türen weltweit bekannt zu machen, indem er in Nord- und Südamerika und Europa Ausstellungen veranstaltet. Seine bisherigen Ausstellungen stießen auf unerwartet starke Begeisterung, was in ihm den Wunsch weckte, seine Werke in weiteren Ländern


Ein von Sim Yong-sik gefertigtes, elaboriertes Dekorgitter mit Blumenmotiven. Seine traditionellen Gittermotive mit leicht modernem Touch verleihen einem Hanok noch größere Ausdrucksstärke.

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zu zeigen. Die Ausstellung, die im letzten Jahr in Argentinien stattfand, weckte in Sim die Erinnerung an seine Kindheit. Als er den Besuchern sein Handwerk vorführte, schauten ihm alle gebannt und mit angehaltenem Atem bei der Arbeit zu. Ihm fielen einige Zuschauer auf, die Hobelspäne vom Boden aufhoben und daran rochen, als wären es duftende Blumen. Es war auch bei Sim der Geruch des Holzes gewesen, der ihn 1969 dazu verführte, das Schreinerhandwerk zu lernen. „Meine Heimat ist das Dorf Deoksan im Kreis Yesan in der Provinz Chungcheongnam-do. In der Nähe meines Elternhauses gab es eine Schreinerwerkstatt. Auf dem Weg zur oder von der Schule musste ich immer daran vorbei. Angezogen vom Holzgeruch schaute ich immer wieder hinein. Manchmal habe ich auch ein Holzstück mitgenommen und den ganzen Tag damit in der Hosentasche gespielt. In der Nähe gab es auch den Tempel Sudeok-sa. Er ist berühmt für seine schöne Holzarchitektur, die die Ästhetik der präzisen Proportionen aufweist. Ich war von der Schönheit des Tempels fasziniert und verbrachte viel Zeit dort. Nach dem Abschluss der Grundschule habe ich drei Jahre lang die Seodang (eine konfuzianistische Schule) besucht und danach in der Schreinerwerkstatt angefangen. Dort habe ich unter meinem ersten Lehrer Jo Chan-hyeong (Träger des Titels „Immaterielles Kulturgut Nr. 18 von Chungcheongnam-do) gelernt.“ Talent alleine bringt keine besseren Resultate als die Freude an der Arbeit. Seine Leidenschaft für die Schreinerei führte dazu, dass Sim in seiner Jugend im Zuge seiner Schreinerlehre Tag und Nacht an Schränken und Tischen arbeitete und schließlich zum Schreinermeister wurde. Damals hatten Schreiner ein hartes Los. Sims Lehrer Jo Chan-hyeong, der als einer der besten Schreinermeister Koreas anerkannt wurde, war sein Leben lang arm, besaß aber Stolz auf seine Arbeit wie ein aufrechter Bambus. Viele seiner Kollegen, die mit ihm die Schreinerlehre machten, verließen die Werkstatt und fingen etwas anderes an, aber Sim,

der den hohen Stolz und das Selbstwertgefühl seines Lehrers ehrte, dachte nie daran, einen anderen Weg einzuschlagen. In seinen jungen Jahren unterbrach er die Schreinerarbeit ein einziges Mal für zweieinhalb Jahre, aber das auch nur, um in Saudi-Arabien als Bauarbeiter Geld für den Kauf von Hölzern zu verdienen, um dem Schreinerhandwerk auf einer stabileren Basis nachgehen zu können. Nach seiner Rückkehr lernte er bei den renommiertesten Schreinern und Zimmerleuten der Zeit. Sim lernte bei Yi Gwang-gyu, einem Handwerksmeister, der in Zimmerei und Bauschreinerei bewandert war. Auch Sin Yeong-hun, Direktor des Instituts für Hanok-Kultur (Hanok Culture Institute), gab ihm sein theoretisches Wissen über Hanok weiter. 1996 studierte Sim an der Graduiertenschule für Buddhistische Studien der Dongguk Universität die buddhistische Kunst. „Wie Kiefern, die sogar bei Schneestürmen immergrün bleiben, waren meine Lehrer rechtschaffen und würdevoll. Manchmal waren sie mir gegenüber streng und tadelten mich hart, aber ich konnte die große Zuneigung, die tief in ihrem Herzen verborgen war, spüren. Wie „der freigebige Baum“ haben mich meine Lehrer alle Techniken und alles Wissen, über das sie verfügten, gelehrt. Sie mochten die Menschen und hatten eine positive Einstellung zur Welt. Sie suchten nicht nach Macht und Vorteilen und sie fürchteten sich nicht vor der Armut. Ein Lehrer ließ mich vor seinem Tod rufen und vermachte mir die wertvollen Werkzeuge, die er sein ganzes Leben lang benutzt hatte. Ich bewahre sie bis heute auf.“ Genauso wie seine Lehrer ist Sim ein aufrechter und kompromissloser Handwerksmeister. Darüber hinaus kultiviert er aber auch eine offene Haltung und sucht als „Fenster“ den Dialog mit der Außenwelt. Daher macht er seine Werkstatt der Öffentlichkeit zugänglich, übernimmt für arme Familien kostenlose Reparaturen im Haus und unterstützt elternlose Jugendliche, die alleine für ihre jüngeren Geschwister sorgen. Frühjahr 2011 | Koreana 49


KOREA ENTDECKEN

Five Looking West: Koreanischer Einfluss auf amerikanische Kunst Vom 14. bis 22. Januar 2011 fand im Kulturzentrum der Korea Foundation (Korea Foundation Cultural Center) in Seoul eine faszinierende Ausstellung statt: Five Looking West (Fünf blicken nach Westen) . Gezeigt wurden die Arbeiten von fünf Künstlern aus Nord-Kalifornien, deren Kunst und Leben von Korea beeinflusst wurden. Obwohl eine breite Palette künstlerischer Ausdrucksformen Verwendung fand – darunter Fotografie, Bildhauerei, Keramikkunst und Papierschnurkunst –, war der gemeinsame Nenner die Strömungen der koreanischen Kultur und Tradition, die sich durch die Werke der fünf Künstler ziehen und auch in Zukunft ziehen werden. Ich hatte das Glück, mich mit der Künstlerin Lois Lancaster, der Kuratorin der Ausstellung, unterhalten zu können. Charles La Shure Professor an der Graduate School of Interpretation and Translation, Hankuk University of Foreign Studies

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Charles La Shure: Was hat die fünf Künstler zusammengebracht und dazu inspiriert, die Ausstellung Five Looking West auf den Weg zu bringen?

Lois Lancaster: Der erste Anstoß für eine Ausstellung von „Künstlerbüchern“ und Schriftrollen, die koreanischen Einfluss aufweisen, kam durch ein Projekt in der Britischen Bibliothek. Dort beschloss man, eine Ausstellung von im Besitz der Bibliothek befindlichen Objekten, die chinesischen, koreanischen und japanischen Einfluss aufweisen, zu organisieren. Es war gar nicht einfach, von Westlern angefertigte Künstlerbücher zu finden, die koreanischen Einfluss zeigten. Während der Suche danach hörten die Organisatoren von meinen Arbeiten und kauften vier meiner Künstlerbücher. Die Ausstellung From East zu West (Von Westen nach Osten) war im Frühjahr und Sommer 2007 in der Hauptgalerie der Britischen Bibliothek zu sehen und umfasste auch Werke von mir. Im Dezember 2009 traf ich Yoon Keum-jin, die Leiterin der Abteilung für Kultur- und Kunstaustausch des Korea Foundation Cultural Center, und zeigte ihr einige meiner Arbeiten und Fotos von den Stücken in der Britischen Bibliothek. Sie interessierte sich für das Konzept der Beeinflussung amerikanischer Künstler durch die koreanische Kultur und schlug vor, drei oder vier weitere amerikanische Künstler für eine gemeinsame Ausstellung einzuladen. Glückli2 cherweise kannte ich bereits seit Jahren vier andere Künstler, deren Werke koreanischen Einfluss aufweisen, und die nur zu gerne diese Gelegenheit ergriffen, durch ihre Beteiligung an der Ausstellung noch mehr über koreanische Kunst und Kultur zu lernen. Ich habe große Achtung vor ihrem Werk und ihrer Sensibilität und Bereitschaft, ihr Wissen und Verständnis zu erweitern. La Shure: Was genau ist ein „Künstlerbuch“?

Lancaster: Ein Künstlerbuch ist eine Kunstgattung, die von der Form oder dem Konzept „Buch“ inspiriert wurde. Die Art des Einbands kann die Form eines Buchs bestimmen, wie es z.B. beim Kodex der Fall ist. Bei dieser üblichsten Art des Bindens werden lose Papierblätter an einer Seite aneinander befestigt. In der Vergangenheit gab es Kodex aus Palmblättern, Baumrinde, Holzblättchen, Elfenbeinblättchen, Papyruslagen etc., die durch eine Schnur, die durch ein oder zwei Löcher geführt wurde, zusammengehalten wurden. Zu den ungebundenen Büchern gehören z.B. die asiatischen Faltbücher, in Tuch eingeschlagene Blätterstapel (Tibet) oder Portfolios. Auch Gravuren und Malereien auf Steinen, die zu Haufen aufgestapelt wurden, gelten als eine Art Buch; ebenso horizontal oder vertikal gerollte Schriftrollen. Jedes Material und jede künstlerische Technik kann für ein Künstlerbuch verwendet werden. Es kann Text enthalten oder auch nicht, illustriert sein oder auch nicht. Es kann ein Einzelstück sein oder in einer limitierten Auf-

1 Lois Lancasters Paper String Theory (Papierschnur-Theorie) ist mit den handgefertigten Papierschnüren, die aus der Bindung herausragen, ein einzigartiges Beispiel für ein Künstlerbuch.

2 Lois Lancaster hat die Techniken der koreanischen Papierkunst aufgenommen und bei ihren eigenen Werken angewendet.

3 Eine von Linus Lancasters Arbeiten Guardian Figures (Wächterfiguren), die von den koreanischen Totem-Wächterfiguren Jangseung inspiriert wurde. 1 3


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1 Three Broken Lines (Drei gebrochene Linien) von Chris Sarley ist eine Keramik-Arbeit, die in einem Brennofen koreanischen Stils gebrannt wurde. Die drei Linien stehen für die Trigramme des I Ching.

lage erscheinen. Es kann mit der Druckerpresse gedruckt, per Computer oder mit anderen Geräten hergestellt werden, oder aber völlig von Hand gefertigt sein. Oft werden beschädigte oder weggeworfene oder gedruckte Bücher zu neuen Kunstobjekten umgestaltet. So rollten z.B. koreanische Kunsthandwerker Streifen aus den Blättern alter Bücher zu Schnüren, aus denen sie dann Körbe oder kleinere Möbelstücke herstellten. Die Umwandlung weggeworfener oder unnütz gewordener Dinge in etwas Neues und Wünschenswertes ist ein guter Arbeitsansatz. La Shure: Was will die Gruppe von Five Looking West mit dieser Ausstellung erreichen?

Lancaster: Zu Beginn dieses Projekts haben wir fünf uns getroffen, um über unsere Kunst zu diskutieren und darüber, wie Korea uns beeinflusst hat. Wir hoffen, dass sich auch andere Künstler in Korea und im Ausland in diesen Dialog einklinken. Manche haben das Gefühl, dass der asiatische Einfluss auf die amerikanische Kunst am Schwinden ist. Unserer Meinung nach ist es noch lange nicht vorbei damit und der Einfluss wird sich auch weiterhin in Wellen des kulturellen Austausches bemerkbar machen. Die globale Welt schafft einen Fluss von Informationen und Austausch, unsere Ausstellung ist nur ein Aspekt dieses Prozesses. Dieser Fluss geht von Osten nach Westen und von Westen nach Osten. Wir hoffen außerdem, dass die Koreaner erkennen, was uns inspiriert hat. Das könnte sie dazu führen, die Aspekte ihrer eigenen Tradition, die vielleicht im Zuge der Modernisierung an den Rand gedrückt wurden, erneut zu betrachten. La Shure: Da gerade die Modernisierung erwähnt wurde: Welche Rolle kann Ihrer Meinung nach die Tradition in der modernen Gesellschaft spielen?

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Lancaster: Ich versuche, in meine künstlerische Arbeit eine Harmonie von Innovativem und Traditionellem einfließen zu lassen. Meiner Meinung nach sind Traditionen die Säulen, auf denen eine Kultur ruht. James Watson und Francis Crick, die für ihre Entschlüsselung der Doppelhelix den Nobelpreis erhielten, sagten, dass im 21. Jahrhundert die Erforschung des Bewusstseins als Kernbereich im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Studien stehen wird. Hier hat die ungebrochene


„Einige haben das Gefühl, dass der asiatische Einfluss auf die amerikanische Kunst am Schwinden ist. Unserer Meinung nach ist es noch lange nicht vorbei damit und der Einfluss wird sich auch weiterhin in Wellen des kulturellen Austausches bemerkbar machen. Die globale Welt schafft einen Fluss von Informationen und Austausch, unsere Ausstellung ist nur ein Aspekt dieses Prozesses. Dieser Fluss geht von Osten nach Westen und von Westen nach Osten. Wir hoffen außerdem, dass die Koreaner erkennen, was uns inspiriert hat. Das könnte sie dazu führen, die Aspekte ihrer eigenen Tradition, die vielleicht im Zuge der Modernisierung an den Rand gedrückt wurden, erneut zu betrachten.“

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Tradition der Tiefenmeditation im koreanischen Buddhismus und Schamanismus einiges zu bieten. Der Dalai Lama arbeitet mit Wissenschaftlern zusammen, um die jahrjundertealten Traditionen der tibetanischen spirituellen Übungen und das Erleben des Bewusstseins zu erforschen. La Shure: Sie sind viel in ganz Asien und Korea gereist. Wann sind Sie das erste Mal nach Korea ge-

2 Die Ausstellung Five Looking West wurde im Korea Foundation Cultural Center gezeigt.

3 Starlings (Stare) von Mary PettisSarley

kommen und welche Wirkung hinterließ dieser Besuch?

Lancaster: Ich habe Korea zum ersten Mal 1970 besucht. Damals war mein Haupteindruck, dass sich Kultur und Gesellschaft mitten im Prozess der Erholung von den Verwüstungen des Krieges befanden. Zwei Jahre später kam ich wieder zurück und stellte einen beeindruckenden Wandel in Bezug auf den kulturellen Wiederaufbau und die Heilung der kulturellen Schäden fest. Zu der Zeit begann ich damit, in einigen buddhistischen Tempelklöstern Fotos zu machen. Bei meinen Aufnahmen im Tempel Tongdo-sa (auf dem Berg Yeongchuk-san in der Provinz Gyeongsangnam-do) wanderte ich in eine dunkle Ecke, wo ich auf ein Gemälde der Volksmalerei mit einem weißen Tiger stieß. Ich war so begeistert davon, dass ich gleich eine ganze Reihe von Fotos schoss. So etwas hatte ich noch nie gesehen und ich wusste, dass es ein ganz besonderer Augenblick war. La Shure: Zu den Einflüssen, die Sie nennen, gehören auch die spirituellen Aspekte der koreanischen Kultur. Würden Sie diesen Punkt bitte etwas ausführen?

Lancaster: Ein Seminar in komparativer Religionswissenschaft, an dem ich im Rahmen meiner Anthropologie-Ausbildung an der Stanford University teilnahm, weckte mein Interesse am Buddhismus, der mich bis heute nachhaltig beeinflusst. Taoismus, Buddhismus und Schamanismus, die im 20. Jahrhundert eine große Wirkung auf die amerikanischen Künstler ausübten, spielen auch heute noch eine Rolle. In Korea sind diese spirituellen Traditionen von einer Vertrautheit und Zugänglichkeit, die ihresgleichen suchen. Ich hatte das große Glück, den verstorbenen Dr. Zo Zayong (Jo Ja-yong) kennen zu lernen und seine herrliche Sammlung koreanischer Volkskunst zu sehen, die er in seinem Emille Museum aufbewahrte. Wir wurden Freunde und Dr. Zo besuchte mich zu Hause in Berkeley. Ich arrangierte für ihn an der University of California in Berkeley einen Vortrag über koreanische Volkskunst. Er setzte sich damals dafür ein, diese Kunst zu retten, bevor sie völlig zerstört würde. Die Freundschaft und die Treffen mit ihm in Korea hielten in den darauf folgenden Jahren mein Interesse an allen Facetten der koreanischen Volkskunst wach. Zo Zayong führte mich in Symbolismus und Metaphorik in der Malerei ein, wofür ich mich nach wie vor sehr interessiere. Frühjahr 2011 | Koreana 53


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1 Timeline (Zeitleiste) von Linus Lancaster

La Shure: In einer Einführung in Ihre Kunst schreiben Sie: „Der mythische Trickster ist oft an meiner Seite“. Was ist mit diesem „Trickster-Geist“ gemeint und welche Rolle spielt er bei Ihrer

2 Onggi Lamp Oil Bottle (Onggi Lampenölflasche) von Chris Sarley

Kunst?

Lancaster: Als mein Interesse am Schamanismus zunahm, besuchte ich einen Trainingskurs bei Professor Michael Harner in der Stiftung für Schamanistische Studien (Foundation for Shamanic Studies; www.shamanism.org). Dort lernte ich, was Harner als „Core-Schamanismus“ bezeichnet: die nahezu universelle Methode des Schamanen, in die nicht-alltägliche Wirklichkeit einzutreten und einen veränderten Bewusstseinszustand zu entwickeln, und zwar ohne irgendwelche kulturellen Fallstricke, Mythen oder Geister. Dieses Training hat dazu geführt, dass ich im Laufe der Jahre selbst mit Interessierten gearbeitet habe und mich im Umgang mit Geistern auskenne. Für mich als Künstler ist der Trickster, der „göttliche Schelm“, eine Art Energie, die sich während eines künstlerischen Schaffensaktes entwickelt. Der Trickster ist ein verspielter Gesell, ein Störenfried und Spitzbube. Er bringt fantasievolle Ideen und Lösungen, die für mich völlig unvorhersehbar sind, in meine Arbeit. Obwohl er einen manchmal verrückt machen kann, sind die Arbeiten, die mit Hilfe des Tricksters geschaffen werden, meist gelungene Werke. Ich weiß, wenn der Schelm gute Arbeit leistet, das ist besonders der Fall, wenn er mich zum Lachen bringt. La Shure: Vielleicht noch ein paar Worte zu Ihren Ausstellungsstücken. Die Herz-Sutra (The Heart Sutra) ist besonders interessant. Warum ausgerechnet die Herz-Sutra und kein anderer buddhistischer Text?

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Lancaster: Ich habe die Herz-Sutra, gewählt, weil sie die Essenz der Lehren des Mahayana Buddhismus darstellt, so dass man statt „Herz“ auch die Übersetzung „Essenz“ nehmen könnte. Auf der Rückseite des Werkes findet sich die vollständige Sutra, und zwar die Version von den


Holzdruckstöcken im Tempel Haein-sa. Die Tatsache, dass der gesamte Text zu sehen ist, ist ebenfalls von Bedeutung. In der Vergangenheit verwendetetn die Menschen diese „Ein-BlattSutra“ als Talisman. Meine Erfahrungen mit buddhistischer Meditation und schamanistischem Reisen haben mir den EssenzCharakter der Herz-Sutra bewusst gemacht. Es gibt eine Spruchweisheit, nach der „alle wahren Wege zu dem Einen führen“. Es ist schwierig, zu einem wahren Verständnis der Essenz zu kommen. Es ist eine Herausforderung, 108 Tischtennisbälle aneinander zu reihen, um lesen zu können, was darauf steht, und zu verhindern, dass sie dabei vom Tisch rollen und fröhlich in alle Richtungen über den Boden hüpfen. In allen meinen Arbeiten stecken Ebenen von Bedeutung und von tieferen Bedeutungen. Es ist mein Geschenk an den Betrachter, diese Ebenen auf jeweils eigene Art und Weise zu entdecken. La Shure: Sie haben die koreanische Kunstform erwähnt, bei der Papier zu Schnüren gerollt wird. Viele Ihrer eigenen Werke machen Anlehnungen bei dieser Technik. Was hat Sie dazu gebracht?

Lancaster: Zo Zayong nahm mich zu einem Besuch bei einer berühmten Künstlerin mit, die mit Papierschnüren arbeitet. Sie zeigte mir, wie man die Seiten alter Bücher zu Papierschnüren dreht. Die von ihr gefertigten Korbwaren und kleinen Möbelstücke waren beeindruckend. Das alte, handgeschöpfte Papier und die schön bedruckten Kalligraphien waren einfach zu schade, um sie nicht auf verschiedenste Art und Weise wiederzuverwerten und in neue kunsthandwerkliche Stücke umzuwandeln. Es war wirklich faszinierend zu sehen, wie die fünf Künstler koreanische Kunst und Kultur und koreanische Gefühle in ihre Arbeiten haben einfließen lassen. Marilyn Hulbert, deren fesselnde Fotoaufnahmen ausgestellt wurden, sagte: „Als ich zum ersten Mal Bekanntschaft mit traditioneller koreanischer Volkskunst machte, fand ich sie auf wunderschöne Weise entspannend. Es war wie ein stiller, einladender Moment. Wir leben heute in einer derart schnelllebigen Welt, dass ich erfreut war, mich gezwungen zu sehen, innezuhalten, zu schauen und das essentielle Wesen der Volkskunst auf mich wirken zu lassen. Ich wollte, dass meine Kunstwerke genau dieses Gefühl vermitteln.“ Linus Lancaster sagt, dass ihn die koreanischen volkstümlichen Skulpturen wie Jangseung (TotemWächterfiguren an Dorfeingängen) and Sotdae (Totempfähle mit Vogelfiguren) tief beeindruckten. „Als ich die Jangseung in Seoul sah, war es eines der ersten Male in meinem Erwachsenenleben, dass ich selbst die Erfahrung machte, mit einem konkreten Geist in einem gegenständlichen Objekt konfrontiert zu werden. Ich komme eigentlich aus dem Bereich der Illustration, aber von da an war ich fest entschlossen, in Zukunft plastische Werke zu schaffen.“ Eine seiner Totem-Figuren hielt in einer Ecke des Ausstellungsraums still Wache. In ihr war der verspielte, aber gleichzeitig unterschwellig drohende Geist der koreanischen Jangseung lebendig. Die Ausstellung war eine Gelegenheit, den bereits bedeutenden kulturellen Austausch zwischen Korea und den Vereinigten Staaten, zwischen dem Osten und dem Westen, weiter zu befördern. Ich schließe mich der Hoffnung der Künstler an, dass diese Tradition weiter fortgesetzt wird.

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3 Flying to Korea (Nach Korea fliegen) von Marilyn Hulbert 4 Marilyn Hulbert erklärt Ausstellungsbesuchern ihre Fotoarbeiten.

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INTERVIEW

Hesung Chun Koh,

Leiterin des East Rock Institute Hesung Chun Koh (auch bekannt als Chun He-sung) hat sich als Wissenschaftlerin im Bereich Vergleichende Kulturwissenschaft ihr ganzes Leben lang für die Förderung des gegenseitigen kulturellen Verständnisses zwischen dem Westen und dem Osten und für die Grundsteinlegung der Koreanistik in den USA eingesetzt. Heute wohnt sie im Whitney-Center im US-Staat Connecticut, einem Non-profit-Seniorenheim mit Gesundheits- und Fürsorge-Einrichtungen, wo sie ihre Erkenntnisse, wie man in einer alternden Gesellschaft „auf wertvolle Weise älter wird“, weitergibt. Shin Ye-ri Verfasserin von Leitartikeln, Tageszeitung Joongang Ilbo

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er amerikanische Präsident Barack Obama unterzeichnete im Mai 2010 eine Erklärung zur Beförderung des Status der asiatischen Einwanderer in den USA. Ein Foto von diesem historischen Moment sorgte sowohl in den USA als auch in Korea für einige Furore: Es zeigte nämlich zwei hinter dem Präsidenten nebeneinander stehende Koreaner, die zusahen, wie Obama das Dokument unterzeichnete. Es waren die Brüder Koh Kyong-ju (Howard Koh) und Koh Hong-ju (Harold Koh). Beide wurden im Jahr 2009 in die Obama-Administration aufgenommen. Koh Kyong-ju, der ehemalige stellvertretende Dekan der Fakultät für öffentliche Gesundheitspflege an der Harvard University, wurde zum Zweiten Staatssekretär im US-amerikanischen Gesundheitsministerium ernannt, und Koh Hong-ju, der ehemalige Dekan der Yale Law School, zum juristischen Berater des US-Außenministeriums (im Rang eines Zweiten Staatssekretärs). Welche Eltern würden nicht stolz sein, wenn nicht nur ein Sohn, sondern gleich zwei Söhne hintereinander auf Posten von solch hohem Rang berufen würden? Dr. Hesung Chun Koh, die Mutter der beiden Koh-Brüder, erinnert sich an Folgendes: „Es war im April 2009, kurz vor der Billigung von Harolds Amtseinsetzung in der Senatsanhörung. Alle Senatsmitglieder kamen ohne Ausnahme durch die Halle zu uns. Sie begrüßten unsere Familie und reichten mir die Hand. Dieser Moment wurde von vielen Journalisten, die für die koreanischen Medienanstalten arbeiten, mit der Kamera festgehalten und das Foto erregte nicht nur in Korea, sondern auch unter den Koreanern in den USA große Aufmerksamkeit. Es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass dieser Moment der glücklichste Moment meines Lebens war.“

Eine besondere Mutter

Dr. Chun Koh glaubt, dass die koreanische Gemeinde in den USA noch mehr Führungspersönlichkeiten hervorbringen sollte, die auch den Respekt des gesellschaftlichen Mainstreams in den USA gewinnen 56 Koreana | Frühjahr 2011 können.

Dr. Hesung Chun Koh ist eine Wissenschaftlerin im Bereich Vergleichende Kulturwissenschaft, die sich in den letzten Jahrzehnten zusammen mit ihrem Mann Dr. Koh Gwang-rim, dem ersten koreanischen Außerordentlichen Gesandten in den USA, dafür einsetzte, der amerikanischen Gesellschaft ihr Vaterland Korea vorzustellen. Die glänzende Karriere ihrer beiden Söhne ist für sie nicht nur ein persönlicher Erfolg, sondern steht für die Anerkennung


Aufgaben betraut ist, muss man auch Schwierigkeiten ertragen des Potentials der Koreaner. können. Man muss sie aushalten und überwinden.“ Koh HongSie ist überzeugt, dass die ju sagt, dass er diese alte Weisheit der Koreaner auch an seine koreanische Gemeinde in amerikanischen Kollegen weitergegeben habe. den USA künftig noch mehr Dr. Chun Koh wurde als Mutter bekannt, die alle ihre Kinder in führende Persönlichkeiten, einem besonderen Familienumfeld, in dem zwei völlig unterdie der Mainstream der schiedliche Kulturen, die koreanische und die amerikanische, amerikanischen Gesellvereint waren, zu erfolgreichen Führungskräften der amerikanischaft hochachten kann, schen Gesellschaft erzogen hat, und viele interessieren sich für hervorbringen muss, um den das Geheimnis ihrer Erziehungsmethode. Alle ihre sechs Kinder Einfluss Koreas zu erhöhen. absolvierten die renommiertesten Hochschulen in den USA wie „Ich wohne seit 60 Jahren in Harvard oder Yale und ihre Familie hat insgesamt elf Doktortitel den USA. Glücklicherweise aufzuweisen. Das US-Bildungsministerium hat die Familie sogar hatte unsere Familie die 1 zum „Studienobjekt für eine vorbildhafte Erziehung in der FamiGelegenheit, sich in einem lie“ bestimmt. Was ist das Geheimnis ihrer Erziehung? etwas breiteren Feld zu betätigen, was den meisten koreanischen Dr. Chun Koh empfiehlt den Eltern, nicht einfach mit Worten, Einwanderern nicht ohne weiteres möglich ist. Die Vorstellung, sondern mit Taten als gutes Beispiel voranzugehen. Kurz vor die die koreanischen Jugendlichen in den USA von ihrer eigenen dem Koreakrieg ging sie mit dem Traum, „eine nützliche Person Identität haben, verändert sich mit dem Bild, das die Amerikaner fürs Vaterland zu werden“, zum Studium in die USA, wo sie ihren von den Koreanern haben. Dazu gehört auch, wie viele führende Ehemann, der ebenfalls in den USA studierte, traf und heiratete. Persönlichkeiten die koreanische Gemeinde künftig hervorbrinTrotz der hohen Aufgabenbelastung als Frau und Mutter verlor gen kann. Mit der Erhöhung, die das Image Koreas 1988 durch die sie ihre Promotion nicht aus den Augen und erhielt nach sieben Olympischen Sommerspiele in Seoul erfahren hatte, entwickelte Jahren den Doktortitel in Soziologie und Anthropologie an der sich Korea zu einem hochmodernen Land, das in den Bereichen Boston University. Ihr Mann promovierte in Politikwissenschaft Kunst und Technologie weltweit einen großen Beitrag leistet. Das an der Rutgers University und dann in Jura an der Harvard UniImage der Koreaner litt dann aber durch die negative Berichtversity. Da die Eltern den Kindern stets ein Bild des fleißigen erstattung der amerikanischen Medien im Zusammenhang mit Studierens boten, war es auch für die Kinder, ohne dass die Eltern der Boykottbewegung gegen koreanische Lebensmittelgeschäfte ein Wort sagen mussten, natürlich, die Bücher nicht aus der in New York 1990/91 und den gewalttätigen Unruhen und PlünHand zu legen. Die Kinder waren daran gewöhnt, sich nach der derungen vieler koreanischer Geschäfte in Los Angeles 1992. Schule zunächst an den Tisch zu setzen und ihre Hausaufgaben Als nach dem Attentat vom 11. September Nordkorea dann als zu machen, erst danach kam das Spielen. Wenn ihre Freunde „Achse des Bösen“ bezeichnet wurde, wurden alle Koreaner einzu Besuch kamen, bevor sie mit den Hausschließlich Südkoreaner und Amerika-Koreaaufgaben fertig waren, dann mussten sich ner über einen Kamm geschert und kritisiert. diese auch an einen freien Tischen setzen 2010 veranstaltete Korea den G20-Gipfel in und zusammen lernen. Deswegen hieß es Seoul, doch für die USA ist Korea immer noch im Wohnviertel: „Kinder, die nicht lernen, kein Partnerstaat von gleichem kulturellem braucht man nur zu den Kohs zu schicken.“ Niveau, sondern wird nur aus der Perspektive des geopolitisch befreundeten Staates und Handelspartners betrachtet“. Gründung des Korea Institute Dr. Hesung Chun Koh, die in den USA sechs Dr. Chun Kohs Methode, ihren Kindern eine Kinder zur Welt brachte, betonte bei deren Identität als Koreaner zu vermitteln, war frei Erziehung stets das Prinzip, dass sie einen von jedem Zwang. Am Anfang versuchten Beitrag zur amerikanischen Gesellschaft leisdie Eltern, die Kinder dazu zu bringen, zu ten, dabei aber nie ihre koreanischen Wurzeln Hause Koreanisch und außerhalb des Hauvergessen sollten. Auch heute noch steht sie ses Englisch zu sprechen. Dahinter stand ihren beiden Söhnen Koh Kyong-ju und Koh der Ehrgeiz, sie zu kompetenten Sprechern 2 Hong-ju mit tröstenden Worten zur Seite, beider Sprachen zu machen. Aber Dr. Chun 1 Einband von Wie man auf wertvolle wenn sie aus den Nachrichten von SchwierigKoh veränderte die Strategie, als sie sah, wie Weise älter wird (2010) keiten bei ihrer Amtsausübung erfährt: „Früher ihre Kinder voller Verwirrung vor amerika2 Poster für Mit Puppen Brücken sagte meine Mutter, eure Großmutter, immer: nischen Freunden beide Sprachen gemischt zwischen Kulturen schlagen, ein Der Wind weht gegen die großen Bäume. sprachen. Sie kam zu der Ansicht, dass es Sonderseminar und eine Ausstellung unter der Leitung von Dr. Chun Koh Das heißt, wenn man wie ihr mit wichtigen viel wichtiger sei, in ihren in den USA geboFrühjahr 2011 | Koreana 57


renen und aufgewachsenen Kindern ein Gefühl des Stolzes auf Korea und die koreanische Kultur zu entwickeln, als sie einem Drill im Koreanischen zu unterziehen. Sie glaubte, dass es die beste Methode zu diesem Zweck sei, den Kindern zu zeigen, wie die Eltern zu jeder Zeit ihr Bestes tun, um in der amerikanischen Gesellschaft als Koreaner zu leben, die auf ihr Koreaner-Sein stolz sein können. Ein erster Schritt in diese Richtung war, in den 1950er Jahren die Harvard University zu ersuchen, Koreanisch-Kurse einzurichten und das gemeinnützige Korea Institute (später East Rock Institute) zu gründen. Damals war Korea für die Amerikaner so fremd, dass man sogar fragte: „Ist Korea eine Südseeinsel?“ An den Universitäten gab es ziemlich viele Wissenschaftler, die über China oder Japan forschten, doch über Korea gab es nicht mal eine richtige Informationsbroschüre. Da dachte Dr. Chun Koh, dass Kurse über die koreanische Sprache und Geschichte nötig seien und bat die Harvard University um die Einrichtung solcher Veranstaltungen. Gemeinsam mit ihrem Mann, Dr. Koh, veranstaltete sie in der Nähe der Harvard University Seminare, in denen man allgemein über das Land Korea diskutieren konnte. Es kamen positive Reaktionen auf die Seminare und die Teilnehmerzahl stieg ständig an, so dass daraus auf natürliche Weise das Korea Institute hervorging. Das Institut veranstaltete jeden Monat eine Vortragsveranstaltung, zu der amerikanische Wissenschaftler, Diplomaten und Missionare eingeladen wurden. Damit war das Korea Institute , das etwa zehn Jahre lang, bis zur Ernennung von Dr. Koh zum Außerordentlichen Gesandten, existierte, der erste Versuch zum kulturellen Austausch beider Staaten, der in Zusammenarbeit von Koreanern und Amerikanern unternommen wurde.

„Asiatische Werte im Westen so unverrückbar wie einen Felsen verankern“ Dr. Chun Kohs Bemühungen, die koreanische Kultur bekannt zu machen, gingen auch weiter, nachdem sie im Zuge der Amtsaufnahme ihres Mannes nach Washington umgezogen war. Sie nutzte die Botschaftsempfänge für ihre Arbeit. Um die trockenen Empfänge, zu denen nur männliche Gäste eingeladen wurden, etwas aufzulockern, nahm sie all ihren Mut zusammen, suchte die Gattinnen der Botschafter anderer Länder auf und lud sie ein, auf jeden Fall zu ihrer Party zu kommen. Die Empfänge der koreanischen Botschaft, bei denen die Gattinnen koreanischer Diplomaten in der traditionellen Tracht Hanbok erschienen und die Gattinnen berühmter Botschafter trafen, begannen die Seiten der amerikanischen Presse zu schmücken. Dr. Koh wurde nach seiner Amtszeit Professor an der Central Connecticut State University und Dr. Chun Koh bekam eine Stelle in der Organisation Human Relations Area Files des Instituts für Kulturanthropologie der Yale University, weshalb das Paar nach New Haven zog. Dort setzten sie sich für den Wiederaufbau des Korea Institute ein. Als Ergebnis ihrer Bemühungen wurde im Jahr 1985 das East Rock Institute (ERI) gegründet. „East Rock“ ist ein Berg in New Haven. Dr. Koh nannte das Institute „East Rock“ 58 Koreana | Frühjahr 2011

und deutete den Namen folgendermaßen um: „Asiatische Werte im Westen so unverrückbar wie einen Felsen verankern“. Dr. Chun Koh ist seit der Gründung Institutsleiterin. Mit über 80 ist sie auch heute noch die Vorsitzende des Instituts und scheut keine Mühe, um den alten Traum, den sie und ihr Mann gemeinsam träumten, zu verwirklichen. Das ERI veranstaltet Seminare und internationale Konferenzen, in denen die koreanische Kultur und Geschichte vorgestellt werden, und veröffentlicht auch wissenschaftliche Zeitschriften und Bücher. Ein weiteres Betätigungsfeld darf nicht unerwähnt bleiben: die Neu-Edierung und Veröffentlichung der Lehrbücher für amerikanische Grund-, Mittel- und Oberschulen sowie die Lehrer-Training. Auf der Konferenz, die 1982 anlässlich des 100jährigen Jubiläums der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Korea und den USA veranstaltet wurde, klagte eine amerikanische Lehrerin, dass es kein richtiges Lehrbuch gäbe, mit dem man den Schülern Korea vorstellen könne. Das gab den Anstoß zur Schulbuch-Entwicklungsarbeit. In den damaligen amerikanischen Schulbüchern wurde Korea nur als „ein Land, das während des Koreakriegs durch das Eingreifen der USA gerettet wurde und immer noch unter den Wunden des Kriegs leidet und verwüstet ist“, vorgestellt. Dr. Chun Koh konnte diese Darstellung zu einer Zeit, in der die Zahl der Korea-Amerikaner der zweiten Generation immer weiter wuchs, nicht gelten lassen. Sie gründete ein Komitee zur Korrektur der amerikanischen Schulbücher, das aus etwa 30 Koreanisten bestand. Die Forschungsergebnisse dieses Komitees wurden vom East Rock Institute, das sie umsetzt, übernommen. Dr. Chun Koh wünscht sich: „Es wäre schön, wenn noch mehr Menschen als Sponsoren, ehrenamtlich Tätige oder Praktikanten an unseren bedeutungsvollen Projekten teilnehmen würden.“ Denn sie ist überzeugt, dass das Institut, das von ihrem Mann und ihr eröffnet wurde, eigentlich allen Koreanern und allen Korea-verbundenen Menschen auf der ganzen Welt gehört. In Korea beschäftigt man sich zurzeit mit der Förderung des Images der Marke „Korea“. Dr. Chun Koh behandelte das Thema vor kurzem in ihrer Grundsatzrede auf der Gala-Veranstaltung des Koreanerverbands in New York. „Die strategische Nutzung der kulturellen Werte Koreas kann das Image der Marke Korea verbessern helfen. Meiner Ansicht nach liegt die kulturelle Stärke Koreas in seinem „kreativen Synkretismus“, also der Fähigkeit, durch die Harmonisierung kontrastiver Kräfte Glück und Wohlergehen zu fördern. Stellen wir uns mal vor, dass alle Koreaner in der Stadt New York auf einen Schlag verschwinden. Wer würde sie dann vermissen? Und warum? Welche Spuren und Beiträge würden die Koreaner in der amerikanischen Gesellschaft hinterlassen? Denkt man über diese Fragen nach, bekommt man die Antwort darauf, wie wir die Menschen, die durch Geburt, Ehe, Adoption oder eigene Wahl mit Korea verbunden sind, annehmen und wie wir mit ihnen in Harmonie leben müssen. Das heißt, dass nicht nur die Koreaner im Norden und Süden der koreanischen Halbinsel, sondern auch die sieben Millionen Koreaner in 175


Ländern auf der ganzen Welt in gemeinschaftlicher Kooperation koexistieren müssen. Die Nachbarländer sind häufig unsere wichtigsten Partner dafür. Die Förderung des Images Koreas und der Koreaner in New York und allen anderen Regionen der Welt ist ohne die Hilfe der Nachbarländer unmöglich.“

„Privatbotschafterin“ im Whitney-Center Dr. Chun Koh ist immer noch aktiv im Dienst. Heutzutage beschäftigt sie sich nicht nur mit den Projekten des East Rock Institute, sondern auch mit ihrer neuen Arbeit im Whitney-Center. Das Whitney-Center ist ein Non-profit-Seniorenheim im US-Staat Connecticut, in dem alte Menschen nach dem Eintritt in den Ruhestand ihren Lebensabend gemeinsam verbringen. Nachdem ihr Mann an einem Schlaganfall verstorben war, zog Dr. Chun

wie sie ihren jüngsten Traum realisieren wolle, hat sie schon eine konkrete Antwort: „Es wurde bereits ein Memorandum of Understanding zwischen dem Whitney-Center, dem East Rock Institute und der Yale University abgeschlossen, um die Frage der Alterung der Gesellschaft gemeinsam zu erforschen und diesbezügliche Projekte voranzutreiben. Ich möchte die Wissenschaftler und Beamten in Korea ins Whitney-Center einladen, damit sie mit eigenen Augen sehen und lernen können. Und für die koreanischen Ärzte möchte ich ein Programm zu Alterskrankheiten an der Yale University veranstalten. All diejenigen, die sich für die Gründung eines derartigen gemeinnützig betriebenen Seniorenzentrums in Korea interessieren, lade ich gerne ein, um mein Know-how weiterzugeben.“ In ihrem 2010 veröffentlichten Buch Wie man auf wertvolle Weise

Da sie die Stelle in der Organisation Human Relations Area Files des Instituts für Kulturanthropologie der Yale University bekam, zog sie nach New Haven, wo sie sich mit ihrem Mann für den Wiederaufbau des Korea Institute einsetzte. Als Ergebnis ihrer Bemühungen wurde im Jahr 1985 das East Rock Institute (ERI) gegründet. „East Rock“ bedeutet: „Asiatische Werte im Westen so unverrückbar wie einen Felsen verankern“. Das ERI veranstaltet Seminare und internationale Konferenzen, in denen die koreanische Kultur und Geschichte vorgestellt werden, und veröffentlicht auch wissenschaftliche Zeitschriften und Bücher.

Koh vor ihrem 80. Geburtstag im Jahr 2009 ins Whitney-Center. Dort fand sie als einzige Koreanerin unter den Senioren aus aller Welt ihre neue Berufung als „Privatbotschafterin“. Gleich nach ihrem Einzug begann sie mit der Arbeit, indem sie in der Seniorenhochschule des Whitney-Centers einen Vortrag über die koreanische Kultur hielt. Kurze Zeit später veranstaltete sie mit Unterstützung der Sungshin Women‘s University in Korea eine Modenschau zur Präsentation der traditionellen koreanischen Kleidung. Die Zufallsbekanntschaft mit einer Koreanerin, die als Hobby Puppen in Gestalt koreanischer Frauen aus der Joseon-Zeit (1392-1910) herstellt, führte zur Veranstaltung einer Puppenausstellung im Seniorenzentrum. Auf ihre Bitte um Unterstützung für die Ausstellung stellten die Nachbarn etwa 80 Puppen aus 18 Ländern mit verschiedenen kulturellen Hintergründen zur Verfügung, darunter Opernpuppen aus Sizilien, Amulett-Strohpuppen nordamerikanischer Indianer und Eskimopuppen aus Alaska. Dr. Chun Koh erklärt, dass sie die Stärke des Gemeinwesens erlebt habe, als sie sah, wie viele Menschen in Reaktion auf ihre Idee bereitwillig ihre privaten Schätze für die Ausstellung beisteuerten und mit Engagement und Sachkenntnis dabei halfen, die Exponate nach historischen und kulturellen Hintergründen anzuordnen.

Wie man „auf wertvolle Weise“ älter wird Dr. Chun Kohs neuer Traum ist, auch in Korea so eine Gemeinschaft, in der die Senioren ihre Lebenserfahrungen und Weisheiten teilen und ihr restliches Leben gemeinsam und glücklich gestalten können, zu bilden. Sie ist eine Person, die ihre Träume stets mit erstaunlicher Antriebskraft verwirklicht. Auf die Frage,

älter wird gibt sie die Antwort auf die Frage im Titel: „ Auf wertvolle Weise älter zu werden ist das Höchste, was wir im Leben anstreben sollten. Dafür darf man nicht sich selbst dienen, sondern den anderen, auch wenn man ihnen nur in kleinen Dingen zur Seite steht.“ Das Leben von Dr. Hesung Chun Koh, die von ihren Jugendjahren bis heute in hohem Alter unablässig danach strebt, durch ihre Forschung und durch freiwilligen Einsatz einen Beitrag für Familie, Nachbarn, Gesellschaft und Staat zu leisten, ist wohl ein Vorbild dafür. Zuletzt betont sie noch: „Die koreanische Gesellschaft weist weltweit das höchste Tempo der Alterung auf. Da wird es zum Problem, wer mit welchen Mitteln für die ältere Schicht zu sorgen hat. Die einzelnen Institutionen der koreanischen Regierung müssen natürlich Vorsorge treffen, aber auch jeder koreanische Bürger muss sich und seine Lieben durch private Vorsorge auf das Alter vorbereiten. Ich möchte den akademischen Einrichtungen in Korea empfehlen, Vergangenheit und Gegenwart der koreanischen Kultur zu erforschen, für Korea angemessene politische Maßnahmen zu entwickeln und damit anderen Staaten ein Erfolgsbeispiel zu bieten. Würden die Maßnahmen in Bezug auf die Alterung der Gesellschaft durch multikulturelle und internationale Kooperationen unterstützt, wären sicherlich auch erstaunliche positive Ergebnisse zu erwarten. Im Koreanischen gibt es den alten, aus dem Chinesischen kommenden Viersilber „Jeon-hwa-wi-bok“ mit der Bedeutung „aus der Krise eine Chance machen“. Ich hoffe, dass mein Vorschlag dazu beitragen kann, das Bewusstsein über das Problem der alternden Gesellschaft, das Korea und die ganze Welt betrifft, zu wecken und einen poisitiven Wandel herbeizuführen.“ Frühjahr 2011 | Koreana 59


AUF DER WELTBÜHNE

Kim Young-se ist Gründer und Direktor von Innodesign, einer internationalen Consulting-Gruppe für Design mit Hauptsitz in Silicon Valley. Er hat auch eine Professur an der Sangmyung University in Korea inne, wo er koreanischen Designernachwuchs betreut und Talente fördert. Kims Kreativität als Designer kommt bei vielen praktischen Artikeln vom Handy bis zur Puderdose zum Ausdruck.


Kim Young-se

Ein Imaginator, der durch Design die Zukunftswelt zeichnet Kim Young Se, Chef der Design-Consulting-Gruppe Innodesign , ist einer der repräsentativsten koreanischen Industriedesigner. Er entwarf u.a. den MP3-Player iRiver H10 , den Bill Gates auf der Consumer Electronics Show (CES) , einer internationalen Leitmesse für Unterhaltungselektronik, als innovativen Durchbruch ins Zeitalter des digitalen Lebens lobte, weiterhin das Elektroauto von CT&T, den Kühlschrank Dios von LG Electronics und das Handy Samsung Anycall . Damit machte er das koreanische Design-Potential weltweit bekannt. Jeon Eun-kyung Chefredakteurin, Monatszeitschrift Design

„E

Ein Designer muss mit einem feinen Gespür fürs Geschäft designen können und ein Unternehmer muss mit feinem Gespür fürs Design seine Geschäfte betreiben können. Das ist eben Design-Management.“ Kim Young Se definierte Design neu, und zwar als Ergebnis innovativen Denkens, das nicht in der Fabrik, sondern auf dem Markt seinen Ausgang nimmt. Nach seiner Auffassung ist Design nicht länger ein ergänzendes Element zur Technologie oder zum Marketing. Design setzt bei Liebe und Verständnis für den Konsumenten an und bietet uns die Möglichkeit, unsere Zukunft zu träumen und unser Leben zu verändern. Wenn im Rahmen dieses Verständnisses eine Idee geboren wird und in einem Produkt Gestalt annimmt, gewinnt es zweifelsohne auch die Anerkennung der Verbraucher. Der „Design-FirstProzess“, der auf dieser festen Überzeugung beruht, ist die Schlüssel-Strategie der Firma Innodesign (www.innodesign.com).

Design is loving others! Der „Design-First-Prozess“, der sich bereits anhand von mehreren Erfolgsbeispielen nachweisen lässt, ist in der heutigen Zeit, in der das Design im Fokus steht, besonders hoch zu bewerten. Nach Kim Young Se ist der Kernpunkt aller Design-Strategien der Mensch und die Liebe zum Menschen. „Mein Sohn hat, als er noch klein war, einmal eine Karte für uns geschrieben. Darauf standen als Geschenke niedliche Versprechen wie Geschirrspülen, Wäschewaschen, Massieren usw. Am Ende schrieb er: Ich liebe euch für immer und ewig. Da brach meine Frau in Tränen aus.“ Diese Zeilen

versetzten Kim Young Se den Schock der Erkenntnis: „Design bedeutet, andere Menschen zu lieben“ – ein Geschenk, das er von seinem Sohn erhielt. „Design is loving others! Mir wurde bewusst, dass Ideen, die andere Menschen glücklich machen, entstehen, wenn man die Menschen mit Liebe beobachtet. Design nimmt seinen Anfang mit der Liebe. Es ist der einzige Weg, wie der Verbraucher über die bloße Zufriedenheit mit dem Produkt hinaus begeistert werden kann. Wenn die Begeisterung des Verbrauchers das letztendliche Ziel aller Geschäftsaktivitäten ist, dann sollte auch das Geschäft seinen Ausgang bei der Liebe nehmen, durch den Geist des Designs.“ Der Design-Innovator Kim Young Se, der sich mit 16 entschloss, Designer zu werden, studierte an der Seoul National University und der University of Illinois/USA Industriedesign. Nach Abschluss des Studiums an der University of Illinois lehrte er dort als Dozent für Industriedesign. Er arbeitete bei großen und kleinen Design-Firmen in Chicago, wo er das Metier von der Pike auf lernte und sich so eine solide berufliche Grundlage aufbaute. 1986 gründete er im amerikanischen Silicon Valley Innodesign , eine Firma für Design-Consulting, 1997 wurde die Zentrale der Innodesign-Gruppe in Palo Alto eingerichtet. 1999 kam Innodesign Seoul in Korea hinzu. Derzeit hat die Firma auch Zweigstellen in Peking und Tokio und ist damit international aktiv. Innodesign entwickelte sich zu einer „Total Creative Design-Consulting Group“, die über den Bereich des Produktdesigns hinaus auch Visuelles Design, Benutzer-Interface, Raum-Design und Business allgemein Frühjahr 2011 | Koreana 61


„Design nimmt seinen Anfang mit der Liebe. Es ist der einzige Weg, wie der Verbraucher über die bloße Zufriedenheit mit dem Produkt hinaus begeistert werden kann. Wenn die Begeisterung des Verbrauchers das letztendliche Ziel aller Geschäftsaktivitäten ist, dann sollte auch das Geschäft seinen Ausgang bei der Liebe nehmen, durch den Geist des Designs.“

umfasst. Kim Young Se wurde bei den drei größten internationalen DesignWettbewerben ausgezeichnet, so beim International Design Excellence Awards (IDEA) , beim iF Award des iF International Forum Design sowie beim Red Dot Design Award ; er war auch Preisträger des japanischen Good Design Award . Im Jahr 2006 stand Innodesign mit dem US-amerikanischen Unternehmen für Innovationsberatung IDEO und dem britischen Design-Unternehmen Seymourpowell auf der Liste der 10 besten Design-Firmen der Welt, vorgestellt von dem japanischen Wirtschaftsblatt Nikkei. Im Jahr 2000 wurde das LG Smartphone, eine weitere von Kims Schöpfungen, von der amerikanischen Wirtschaftszeitschrift Businessweek zum „Besten Produkt des Jahres“ gewählt. Daüber hinaus wurde Kim Young Se auch in der Titelgeschichte von Design , einer vom britischen Design Council herausgegebenen Zeitschrift, vorgestellt. Aber es liegt nicht nur an seiner preisgekrönten Karriere oder seinen erfolgreichen Projekten, dass er über seine Stellung als Designer hinaus als Innovator bezeichnet wird. Er ist nämlich ein „Innovator“ und „Imaginator“, der die Bedeutung und Rolle des Designs selbst absteckt und erweitert.

Golftasche ProTech und William Sauey Das Design-Unternehmen Innodesign entwickelte sich gemeinsam mit der Geschichte des Designs in Korea. Kim Young Se ist stolz darauf, dass er bereits seit seiner Zeit in Silicon Valley durch Design-Consulting für koreanische Großunternehmen zur Internationalisierung des koreanischen Industriedesigns beitragen konnte. Auf die Frage, wann für ihn eine schwierige Zeit gewesen sei, antwortet er stets: „Jetzt. Jetzt gibt es zwar Probleme, aber ich kann mich nicht erinnern, 62 Koreana | Frühjahr 2011

dass es jemals keine gegeben hätte.“ Dann erzählt er eine Begebenheit, die ihn zu dem machte, was er heute ist, und fügt hinzu: „Wenn man es recht bedenkt, dann verursache ich meine Schwierigkeiten alle selbst, finde dafür eine Lösung und biete diese Lösung dann auch anderen Menschen an, sprich, ich mache Design und das mache ich bis heute.“ Zu den Schwierigkeiten, die er sich vor 25 Jahren selbst auflud, kam es folgendermaßen: Er wollte sich eine Golftasche für die Reise kaufen, fand aber keine, die ihm gefiel. Also entwarf er selbst die Golftasche ProTech und beschloss, sie auch selbst herzustellen. Er lieh sich mehrere hunderttausend Dollar und fertigte die Golftaschen. Aber die Probleme wuchsen: Wie sollte er die Taschen verkaufen? Woher sollte er das Geld fürs Marketing nehmen? Schließlich nahm er voller Entschlossenheit an der Produktmesse des Verbandes der Profi-Golfer (Professional Golfers‘ Association, PGA), die jährlich in Orlando/USA stattfindet, teil. Mit geringem finanziellen Aufwand besorgte er sich einen kleinen Stand und stellte seine selbst hergestellten Produkte aus. „Den Messestand mit Mitarbeitern ohne jegliche Verkaufserfahrung zu betreuen, war in dieser Anfangszeit von Innodesign nicht nur anstrengend, sondern sogar peinlich. Eines Tages traf ich einen Mann, der all meine Probleme löste. Es war William Sauey, der Präsident des führenden amerikanischen Kunststoffunternehmens Flambeau. Sauey lobte mich als äußerst kreativen jungen Designer und schlug vor, Herstellung und Verkauf der Produkte zu übernehmen, ich solle mich nur ums Design kümmern.“ Am nächsten Tag wurde ein Design-Lizenz-Vertrag zwischen Flambeau und Innodesign abgeschlossen. Danach war Flambeau für Produktion und Verkauf zuständig und Innodesign erhielt 8% des Gesamtumsatzes als Lizenzgebühren. Nach mehreren Jahren erfolgreichen Verkaufs konnte Innodesign in Palo Alto in


Ein Vergnügungsboot, ein Kühlschrank, ein MP3-Player, ein Elektrowagen und eine Golftasche sind Beispiele für Kims beliebte und erfolgreiche avantgardistische Anwendungen von Industriedesign.

Silicon Valley sein eigenes Firmengebäude errichten. Die Golftasche ProTech brachte Kim Young Se den IDEA-Preis. „Wenn ich damals die Herausforderung, neue kreative Produkte herzustellen, nicht angenommen hätte, hätte ich auch keine Schwierigkeiten gehabt. Ich hätte nicht unter der Last gelitten, meine Schulden zurückzahlen zu müssen, hätte nicht die Nächte in einem kleinen Mietwagen auf der Autobahn verbringen müssen, um zu Produktionsbeginn in der Fabrik zu sein, und hätte auch nicht die Peinlichkeit ertragen müssen, an einem winzigen Messestand zu stehen. Aber wichtig ist die Tatsache: Ohne Schweiß und Fleiß kein Preis. Die Lösung zur Überwindung aller Schwierigkeiten ist, von ganzem Herzen sein Bestes zu geben. Ich glaube an das alte koreanische Sprichwort: Wenn man sich von Herzen bemüht, kann sogar der Himmel bewegt werden.“ Mit einer Reihe von Hitprodukten wie dem tragbaren Gasherd Lobster von Tong Yang Magic, dem iRiver-MP3-Player , der Puderdose Laneige Sliding Pact , dem Kühlschrank Dios von LG Electronics und dem Handy Samsung Anycall etablierte sich Innodesign zu einem Design-Unternehmen, das für das Land Korea steht. Derzeit arbeitet Kim im Auftrag des repräsentativen koreanischen Elektroauto-Herstellers CT&T an einem Design-Projekt für zweisitzigen Elektro-Kleinwagen und Elektro-Sportwagen sowie dem Bau einer Fabrik in Hawaii. Außerdem interessiert sich Kim für die Vermarktung der Marke „Korea“. Er fand es immer bedauerlich, dass Korea trotz seines unglaublichen Wirtschaftswachstums kein klares Marken-Image besitzt, sondern „Korea“ immer noch hauptsächlich mit „geteiltes Land“ assoziiert wird. Das war der Beginn des „T-Line-Projekts“, einer Design-Kollektion, die die schönen Muster und Linien der koreanischen Nationalflagge Taegeukgi für sich entdeckt hat. Als

ein erfolgreiches Ergebnis dieses Projekts wurden in Kooperation mit der Kulturstiftung des koreanischen Nationalmuseums Kulturprodukte mit den Symbolen der koreanischen Fahne, i.e. Taegeuk (der Yin-YangKreis in der Mitte), und den vier Trigrammen hergestellt.

Ein Imaginator, der strategisch denkt Leonardo da Vinci, König Sejong der Große, Steve Jobs und James Cameron – das sind nach Kim Young Se die repräsentativsten Imaginatoren von gestern und heute, die die Welt veränderten. Seit einigen Jahren betont Kim in seinen Interviews und Vorträgen, dass Imaginatoren die wahren Anführer der Zukunft sein werden. Ein Imaginator oder „Imaginer“ ist ein Mensch von reicher Kreativität, der kraft seines starken Vorstellungsvermögens die Werte der Zukunft in der Gegenwart zum Erfolg führen kann. Die heutigen Schöpfer der Welt, die über das Informationszeitalter hinaus auch das Zeitalter des Desings anführen und Vorreiter der neuesten Trends sind, gehören zu den Imaginatoren. Die Design-Philosophie von Kim Young Se, der unendlich Innovation anstrebt und neue Vorstellungen entwickelt, wird in seinen 2005 veröffentlichten Büchern Innovator: Schöpfer neuer Trends und Imaginator: Herrscher über die Welt von morgen näher erklärt. Sie stellen Kims Methoden des kreativen Denkens und der Erhöhung der Sensibilität vor. Auf die Frage, welches seiner Designs er persönlich für das beste halte, antwortet er immer: „Mein bestes Design kommt noch!“ Diese Antwort kommt aus seinem „hungrigen Herzen“, das sich nie mit dem bereits Geschaffenen zufrieden gibt, sondern stets auf der Suche nach dem noch besseren Werk ist. Der Hunger nach Applaus für seine Kreationen lässt ihn immer wieder neue Ideen hervorbringen. Aus diesem Grund ist Kims Design stets progressiv und aus diesem Grund freuen wir uns auch stets auf sein nächstes Werk. Frühjahr 2011 | Koreana 63


MEISTERWERKE

Traumreise eines Joseon-Prinzen ins Land der Pfirsichblüten Prinz Anpyeong, der dritte Sohn von König Sejong dem Großen, gehörte zu den im Kulturbereich führenden Gestalten seiner Zeit. Er war ein hochbegabter Kalligraph, begeisterter Sammler chinesischer Kalligraphien und Gemälde und ein Kunst-Mäzen, der in demokratischer Denkart nicht nach den verschiedenen Klassen der Gesellschaft fragte. Daher sammelten sich um ihn zahlreiche Künstler aus verschiedenen Bereichen und Schichten. Im Jahr 1447 träumte der Prinz eines Tages von einer Reise in den paradiesischen Pfirsichgarten. Dieser Traum inspirierte den damals größten Maler von Joseon zu einem der bedeutendsten Meisterwerke der koreanischen Malerei: Mongyu-dowon-do (Traumreise in den Pfirsichgarten) . Ahn Hwi-joon Professor em. für Kunstgeschichte, Seoul National University Mongyu-dowon-do (Traumreise in den Pfirsichgarten). An Gyeon, 1447, Joseon-Zeit; Tusche und Farbe auf Seide, 38,6 x 106,2cm; Zentralbibliothek der Universität Tenri, Tenri, Präfektur Nara, Japan

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E

Es war am 20. Tag des vierten Mondmonats im Jahr 1447, als Prinz Anpyeong, oder Yi Yong (1418-1453), der dritte Sohn von König Sejong dem Großen (reg. 1418-1450), in einen tiefen Schlaf fiel und einen wunderbaren Traum hatte. Im Traum kam er mit seinem Freund Bak Paeng-nyeon (14171456), einem hochrangigen Beamten und Wissenschaftler, an den Fuß eines Berges, von wo aus sie eine bezaubernde Landschaft aus fantastischen Felsformationen, einem Pfirsichhain und sich schlängelnden Pfaden erblickten. Vor dem Wald am Eingang zweigten Wege in verschiedene Richtungen ab. Als sie unschlüssig davor standen, trafen sie einen Mann in der bescheidenen Kleidung der Bergbewohner, der ihnen den Weg zum Pfirsichgarten zeigte. Die Freunde durchquerten eine Gegend aus schroffen, steil aufragenden Felsen, dichten Wäldern und einem hundertfach mäandernden Flüsschen. Der Pfirsichgarten erstreckte sich über zwei bis drei Ri (etwa 8001.200m) und die umliegenden Berge ragten wie ein Windschutz empor, verschleiert von dichten Wolken und Nebel. Es gab Pfirsichhaine, Bambuswälder und auch strohgedeckte Hütten, aber keine Hühner, keine Kühe oder anderen Tiere. Nur ein kleines Boot schwankte auf den Wellen des Flusses. Es war ein Bild ein-

samer Ruhe, das an das Dorf der unsterblichen taoistischen Weisen erinnerte. So eine Kurzbeschreibung des Pfirsichgartens, den Prinz Anpyeong in seinem Traum sah. Sobald der Prinz erwachte, ließ er An Gyeon, den größten Maler der Zeit, rufen, beschrieb ihm seine Traumvision und beauftragte ihn, den paradiesischen Garten zu malen. Nach nur drei Tagen war das Bild fertig und An Gyeons Meisterwerk geboren: Mongyu-dowon-do (Traumreise in den Pfirsichgarten), so das Kolophon des Prinzen am Ende des Bildes. Der Pfirsichgarten, Prinz Anpyong, An Gyeon und Mongyudowon-do sind die wichtigsten Elemente dieser Traumgeschichte: Der „Pfirsichgarten“ bildet den ideologischen Hintergrund; „Prinz Anpyong“ steht für den Auftraggeber, dessen Traumvision den Maler inspirierte, und für die kulturelle Komplexität dieses Werks; „An Gyeon“ repräsentiert als Schaffender und Maler die künstlerische Komponente; das „Mongyu-dowon-do “ schließlich ist in stilistischer sowie kunsthistorischer Hinsicht ein Werk von großer Bedeutung.

Der ideologische Hintergrund Die Traumgeschichte macht unwillkürlich neugierig darauf, vor

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welchem ideologischen Hintergrund das Werk zu sehen ist und was Beweggrund für diesen Traum gewesen sein könnte. Unbestritten ist, dass das Bild des schönen Pfirsichgartens auf Dohwawongi (Der Pfirsichblütenquell; auf Chinesisch: Taohuayuanji), ein Prosawerk des chinesischen Dichters Tao Yuanming (365427) zurückgeht. Die märchenhafte Landschaft der Pfirsichbäume in prachtvoller Blüte, das schroffe, gebirgige Gelände, das von der Außenwelt getrennt ist, die von Bambusbäumen umringten, strohgedeckten Hütten, und vor allem das auf den Wellen schaukelnde kleine Boot mit dem Fischer, der den Pfirsichgarten entdeckte: Das alles sind deutliche Hinweise darauf, dass der Traum von Prinz Anpyong von Tao Yuanmings Werk beeinflusst wurde. Doch das Mongyu-dowon-do weist auch Unterschiede zum Dohwawongi auf, da die in dem Gedicht erwähnten Bauern, Hühner und Hunde weder im Traum des Prinzen, noch im Gemälde vorkommen. Die Tatsache, dass das stark vom Taoismus durchdrungene Werk von Tao Yuanming Prinz Anpyong und den Maler An Gyeon dermaßen augenscheinlich beeinflusste, ist von besonderer Bedeutung. Dies gilt umso mehr, wenn man die Unterdrückung des Buddhismus und die Förderung des Konfuzianismus in der Joseon-Zeit berücksichtigt. Daraus ist zu vermuten, dass trotz des äußeren Erscheinungsbildes des Joseon-Reiches und seiner Gesellschaft als ein streng konfuzianistischer Staat und trotz der herrschenden Staatsideologie des Neo-Konfuzianismus als maßgeblichem Standard der moralischen Gesinnung der Untertanen, im Inneren der liberalere Taoismus seine Wurzeln schlug. Es bestand sozusagen ein duales Ideologie-System. Damit erklärt sich, wie es möglich war, dass zur konfuzianistischen Joseon-Zeit taoistisch geprägte Landschaftsbilder wie das Mongyu-dowon-do sich dermaßen großer Beliebtheit erfreuen und sich auf ein hohes Niveau entwickeln konnten. Auch am Kolophon von Prinz Anpyeong ist dieser ideologische Dualismus zu erkennen. Er stellt sich selbst folgende Frage: „Wie konnte es dazu kommen, dass ich im Traum in einen Wald gelangte, wo ich doch meine Tage und Nächte nur im Palast verbringe und mich den Regierungsgeschäften widme?“ Darauf gibt er auch selbst gleich die Antwort: „Es liegt wohl in meiner Natur, die Abgeschiedenheit zu genießen. In mir steckt das Verlangen nach der Natur.“ Dass Prinz Anpyeong, der an die schweren und mühsamen konfuzianistischen Regierungsgeschäfte gekettet war, von einem Pfirsichgarten, dem Inbegriff der Welt des Taoismus, träumte, ist eine deutliche Manifestation seiner inneren ideologischen Dualität. Es ist zu vermuten, dass für Prinz An-pyeong, der unter den politischen Konflikten mit seinem älteren Bruder, Prinz Suyang (1417-1468), litt, der paradiesische Pfirsichgarten eine Art Utopia frei von Sorgen und Restriktionen darstellte. Die Tatsache, dass das Werk eines chinesischen Poeten einen dermaßen profunden geistigen Einfluss auf einen Prinzen von Joseon hatte, verweist auch auf die klassizistischen Tendenzen zur Zeit von Sejong dem Großen. Damals wurden nämlich im Rahmen der 66 Koreana | Frühjahr 2011

Kulturpolitik nicht nur die acht chinesischen Meister der Songund Tang-Dynastien erforscht, sondern auch chinesische Literatur, Malerei, Kalligraphie und Gesellschaft in der Zeit davor.

Prinz Anpyeong: Künstler und Kunstmäzen Prinz Anpyeong, der dritte Sohn von König Sejong dem Großen, gehörte zu den im Kulturbereich führenden Gestalten seiner Zeit. Er war ein hochbegabter Kalligraph, begeisterter Sammler chinesischer Kalligraphien und Gemälde und ein Kunst-Mäzen, der in demokratischer Denkart nicht nach den verschiedenen Klassen der Gesellschaft fragte. Außerdem war er Führer einer der politischen Hauptfraktionen des Landes; die andere wurde von seinem Bruder, Prinz Suyang, angeführt. Daher folgten ihm zahlreiche Talente aus allen Bereichen und Schichten der Gesellschaft, darunter Angehörige des staatlichen Gelehrtenkollegiums Jiphyeonjeon (Die Halle der Würdigen) wie Seong Sam-mun, Bak Paeng-nyeon und Sin Suk-ju, hochrangige Hofbeamte wie Kim Jong-seo und Jeong In-ji und Künstler wie An Gyeon, die auch an den vom Prinzen initiierten kulturellen Aktivitäten teilnahmen. Das wird z.B. sehr gut durch die eigenhändig verfassten Werke belegt, mit denen 21 Literaten das von An Gyeon im Auftrag von Prinz Anpyeong gemalte Mongyu-dowon-do würdigten. 1442, fünf Jahre vor der Entstehung dieses Gemäldes, hatte es bereits eine ähnliche Kooperation verschiedener Künstler gegeben. Prinz Anpyeong hatte sich eine Kopie des Gedichts Die Acht Anblicke am Xiao- und Xiang-Fluss von Ningzong (1168–1224), dem Kaiser der chinesischen Süd-Song-Dynastie, beschafft und ließ An Gyeon diese acht Anblicke malen, während namhafte Literaten Lobpreisungen dazu schrieben. Diese beiden Beispiele belegen, dass Prinz Anpyeong die bewegende Kraft hinter der Schaffung großer Kunstwerke war, die Poesie, Kalligraphie und Malerei miteinander verbanden. Ohne das künstlerische Engagement des Prinzen wären solch meisterhafte Kunst-Projekte nicht denkbar gewesen. Und tatsächlich wurden nach ihm keine Genre-übergreifenden Arbeiten dieser Art mehr geschaffen.

Der Maler An Gyeon Die Traumreise in den Pfirsichgarten ist das beeindruckendste Werk unter den bisher bekannten Darstellungen vom Pfirsichgarten im Sinne des taoistischen Utopia in Asien. Ohne An Gyeon wäre ein solch originäres Werk von derartig hoher Qualität nie geboren worden. Das war nur deshalb möglich, weil der Maler sein Können bis zum höchsten Grad entwickelt hatte. Für die Entwicklung zu einer solchen Meisterschaft haben wohl sein angeborenes Talent, seine Kreativität, seine unendliche Hingabe, sein umfassendes Studium der klassischen Meisterwerke und der Austausch mit anderen Kennern der Kunst eine große Rolle gespielt. Historische Aufzeichnungen wie Hwagi (Aufzeichnungen über Bilder) aus dem Bohanjaejip, der Sammlung ausgewählter Werke von Sin Suk-ju (1417-1475), zollen der Meisterschaft An Gyeons Tribut. In Hwagi wird An Gyeon wie folgt vorgestellt:


Der Pfirsichgarten erstreckte sich über zwei bis drei Ri (etwa 800-1.200m) und die umliegenden Berge ragten wie ein Windschutz empor, verschleiert von dichten Wolken und Nebel. Es gab Pfirsichhaine, Bambuswälder und auch strohgedeckte Hütten. Es war ein Bild einsamer Ruhe, das an das Dorf der unsterblichen taoistischen Weisen erinnerte.

„Am Königshof gibt es einen bekannten Maler namens An Gyeon. Er nennt sich Gado mit Ja (Ja: eine Art Beiname, der den Wunsch nach einer angestrebten Charaktereigenschaft zum Ausdruck bringt), und Deuksu mit Soja (Soja: Ja für ein Kind) und kommt aus Jigok (heute: Jigok-myeon Seonsan-gun Chungcheongnamdo). Zurzeit ist er Beamter vierten Ranges. Er ist ein hochbegabter Künstler von rascher Auffassungsgabe, der auf Basis seines extensiven Studiums alter Gemälde sich deren Kernelemente zu eigen gemacht hat, die Stärken der verschiedenen Meister kombiniert und in Einklang miteinander bringt. Es gibt nichts, was er nicht malen könnte, aber seine Landschaftsbilder stechen besonders hervor. Er hat zwar seine Stärke den alten Meistern zu verdanken, aber es gibt keinen, der ihm das Wasser reichen könnte. Da er seit langem zum Kreis von Prinz Anpyeong gehört, besteht ein Großteil der Gemäldesammlung des Prinzen aus seinen Werken.“ Diese Aufzeichnungen aus dem Jahr 1445 geben einigen Aufschluss über An Gyeon. So ziehen die Bemerkungen über die Entwicklung seines Malstils die Aufmerksamkeit auf sich: Erstens war An ein hochintelligenter und gebildeter Mensch. Zweitens besaß er große Kenntnisse über alte Gemälder und entwickelte auf dieser Grundlage seinen eigenen Stil. Drittens war er 1445 bereits ein bekannter Maler, der seit langem zum engen Kreis um Prinz Anpyeong gehörte und in der Landschaftsmalerei seinesgleichen suchte. Viertens besaß Prinz Anpyeong 1445 über 30 Werke von An Gyeon, darunter neben Landschaftsbildern auch Tuschebilder von Bambusbäumen, Pflaumenblüten, stattlichen Kiefern oder Wildgänsen im Schilf. An Gyeon wurde von den Dichtern, die Lobgedichte für das Mongyu-dowon-do schrieben, und anderen zeitgenössischen sowie späteren Literaten als großer Meister gelobt. Man verglich ihn mit Gu Kaizhi (ca. 345-409), der zu den drei anerkanntesten Malern der Sechs Chinesischen Dynastien (220-581) zählt, und Wu Daozi (680-740) sowie Wang Wei (701-760), den renommiertesten Künstlern der chinesischen Tang-Dynastie. Solche Bewertungen trugen auch dazu bei, dass Ans Malstil nicht nur die Malerei der frühen (ca. 1392-1550) und der mittleren (ca. 1550-1770) JoseonZeit beeinflusste, sondern auch die Landschaftsmalerei der japanischen Muromachi-Zeit (1336-1573).

Einzigartiger Malstil Das Mongyu-dowon-do, das einzige bis heute erhaltene, authen-

tische Werk von An Gyeon, weist hinsichtlich Malstil und -technik einige Besonderheiten auf: Zunächst entfaltet sich die Geschichte entlang einer gedachten diagonalen Linie von der unteren linken zur oberen rechten Ecke. Im Vergleich zum allgemeinen Usus in der asiatischen Malerei, in denen sich die Geschichte in umgekehrter Richtung von rechts oben nach links unten entwickelt, handelt es sich hier um einen unorthodoxen Kompositionsstil, der für die Zeit kein zweites Mal belegt ist. Während sich die Geschichte der Diagonale entlang entfaltet, gewinnt das Bild zunehmend an Majestät. Ebenfalls beachtenswert ist die Komposition des Bildes, die, von links nach rechts angeordnet, vier deutlich voneinander unterschiedene Berggruppen zeigt: Die niedrigen Berge der realen Welt, die Berge am Eingang zum Pfirsichgarten, die Berge hinter dem Eingang des Pfirsichgartens und die Berge im Pfirsichgarten selbst. Die Gruppen sind zwar voneinander getrennt, bilden jedoch im Ganzen gesehen eine optische Harmonie. Der Bergpfad, der in der unteren linken Ecke beginnt und sich durch die Berge der zweiten und dritten Gruppe windet, hält das Gemälde optisch zusammen. Abgesehen von den eher hügelartigen Erhebungen der ersten Gruppe, die die reale Welt repräsentieren, stellen die Berge direkt vor und im Pfirsichgarten wundersame Felsformationen der Fantasie- und Traumwelt dar. Die Berge wurden nach der Perspektivik der drei Fernen dargestellt: der hohen, wenn man einen Berg hinaufschaut, der ebenen, die den Blick in die Ferne freigibt, und der tiefen, die den Blick vom Rand des Gebirges in das Innere erlaubt. Obwohl der Pfirsichgarten von Bergen umschlossen ist, erscheint er als offene Weite. Dieser Effekt ergibt sich durch die Neigung des Gartens und die Anpassung der Höhe der umgebenen Berggipfel zur Erzielung eines visuellen Panoramaeffekts. An der Pinselstrich-Technik ist zwar der Einfluss von Guo Xi (1020-1090), des repräsentativen Malers der nördlichen SongDynastie erkennbar, doch im Ganzen gesehen handelt es sich um ein Werk im unverwechselbaren und originären Stil von An Gyeon. Das Mongyu-dowon-do , ein Werk, das aus dem Gemälde An Gyeons, der Kalligraphie von Prinz Anpyeong sowie in Poesie und Prosa gehaltenen Würdigungen von 21 großen Literaten der Zeit besteht, ist als herausragendes, mehrere Kunstrichtungen integrierendes Kulturgut aus der Zeit König Sejongs von unschätzbarem kulturellen und historischen Wert. Frühjahr 2011 | Koreana 67


UNTERWEGS

Onyang

Einst Erholungsort der Könige, heute Reiseziel für Flitterwöchner

Onyang war bis in die 1970er Jahre eines der beliebtesten Hochzeitsreiseziele der Koreaner. Nach der Jahrtausendwende gewinnt es mit der Anbindung ans Verkehrsverbund-Bahnnetz der Hauptstadtregion bei den Hauptstadtbewohnern als Ziel für Tagesausflüge immer mehr an Popularität, da es innerhalb einer Stunde zu erreichen ist. Diese idyllische Kleinstadt, die für ihre heißen Quellen und ihren alle fünf Tage stattfindenden traditionellen Markt bekannt ist, ist auch der Geburtsort von Admiral Yi Sun-sin (1545-1598), dem legendären Seehelden, dessen Statue in der Seouler Innenstadt auf dem Gwanghwamun Plaza zu sehen ist. Admiral Yi schlug im 16. Jahrhundert die japanischen Invasoren erfolgreich zurück (1592-1598). Kim Ha Essayist | Fotos: Ahn Hong-beom

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ie chinesischen Schriftzeichen des Namens Onyang bedeuten „Wärme“. Vor zweitausend Jahren wurde diese Region „Tangjeong“, „kochende Quelle“, genannt. Onyang, das zur Stadt Asan in der Provinz Chungcheongnam-do im Mittelwesten der koreanischen Halbinsel gehört, ist einer der berühmtesten Thermalbadeorte des Landes. Onyang und Umgebung genießen seit entsprechend langer Zeit einen besonderen Ruf als Erholungsgebiet. Historischen Aufzeichnungen nach soll vor 568 Jahren ein König diesem Ort einen Besuch abgestattet haben. In diesen Zeiten des beschwerlichen Reisens war es – ausgenommen bei politischen Unruhen oder im Falle der Flucht vor einer Invasion – schwer vorstellbar, dass der König zu einer Reise, die drei- oder vier Tage beanspruchte, aufbrach. Der erste König, der sich nach Onyang aufmachte, war König Sejong der Große (1397-1450), der in der rund 500-jährigen Geschichte des Joseon-Reiches (1392-1910) als Monarch mit den herausragendsten Verdiensten geehrt wird. Er reiste in Begleitung der Königin, der königlichen Konkubinen und zahlreichen Vasallen nach Onyang, allerdings nicht, um hier Zuflucht vor politischen Unruhen zu suchen, sondern um seine Augenkrankheit zu heilen. Danach wurde Onyang zum Erholungsort für die Könige von Joseon. In einem heute nur noch unter dem Namen „On-gung“ (Warmer Palast) bekannten Palais blieben sie etwa einen Monat, um eine Zeit der Erholung und der Muße fernab der Hauptstadt zu verbringen.

Geschichtsträchtige Thermalbadstadt Seit Ende der 1920er Jahre wurden in Onyang die Gebiete um das Palais zu einem modernen Freizeit- und Erholungsort entwickelt und bis zu den 1970er Jahren war die Region ein beliebtes Reiseziel für Flitterwöchner. Aber der Ausbau der verkehrstechnischen Infrastruktur, darunter auch des Luftverkehrs, sowie die Entstehung von verschiedenen touristischen Erholungsorten im ganzen Lande führten dazu, dass Onyang und Umgebung langsam an Popularität verloren. Erst nach der Jahrtausendwende zog dieser historische „Ort der Wärme“ langsam wieder die Aufmerksamkeit auf sich. Diese Zunahme der Popularität ist der Anbindung von Onyang an das Verkehrsverbund-Bahnnetz der Hauptstadtregion Seoul, einer Metropole mit über 10 Millionen Einwohnern, zu verdanken: Onyang ist von Seoul aus innerhalb von nur einer Stunde Fahrtzeit über wenige Zwischenstationen zu erreichen. Förderlich war weiterhin die sozialpolitische Maßnahme, dass Senioren über 65 dieses Verkehrsmittel kostenlos nutzen können. Die Senioren, die ihre Hochzeitsreise in Onyang verbrachten, suchen diesen Ort voller Erinnerungen an alte Zeiten noch einmal auf, während junge Menschen seinen Reiz als Treffpunkt für romantische Stelldicheins entdeckt haben. Jetzt ist Onyang bei

Die malerische Bucht Asan-man bei Ebbe im Rot der Abenddämmerung Frühjahr 2011 | Koreana 69


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1, 2 Lebendiges Treiben in einem öffentlichen Thermalbadehaus in Onyang. Viele Thermalbadehäuser verfügen über Freiluftanlagen.

3 Hyeonchung-sa, der Schrein zum Gedenken an Admiral Yi, eine legendäre historische Gestalt und ein Sohn der Stadt Onyang

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den Alten als „Pilgerort der Erinnerungen“ und bei den Jungen und bei Familien als Ziel für Tagesausflüge beliebt. Die heißen Quellen von Onyang, schwach alkalische Quellen mit einer Temperatur zwischen 44 und 57 Grad, sollen bei rauer Haut, Neuralgien, Magen- und Darmkrankheiten, Anämie, Arteriosklerose und verschieden Frauenkrankheiten heilend wirken. Die Straße vor dem Onyanger Bahnhof wird von mehr als zehn großen Thermalbadehäusern gesäumt und auch in den Touristenhotels und den Pensionen vor Ort können die Besucher ein Bad in heißem Quellwasser genießen. In den öffentlichen Badehäusern ist Nacktbaden nach Geschlechtern getrennt erlaubt. 70 Koreana | Frühjahr 2011

Daher bietet ein öffentliches Badehaus für all diejenigen, die sich gern mit anderen zusammen im heißen und dichten Wasserdampf entspannen, eine gute Gelegenheit, die einzigartige und „dynamische“ Badehaus- und Saunakultur Koreas zu erleben. Eine Übernachtung im 24-Stunden-Jjimjilbang, einem einzigartigen koreatypischen Badehaus mit verschiedenen Themensaunen, Ruheräumen, Wellness- und Freizeiteinrichtungen, ist ein „warmes und entspannendes“ Erlebnis besonderer Art, das es so wahrscheinlich nur in Korea gibt. Unter den Touristen aus China und Japan haben nicht wenige eine Schwäche für diese Form der Erholung à la Korea.


Die Straße vor dem Onyanger Bahnhof wird von mehr als zehn großen Thermalbadehäusern gesäumt und auch in den Touristenhotels und den Pensionen vor Ort können die Besucher ein Bad in heißem Quellwasser genießen. In den öffentlichen Badehäusern ist Nacktbaden nach Geschlechtern getrennt erlaubt. Daher bietet ein öffentliches Badehaus für all diejenigen, die sich gern mit anderen zusammen im heißen und dichten Wasserdampf entspannen, eine gute Gelegenheit, die einzigartige und „dynamische“ Badehaus- und Saunakultur Koreas zu erleben.

15 Kilometer westlich vom Thermalbadeort Onyang befindet sich das Thermalbad Dogo und 15 Kilometer weiter südostwärts das Thermalbad Asan. Die heißen Quellen von Dogo sind schwefelhaltig, die von Asan alkalisch. Die beiden Thermalbäder sind nicht nur für ihre heißen Quellen, sondern auch für eine große Bandbreite an Freizeiteinrichtungen wie Schwimmbäder und Vergnügungsanlagen bekannt.

Die Heimat von Admiral Yi Sun-sin Auf dem Gwanghwamun Plaza, dem Zentrum der koreanischen Hauptstadt Seoul, erhebt sich die majestätische Statue von Admiral Yi Sun-sin. Yi, eine der von den Koreanern am meisten verehrten historischen Gestalten, ist auch in der Weltgeschichte der Seeschlachten als großer Kommandant bekannt. Durch den sieben Jahre währenden Krieg, der durch die japanische Invasion von 1592 ausgelöst wurde, befand sich das Königreich Joseon, das „Land der Morgenstille“, kurz vor dem Untergang. Yi rettete das Land an diesem Scheideweg des Schicksals. Er wird als mutig und weise erinnert, v.a. aber auch als Mensch mit einer tiefen Liebe zu Vaterland und Volk. Daher der Beiname „Seongung“, „Heiliger Held“. In Onyang ist Admiral Yi geboren und aufgewachsen. Vier Kilome-

ter westlich von der Straße mit den Thermalbadehäusern steht der Schrein Hyeonchung-sa, der zum Gedenken an ihn errichtet wurde. Der Schrein, das „Haus der Ahnenverehrungszeremonien“, wurde im Jahr 1706 auf dem Gelände des Geburtshauses von Yi gebaut. Yi wohnte in seinem Geburtshaus, bis er nach dem Bestehen der Beamtenprüfung fürs Militär einen niederen Offiziersposten zugewiesen bekam. Erst viel später, im Jahre 1967, wurde das Gelände erweitert und erhielt mit seinem weitläufigen und dichten Kiefernwald sein heutiges, imposantes Aussehen. General Park Chung-hee, der 1961 durch einen Militärputsch an die Macht kam, ließ das Gelände vergrößern und mit zusätzlichen Einrichtungen ausstatten. Danach wurde es für die Koreaner zu einer sakralen Stätte der Nation. Auf dem Gelände des Hyeonchung-sa, des „Schreins der herausragenden Loyalität“, befinden sich die Grabstätten des dritten Sohns von Yi Sun-sin und dessen direkten Nachfahren, während das Grab von Admiral Yi am Berg Eora-san in Eumbong-myeon, neun Kilometer von Hyeonchung-sa entfernt, gelegen ist. Darüber hinaus sind das restaurierte Geburtshaus von Yi, ein Museum und andere Gedenkgebäude zu sehen. Im Museum sind mit Yi zusammenhängende Schriftstücke, persönliche Accessoires und von ihm benutzte Waffen ausgestellt. Beim Anblick seines

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1 Maengssi Haengdan. Der Stammsitz der Familie von Maeng Sa-seong, eines berühmten Gelehrten aus der frühen Joseon-Zeit, mit zwei 600 Jahre alten Gingkobäumen

2 Im Botanischen Garten der Welt in Asan finden sich über 5.000 Pflanzen und Blumen aus aller Welt, von denen einige das ganze Jahr über blühen.

3 Ein traditionelles Hanok-Haus aus dem 17. Jhdt., das von dem JoseonGelehrten Geonjae im zu Asan gehörigen Dorf Oeamli wiederaufgebaut wurde. Hier kann der Besucher die Atmosphäre eines Dorfes von vor 500 Jahren spüren.

die Natur hat, zeigt sich daran, dass du tot bist und ich noch am Leben bin. Ist es, weil du so eine hervorragende Persönlichkeit bist, dass der Himmel nicht willig ist, dich in der Welt zu lassen? Ach, wie traurig! Mein Sohn, wo bist du jetzt, warum hast du mich verlassen?“ (Übersetzung des Zitats übernommen aus: http://www.skk.or.kr/doc_kscpp/Holy_Hero_Yi_Sunsin_ german.pdf)

Andere historische Persönlichkeiten

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Kriegstagebuchs Nanjung Ilgi (Tagebuchaufzeichnungen inmitten schwerer Zeiten), werden die Besucher oft von Ehrfurcht erfasst. Das Tagebuch, das ursprünglich in chinesischen Schriftzeichen verfasst wurde, wird von den meisten Koreanern in der Kindheit in einer koreanischen Version gelesen. Es zeigt deutlich, weshalb Yi in Korea so hohe Liebe und Respekt entgegengebracht wird. In diesem Tagebuch, dessen fast tägliche Aufzeichnungen einen Monat nach Kriegsausbruch beginnen und sich über sieben Jahre bis einen Monat vor seinem Tod erstrecken, berichtet Admiral Yi in ruhigem Ton detailliert vom Verlauf und Ausgang der von ihm geführten Schlachten. Darüber hinaus beschreibt er ausführlich seine Kriegsstrategien, das Leben im Feldlager, Belohnung und Bestrafung seiner Männer, seinen Kummer über das Leid des Volks im Krieg und verleiht zudem ehrlich seiner Meinung über die Regierungspolitik Ausdruck. Yi vermittelt in diesen persönlichen Aufzeichnungen das Bild eines militärischen Führers, der seine Aufgaben mit strengster Disziplin und höchstem Verantwortungsbewusstsein wahrnahm. Aber das ist nur ein Teil des Bildes: Yi war auch ein Mann wie jeder andere, der seine im Heimatort zurückgelassene Mutter vermisste und sich um seine Frau und Kinder Sorgen machte. Als er die Nachricht erhielt, dass sein 23-jähriger Sohn im Kampf gefallen sei, vertraute er den Schmerz eines Vaters, dessen Herz in Stücke zerrissen zu werden scheint, seinem Tagebuch an: „Von der Natur her ist es so, dass ich derjenige bin, der sterben sollte und du derjenige bist, der noch leben sollte. Wie unrecht 72 Koreana | Frühjahr 2011

Die Bewohner von Onyang sind stolz darauf, dass Admiral Yi, der nationale Seeheld, ein Sohn ihrer Stadt ist und sich sein Gedenkschrein hier befindet. Es gibt aber noch andere historische Persönlichkeiten wie Maeng Sa-seong und Yi Ji-ham, auf die sie stolz sind, wenn auch nicht im gleichen Maße wie auf Admiral Yi. Maeng Sa-seong (1360-1438), der Ende des 14. bis Anfang des 15. Jahrhunderts lebte, schlug Ende der Goryeo-Zeit (918-1392) die Laufbahn eines Regierungsbeamten ein, bevor er im JoseonReich verschiedene hohe Regierungsämter bekleidete und als Minister zur Rechten in das höchste Regierungsorgan der Zeit, das Uijeongbu, aufstieg. Er verfasste das Paldo Jiriji (Geographiekunde zu den acht Provinzen) , ein offzielles geographisches Namensverzeichnis. Außerdem war er in Poesie und Musik bewandert und trug durch seine Sammlung koreanischer Volksmusik und den Bau von Musikinstrumenten wesentlich zur kulturellen Entwicklung bei. In Onyang existiert bis heute der alte Familiensitz Maengssi Haengdan, das „Haus des Maeng-Clans mit Gingkobäumen“, das über die Jahrhunderte hinweg in gutem Zustand erhalten blieb. Es ist eins der ältesten, erhaltenen Stammhäuser in Korea, das mit seinem Fußweg entlang der Einfriedungsmauern einen Hauch vergangener Zeiten verströmt. Ursprünglich gehörte das Haus General Choe Yeong (1316-1388), einem treuen Untertanen, der zu Ende der Goryeo-Zeit lebte und auch heute noch hohes Ansehen genießt. Er erkannte früh das Potential eines jungen Mannes aus dem in der Nachbarschaft lebenden Maeng-Clan, verheiratete seine Enkeltochter mit ihm und hinterließ ihm auch den Familiensitz. Yi Ji-ham (1517-1578) war ein Gelehrter, der im 16. Jahrhundert zur mittleren Joseon-Zeit lebte. Er war bewandert in Divination, Medizin, Mathematik, Astronomie und Geographie und vertrat für


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die damalige Zeit außergewöhnlich fortschrittliche und liberale Ideen. So unterstrich er z.B. die einander ergänzenden Beziehungen zwischen Landwirtschaft und Handel und forderte die Eintwicklung von Bergwerken und Überseehandel. Yi ist eigentlich in der Nachbarstadt Boryeong geboren, so dass ursprünglich kein Zusammenhang zwischen ihm und Onyang bestand. Aber der Magistrat von Onyang missbrauchte sein Amt und drangsalierte das Volk, so dass Unmut aufkam. 1578 wurde Yi zum neuen Magistraten ernannt und bemühte sich fortan darum, die Missetaten seines Vorgängers wieder gutzumachen. Er richtete für die Bettler in der Region ein Fürsorgeamt ein, das sich um sie kümmerte, leistete Alten und Schwachen Hilfe und verbesserte die Lebensgrundlage der Bewohner. Seine von Mildtätigkeit gekennzeichnete Amtsführung prägte sich tief in die Herzen der lokalen Bevölkerung ein. Heutzutage kennen aber die Menschen von Onyang wie die meis-

ten Koreaner Yi Ji-ham hauptsächlich als Autor von Tojeong Bigyeol (Die Geheimnisse von Meister Tojeong). „Tojeong“ ist Yis Beiname. Wenn Neujahr nach Lunarkalender vor der Tür steht, schlagen die Koreaner seit Jahrhunderten gerne dieses Buch auf, um zu erfahren, was ihnen die Sterne fürs neue Jahr verheißen. Aber dieses altehrwürdige Buch der Weissagungen wurde nach allgemeinem Dafürhalten wahrscheinlich gar nicht von Yi verfasst: Es wurde überall darüber geredet, dass sich Yi, der „avantgardistische“ Gelehrte, auch in Medizin und Divination gut auskenne, weshalb jemand sich Yis Beinamen „Tojeong“ auslieh, um das Buch zu verbreiten.

Berge und Flüsse: von Sanftheit geprägt In Onyang ist sogar die Natur von freundlicher Sanftheit: Die Ebenen sind weitläufig und die Berge sind nicht hoch. Sie bilden zusammen eine schöne Landschaft.

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1 Weg entlang der Steinmauern von Oeam-ri im Schnee 2 Das Volksmuseum Onyang gibt detaillierten Einblick in Volksleben, Bräuche, Glauben etc. der Menschen von einst.

3 Auf einem der traditionellen Wochenmärkte, die alle fünf Tage stattfinden, wartet eine ältere Frau, die verschiedene Getreidesorten zum Kauf anbietet, auf Kundschaft.

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Der Yeongin-san gehört zu den bei den Onyangern beliebtesten Bergen. Der Gipfel dieses 364 Meter hohen Berges wird von einer im dritten, vierten Jahrhundert gebauten Festungsmauer aus dem Baekje-Reich (18 v. Chr.-660 n. Chr.) eingefasst, die von den Zeitläuften gezeichnet ist. Vom Gipfel aus kann man auf einen Blick das Westmeer (Gelbe Meer), das bei Sonnenuntergang einen großartigen Anblick bietet, den Fluss Sapgyo-cheon, der sich durch breite Schwemmlandebenen windet, und die Bucht Asan-man, in der die lange Reise des Flusses endet, sehen. Der Berg Gwangdeok-san ist mit 699 Metern der höchste Berg in der Region. Für einen Bergsteiger, der von einer EverestBesteigung träumt, bietet der Berg kaum Abenteuerlust beflügelnde Herausforderungen, aber es gibt hinreichend steile Pfade, die Herz- und Lungenfunktionen des Wanderers trainieren, und viele geheimnisvolle Täler. Dichte Wälder und Täler mit kristallklaren Bächen erstrecken sich weit den Berg entlang, der einer Legende nach weinen soll, wenn das Land von Krisen wie einer Invasion oder anderen unheilvollen Ereignissen bedroht ist. Das vom nördlichen Tal des Gipfels Guksabong – ganz in der Nähe des Gwangdeok-san – fließende Wasser bildet auf seinem Weg nach Westen ein Flüsschen. Dieses Flüsschen fließt mitten durch die weiten Ebenen von Onyang, wo es mit anderen Wasserläufen zusammenfließt und schließlich zum Fluss Gokgyo-cheon anschwillt. Der Gokgyo-cheon fließt an Onyang vorbei und mündet in der benachbarten Stadt in den Sapgyo-cheon. Die gesamte Strecke von fast 50 Kilometern fließt der Fluss ruhig dahin. Im Flusswasser tummeln sich ganze Schulen von Fischen wie Karpfen und Karauschen, während sich auf dem Wasser je nach Jahreszeit Scharen verschiedener Vogelarten wie Enten und Graureiher sammeln. In dieser friedlichen und Muße ausstrahlenden Landschaft wandern die Menschen gerne das Flussufer entlang. Die Besucher, die hierher kommen, um in den heißen Quellen zu baden oder Admiral Yi Sun-sin ihren Respekt zu erweisen, werden von der Sanftheit und der Friedlichkeit des Ortes gefesselt.

Auf den Spuren des Lebens von einst Vor dem Bahnhof in Onyang gibt es neben der Thermalbäderstraße einen alten traditionellen Markt. In der Joseon-Zeit diente der Markt zur Versorgung des Königspalais On-gung, entwickelte sich

später aber zu einem öffentlichen Markt. Heutzutage gibt es zwar moderne Ladenpassagen, aber die zum Verkauf angebotenen Nahrungsmittel und Heilkräuter der tradionellen koreanischen Medizin unterscheiden sich kaum von denen früherer Zeiten. Die Besucher, die aus Großstädten wie Seoul kommen, entdecken auf diesem Markt die Spuren von einst. Neben diesem ständigen Markt schlägt auf dem Bahnhofsplatz hier ab dem vierten eines jeden Monats in Abständen von fünf Tagen ein Wochenmarkt seine Zelte auf, der noch stärker an die Vergangenheit erinnert. Insbesondere ausländischen Besuchern bietet dieser für koreanische Kleinstädte typische Wochenmarkt die Gelegenheit, das traditionelle Leben von einst in ursprünglicherer Form etwas besser kennen zu lernen. In Korea finden sich auch heute noch überall sog. Sippendörfer, in denen die Mitglieder eines Clans, die alle denselben Nachnamen tragen, ansässig sind. Das Dorf Oeam-ri am Fuß des Berges Seolhwa-san in der Nähe von Onyang ist eins davon. Der Yi-Clan von Yean ließ sich vor 500 Jahren hier nieder und dessen Nachfahren stellen auch heute noch den Hauptteil der Dorfbewohner. An den mit Moos bedeckten Steinmauern um die Hanok-Häuser, die das Alte gut bewahren, ist die lange Geschichte dieses Dorfes zu erkennen. Gegenstände der Volkskultur wie der Totempfahl Jangseung, der am Eingang des Dorfes Wache steht, Dächer aus Reisstroh, Tretmühlen, Mühlsteine und Wassermühlen beschwören ein heimeliges Gefühl. „Das Haus des Vizeministers Yi“ und „das Haus des Magistraten von Yeongam“, typische Beispiele für Häuser mit Ziegeldach und Garten, in denen die adligen Yangban der Joseon-Zeit lebten, verleihen dem Dorf eine zusätzliche edle Note. Besuchern, die sich für die Lebensweise von einst interessieren, bietet das Onyang Volksmuseum (Onyang Folk Museum) in Gweongok-dong viel zu sehen und zu erleben. In den fünf Ausstellungshallen des Museums sind über 20.000 Exponate ausgestellt, die einen detaillierten Einblick in Volksleben, Bräuche, Glauben, Berufe, Handwerk und Kunsthandwerk vermitteln. Am Wochenende können Besucher auch eine traditionelle koreanische Hochzeitszeremonie erleben. Wie der Anblick einer Hochzeitszeremonie die Menschen überall erfreut, so ist Onyang ein Ort, der Körper und Seele mit Wärme erfüllt. Frühjahr 2011 | Koreana 75


KÜCHE

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Pyeonyuk

Gekochtes und gepresstes Rindfleisch Pyeonyuk ist ein gesundes Fleischgericht. Das vor dem Servieren in dünne Scheiben geschnittene und fächerartig auf einem Teller angerichtete Fleisch ist ein Augenschmaus. Man kann es zusammen mit einer Choganjang-Soße (Sojasoße und Essig) oder mit Kimchi essen. Pyeonyuk eignet sich auch als Zutat für Sandwich-Röllchen. Lee Jong-im Leiterin des Korea Food & Culture Research Center | Fotos: Ahn Hong-beom

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ut durchgekochtes, in feine Scheiben geschnittenes Fleisch wird „Pyeonyuk“ genannt. Pyeonyuk ist ein Beispiel für eine koreatypische Fleisch-Zubereitungsmethode. Es kann mit Roastbeef verglichen werden, da bei beiden Gerichten das Fleischstück als Ganzes zubereitet und erst beim Servieren geschnitten wird, aber bei Roastbeef wird das Fleisch gebraten und bei Pyeonyuk gekocht.

Fleischauswahl und Gemüsebeilagen Pyeonyuk kann sowohl aus Rind- als auch aus Schweinefleisch zubereitet werden. Bei Rindfleisch eignet sich Rinderbrust und bei Schweinefleisch Schweinebauch oder Schweinenacken. Pyeonyuk aus Rinderbrust ohne Knochen (das Fleisch vom unteren Bereich der ersten bis zur dritten Rippe) gilt als bestes. Weil dieses Fleisch gerade richtig durchwachsen ist, lässt sich daraus besonders schmackhaftes und zartes Pyeonyuk zubereiten. Ebenfalls geeignet sind Rinderhesse, Muskelfleisch aus dem Lungenbereich, Rinderkopf usw. Das Fleischstück wird als Ganzes gekocht, in ein Leinentuch eingeschlagen und mit etwas Schwerem in eine flache, viereckige Form gepresst. Danach schneidet man es mit einem scharfen Messer in dünne Scheiben. Man isst das Fleisch mit einer Gewürzsoße oder mit gewürztem Garnelen-Jeotgal (fer-

Pyeonyuk, serviert mit Gemüsen und einer Essig-Sojasoße. Eine Scheibe Pyeonyuk, eingerollt in ein Salatblatt, ist ein ganz besonderer Gaumenschmaus. Frühjahr 2011 | Koreana 77


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mentierte Garnelen). In den traditionellen Restaurants in Korea ist es heutzutage fast ein Muss geworden, Pyeonyuk zusammen mit reichlich Chilipulver und Jeotgal, frisch zubereitetem Kimchi oder scharf gewürzten Mu-mallaengi (in dünne Scheiben geschnittener, getrockneter Rettich) zu servieren. Zu Hause ist Pyeonyuk mit gut gegärtem Chinakohl-Kimchi eine Delikatesse. Pyeonyuk ist zudem ein Stammgericht am Gimjang-Tag. Dieser Tag kurz vor Einbruch der kalten Jahreszeit, an dem traditionell der gesamte Kimchi-Wintervorrat eingelegt wird, ist nach wie vor ein großer Tag im Familienkreis. Wenn die Arbeit am Abend beendet ist, kommt bei vielen Familien Pyeonyuk mit frisch zubereitetem

Kimchi auf den Tisch. Pyeonyuk passt gut zu Saengchae-muchim (scharf gewürzter, in dünne Streifen geschnittener, frischer Rettich), gut gegärtem Kimchi, aber auch frisch eingelegtem Kimchi. Hier stellen wir als besondere Beilage einen Ginseng-Honig-Mix vor. Wer es einfacher bevorzugt, kann Pyeonyuk mit einer Choganjang-Dippsoße aus Sojasoße, Essig, Wasser und Pinienkernpulver essen. Es empfiehlt sich dabei, das Fleisch in Salatblätter wie Römersalatblätter, Sesamblätter usw. einzuwickeln.

Schmackhaft kochen Heutzutage gilt das Kochen von Fleisch verglichen mit Fritieren, Braten oder dem Grillen über offener Flam-

Das Fleischstück wird als Ganzes gekocht, in ein Leinentuch eingeschlagen und mit etwas Schwerem in eine flache, viereckige Form gepresst. Danach schneidet man es mit einem scharfen Messer in dünne Scheiben. Man isst das Fleisch mit einer Gewürzsoße oder mit gewürztem Garnelen-Jeotgal (fermentierte Garnelen).

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1 Pyeonyuk-Scheiben mit Ginseng-Honig-Mix, appetitlich auf einer Platte angerichtet und mit Senfsoße serviert.

2 Ein Stück Rindfleisch wird nach dem Kochen in ein Leinentuch

Pyeonyuk

eingeschlagen und mit etwas Schwerem in Form gepresst.

3 Das Fleisch wird mit einem scharfen Messer in dünne Scheiben geschnitten.

4 Für den Ginseng-Honig-Mix werden klein geschnittene Ginsengwurzeln, Kastanien und Pinienkerne mit Honig gemischt.

Zutaten • Pyeonyuk 600g Rinderbrust, 6 Knoblauchzehen, ca. 80g Lauch, ca. 60g Zwiebeln, 20g frische Ingwerwurzel, 10 Pfefferkörner, 10 Becher Wasser (2.366ml) • Ginseng-Honig-Mix eine frische Ginsengwurzel, 10 getrocknete Jujuben, 5 Kastanien,

me als eine gesündere Methode der Zubereitung. Das vor dem Servieren in dünne Scheiben geschnittene und fächerartig auf einem Teller angerichtete Pyeonyuk ist zudem ein Augenschmaus und eignet sich hervorragend als Mitbringsel für Partys, bei denen die Gäste Gerichte beisteuern. Wenn man in diesem Fall das Pyeonyuk fertig geschnitten mitbringt, kann das Fleisch an der Oberfläche leicht austrocknen und an Geschmack verlieren. Es empfiehlt sich also, das Pyeonyuk erst im Haus des Gastgebers kurz vor dem Servieren zu schneiden. Noch mehr Geschmack bleibt erhalten, wenn man das Fleisch in der Brühe mitnimmt, vor dem Essen in Form presst, schneidet und gleich serviert. Jede Hausfrau und jeder Profi-Koch hat eigene Geheimrezepte für die Fleischzubereitung. Zum Beispiel kann man dem Kochwasser einen Löffel Doenjang (Sojabohnenpaste) zusetzen, aber auch Alkohol wie der Getreideschnaps Soju, Wein oder Reiswein, einige Pfefferkörner oder Kaffee usw. sorgen für besondere Geschmacksnoten. Diese Zusätze mildern den Fleischgeruch und vertiefen den Geschmack. Es gibt auch verschiedene Wege, um festzustellen, ob das Fleisch richtig durch ist. Das Anstechen mit einem Stäbchen ist dabei die beste Methode: Wenn beim Anstechen kein Blut mehr herausrinnt, ist das Fleisch gar. Dann sollte man etwas Salz ins Kochwasser geben und das Fleisch noch etwas köcheln lassen, damit sich der Geschmack vertieft. Zu langes Kochen macht das Fleisch allerdings zäh und führt zu einem Nährstoffverlust.

2EL Honig, 2EL Pinienkerne

Verwendungsbeispiele

und in Streifen schneiden.

Pyeonjuk kommt auch auf Naengmyeon, Buchweizennudeln in kalter Rindfleischbrühe. Das Fleisch, aus dem die Brühe gekocht wurde, wird dazu in dünne Scheiben geschnitten und auf die Portion kalte Nudeln gelegt. Das Gleiche gilt für Seolleongtang, einer kräftigen Suppe, die aus verschiedenen Rinderstücken in einem gusseisernen Kessel gekocht wird. Auch hier kommen die Fleischscheiben vor dem Servieren auf das fertige Suppengericht. Hauchdünn geschnittene Pyeonyuk-Scheiben eignen sich zudem gut als Zutat für Sandwich-Röllchen.

• Senfsoße 2EL Senf, 2EL Zucker, 3EL Essig, 1/2TL Salz, 1EL Pinienkernpulver, 1EL Sojasoße • Choganjang-Soße 3EL kräftige Sojasoße (Jinganjang), 3EL Essig, 2EL Wasser, 1EL Pinienkernpulver Zubereitung 1. Das Fett von der Rinderbrust entfernen und ca. 1 Stunde in kaltes Wasser stellen, um Blutreste völlig zu beseitigen. 2. Die Rinderbrust mit Küchengarn umwickeln (Man kann das Fleisch auch einfach so kochen, aber umwickelt wird es formschöner.). 3. Lauch und Zwiebel in große Stücke schneiden, den Ingwer in Scheiben schneiden, die Knoblauchzehen ganz lassen. 4. Wasser in einen Topf geben und zum Kochen bringen; die Zutaten von Nr. 3 und das Fleisch in den Topf geben und etwa 30 Minuten kochen. 5. Den Schaum entfernen, etwas Salz hinzugeben und noch 40-50 Minuten weiterköcheln lassen. 6. Das gare Fleisch aus der Brühe nehmen, in ein Leinen- oder Baumwolltuch einschlagen und mit etwas Schwerem in Form pressen; danach in dünne Scheiben schneiden. 7. Die Ginsengwurzel mit einer Bürste unter fließendem Wasser reinigen und in 3cm lange Streifen schneiden; die Kastanien schälen 8. Die Jujuben waschen, trocknen, entkernen und in dünne Streifen schneiden. 9. Ginseng-Honig-Mix: Ginseng, Kastanien, Jujuben und Pinienkerne mischen und dann gut mit dem Honig vermischen. 10. Senfsoße: Senf, Zucker, Essig. Pinienkernpulver und Sojasoße gut miteinander mischen. 11. Pyeonyuk und Ginseng-Honig-Mix appetitlich auf einem Teller anrichten und mit der Senfsoße servieren. 12. Man isst die Pyeonyuk-Scheiben zusammen mit etwas GinsengHonig-Mix und der Senfsoße.

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BLICK AUS DER FERNE

Von Grenze zu Grenze Winfried Löffler Richter am Oberlandesgericht Bamberg

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ein Heimatort, in dem ich 1955 geboren wurde, liegt im nördlichsten Zipfel Bayerns (Buchbach, Landkreis Kronach, Oberfranken). Die damalige Zonengrenze zur Ostzone (DDR) war nur etwa drei Kilometer von unserem Dorf entfernt und zwar genau in „westlicher“ Richtung, was mir als Kind das Verstehen der Himmelsrichtungen nicht gerade erleichterte. Diese Grenze lebte: Fast täglich fuhren „Ami-Jeeps“ durch den Ort. Das Geknatter der Hubschrauber gehörte zum Alltag. Immer wieder hörte man von gescheiterten aber auch gelungenen Fluchtversuchen. Wir hatten Verwandte auf der anderen Seite der Grenze. Meine Mutter berichtete von illegalen und höchst gefährlichen Grenzübertritten zu einer Zeit, als der „eiserne Vorhang“ noch etwas durchlässiger war. Ab 1966 verbrachte ich meine Schulzeit in einer Klosterschule mit Internat im Benediktinerkloster Münsterschwarzach in der Nähe von Würzburg. Dabei handelt es sich um Missionsbenediktiner mit Missionen in verschiedenen Ländern, u.a. auch in Korea. Tief beeindruckt haben mich als elfjährigen Jungen Berichte von Korea-Missionaren. Die Missionsgebiete lagen bis 1949 in Nordkorea und in der Mandschurei, für uns Kinder unerreichbare und geheimnisumwitterte Regionen. Zentrum der Mission war die im Jahr 1927 gegründete Abtei Tokwon, gelegen in Nordkorea an der Ostküste in der Nähe von Wonsan. Die Missionare schilderten die Umstände der gewaltsamen Auflösung der Abtei im Jahre 1949, ihre jahrelange grausame Gefangenschaft in nordkoreanischen Lagern, die einige Mitbrüder nicht überlebten, und die abenteuerliche Rückkehr nach Deutschland (vgl. „Die Märtyrer von Tokwon“ www.missionsprokura.de/cms/kategorie/ index.php). Diese Erzählungen brachte ich in Zusammenhang

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mit meinem Heimatort. Dort hatten wir ein ebenfalls kommunistisches Regime ja unmittelbar vor der Haustür. Die Situation war vergleichbar: Deutschland war ebenso wie Korea geteilt, die Bedrohung durch den Kommunismus allgegenwärtig. Seit dieser Zeit hatte ich verstärkt Interesse an den Geschehnissen auf der koreanischen Halbinsel. Ende der siebziger Jahre suchte ein koreanischer Benediktinerpater in unserem Wohnheim in Würzburg einen Studenten, der sich bereit erklärte, einem koreanischen Studenten Nachhilfeunterricht in der deutschen Sprache zu erteilen. Spontan sagte ich zu. Der junge Mann aus Südkorea studierte in Würzburg Slawistik. Zwischen uns entwickelte sich eine Freundschaft. Oft nahm ich ihn mit in mein Heimatdorf zu meinen Eltern. Diese und auch viele andere Bewohner hatten ihn bald in ihr Herz geschlossen. Noch gut erinnern kann ich mich daran, wie wir beide das erste Mal an der innerdeutschen Grenze standen. Er fragte mich, wie breit die Grenze denn sei. Die Frage verstand ich nicht. Unsere Grenze war überhaupt nicht breit. Unmittelbar hinter dem Grenzpfosten standen schon die „Vopos“ (Volkspolizisten) der DDR. Erst später wurde mir klar, dass mein südkoreanischer Freund bei seiner Frage die Entmilitarisierte Zone an der Grenze zu Nordkorea im Sinn hatte. Später lernte er eine deutsche Studentin kennen und kehrte mit dieser nach Beendigung seines Studiums nach Korea zurück, wo sie kurz darauf heirateten. 1987 besuchte ich mit meiner Frau das erste Mal die beiden in Südkorea. 1989 begann in Deutschland der Weg zur Wiedervereinigung. Wir erlebten ergreifende Szenen an der innerdeutschen Grenze. Immer wieder verglich ich die Situation mit der in Korea. Sollte etwa auch dort der „eiserne Vorhang“ fallen?


Mein zweiter Besuch in Korea zusammen mit meiner Frau und unseren beiden Töchtern folgte im Jahr 2008. Südkorea hatte sich seit 1987 auf vielen Gebieten stark verändert, die Grenze zu Nordkorea jedoch war unverändert. Die spannungsgeladene Situation wurde mir bewusst bei einem Besuch der militärischen Siedlung Panmunjeom in der Entmilitarisierten Zone. Immer wieder mache ich mir Gedanken darüber, warum es in Korea bis heute nicht zu einer ähnlichen Entwicklung wie in Deutschland gekommen ist. Gerade im Vergleich wird mir klar: Es grenzt fast an ein Wunder, dass und wie friedlich es zu der Wiedervereinigung in Deutschland gekommen ist. Viele Unterschiede gibt es zwischen der Situation 1989 in Europa und den Verhältnissen auf der koreanischen Halbinsel. Es soll hier nur ein Aspekt hervorgehoben werden, nämlich die Macht der Religion. Nach meiner Überzeugung hat zum Zerfall des Sowjet-Kommunismus wesentlich auch die katholische Religion beigetragen, und zwar nicht in Deutschland, sondern in Polen. Ohne die polnische Gewerkschaft Solidarno , die vom tief im katholischen Glauben verwurzelten Volk und der dortigen Kirche getragen wurde, und vor allem ohne die Rückendeckung durch den polnischen Papst Johannes Paul II. wäre die Auflösung des sowjetischen Imperiums ganz anders verlaufen, sicher nicht friedlicher. Dieser anfangs unscheinbare Stachel im Fleisch des sozialistischen Ostens trug wesentlich zu dessen Implosion bei. Selbst in der DDR, die alles andere als ein religiöses Land darstellte, waren die hier meist evangelischen Kirchengebäude ein wichtiger Katalysator für die „friedliche Revolution“. Wo sonst hätten sich die friedlichen Revolutionäre in größerer Zahl treffen können, wenn nicht in den Kirchen? Erinnert sei an dieser

Stelle nur an die Nikolaikirche in Leipzig. Ähnliche machtvolle Bewegungen mit religiösem Hintergrund gibt es in Nordkorea wohl nicht. Die dortige Bevölkerung wird zudem systematisch von freien Informationen fern gehalten. Die Überwachung der Bürger dürfte nahezu lückenlos sein, so dass eine friedliche „Revolution von unten“ kaum vorstellbar ist. Die derzeitigen Spannungen an der Grenze in Korea lassen eine Wiedervereinigung in weiter Ferne erscheinen. Sollte die innerkoreanische Grenze eines Tages dennoch - hoffentlich friedlich - fallen, wird Korea wohl vor größeren Problemen stehen als wir damals in Deutschland. Die Bevölkerung in Nord- und Südkorea ist in viel größerem Umfang voneinander entfremdet, als dies in Deutschland der Fall war. Anders als in Nordkorea konnten in weiten Teilen der DDR westdeutsches Fernsehen und Radio empfangen werden. Es gab zudem zahlreiche persönliche Kontakte. Auch wenn wegen der unterschiedlichen Verhältnisse bei einer Annäherung oder gar Wiedervereinigung der beiden koreanischen Staaten eine Umsetzung eins zu eins nicht möglich sein wird, so wird Korea dennoch von den deutschen Erfahrungen lernen können, auch von den Fehlern, die bei der Wiedervereinigung unseres Landes gemacht wurden. Für mich steht jedenfalls fest: Sollte ich die Wiedervereinigung Koreas erleben, werde ich ein drittes Mal in dieses schöne Land mit seinen sympathischen Menschen reisen, die dortige Grenze überschreiten, wie ich es 1989 in meiner Heimat getan habe, den Ort Tokwon in Nordkorea aufsuchen, um die Reste der Abtei zu sehen und mich an die Schilderungen der Missionare erinnern, die den Grundstein für meine Liebe zu dem Land der Morgenstille gelegt haben.

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LEBEN

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Jugendträume werden wahr: Amateur-Bands der Mittelaltrigen

Es gibt immer mehr Berufstätige in Korea, die durch Mitwirken in Amateur-Musikbands vom Alltagsstress abschalten und neue Lebensenergie gewinnen. Der Boom der Amateur-Bands entwickelte sich aus der Sehnsucht nach der Studentenkultur der 1980er Jahre, als die amerikanische Popmusik in Korea Einzug hielt, und hat nach der Jahrtausendwende weiter an Fahrt gewonnen. Dank Internet und einer florierenden Performance-Kultur greift dieser Trend immer weiter um sich. Park Eun-kyung Freie Schiriftstellerin | Fotos: Ahn Hong-beom

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itte Dezember 2010. In einem Musikclub in der Nähe der Hongik Universität, dem Mekka der koreanischen Club-Kultur und der Indie Bands, herrschte tolle Stimmung, gesteigert von Amateur-Bands aus Berufstätigen. Der Raum mit etwa 50 Sitzplätzen war voller gut gelaunter Menschen in so angeheizter Jahresend-Partystimmung, dass die Winterkälte vertrieben wurde.

Gemeinsames Jahresendkonzert

1 Das reguläre Jahresendkonzert 2010, das von der Online-Community der Amateur-Musikbands organisiert wird

2 Eine Amateur-Band gibt in einem Café mit Live-Musik eine Vorstellung.

Am Jahresende gab es das reguläre Jahresendkonzert der Online-Community 7080 Amateur-Musikbands, zu der elf Amateur-Bands gehören. „Wir veranstalten jährlich eine Jahresendfeier, um nicht nur die Kommunikation zwischen den Band-Mitgliedern, sondern auch den Austausch unter allen Community-Mitgliedern zu fördern und mittels Musik schöne, gemeinsame Erinnerungen zu sammeln“, erklärt Cho Young-min (47, Vorstandsmitglied eines Unternehmens), Leiter des sieben Jahre alten Internet-Clubs und Mitglied der Jeongdeun-Band. An dem Tag traten sechs Bands, darunter Giant, Sunday Seoul, Triple A und Dream, auf der Bühne auf. Triple A besteht aus relativ jungen Mitgliedern Anfang 30, die durch ihre brillante Performance bei dieser als Wettbewerb konzipierten Aufführung den ersten Preis gewannen. Sunday Seoul ist auf Blues und Jazz spezialisiert, Genres, die für Amateure nicht gerade leicht sind. Die Band wurde für ihren Einsatz und ihre solide Darbietung mit dem zweiten Platz gewürdigt. Auf Platz 3 rangierte die Band Dream, deren Mitglieder alle über 55 sind, die aber auf der Bühne eine Leidenschaft an den Tag legten, die der jüngerer Musiker in Nichts nachstand. Yoon Jung-won (37, Angestellter), Leader und Drummer der im Herbst 2009 gegründeten Band Sunday Seoul, erzählt: „In meiner Oberschulzeit habe ich in der Schulband Schlagzeug gespielt. Das Schlagzeug erschien mir dynamischer als andere Instrumente und auch einfacher zu spielen. Aber es war doch nicht so einfach zu lernen. Mehrere Jahre nach dem Einstieg ins Berufsleben habe ich Frühjahr 2011 | Koreana 83


„Unsere Band ist recht bekannt geworden, so dass wir zum Jahresende auch eingeladen werden, auf einigen Veranstaltungen einschließlich der Jahresendfeier des Zahnärzteverbands zu spielen. Auf der Bühne Musik zu machen ist trotz unseres vollen PraxisTerminkalenders unsere größte Freude und bringt neue Vitalität ins Leben. Es macht uns viel Spaß, weil die Band-Mitglieder gut aufeinander abgestimmt sind und wir besser als am Anfang mit dem Publikum kommunizieren können“, – so der Keyboardspieler der Zahnärzte-Band Xylitol

mir großen Spaß, den Amateur-Musikern dabei zu helfen, ihr Potential zu entwickeln.“

1 1 Von einer Wirtschaftszeitung organisierter Wettbewerb für Amateur-Bands 2 Die Zahl der Amateur-Bands in Korea wird mittlerweile auf 2.000 bis 3.000 geschätzt. Die Bands treten auf immer mehr Bühnen auf.

wieder mit der Band-Musik angefangen, um den Arbeitsstress zu lösen und dem Alltag zu entfliehen.“ Unter den Band-Mitgliedern mit ihren verschiedenen beruflichen Hintergründen wie Professor, Doktorand, Sozialarbeiter, Angestellter und Geschäftsführer gab es am Anfang einige Konflikte, die aber mit der Zeit, als sich Gemeinsamkeiten fanden, überwunden wurden. Resultat war eine freundschaftliche Verbundenheit besonderer Art: „Es ist eine ganz andere Beziehung als zu Arbeitskollegen. Da wir durch die Musik verbunden sind, ist die Freundschaft unter den BandMitgliedern besonders eng und harmonisch.“ Bassgitarrist Choi Hyo-keel (47, Musiksoftware-Hersteller), der zusammen mit dem Community-Leiter Cho Young-min in der Jeongdeun-Band spielt, war früher Mitglied einer bekannten Profi-Band. Auf Rat seiner Frau fing er mit der Musik, die er mit seinem neuen Beruf aufgegeben hatte, wieder an. „Es tat ihr wohl Leid, dass ich von der Arbeit gestresst und ausgelaugt lebte. Da schlug sie mir vor, durch Musik neue Lebensenergie zu finden. Am Anfang, als ich zu dieser Band kam, fühlte ich mich sehr fremd. Aber mit der Zeit machte es mir mehr Spaß als früher zu meinen Profi-Zeiten, als ich alleine spielte. Da jetzt mehrere zusammen einen Part spielen, muss jeder seinen Teil fleißig üben, was zu mehr Verantwortungsgefühl führt. Das finde ich sehr schön.“ Mit glücklichem Gesichtsausdruck sagt Choi, der auch als Betreuer für andere Amateur-Bands aktiv ist: „Es macht 84 Koreana | Frühjahr 2011

Die „Studenten-Musikfestival“-Generation Die Popularität der Amateur-Bands aus Berufstätigen, die seit der Jahrtausendwende immer weiter gestiegen ist, geht auf die Zeit um 1980 zurück. Zu der Zeit kamen Popmusik-Wettbewerbe für Studenten auf wie das Gangbyeon-gayoje (Flussufer-Popfestival) und das Daehak-gayoje (Studenten-Popfestival), die von der Rundfunk- und Fernsehanstalt MBC organisiert wurden. Sie führten eine neue Popfestival-Kultur in Korea ein und erhielten enormen Zulauf. Mit diesem Phänomen formierten sich ab Ende der 1970er Jahre zahlreiche Studenten-Bands, die sich die Teilnahme an den Festivals zum Ziel setzten. Jeder Koreaner, der in den 1970er und 1980er Jahren die Universität besuchte, sehnt sich mit nostalgischen Erinnerungen an diese Zeit zurück. Menschen im mittleren Alter, die die reine, leidenschaftliche Liebe zur Musik, die sie in ihren jungen Jahren empfanden, tief in ihren Herzen vergruben, um in die Gesellschaft einzutreten und fleißig ihre Rollen als Berufstätige und Ernährer, Frau oder Mutter zu spielen, verwirklichen heutzutage ihre Jugendträume durch Amateur-Bands und führen eine neue Band-Kultur in Korea an. Na Eotteokhae (Was soll ich tun) von Sand & Pebbles, Badae Nuwo (Auf dem Meer liegend) von Nopeuneumjari und Kkumui Daehwa (Gespräche im Traum) von Gim Beom-yong und Han Myeong-hun : Diese Lieder, die im Karaoke von Männern mittleren Alters am meisten gesungen und von Amateur-Bands gerne gespielt werden, sind allesamt preisgekrönte Songs des Studenten-Popfestivals Daehak-gayoje . Schon die Tatsache, dass die Kernmitglieder der vielen Amateur-Bands landesweit in Korea meistens in den 40ern sind, lässt erkennen, dass sie zu der Generation gehören, die von den Studenten-Popfestivals und der Band-Kultur, der neuen Musikkultur der 1970er und 80er Jahre, stark beeinflusst wurden. Unter den Band-Mitgliedern gibt es zwar einige, die früher bereits in Studenten-Bands Musik machten, aber es sind auch welche darunter, die in jungen Jahren nur als Hobby ein Instrument gespielt oder gar noch später, nach Eintritt ins Berufsleben, aus reinem Interesse an der Band-Musik in einem der privaten Musikinstitute ein Instrument erlernt haben.

Xylitol und Gapgeunse Die Mitglieder der elf Jahre alten Band Xylitol sind alle Ende 30


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oder in den 40ern und - abgesehen von dem neuen Mitglied Kim Yeong-jun, der von Beruf Geschäftsführer ist - alle Zahnärzte. Der Keyboardspieler Lee Seung-taek (47) und der Gitarrist Bak Gyutae (41) spielten früher in Molars (Backenzähne) , der Band der Zahnmedizin-Fakultät der Kyung Hee Universität. Bassgitarrist Ki Se-ho (47) spielte während seines Studiums in Sarangni (Weisheitszähne) , der Band der Zahnmedizin-Fakultät der Dankook Universität. Sänger dieser Band ist der Zahnarzt Sin Yong-jun (46). Xylitol gab im November 2010 zusammen mit vier anderen Zahnärzte-Bands in Seoul ein Konzert. „Unsere Band ist recht bekannt geworden, so dass wir zum Jahresende auch eingeladen werden, auf einigen Veranstaltungen einschließlich der Jahresendfeier des Zahnärzteverbands zu spielen. Auf der Bühne Musik zu machen ist trotz unseres vollen Praxis-Terminkalenders unsere größte Freude und bringt neue Vitalität ins Leben. Es macht uns viel Spaß, weil die Band-Mitglieder gut aufeinander abgestimmt sind und wir besser als am Anfang mit dem Publikum kommunizieren können“, – so der Keyboardspieler der Zahnärzte-Band Xylitol. Die lohnenswerteste Bühne für Xylitol ist aber das Obdachlosenheim. Im Jahr 2010 trat die Band hier zum neunten Mal auf. Dr. Ki Se-ho, der die Obdachlosen schon lang kostenlos ärztlich betreut, kam dabei einmal auf die Idee, für sie Musik zu spielen. „Wir

gründeten die Band, um für die Obdachlosen ein kleines Konzert zu veranstalten. Letztes Mal haben wir vor etwa 250 Obdachlosen gespielt, was uns wirklich großen Spaß gemacht hat und uns persönlich auch viel gegeben hat.“ Musikalischer Berater der Band Xylitol ist Choi Hun, der Gitarrist der Profi-Band Waikiki Brothers, der mit Ki Se-ho seit zehn Jahren befreundet ist und seit 35 Jahren als Profi-Musiker Gitarre spielt. Bis vor kurzem stand er der Band in musikalischen Fragen zur Seite. Wenn er Zeit hatte, besuchte er die Band in ihrem Übungsraum und gab Tipps für einzelne Stellen, besonders schwierige Partien oder für die gesamte Klangharmonie. Jetzt arbeitet er zwar nicht mehr als Band-Betreuer, hilft aber noch Amateur-Bands, indem er zu anspruchsvolle Stücke dem Niveau der Band-Mitglieder angemessen umschreibt. Gelegentlich spielt er auch noch auf der Bühne mit. Choi Hun kommentiert zu den Amateur-Bands: „Die AmateurBands können es zwar in technischer Hinsicht nicht mit den ProfiBands aufnehmen, aber man spürt, dass sie leidenschaftlich und begeistert bei der Sache sind. Mir als Profi geben sie auch neue Anstöße. Anders als bei professionellen Bands bestehen Amateur-Bands aus Mitgliedern, die beruflich in verschiedenen Bereichen arbeiten. Mache ich mit ihnen zusammen Musik und passe mich in die Gruppe ein, habe ich das Gefühl, im wirklichen Frühjahr 2011 | Koreana 85


Leben zu stehen und fühle mich wohl. Vor allem macht es mich als Betreuer glücklich, dass ich als professioneller Gitarrist Amateur-Musikern, die aus reiner Liebe zur Musik und zum Spielen in nicht mehr jungen Jahren mit der Band-Musik angefangen haben, helfen kann.“ Die allererste koreanische Amateur-Band ist die 1998 gegründete Gapgeunse-Band, die zu Anfang für einige Furore sorgte: Besondere Anziehungskraft dieser „mittelalten“ Amateur-Band bot dabei der geniale Name „Gapgeunse“, der soviel meint wie „Einkommenssteuerklasse A“ und damit für die Angestellten steht. Als die Band durch die Medien immer bekannter wurde, sammel-

Für die Amateur-Musiker bieten die Übungsräume die Möglichkeit, dem Trott des Alltags zu entfliehen.

ten sich berufstätige Band-Interessierte im Internet und gründeten eigene Gruppen. Dieser Trend setzte sich in der Gründung von Firmen-Amateurbands fort. Im ersten Jahrzehnt des neuen Millenniums kam es zu einem landesweiten Band-Boom unter den Berufstätigen. Zusammen damit enstanden im Internet in kurzer Zeit unzählige Club- und Community-Seiten für Amateur-Bands. Besonders beliebte Online-Communities oder Clubs haben Tausende, manchmal sogar Zehntausende von Mitgliedern.

Mehr Aufführungen von Amateur-Bands Die Zahl der Amateur-Bands aus Berufstätigen wird heute in Korea auf 2.000-3.000 geschätzt. Der Band-Boom ließ auch Agenturen, die auf die Organisation von Musikfestivals oder Wettbewerben für Amateur-Bands spezialisiert sind, wie Pilze aus dem Boden schießen. Die Zahl der Musikstudios, die Übungsräume zum Mieten anbieten, stieg ebenfalls enorm an. Die preisgünstigen Studios mit Raummieten von etwa 20.000 Won pro Stunde (rd. 13 Euro) sind zur Feierabendzeit, also zwischen 19.00 und 23.00 Uhr, fast alle ausgebucht. Am Anfang wurden die Amateur-Bands meist von Arbeitskollegen oder engen Freunden gegründet. Doch mit der Zunahme von Online-Communities und Internetseiten werden die Band-Mitglieder heute meistens über solche Netzwerke gesucht. Die landes86 Koreana | Frühjahr 2011

weite Verbreitung der Bands hat auch zu einer erhöhten Nachfrage geführt. Das ganze Jahr hindurch gibt es Festivals, die von den regionalen Selbstverwaltungen zur Förderung der lokalen Attraktionen und Spezialitäten organisiert werden, wofür natürlich auch Musik gebraucht wird. Auch immer mehr Unternehmen engagieren für ihre PR-Veranstaltungen Amateur-Bands. Dass die Bands immer stärker gefragt werden, liegt zunächst einmal daran, dass man leicht eine finden kann, da die AngestelltenBands landesweit verbreitet sind. Außerdem spielen die Bands allgemein beliebte Lieder, die den Ansprüchen des breiten Publikumsgeschmacks entsprechen. Ihr Repertoire umfasst Stücke, die bei Jung und Alt, Mann und Frau, Familien und Singles gleichermaßen ankommen. Jährlich finden landesweit etwa zehn Wettbewerbe, bei denen Amateur-Bands gegeneinander antreten, statt. Dazu gehört auch das Company Bands Festival, das 2010 zum ersten Mal stattfand und durch Namjaui Jagyeok (Qualifikationen für Männer) , eine populäre Sendung des Rundfunk- und Fernsehsenders KBS, bekannt wurde. Die Stars dieser Sendung gründeten eine gleichnamige Amateur-Band und gewannen bei dem Wettbewerb den dritten Preis. Nach Kim Neung-su, Vertreter der Konzertagentur Ice Entertainment, die das Festival organisierte, ist das Company Bands Festival der erste Wettbewerb für Amateur-Bands, bei dem nur selbst komponierte Stücke vorgetragen werden dürfen: „Alle Teilnehmer müssen Eigenkompositionen spielen. Wir möchten nämlich, dass die Amateur-Bands nicht länger nur vorhandene Stücke nachspielen, sondern ihr eigenes musikalisches Potential mit der für sie charakteristischen Note entwickeln. Beim ersten Festival nahmen nur 50 Bands in der Vorrunde teil, was im Vergleich zu Festivals ohne Beschränkungen für die Musik sehr wenig ist. Aber meiner Ansicht nach ist bereits allein die Tatsache, dass ein solches Festival überhaupt stattfinden konnte, von großer Bedeutung, da es ein Zeichen für die Weiterentwicklung der Amateur-Band-Kultur ist.“ Kim Neung-su ist zurzeit mit der Vorbereitung des ASIA Company Band Festivals stark beschäftigt. Ein Festival, an dem AmateurBands aus ganz Asien teilnehmen, ist möglich, weil die entsprechende Kultur auch in Japan und anderen asiatischen Ländern verbreitet ist. Laut Kim soll es in Japan etwa 4.000 AmateurBands geben, für die jedes Jahr Festivals und Konzerte veranstaltet werden. In China fängt der Band-Boom gerade an. „Wir sind beim Verhandeln mit den Vertretern aus Japan und China. Ich nehme an, dass wir im kommenden Mai das erste ASIA Company Bands Festival veranstalten können“, erklärt Kim. Der unterschiedliche Charakter der Amateur-Bands, ihre regen Auftritte und steigende Beliebtheit zeigen vielleicht auch, dass das kulturelle Niveau der koreanischen Gesellschaft an Reife gewonnen hat. Viele Berufstätige, die am Arbeitsplatz und durch die Verantwortung für ihre Familien unter starker Belastung gelebt und unter dem Gefühl gelitten haben, etwas Wichtiges im Leben verloren zu haben, finden durch ihre Band-Aktivitäten neue Freiräume und gewinnen ihr Selbstbewusstsein zurück.


Reisen in die koreanische Literatur

Die junge, nicht einmal dreißigjährige Schriftstellerin Chung Hanah (geb. 1982), die durch ihren Roman

Darui bada (Die See des Mondes) zu breiter Bekanntheit gelangt ist, gilt als eine Hoffnungsträgerin der koreanischen Erzählliteratur und ist eine der wenigen Autoren, die von der Kraft der Bejahung sprechen. Ihre Erzählung Der Geschmack von

Mate zeigt ein neues Potential der koreanischen Familienerzählung auf.

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REZENSION

Alchemie von Verzweiflung oder Hoffnung: hervorgebracht durch eine Familie Shin Soo-jeong Professorin für kreatives Schreiben, Myongji University

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Chung Han-ah, die im Jahr 2000 mit der Auszeichnung Daesan Literary Awards for College Students auf der literarischen Bühne erschien und mit der Auszeichnung Munhakdongne Writer‘s Award den Weg des professionellen Schriftstellers einschlug, wurde 1982 geboren. Mit noch nicht einmal dreißig Jahren ist sie nicht nur in biologischer Hinsicht jung, sondern gehört auch zu den jüngsten Erzählschriftstellern in Korea. Schrifsteller wie Yun Go-eun, Han Yu-ju, Yeom Seung-suk und Kim Sa-Gwa sind ihre Altersgenossen. Diese Schriftsteller, die gerade ihren ersten Erzählband herausgebracht oder erst einen oder zwei Romane geschrieben haben, sind wohl mit Marathonläufern vergleichbar, die noch an der Startlinie stehen. Es wäre jedoch fehl am Platz, sie deshalb nicht ernst zu nehmen. Trotz ihrer jungen Jahre ziehen sie mit gefestigter Kompositionskraft, originärem Stil und leuchtenden Einsichten in das Leben als Hoffnungsträger der koreanischen Erzählliteratur die Aufmerksamkeit auf sich. Unter ihnen nimmt Chung Han-ah einen Spitzenplatz ein. Ihr Name erlangte durch den Roman Darui bada (Die See des Mondes) (2007) breite Bekanntheit. Dieser Roman erzählt im Grunde von Verzweiflung. Der Alltag der Familienmitglieder wird feinfühlig dargeboten: Die Erzählerin „Ich“, die Journalistin werden möchte, aber bei ihren diversen diesbezüglichen Bewerbungen immer nur Pech hat und entsprechend herumhängt; Großvater, Großmutter, Vater und Mutter, die das Restaurant „Zwei-Generationen-Galbi“, ein Restaurant für traditionelle gegrillte Rinderrippen, betreiben und Min, die beste Freundin von „Ich“, die ein Transgender werden möchte. Die Erzählerin „Ich“ hat eine Tante väterlicherseits, die Briefe schickt, in denen steht, dass sie bei der NASA als Astronautin arbeite. Die Erzählerin, die in die USA fliegt, um diese Tante zu besuchen, erfährt jedoch, dass sie keine Astronautin, sondern bloß eine Reisröllchen-Verkäuferin bei der NASA ist. Von da an beginnt der Roman interessant zu werden. Er verurteilt die Lüge der Tante nicht als ungeschickten Betrug. Ganz im Gegenteil wird betont, dass es solche Fantasien sind, die die Armseligkeit des Lebens erträglich machen. Der Mond bleibt bei aller Anstrengung, etwas anderes sehen zu wollen, nichts als eine graue Gesteinsmasse, aber in dem Augenblick, in dem man sich die wie ein Diamant glitzernde Mond-See vorstellt, beginnt die wahre Geschichte, das wahre Leben. Chung Han-ah ist eine der wenigen Autoren, die von der Kraft erzählt, die von einer solchen Bejahung ausgeht. Ihr im April 2009 veröffentlichter Erzählband Nareul wihae utda (Ein Lachen für mich) enthält acht kurze Erzählungen einschließlich der Titelerzählung. Auch wenn die Handlungen jeweils unterschiedlich sind, schimmert in diesen Erzählungen eine grundlegende Lebensbejahung durch, wodurch sie starke Gemeinsamkeiten mit Die See des Mondes aufweisen. Die Figuren in den acht Erzählungen leiden ausnahmslos unter ihren jeweils eigenen Wunden und Schmerzen: Die Patientin mit Riesenwuchs, die von der Welt nur abgelehnt wird (Ein Lachen für mich), die junge Prostituierte im Vergnügungsviertel, das bald im Rahmen der Stadtsanierung abgerissen wird (Afrika), eine Frau in den Zwanzigern, die in einem Kibbuz in Israel schwere körperliche Arbeit verrichtet, um die Wunden einer verratenen Liebe zu heilen (Cellofarm), ein sechsjähriger Junge, dem der Schock über den Verlust der Mutter die Sprache geraubt hat (Der Stuhl), eine Oberschülerin, die gemobbt wird (Dance, Dance) u.a. Der Ton der Autorin, die von diesen Figuren erzählt, ist jedoch nicht im Geringsten pessimistisch oder depressiv. Ganz im Gegenteil: Je schlimmer das Leben wird, desto tiefer wird das Verlangen nach Hoffnung und desto stärker wird die Resistenz gegen den Schmerz. „An die schlimmen Dinge habe ich keine Erinnerung.“ Und man erhält die Kraft, Abgründe zu ertragen, gestützt durch „ein gewisses Gefühl der Weiche und Wärme, ein heimeliges,


erfrischendes Gefühl“ (Ein Lachen für mich). Dasselbe gilt für Der Geschmack von Mate. An dem Tag, an dem er zum vierzehnten Mal seine Stelle gekündigt hat, kommt der Vater, die Haare kurz geschoren, nach Hause und beschließt, nach Argentinien auszuwandern. Lateinamerika, das sich im wirtschaftlichen Aufschwung befindet, wird sofort die neue Lebensbasis der Familie. Aber das ist nur von kurzer Dauer: Im Zuge der anschließenden Rezession wird die öffentliche Ruhe und Ordnung in Argentinien gefährdet und die Familie verliert dadurch den kleinen Sohn. Wie soll die Familie nun leben? Betrachtet man nur die Handlung, dann behandelt diese Erzählung ein Thema, das Chung am besten bearbeiten und variieren kann. Das Gefälle zwischen Ideal und Wirklichkeit, der Abstand zwischen Fantasie und Realität sind Motive, mit denen sich die Autorin immer gern befasst hat. Sie verzichtet auf keinen Teil dieser Gegensätze. Das Ideal hat nur Bedeutung, wenn es mit der Wirklichkeit Hand in Hand geht, und die Fantasie verstärkt das Verlangen nach der Realität wegen des Abstands zu derselben. In Der Geschmack von Mate beginnt die Familie wieder mit ihrem Leben in Seoul, vor dem sie, beraubt aller Träume und Hoffnungen, hatte weglaufen wollen. Solch ein Leben kann wohl kaum eine Freude sein. Es ist ein Leben, in dem der Vater mit einem Gebrauchtwagen als Taxifahrer arbeitet, die Mutter als Kassiererin in einem Supermarkt Frühschicht macht, und die Tochter als Lehrerin in einem privaten Lerninstitut und am Counter eines Sportcenters jobbt, um die Studiengebühren zu verdienen. Aus Angst tritt die Tochter auch im Traum in die Fahrradpedale. Wenn sie aufwacht, hat sie bis hoch in die Oberschenkel steife Muskeln. Dieses Leben ist jedoch nicht nur Grau in Grau. Es sind die vom Vater zubereiteten argentinischen Gerichte, die die Familie aus der Verzweiflung herausholen und ihr Herz in der Erwartung auf neues Glück brennen lassen. Die Speisen, die der Vater mit eigenhändig besorgten erlesenen Zutaten kocht, sind Vorboten der Hoffnung, die aus den Erinnerungen an die schönen Tage besteht. Mutter und Tochter legen ihre innere Unruhe erst ab, wenn sie diese Gerichte essen. Die Reise von der besorgten Unruhe in die Hoffnung wird in der Erzählung durch den argentinischen Tee Mate synästhetisch gestaltet. Dank dieser Synästhesie können wir am Ende der Erzählung mitempfinden, was die Tochter auf der Fahrt im Taxi ihres Vaters angesichts der leuchtenden Reklameschilder in den Straßen Seouls sagt: „Da die Lichter nie ausgehen, kann man auch die Hoffnung nicht aufgeben.“ Diese Botschaft der „Erwartung“, die die junge Autorin schildert, ist so eindringlich wie mitleiderregend. Denn man weiß, dass das Verlangen nach Hoffnung auf der Wunde der herben Verzweiflung ruht. Chung Han-ahs Erzählungen gewinnen gerade hier an Bedeutung. Sie vergisst nicht, dass die Alchemie der Verzweiflung dank der Familie und der Freunde möglich ist. Die jungen Autoren sind normalerweise gewohnt, Menschen als singuläre Individuen zu schildern. Doch die Wärme der familiären Gemeinschaft, die Chung aufleben lässt, tröstet uns wie weiches Brot oder das dezente Aroma von Mate. Das kann als etwas bezeichnet werden, was uns vertraut und gleichzeitig fremd ist. Die Familie, von der wir geträumt haben, eine Gemeinschaft, die uns stärkt, ohne uns zu unterdrücken, ist durch Chung endlich in die koreanische Erzählung eingedrungen. Die Familie ist vielleicht eine Fantasie wie „die See des Mondes“, sie ist aber auch der Speicherraum der unvergesslichen Erinnerungen wie „der Geschmack von Mate“. Chung Han-ah hat neue Möglichkeiten für die Familienerzählung in Korea aufgezeigt. Frühjahr 2011 | Koreana 89


Der Geschmack von Mate

und schläft jetzt“, sagte ihr Vater, während er den Beifahrersitz freiräumte, damit sie sich setzen konnte. „Sie sagt, sie muss erst mal weiter Frühschicht machen. Sie hat drei Wecker gestellt.“ Ihre Mutter las seit zehn Jahren in einem Supermarkt die Barcode-Etiketten ein. Durch alle Jahreszeiten hindurch, bei Regen mit dem Regenschirm, bei vereisten Straßen unsicher auf den Fußspitzen trippelnd, ging sie zum Supermarkt. Sie wusste, dass die Arbeit ihre Mutter aufrecht erhielt. Ihre Mutter war ein Mensch, der auf diese Art und Weise an das Leben glaubte. Im Auto duftete es leicht nach Mate. Ihr Vater zog unter dem Sitz die Thermosflasche heraus. Sie goss im wackelnden Auto vorsichtig den Tee aus und trank. Der vollmundige und bittere Geschmack glitt ihren Hals hinunter. Nachdem sie lange vor Kälte gezittert hatte, rief das warme Getränk ein Brennen in ihrem Unterbauch hervor. Der Matetee, den ihr Vater nach dem Essen kochte, war in Bezug auf Aroma und Geschmack unvergleichlich gut. Als das Zittern aufhörte, spürte sie, wie sich die Müdigkeit in ihr ausbreitete. Es war ziemlich lange her, dass sie im Taxi ihres Vaters gefahren war. Sie erinnerte sich daran, am Tag der Universitäts-Aufnahmeprüfung mit diesem Taxi zum Prüfungsort gefahren zu sein. Sie dachte, dass sie sich keinen einzigen Schritt von der alten Stelle hatte wegbewegen können. Alles war so wie früher. Sie nahm noch einen wohligen Schluck. Das für Mate aus Argentinien typische, dezente Aroma verbreitete sich im ganzen Wagen. Ihr Vater pflegte den Tee mit selbst getrockneten Mateblättern zu brühen. An guten Mateblättern kann man den Duft von Wind, Sonne und Erde spüren. Die Sinne öffnen sich so weit, dass sie auch Zeiten und Orte erreichen, die den Gefühlen bis dahin noch nicht zugänglich gewesen waren. Sie und ihr Vater fuhren durch die nächtlichen Straßen, den alten, knatternden Motor fühlend, ohne auch nur das Radio anzuschalten. Am nachtschwarzen, sternenlosen Himmel schwebten Wolken dahin. „In Wirklichkeit koche ich deswegen. Um den Geschmack von Mate zu kosten“, sagte ihr Vater leise, während er zusah, wie sie den Tee schlürfte. „Deswegen?“ „Ja.“ Er lächelte. „Ein guter Tee löscht den Geschmack des Essens nicht aus, sondern verschmilzt mit ihm. Du wirst das wohl noch nicht verstehen können.“ Sie betrachtete seine Hände, die das Lenkrad umfassten. Unversehens kamen ihr Js lange Finger in den Sinn. Sie wusste zwar nichts von ihm, dachte aber, dass die Zeit, in der er diesen Tee trinken würde, ihm auch helfen würde. Bei formellen Anlässen wird Matetee in einer Keramikflasche mit einem Trinkhalm serviert. Der Gastgeber und der Gast teilen den Tee aus der Flasche miteinander. Das Taxi fuhr schnell durch die Mitte der Stadt. Große Gebäude mit glitzernden Neonlichtreklamen zogen wehend vorbei. „Die Seouler Nächte sind eigenartig“, sagte sie mit der lauwarmen Thermosflasche in der Hand. „Da die Lichter nie ausgehen, kann man auch die Hoffnung nicht aufgeben.“ Ihr Vater sah wortlos nach vorne. Je mehr sie sich ihrem Haus näherten, desto müder fühlte sie sich. Sie dachte, sie würde heute Nacht nicht Rad fahren müssen, da sie weit genug gelaufen und an ihren Platz zurückgekehrt war. Die ganze lange Nacht hindurch hielt das Aroma des Tees aus dem fernem Land sie in seinen Armen.

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