Sommer 2015
KOREANISCHE KULTUR UND KUNST SPEZIAL
TRADITIONELLE MÄRKTE
ISSN ISSN 1975-0617 1975-0617
Jahrgang 10, nr. 2
Ihre Geschichte und Entwicklung Traditionelle Märkte in Korea; Blüte und Niedergang der traditionellen Spezialmärkte; Menschen, die denTagesanbruch wecken; Traditionelle Märkte als neue regionale Kulturzentren
Traditionelle Märkte
IMPRESSIONEN
Hitze mit Hitze bekämpfen Samgyetang gegen den heißen Sommer Kim Hwa-young Literaturkritiker, Mitglied der National Academy of Arts
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or dem traditionellen Hanok-Gebäude stehen die Menschen Schlange. Die meisten tragen kurzärmelige Sommerkleidung. Findet irgendein Sommerfest statt? Das an der Traufe hängende Schild mit den großen Schriftzeichen klärt auf, worauf die Leute warten: „Samgyetang“ – Gefülltes Ginseng-Huhn in heißer Brühe, das Spezialgericht dieses Restaurants. Das rechteckige Schild mit dem RoseneibischEmblem, das neben dem Haupteingang an der Wand hängt, weist dieses Speiselokal als offiziell zertifiziertes „vorbildliches Restaurant“ aus. Es ist ein beliebtes Restaurant. Aber längst nicht das einzige seiner Art, denn im ganzen Lande gibt es unzählige auf Samgyetang spezialisierte Restaurants. Samgyetang ist wortwörtlich Suppe („tang“), die mit Hühnchen („gye“) und Ginseng („sam“) gekocht wird. Doch ganz so einfach ist es nicht, denn das Gericht verlangt eine Fülle von Zutaten wie junges Huhn, Klebreis, Ginseng, Jujuben, Knoblauch, gemahlene Perillakörner etc., die je nach Geschmack noch ergänzt werden können. Samgyetang ist eines der Gerichte, die quasi aus der traditionellen Überzeugung der Koreaner, dass Essen gleich Medizin und umgekehrt ist, geboren wurden: Hühnerfleisch ist reich an essentiellen Aminosäuren und Ginseng, eines der bekanntesten Produkte Koreas, aktiviert die Enzyme im Körper, wodurch der Metabolismus beschleunigt und Müdigkeit vertrieben wird. Knoblauch hat eine aphrodisierende Wirkung, Kastanien und Jujuben schützen den Magen und beugen Anämie vor. Deshalb genießen die Koreaner im heißen Sommer, wenn man viel schwitzt und sich dadurch leicht geschwächt fühlt, das heiße Suppengericht Samgyetang als stärkende Gesundheitskost nach dem Motto „Hitze mit Hitze bekämpfen“. Heute hat sich die Geflügelzucht soweit entwickelt, dass das Brüten nicht mehr von der Jahreszeit abhängt, aber in der Vergangenheit schlüpften die Küken nur im Frühling und entwickelten sich bis zum Sommer in Stubenküken von etwa 500g Gewicht, also zu einem Hühnchen mit zartem Fleisch. Daraus wurde dann ein besonders nahrhaftes Gericht zubereitet, das gegen die Sommerhitze helfen sollte. An den Hundstagen, der heißesten Zeit im Jahr, Samgyetang zu essen, wurde ab den 1960er Jahren mit der Verbreitung von Kühlschränken ein Trend. Das nährstoffreiche Samgyetang, das man jetzt das ganze Jahr über genießen kann, wird heute alle vier Jahreszeiten hindurch gern gegessen. Nachdem der japanische Schriftsteller Haruki Murakami (geb. 1952) in einem seiner Werke schrieb, dass „Samgyetang das beste Gericht Koreas ist“, gehört Samgyetang zu den „Muss-Gerichten“, die jeder japanische Tourist auf Koreareise einmal probiert. Dem japanischen Beispiel folgen jetzt die chinesischen Touristen. Daher werden die Schlangen vor den Samgyetang-Restaurants im Sommer immer länger.
VERLEGER REDAKTIONSDIREKTOR CHEFREDAKTEURIN REDAKTIONSBEIRAT
COPY EDITOR KREATIVDIREKTOR LEKTORAT KUNSTDIREKTOR DESIGNERS
Yu Hyun-seok Yoon Keum-jin Ahn In-kyoung Bae Bien-u Choi Young-in Emanuel Pastreich Han Kyung-koo Kim Hwa-young Kim Young-na Koh Mi-seok Song Hye-jin Song Young-man Werner Sasse Anneliese Stern-Ko Kim Sam Kim Jeong-eun, Noh Yoon-young, Park Sin-hye Lee Young-bok Kim Ji-hyun, Lee Sung-ki, Yeob Lan-kyeong
LAYOUT & DESIGN
Kim’s Communication Associates 385-10 Seogyo-dong, Mapo-gu Seoul 121-839, Korea www.gegd.co.kr Tel: 82-2-335-4741 Fax: 82-2-335-4743
ÜBERSETZER
Ahn In-kyoung Anneliese Stern-Ko Do Young-in Kim Eun-ji Park Ji-hyoung
Preis pro Heft in Korea ₩6.000 Außerhalb Koreas US$9 Detailinformationen zu den Subskriptionspreisen finden Sie auf Seite 84. THE KOREA FOUNDATION BERLIN OFFICE c/o Botschaft der Republik Korea Stülerstraße 8-10, 10787 Berlin, Germany Tel: +49-(0)30-260-65-458 / Fax: +49-(0)30-260-65-52 E-mail: koreana@kf.or.kr The Korea Foundation West Tower 19F Mirae Asset CENTER1 Bldg. 26 Euljiro 5-gil, Jung-gu, Seoul 100-210, Korea GEDRUCKT SOMMER 2015 Samsung Moonwha Printing Co. 274-34 Seongsu-dong 2-ga, Seongdong-gu, Seoul 133-831, Korea Tel: 82-2-468-0361/5 © The Korea Foundation 2015 Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Publikation darf ohne vorherige Genehmigung der Korea Foundation in irgendeiner Form reproduziert werden. Die Meinungen der Autoren decken sich nicht notwendigerweise mit denen der Redaktionsmitglieder oder der Korea Foundation. Koreana ist als Vierteljahresmagazin beim Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus registriert (Reg. Nr. No. Ba-1033, August 8, 1987) und erscheint neben Deutsch auch auf Arabisch, Chinesisch, Französisch, Indonesisch, Japanisch Russisch und Spanisch.
Von der Redaktion
Universelle und zeitlose Geschichten „Nein, ich hätte es ja nie gewagt, in meinen jungen Jahren hierher zu kommen, um etwas zu verkaufen“, sagt eine alte Händlerin auf dem Gurye-Markt in der Provinz Jeollanam-do. Erst nachdem sie „alt genug“ geworden war, die Kinder alle erwachsen und wahrscheinlich schon verheiratet, begann sie damit, das Wildgemüse, das sie in Feldern und Bergen gesammelt hatte, auf dem Markt zum Verkauf anzubieten. „Hier kann man sich treffen, mit Freunden plaudern und sich sogar noch etwas Taschengeld verdienen. Ist das nicht toll?“, meint sie lächelnd. Ihr gebräuntes, faltiges Gesicht strahlt voller Stolz, als sie erklärt, wie man das frische Wildgemüse, das in Häufchen vor ihr ausgelegt ist, zubereitet. Solche Händlerinnen, die keiner Gruppe von wandernden Händlern angehören, sind auf dem Lande typischer Bestandteil jeden Marktes. Egal wo: Märkte sind Orte voller Geschichten. Die SPEZIAL-Reihe der vorliegenden Ausgabe – „Traditionelle Märkte: Ihre Geschichte und Entwicklung“ – verfolgt die Absicht, einige dieser Marktgeschichten für unsere Leserinnen und Leser zu erzählen. Geschichten über Menschen, Waren, Orte und die Märkte selbst, die einem steten Wandel unterliegen. Diese SPEZIAL-Reihe auf die Beine zu stellen, war keine kleine Aufgabe. Jeder einzelne Schritt kostete viel Mühe, angefangen bei der Suche nach Märkten und Autoren bis hin zur Auswahl der Fotos. Aber wie bei allen Anstrengungen, die die Produktion von Koreana verlangt, so war auch hier unser Leitprinzip „Selbstzufriedenheit vermeiden“, um das Thema mit lebendiger Realität zu füllen. Denn wir glauben, dass in der interkulturellen Kommunikation das, was örtlich beschränkt ist, oft am universalsten und auch am zeitlosesten ist. Es ist auch kein kleines Unterfangen, diese Geschichten unseren Lesern in aller Welt in neun verschiedenen Sprachen anzubieten. In diesem Punkt ist unser Ziel, trotz etwaiger kultureller und sprachlicher Unterschiede „die genauest mögliche Übersetzung“ zur Verfügung zu stellen. In dieser Hinsicht ist jede Ausgabe von Koreana eine große Herausforderung für alle Beteiligten, aber auch eine lohnenswerte Bemühung. Wir hoffen, dass die Geschichten über die traditionellen Märkte Koreas unterhaltsam und vielleicht sogar herzerwärmend sind. Ahn In-kyoung Chefredakteurin der deutschen Ausgabe
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Markttag Hwang Young-sung Öl auf Leinwand, 38 x 45,5cm, 1982 Eine warme, farbenfrohe Landmarkt-Szene mit Sonnenblendengeschützten Freiluft-Ständen.
Viertejährlich publiziert von The Korea Foundation 2558 Nambusunhwan-ro, Seocho-gu Seoul 137-863, Korea http://www.koreana.or.kr
InTerVIew
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Seung Hyo-Sang plant eine Stadt der Regenerierung und Gemeinschaft Park Seong-tae
hÜTer DeS TraDITIoneLLen erBeS
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Auf der Suche nach den verschwindenden Klängen des koreanischen Volkes Chung Jae-suk
VerLIeBT In Korea
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Annaliisa Alastalos „Kunst zu leben“ Darcy Paquet
UnTerwegS
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Damyang: Wo Leben und Legende einander begegnen
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Gwak Jae-gu
LIfeSTyLe
SPEZIAL
Traditionelle märkte: Ihre geschichte und entwicklung SPeZIaL 1
Kim Yong-sub
reISen In DIe KoreanISche LITeraTUr
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Lee Chang-guy
Chang Du-yeong
Winter jenseits des Fensters enTerTaInmenT
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Jenseits der Traurigkeit – Verzweifelter Schrei nach Licht und Hoffnung
Traditionelle Märkte in Korea: Überbleibsel der rauen Romantik von einst
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Hausmannskost: Ein neuer Hype bewegt die Gesellschaft
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Choi Eun-mi
Webdramen: Quo vadis? Wee Geun-woo
Blüte und Niedergang der traditionellen Spezialmärkte: Eine Zeitreise Lee Yun-jeong
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Menschen, die den Tagesanbruch wecken: meine Marktgeschichten
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Lee Myoung-lang
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Traditionelle Märkte als neue regionale Kulturzentren Park Eun-young
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Der Moran-Markt in Seongnam ist ein Fünf-Tage-Markt, der an Daten, die auf 4 und 9 enden, eröffnet wird. Ganz in der Nähe von Seoul gelegen, ist der Markt bei Besuchern aus der Hauptstadt beliebt. Der ausgedehnte Freiluftmarkt umfasst 950 Standplätze und zieht selbst an Wochentagen bis zu 100.000 Kunden an.
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SPEZIAL 1 Traditionelle Märkte: Ihre Geschichte und Entwicklung
Traditionelle Märkte in Korea
Überbleibsel der rauen Romantik von einst
Lee Chang-guy Dichter und Literaturkritiker Fotos Ahn Hong-beom
Die traditionellen Märkte in Korea sind verbindende Knotenpunkte für die umliegenden Dörfer und Treffpunkte für die Menschen. Auf dem Markt hörte man Neuigkeiten von der Tochter, die weit weg geheiratet hatte, und tauschte die im Schweiße des Angesichts angebauten landwirtschaftlichen Produkte gegen alltägliche Bedarfsgüter. Die Märkte, die auf diese Weise essentieller Teil unseres sozialen und wirtschaftlichen Lebens waren, sind jetzt am Aussterben. Anstatt auf dem Markt kaufen wir in sauberen und gut sortierten Großmärkten oder im Supermarkt ein. Ob wir dort aber auch Gefühle und Erinnerungen kaufen können?
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ede Tradition hat quasi ein Verfallsdatum. Korea besitzt zwar eine über 5.000 Jahre alte Geschichte, aber die Geschichte der traditionellen Kultur, die wir übernommen haben und weiterzugeben versuchen, ist wesentlich kürzer. Niemand betrachtet die Ess-, Kleidungs- und Wohnkultur der Neolithiker als Tradition und niemand stolziert mehr mit einem Jeolpungmo herum, dem federgeschmückten Hut aus der Goguryeo-Zeit (37 v. Chr.–668 n. Chr.), der sich noch bis zur Tang-Dynastie (618-907) großer Beliebtheit erfreute. Was unter den Koreanern von heute als traditionelles Hansik-Essen gilt, hat erst fünfzig, sechzig Jahre Geschichte und auch die traditionelle koreanische Tracht Hanbok und das traditionelle Hanok-Haus gehen lediglich bis auf die Zeit nach Mitte des Joseon-Reiches (1392 –1910) zurück. Was kann dann unter einem traditionellen koreanischen Markt verstanden werden und was macht seine Traditionalität aus? Zwei Zitate mögen richtungsweisend dienen.
Marktszene in den Augen des Reisenden „Auf den Plätzen ist es an Markttagen sehr voll, Gemüse und Früchte unübersehbar, Knoblauch und Zwiebeln nach Herzenslust. Übrigens schreien, schäkern und singen sie den ganzen Tag, werfen und balgen sich, jauchzen und lachen unaufhörlich. Die milde Luft, die wohlfeile Nahrung lässt sie leicht leben. Alles, was nur kann, ist unter freiem Himmel.“ „Wenn Wochenmarkt ist, weicht die melancholische Langeweile, die ein koreanisches Dorf normalerweise einhüllt, geschäf-
tigem Treiben, Farbenfreude und Gedränge. Von den frühen Morgenstunden an sind die Pfade, die zum offiziell bestimmten Zentrum führen, vollgestopft mit Bauern, die ihre Waren zum Verkaufen oder Tauschen bringen: hauptsächlich Geflügel in Käfigen, Schweine, Schuhe, Hüte aus Stroh und Holzlöffel usw. Die Hauptstraße entlang bieten fliegende Händler – meist feine, kräftige und gut gekleidete Männer – ihre Waren an, die sie entweder selber tragen oder aber von Kulis oder Ochsen schleppen lassen. Diese fleißigen und respektierlichen Männer ziehen auf festen Routen zu den Dorfmärkten. […] Einige bauen Stände auf, v.a. die Händler für Seide, feine Ramiestoffe, Hüfthalter-Schnüre, Bankettschuhe, Bernstein, Knöpfe, Seidenstränge, Handspiegel, Tabakbeutel, Perlmuttkämme für die Haarknoten der Herren, Hosenbänder, Kästchen mit Spiegeldeckeln usw.“ Das erste Zitat stammt aus Goethes Italienische Reise und wurde am 17. September 1786 in Verona verfasst, wo übrigens auch Shakespeares Romeo und Julia spielt! Das zweite Zitat stammt aus Korea and her neighbours von Isabella Bird Bishop (1831–1904), einer britischen Reiseschriftstellerin, die Ende des 19. Jhs Korea besuchte. Sie beschreibt hier einen Markt in Bongsan (heute Nordkorea), wo sie direkt nach dem Japanisch-Chinesischen Krieg (1894/95) auf dem Weg von Gaeseong nach Pjöngjang vorbeischaute. Worin ähneln sich die beiden Zitate, worin unterscheiden sie sich? Zunächst einmal entsprechen beide Beschreibungen den in Ost und West landläufigen Vorstellungen einer typischen Markttagsszene. Die „Neugier-Gene“ des Menschen lassen auch heute noch KoREANIScHE KuLTuR uND KuNST 5
den Reisenden, der bereits Tage am saphirblau glitzernden Meer mit seinen herrlichen Sonnenuntergängen verbracht und in der Stadtlandschaft mit ihren einladenden Seitengässchen und farbenfrohen Graffiti eindrucksvolle Erinnerungen gesammelt hat, dem „Rat“ folgen, wenigstens einen Tag seines vollen Reiseprogramms dem Besuch einen ganz normalen Markts zu widmen.
Erweiterung des Marktes durch Entwicklung der Landwirtschaft Wenn wir diese lyrizistisch anmutende Markt-Szenerie als „traditionell“ bezeichnen, kann man sagen, dass der traditionelle Markt etwa im 18. Jh entstanden ist. Den Forschern zufolge verbreitete sich der traditionelle Markt in Korea Ende des 17. bis Anfang des 18. Jhs landesweit. Allen voran stieg die landwirtschaftliche Produktion in dieser Zeit enorm, so dass sich der privatwirtschaftliche Handwerkssektor, für den damit die Ernährungsgrundlage sichergestellt war, entsprechend stark entwickeln konnte. Der Handel nahm stark zu, was wiederum die Geldwirtschaft beförderte und automatisch zum Entstehen von Wohnsiedlungen, aus denen sich
dann Dörfer entwickelten, führte. Hyangsi war ein in der JoseonZeit regelmäßig stattfindender Markt, der sich auf dem Land in Abständen von ca. 12 bis 15km fand, d.h. der Fußweg hin und zurück war an einem Tag zu schaffen. Anfang des 19. Jhs gab es über tausend Fünf-Tage-Märkte. Mitte des 18. Jhs kamen zudem die Organisationen der Bobusang, der fliegenden Händler und Hausierer auf, die eine wichtige Rolle bei der Distribution spielten. Im Hintergrund dieses gesellschaftlichen Wandels standen Temperaturveränderungen: Das 18. Jh war nämlich genau die Zeit, in der die sog. Kleine Eiszeit (Anfang 15. bis ins 19. Jh) zu Ende ging. In Europa war es ähnlich. Dort hatten die Menschen durch den Rückgang der Produktion unter großer Hungersnot gelitten, doch im 18. Jh stabilisierten sich Produktion und Nahrungsmittelversorgung. Mit der Verbreitung neuer Anbautechniken sank die Abhängigkeit von Weizen und stattdessen wurden Mais und Kartoffeln zu Hauptanbauprodukten. Solche Umfeldfaktoren beförderten zusammen mit den revolutionären Änderungen in verschiedenen Industrien – allen voran in der Landwirtschaft – die Entwicklung des Marktes, was sich wiederum in den romantischen Erinnerun-
1 In der Schmiede auf dem GuryeMarkt herrscht nach wie vor Geschäftigkeit. Der Schmied produziert Landwirtschafts- und Gärtnereiutensilien auf traditionelle Weise: Glühend heißes Eisen frisch aus der Esse wird auf einem Amboss in Form gehämmert und per Hand zu Geräten wie Sicheln, Rechen und Hacken geformt. 2 Die Fischstände auf dem YonginMarkt. Mit dem Aufkommen großer Discounter in der Umgebung geriet dieser traditionelle Fünf-Tage-Markt in Bedrängnis, konnte aber dank der Anstrengungen der örtlichen Bevölkerung erfolgreich wiederbelebt werden.
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gen der Menschen niederschlug, für die der Markt ein Ort der Fülle mit einem vielfältigen Warenangebot und einer geschäftig wuselnden Menschenmenge ist. Es ist mittlerweile fast zwanzig Jahre her, dass ich nach meinem gescheitertem Leben in Seoul nach Janghowon in Icheon, Provinz Gyeonggi-do, zog, wo ich keinerlei Verbindungen hatte, um dort von heute auf morgen als Schriftsteller unter den Bauern zu leben. Längst besichtige ich Marktplätze nicht mehr wie ein Fremder, sondern schlendere im Jogginganzug herum, in der Hand eine schwarze Plastiktüte mit Bohnenpulver-bestäubtem BeifußReiskuchen oder einem Stück frischen Tofu. Ich geniere mich auch nicht mehr, die Matronen aus dem Nachbarviertel, denen ich zufällig begegne, mit einem Scherz zu begrüßen.
Schnittstellen von Land- und Wasserwegen Auch wenn er an seinen früheren Ruf nicht mehr heranreicht, so ist der Markt in Janghowon doch noch vergleichsweise groß. Das beweisen die schiere Zahl der warenbeladenen Stände und die vielen Menschen, die aus entfernten Orten wie Jeomdong in Yeoju,
Gamgok in Eumseong und Juksan in Anseong hierher kommen. Janghowon liegt im Anbaugebiet des berühmten „Icheon-Reises“ und ist ein Getreide-Umschlagplatz, der bereits in den 1930er Jahren ans Bahnnetz angeschlossen war und wo in den Banken mit Reis spekuliert wurde – Traditionen, die den Ort bis heute prägen. Um die Größe eines ländlichen Marktes zu erfassen, gilt es einige Parameter zu hinterfragen: Erstens, gibt es in der Nähe einen Fluss? Da Korea größtenteils aus gebirgigem Terrain besteht, waren Wasserwege sicherer und schneller als Landwege. Daher sind Märkte an den Schnittstellen von Land- und Wasserwegen meistens groß. Der Markt in der Stadt Anseong, ca. 30km vom Janghowon-Markt entfernt, ist durch den Anseong-Fluss als Wasserstraße mit der Stadt Pyeongtaek und der Asan-Bucht am Westmeer verbunden. Da er zudem auf dem Landweg nach Seoul liegt, gehört er zu den repräsentativen großen Märkten, die ständig von fahrenden Gesellen und Händlern aufgesucht werden. Meeresprodukte wie Salz und Trockenfisch aus dem Westmeer wurden über Anseong und Juksan ins Binnenland verteilt. Bereits vor hundert Jahren gab es in Anseong an die fünfzig Läden für Messingscha-
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len, das lokale Spezialprodukt, was Aufschluss über die Bedeutung des Marktes gibt. Auch Janghowon liegt an einem Fluss, und zwar am Cheongmi-cheon, einem Nebenfluss des Flusses Han-gang. Obwohl ihre Anzahl unbedeutend scheinen mag, so konnten in der Monsunzeit doch mit Salz und Saeujeot (fermentierte Minigarnelen) beladenene Segelschiffe von Seoul bis Janghowon fahren und auf dem Rückweg Regionalprodukte wie Reis in die Hauptstadt transportieren. Ein Hafen, der auch während der Trockenzeit noch angelaufen werden kann, wird „Gahang Jongjeom (schiffbare Endstation)“ genannt. Fährt man den Cheongmi-cheon etwa 20km flussabwärts, gelangt man zum Fährenanleger Mokgye-naru, der letzten schiffbaren Anlegestelle der Wasserstraßen am Han-gang. Lange drängten sich in Mokgye-naru die von Incheon kommenden Schiffe mit ihren gelben Segeln und ihren Ladungen voller Salz, Trockenfisch, fermentierten Meeresfrüchten, Alltagsbedarf-Allerlei etc. Die in Mokgye-naru gelöschten Waren gingen zum Weiterverkauf ins südliche Binnenland. Der Markt in Mokgye war ein nicht-ständiger
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Markt, der meist dreimal pro Monat beim Einlaufen der Salzschiffe für einige Tage abgehalten wurde. Es soll damals Hunderte von Hafenarbeitern gegeben haben und da der Markt direkt an der Fährstelle stattfand, soll es immer laut und voll gewesen sein. Zu den größten Märkten an den Schnittstellen von Land- und Wasserwegen gehörten der Gurye-Markt in der Provinz Jeollanam-do, der Hadong-Markt am Fluss Seomjin-gang in der Provinz Gyeongsangnam-do, der Naju-Markt und der Yeongsanpo-Markt am Yeongsan-gang, beide in der Provinz Jeollannam-do, der Ganggyeong-Markt am Geum-gang in der Provinz Chungcheongnamdo und der Gupo-Markt am Nakdong-gang in der Provinz Gyeongsangnam-do. Es gibt noch eine bedeutende Marktsorte: den Rindermakrt. Die Rinderhändler bildeten Handelsverbände aus fünf bis zehn Viehtreibern, die jeweils etwa fünf Tiere trieben. Anders als normale Händler, die immer den kürzesten Weg zum nächsten Markt suchten, vermieden die Rinderhändler Abkürzungen und steiles Terrain. Ein Markt konnte erst als groß bezeichnet werden, wenn die
1 Ppeongtwigi ist gepufftes Getreide wie Puffreis oder Popcorn. Es wird am Straßenrand in einer speziellen Maschine mit lautem Knallen hergestellt und ist ein beliebter, altmodischer Snack. 2 Ein alter Mann packt seine Bambus-Korbwannen aus, die er auf dem BambusMarkt in Damyang verkaufen möchte.
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GESCHICHTEN VOM BAMBUSMARKT Kim Hyun-jin Freiberufliche Autorin
Ich besuchte Damyang an einem Tag, an dem gerade der Fünf-Tage-Märkte stattfand. Heute ist zwar keine Spur mehr davon übrig, aber bis Mitte der 1980er Jahre wurde hier der landesweit größte Bambusmarkt abgehalten. Damals gab es kaum einen alltäglichen Gebrauchsgegenstand, den man nicht aus Bambus hätte herstellen können. Bei Ausflügen werden die gefüllten Gimbap-Reisrollen 2 in Plastikboxen schnell schlecht, während sie in Behältern aus Bambusgeflecht viel länger halten. Das liegt daran, dass Bambus sterilisierend und kühlend wirkt und daher sogar die Funktion eines Kühlschranks erfüllt. Zu den Zeiten, als der Bambusmarkt noch stattfand, strömten die Menschen aus allen Regionen herbei. Die Händler sollen in der Nähe des Marktes übernachtet und sich am folgenden Tag frühmorgens zum Markt begeben haben, um gleich zur Öffnungszeit um sieben Uhr da sein zu können. Da die Waren von geschickten Handwerksmeistern sofort weggingen, herrschte ein heißer Konkurrenzkampf um die Produkte. Zu der Zeit hatten in Damyang auch die Frachtfuhrunternehmen Hochkonjunktur, weil die Händler die Waren in großen Mengen kauften und Transporter entsprechend nachgefragt waren. Jedoch verschwanden die Bambusmärkte mit der Erfindung des Plastiks so schnell, dass man sich fragt, ob es sie je gegeben hat. Um große und kleine Bambusschachteln herzustellen, wird der Bambus zuerst in dünne, schmale Halme gespalten, aus denen man dann eine Art Fäden zieht, die zu großen und kleinen Schachten verflochten werden. Diese Bambusbehälter eignen sich wunderbar zur Aufbewahrung von Gegenständen. Die in verschiedenen Farben gefärbten Bambusschachteln Chaesang strahlen sogar eine gewisse Eleganz aus. Seo Hankyu (geb. 1930), Meister der Chaesang-Herstellung, hat zunächst nur Bambusteppiche geflochten. Doch als er eines Tages auf dem Dachboden die Chaesang entdeckte, die seine Großmutter als Aussteuer mitgebracht hatte, begann er mit der Wiederbelebung dieser Handwerkskunst, was ihm schließlich die Ernennung zum Träger des wichtigen Immateriellen Kulturgutes Nr. 53 einbrachte. Doch die Meister selbst sind eher pessimistisch, was die Zukunft der Bambusprodukte betrifft. Die Zeit und Mühe, die für die Herstellung aufgewendet werden müssen, stehen in keinem Verhältnis zum Lohn, und seitens der Regierung gibt es keine besondere Unterstützung zur Aufrechterhaltung dieser traditionellen Handwerkskunst. Meister Seo erhält zwar eine bestimmte Fördersumme, doch diese reicht bei weitem nicht aus, um den Mindestunterhalt seiner vierköpfigen Familie zu gewährleisten. Kim Young-kwan, der als Ausbildungsassistent in die Fußstapfen seines Lehrmeisters tritt, sagt bedrückt: „Viel hilfreicher als die Unterstützungsgelder wäre eine Mindestabnahmegarantie von staatlicher Seite. Wir sind zu sehr mit der Anfertigung beschäftigt, um noch Zeit für Marketing oder die Erschließung neuer Distributionskanäle zu haben. Wenn die Regierung uns dabei unterstützen könnte, mit einem breiterem Publikum in Kontakt zu kommen, wäre das eine viel größere Hilfe als Unterstützungsgelder.“ Park Hyo-suk, die vor dem Bambusmuseum die Künstlerwerkstatt Jinsung Arrtisant betreibt, fertigt zusammen mit ihrem Mann, der bereits seit seinem 5. Lebensjahr dem Bambuskunsthandwerk nachgeht, Bambusprodukte an. Doch sie denkt nicht daran, das Handwerk an die eigenen Kinder zu tradieren: „Es müsste irgendwelche Zukunftsperspektiven geben. Ich persönlich kann die harte Arbeit aushalten, aber wie könnte ich das Handwerk an meine Kinder weitergeben, wenn ich selbst keine Zukunft sehe?“ Beim Betrachten der Bambusprodukte, die eine gewisse Kühle ausstrahlen, kam mir der Gedanke, dass Schönheit etwas Flüchtiges ist, das nicht ewig Bestand haben kann, ebenso wie der Bambuswarenmarkt, der einst so blühte. KoREANIScHE KuLTuR uND KuNST 9
Rinderhändler dort Halt machten und ihre Stände aufbauten. In eine der Tavernen in der Straße neben dem Rindermarkt einzukehren, gehörte zu den Highlights eines Marktbesuchs. Der Rindermarkt in Janghowon war voller Mittelmänner aus der näheren Region und Rinderhändler, die aus der Provinz Gyeongsang-do über den Mungyeongsaejae-Gebirgspass kamen und zunächst auf dem Markt in Chungju Halt machten. Wurden die gusseisernen Töpfe übers Feuer gehängt, fing bald die Fleischsuppe zu kochen an. Der leckere Duft, der aus den Kesseln aufstieg, regte den Appetit derjenigen an, die sich frühmorgens eilig auf den Weg machten. Die meisten Rindermärkte sind zwar verschwunden, aber bekannte, traditionsreiche Restaurants für Grillfleisch oder Reis-Rindfleischeintopf haben überlebt und freuen sich über jeden Gast.
Orte der Massenversammlungen und Demonstrationen Die traditionellen Märkte verlieren zwar immer mehr ihre Funktion als Warenumschlagplatz, bewahren aber nach wie vor ihre Besonderheit, die Bewohner aus den näheren Regionen an einem Ort zusammenzubringen. Für die Landbewohner ist es immer noch ein genussvoller Zeitvertreib, in der Zeit, in der der Landwirtschaftsbetrieb ruht, auf den Markt zu gehen, auch wenn sie nicht unbedingt etwas kaufen oder verkaufen wollen. Daher auch die Redewendung: „Wenn jemand auf den Markt geht, schnappt man sich gleich den Saatgutsack und folgt ihm“. Sprich, man suchte sich einen Vorwand wie den Kauf von Saatgut, um auf dem Markt über Gott und die Welt zu plaudern. Erst am Markttag hören wir die Nachrichten über die Dinge, die um uns herum passieren, und die die TV-Nachrichten nicht ersetzen können. Dabei handelt es sich um so wenig Weltbewegendes wie die Neuigkeit, dass der und der mit dem Traktor im Graben gelandet ist und sich verletzt hat oder die Tochter von dem und dem ein uneheliches Kind zur Welt gebracht hat. Wenn dabei auch noch Alkohol die Runde macht, beginnen gewöhnlich die Klagen über die Lage der Nation. Aber gerade dadurch übte der Markt vergleichbar mit der Agora im antiken Griechenland enormen Einfluss auf die Gesellschaft aus. Der Marktplatz „Malmok-jangteo“ in der Provinz Jeollabuk-do ist als Ort bekannt, an dem Jeon Bong-jun (1855-1895) im Jahr 1894 den Bauernaufstand gegen die korrupte Beamtenschaft anführte. Diese sog. „Donghak-Revolution“ schlug zum großen Bedauern vieler fehl, aber sie bleibt als wichtiges Ereignis in der modernen Geschichte des Landes in Erinnerung. Ein weiterer geschichtsträchtiger Ort ist der Aunae-jangteo (auch „Byeongcheon-jangteo“) in Cheonan. Hier wurde die Unabhängigkeitserklärung vorgelesen, mit der am 1. März 1919 die Bewegung zur Befreiung von der japanischen Kolonialherrschaft ihren Anfang nahm. Auch in Byeongcheon versammelten sich zahlreiche Menschen und riefen „Lang lebe die koreanische Unabhängigkeit“. Die japanische Polizei erstickte die Demonstrationen mit Schwert und Kugeln, was zahlreiche Tote und Verletzte forderte. Yu Gwan-sun 10 KoREANA Sommer 2015
(1902-1920), eine Schülerin, die an den Unabhängigkeitsdemonstrationen am 1. März in Seoul teilnahm und die Proteste in Cheonan organisieren half, wurde inhaftiert, gefoltert und starb im Gefängnis. Sie wird heute oft mit Jeanne d’Arc verglichen und als Nationalheldin der Unabhängigkeitsbewegung verehrt. Die Gedenkhalle für Yu Gwan-sun in Byeongcheon und die Unabhängigkeitshalle in Cheonan erinnern an den Unabhängigkeitskampf, bei dem der Marktplatz Aunae-jangteo als Versammlungsort eine wichtige Rolle spielte. Zudem war der Marktplatz für das Volk auch ein Platz für öffentliche Darbietungen und Spiele. Entstand ein neuer Markt, wurden zur Bekanntmachung verschiedene Vorführungen und Aktivitäten auf dem offenen Schauplatz veranstaltet. Alle traditionellen koreanischen Volksvergnügungen wie Ringen, Tauziehen oder das Brettspiel Yutnori wurden auf dem Marktplatz betrieben und die Namsadang, die umherreisenden Schaustellertruppen, stellten hier ihre vielfältigen Künste zur Schau. Durch den Bau von Bewässerungssystemen und Autobahnen wurden die alten Wasserstraßen überflüssig und die Rindermärkte werden unter dem Vorwand von Modernisierung und Sanitärstandards nicht länger als Bestandteil der großen Märkte abgehalten. Als Versammlungs- oder Kundgebungsort wird statt des Marktplatzes der Platz vor dem Bezirksamt bevorzugt. Volksspiele wie das Maskentheater Ogwangdae oder der Maskentanz Talchum werden nicht mehr wie früher auf den lauten Marktplätzen vorgeführt, sondern können sich jetzt in gut ausgestatteten, städtischen Theatern der Aufmerksamkeit der Zuschauer erfreuen. Im Vergleich zu früher haben sich auf den traditionellen Märkten Hygienestandards und Parkmöglichkeiten den heutigen Verbraucheransprüchen gemäß enorm verbessert. Aber es gibt nicht mehr viel zu sehen, zu hören oder kulinarisch zu entdecken wie einst auf den ländlichen Märkten, auch ist das Warenangebot in Bezug auf Quantität und Qualität nicht mehr mit früher zu vergleichen. Die Situation der Märkte in der Nähe von berühmten Touristenorten oder der Märkte für Spezialprodukte der jeweiligen Region ist aber nicht ganz so schlimm, so dass doch noch Möglichkeiten zur Wiederbelebung der traditionellen Märkte bestünden. Großmütterchen, die auf ihren Köpfen Körbe zum Markt tragen, im Frühling gefüllt mit den in den Berg gesammelten Wildkräutern, im Herbst mit dem Gemüse aus dem Küchengarten, hocken Seite an Seite mit ihresgleichen und breiten ihre Waren aus. Ihre kleinen Freuden des Lebens – die Passanten beobachten, ein kleines Taschengeld verdienen, einen Moment lang Aufregung und Schmerzen des Lebens der vorbeiziehenden Vagabunden kosten – all dies wird wohl früher oder später verschwinden. Gibt es Wege, um diese Weitherzigkeit ausstrahlenden Blicke und die wie weise Sprüche wirkenden witzigen Bemerkungen der Großmütterchen an die jungen Bummler, die – sich ihrer selbst und ihres Weges noch nicht sicher – erst vorsichtig Vagabunden-Freiheit und langsames Leben ausprobieren, zu bewahren?
Erst am Markttag hören wir die Nachrichten über die Dinge, die um uns herum passieren, und die die TV-Nachrichten nicht ersetzen können. [...] Wenn dabei auch noch Alkohol die Runde macht, beginnen gewöhnlich die Klagen über die Lage der Nation. Aber gerade dadurch übte der Markt vergleichbar mit der Angora im antiken Griechenland enormen Einfluss auf die Gesellschaft aus.
Eine alte Frau, die auf dem Jincheon-Markt Grünzeug anbietet – ein normaler Anblick im Frühling, wenn die Frauen auf die Felder und in die Berge gehen, um Gemüse und Wildkräuter für den Verkauf auf dem Markt zu sammeln.
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SPEZIAL 2 Traditionelle Märkte: Ihre Geschichte und Entwicklung
BlüTE und nIEdErGanG dEr TradITIonEllEn SpEzIalMärkTE: EInE zEITrEISE
Lee Yun-jeong Redakteurin für Wochenend-Features, Tageszeitung Kyunghyang Shinmun Fotos Shim Byung-woo
Auf den traditionellen Spezialmärkten wird nicht einfach nur ge- und verkauft, sie sind auch voller Geschichten vom Freud und Leid des kleinen Mannes, die Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten ansprechen. Für alle, die von einer wahren Reise ins Herz eines Ortes träumen, ist der traditionelle Markt ein „It Place“, der über Zeit und Raum hinausführt. 12 KoREANA Sommer 2015
„B
ei Rückenschmerzen sollen Tausendfüßler helfen. Komm mein Junge, und geh mit Oma zum Markt.“ Vor 30 Jahren verletzte sich mein Onkel beim Instandsetzen einer eingebrochenen Mauer ernsthaft am Rücken. Obwohl er im Krankenhaus behandelt worden war, schaffte er es kaum aus dem Bett. Großmutter suchte überall nach Medizin, die bei Rückenproblemen helfen sollte. So kam es, dass ich als damals noch nicht mal Zehnjähriger im Schlepptau von Großmutter zum ersten Mal den Kyungdong-Kräutermedizinmarkt besuchte.
Der Kyungdong-Markt, ein traditioneller Medizinmarkt in Seoul, dessen Anfänge schon Jahrhunderte zurück liegen. Schon seit einigen Jahrzehnten besteht er in seinem jetzigen Umfang mit an die 1.000 Läden und Praxen für traditionelle koreanische Medizin. Auf dem Markt ist so gut wie jede, im Rahmen der traditionellen koreanischen Medizin gebrauchte Zutat zu erhalten.
Aushängeschild des Yangnyeongsi: der Kyungdong-Medizinmarkt Der Markt war voller Vitalität. Wie auf jedem anderen Markt reihten sich große und kleine Läden mit einer Fülle von Produkten spinnennetzartig aneinander. Und in der Mitte befand sich der Heilkräutermarkt Yangnyeongsi. Verschiedene kräutermedizinische Zutaten mit ungewöhnlichen Namen und unterschiedlichen Formen lagen nach alten pharmakologischen Kategorien klassifiziert aus. Großmutter fand unter den Kräuterhaufen schließlich die getrockneten Tausendfüßler. Mit ihren unzähligen Beinen, die an Haare erinnerten, waren sie in ihrem ursprünglichen, lebendigen Zustand getrocknet worden. Der Heilkräuterhändler zerstampfte die Tausendfüßler sorgfältig in einem Mörser. Die jetzt zu Pulver gewordenen Tierchen wurden in kleine Kapseln gefüllt. Ob es nun die liebevolle Pflege von Großmutter oder die Wirkung der Tausendfüßler war, jedenfalls konnte mein Onkel ein paar Monate später wieder arbeiten gehen. Mit diesen alten Erinnerungen im Hinterkopf ging ich auf den Kyungdong-Markt. Schon seit Jahrzehnten befinden sich die traditionellen Märkte im Niedergang. Mittlerweise sind große Lebensmittelketten und Supermärkte auch in den kleinsten Gassen zu finden, und per Online-Shopping kann man sich mit nur einem Mausklick alles nach Hause liefern lassen. Ob der Kyungdong-Markt die Tradition hatte bewahren können? Ich nahm U-Bahn-Linie 1 und stieg an der Station Jegidong im Nordosten Seouls aus. Kaum war ich auf der Straße, stieg mir auch schon der aromatische Heilkräuterduft in die Nase. Ein traditionelles Tor mit dem Schild „Seoul Yangnyeongsi (Seoul Medicine Market, a.k.a. Oriental Medicine Industry District)“ markiert den Eingang zum landesweit größten Medizinmarkt Koreas. Der traditionelle Markt, der sich über eine Fläche von 100.000m2 erstreckt, reicht von den Vierteln Jegi-dong bis Yongdu-dong und Jeonnongdong im Stadtbezirk Dongdaemun-gu und umfasst den Seoul Yangnyeongsi-Markt, den Alten und den Neuen Kyungdong-Markt, das Kyungdong-Building und den Hansol Donguibogam Tower. Die Geschichte des Medizinmarktes Yangnyeongsi geht auf die Zeit des Joseon-Königs Hyojong (reg. 1649–1659) zurück. Der Jahreszeitenmarkt Yangnyeongsi, der auf königlichen Befehl jeweils im Frühling und Herbst abgehalten wurde, war ein Umschlagplatz für kräutermedizinische Zutaten aus dem ganzen Land. Der Markt KoREANIScHE KuLTuR uND KuNST 13
war aber nicht nur ein Handelsplatz für Heilkräuter, er wurde auf königlichen Befehl auch als Guhyul -Einrichtung genutzt: In der Joseon-Hauptstadt Hanyang gab es vier Guhyul, soziale Einrichtungen, die Arme, Hungrige und Kranke mit Essen, Kleidung und medizinischen Dienstleistungen versorgten. Man weiß zwar, dass es als weitere solcher Guhyul-Sozialreinrichtungen noch das Bojewon vor dem Osttor (Dongdaemun) in der Nähe des heutigen Anam-dong und das Hongjewon im Viertel Hongje-dong gab, aber bislang konnte nur der Yangnyeongsi-Medizinmarkt, eindeutig bestätigt werden. Gegen Ende der japanischen Kolonialherrschaft (1910-1945) war der Kyungdong-Markt jedoch in seiner Funktion bedroht. Um die Verbreitung der Unabhängigkeitsbewegung zu verhindern, schloss Japan zwangsweise den Markt, da es ein Ort für den lebhaften Austausch von Menschen, Gütern und Informationen war. Erst in den 1960er Jahren erwachte der Markt zu neuem Leben. Ein Heilkräuterhändler nach dem anderen kam in die Gegend um den Bahnhof Cheongnyangni und das Busterminal im Viertel Majang-dong, so dass automatisch ein Markt entstand. Zwei Drittel aller medizinisch wirksamen Kräuter des Landes werden heutzutage auf dem Yangnyeongsi-Markt vertrieben. Als ich den Markt zum ersten Mal nach dreißig Jahren wieder besuchte, hatte er nichts von seiner legendären Lebhaftigkeit eingebüßt. Der Yangnyeongsi floss über vor ungewöhnlichen Zutaten, darunter die getrockneten Tausendfüßler, die einst Großmutter gekauft hatte, aber auch Ochsenfrösche, Maronenschalen, Szechuanpfeffer, Nachtkerzen etc. „Das Geschäft läuft nicht so gut wie früher, aber es ist immer noch der größte und beste Heilkräutermarkt im ganzen Land. Hier finden Sie jede Art von traditioneller Kräutermedizinzutat, und zwar von hervorragender Qualität“, erzählt ein Händler. Im Donguibogam Tower gibt es das Oriental Medicine Museum, das die Geschichte der traditionellen östlichen Medizin dokumentiert. Die Gassen, die sich labyrinthartig durch die Gegend schlängeln, führen zu einem allgemeinen traditionellen Markt, auf dem alltägliche Lebensmittel wie Gemüse, Obst, Fisch usw. angeboten werden. Atmet man den Heilkräuterduft ein, scheint der Körper leichter zu werden und der Anblick des bunten Warenangebots lässt das Herz höher schlagen.
Spezialmärkte auf dem Rückzug Es gibt zwar auch noch weitere traditionelle Märkte, die ihrem Namen nach wie vor alle Ehre machen, aber viele sind mittlerweile im Nebel der Geschichte verschwunden. Dazu gehört auch der Hwamunseok-Markt für traditionelle Matten, der Anfang der 1990er Jahre verschwand. „Hwamunseok“ ist eine Zusammensetzung aus den chinesischen Zeichen 花 (hwa: Blume), 紋 (mun: Muster) und 席 (seok: Platz, Matte): „Platz mit Blumenmuster“. Diese Zyperngrasmatten mit den schönen Mustern und dem wohlklingenden Namen wurden ab Mitte der Goryeo-Zeit (918-1392) auf der Insel Ganghwa-do zu einer von den lokalen Haushalten 14 KoREANA Sommer 2015
betriebenen Handwerkskunst entwickelt. 39 Jahre lang wurden die hochwertigen Matten auf Ganghwa-do, das nach dem Mongoleneinfall im 13. Jh als provisorische Hauptstadt fungierte, für die königliche Familie und die Hofbeamten hergestellt. Die Hwamunseok-Matten von Ganghwa-do werden in verschiedenen Dokumenten erwähnt, darunter in Sejong Sillok (Annalen von König Sejong), Imwon gyeongjeji (Sechzehn agrarwissenschaftliche Abhandlungen) und Gyodong-guneupji (Amtsblatt für den Landkreis Gyodong). Der Silhak-Gelehrte Yu Deuk-gong (1748-1807; Silhak: konfuzianische Lehre vom Praktischen Wissen) schrieb in Gyeongdo japji (Enzyklopädie über die Hauptstadt, historische Aufzeichnungen über jahreszeitliche Traditionen): „In wohlhabenden YangbanHaushalten (Yangban: Angehöriger der Oberschicht) werden Hwamunseok als Sitzkissen verwendet.“ Sogar Japan, das während der Besatzungszeit eine Politik der kulturellen Zwangsassimilierung des koreanischen Volkes führte, erkannte die Qualität der Hwamunseok an und förderte ihre Herstellung. Hwamunseok sind sehr luftdurchlässig, weshalb sie im Sommer kühlen, während sie im Winter die Kälte absorbieren. Selbst bei langer Nutzung bleibt ihr Glanz erhalten und aufgrund ihrer hohen Strapazierfähigkeit zerbröseln sie nicht so leicht . Um die Spuren des Hwamunseok-Marktes zu finden, brach ich nach Ganghwa-do auf. Ich besuchte die Ortschaften Dangsa-ri, die zum Volkskunde- und Erlebnisdorf Ganghwa Hwamunseok Village entwickelt wurde, und Yango-ri, wo sich die Ausstellungshalle Ganghwa Hwamunseok Culture Hall befindet. Vor 130 Jahren entwickelte der Handwerker Han Chung-gyo aus Yango-ri im Auftrag der königlichen Familie verschiedene Hwamunseok-Muster wie Brautenten, Landschaften, das Wan-Zeichen (卍), VolksmalereiMotive etc. Bis Mitte der Joseon-Zeit waren die beliebtesten Motive v.a. Drachen, Tiger und die zehn Symbole der Langlebigkeit. In den meisten Durchschnittshaushalten wurden allgemein einfache Zyperngrasmatten ohne Muster verwendet. Allein auf der Insel Ganghwa-do wurden bis in die 1980er Jahre hinein jährlich 49.000 prachtvolle Hwamunseok produziert. Damals beschäftigten sich etwa viertausend Haushalte bzw. ein Drittel aller Bauernhaushalte auf der Insel mit der Anfertigung von Hwamunseok. Jedoch nahm ihre Zahl ab den 1990er Jahren drastisch ab. Go Mi-gyeong, die in Dangsan-ri ein Zentrum betreibt, wo man sich im Anfertigen von Hwamunseok probieren kann, erklärt: „Die Leute hörten allmählich mit der Hwamunseok-Herstellung auf, da sie in der Stadt mit Lohnarbeit mehr verdienen konnten. Früher fand auf dem Fünf-Tage-Markt in Ganghwa ein eigenständiger Hwamunseok-Markt statt, aber aufgrund der rückläufigen Verkaufszahlen wird er jetzt nicht mehr abgehalten.“ Im Moment produzieren nur noch rund zehn Haushalte in Ganghwa Hwamunseok-Matten. Die Spezialmärkte, die hauptsächlich von bestimmten lokalen Produkten leben, haben mehr oder weniger große Veränderungen durchgemacht. Das immer noch als Edelprodukt geltende Hanfleinen aus dem Dorf Jukgok-ri in Geumgok-myeon, Jinju-si war
Die Geschichte des traditionellen Medizinmarktes Yangnyeongsi geht auf die Zeit von Joseon-König Hyojong zurück. Dieser Jahreszeitenmarkt, der auf königlichen Befehl jeweils im Frühling und Herbst abgehalten wurde, war ein umschlagplatz für kräutermedizinische Zutaten aus dem ganzen Land. Der Markt war aber nicht nur ein Handelsplatz für Heilkräuter, er wurde auf königlichen Befehl auch als Guhyul-Einrichtung genutzt: In der Joseon-Hauptstadt Hanyang gab es vier Guhyul, soziale Einrichtungen, die Arme, Hungrige und Kranke versorgten.
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1 Ab den 1980er Jahren zogen die in den verschiedenen Stadtteilen Seouls verstreuten Antiquitätenläden nach Dapsimni um, wo sie einen rund 140 Läden umfassenden Kunst- und Antiquitätenmarkt bildeten. 2 Die Buchladen-Gasse in Bosu-dong, Busan, entstand während des Koreakrieges. Heute ist sie ein bekannter kultureller und touristischer Hotspot von Busan, der zweitgrößten Metropole Koreas. Jeden Oktober findet hier eine Reihe von Kulturveranstaltungen statt.
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1 Der von der Hapcheon-Viehgenossenschaft in der Provinz Gyeongsangnam-do betriebene Markt. Der traditionelle Rindermarkt, der einst besonderes Kennzeichen der regionalen Fünf-Tage-Märkte war, ist mit der Einführung moderner Management-Systeme und elektronischer Auktionen so gut wie verschwunden. 2 Der Hwamunseok-Markt auf der Insel Ganghwa-do. Diese aus gefärbten ZyperngrasStreifen gewebten Sitzmatten waren nicht nur wegen ihrer Schönheit lange Zeit geschätzter Bestandteil des koreanischen Alltags. In den schwül-heißen koreanischen Sommern waren sie auch wegen ihres Kühleffekts beliebt.
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früher auf dem Fünf-Tage-Markt in der Stadt Jinju eine der Haupthandelswaren, aber heutzutage ist es nur noch im HanfleinenAusstellungszentrum in Jukgok zu finden. Die örtlichen Weber nehmen Bestellungen an und verkaufen den Stoff direkt an den Auftraggeber. Die Hanfleinenweberei Sambae-gilssam wird in Jukgok schon seit 1590, also seit über vierhundert Jahren, weitergegeben. „Gilssam“ umfasst alle Tätigkeiten vom Fädenziehen bis zum Weben. Für all die harten Arbeitsschritte von der Fadengewinnung aus Hanfstielen übers Weben der Stoffe bis hin zum Färben waren ausschließlich die Frauen zuständig. Obwohl vor dreißig bis vierzig Jahren noch das ganze Dorf in die Hanfleinenproduktion involviert war, sind es heute keine zwanzig Bauernhaushalte mehr. Alte Frauen weit über achtzig, sagen, dass sie diese Knochenarbeit nicht an die nächste Generation weitergeben möchten. Dennoch erklären sie: „Kleiden wir unsere Enkelkinder in Hanfleinenstoffe ein, sagen sie alle, dass sie sich bequem und gut tragen lassen. Deswegen können wir nicht so einfach aufhören, auch wenn die Arbeit hart ist. Es geht wirklich nichts über Hanfleinen-Kleidung.“ Dabei streichen sie sanft über die mit Hingabe gewebten Stoffe. Dem Rindermarkt droht ein ähnliches Schicksal. Laut Aufzeichnungen von Ende 1918 gab es damals landesweit 655 Rindermärkte. Heutzutage sind die meisten davon verschwunden oder sie sind so unbedeutend geworden, dass die typischen RindermarktSzenen von einst heute nirgends mehr zu finden sind. Der landesweit bekannte Rindermarkt in Cheongdo ist heutzutage nur noch Bestandteil des Fünf-Tage-Marktes in Donggok. Dieser Markt entstand in den 1930er Jahren und entwickelte sich in den 1960er und 1970er Jahren zum Handelszentrum im Kreis Cheongdo, Provinz Gyeongsanbuk-do. Erstmals 1959 abgehalten, wurde die Leitung 1998 an die Cheongdo Viehzucht-Genossenschaft übergeben, aber mit dem Aufkommen von elektronischen Auktionen im Jahr 2010 verschwanden die einst vertrauten Rindermarkt-Szenen schnell. In den so verlassenen Gassen erinnern heute nur noch Restaurants für Reis-Rindfleischeintopf und andere bekannte Fleischspezialitäten-Restaurants an die glorreichen Zeiten des berühmten Rindermarktes im Viertel Dogok-dong oder einige Metzgereien im Viertel Majang-dong.
Neue Spezialmärkte nach dem Koreakrieg Spezialmärkte haben aber nicht nur den Untergang erlebt. Nach dem Koreakrieg entstanden auch neue Märkte. Die Stadt Busan war im Krieg der größte Zufluchtsort. Die aus dem ganzen Land nach Süden Geflüchteten lebten in dieser Küstenstadt auf engstem Raum. Versorgungsgüter für die US-Armee und Waren, die in den Hafen von Busan kamen, wurden hier rege gehandelt. Im Viertel Nampo-dong entstand der Kukje-Markt, der „Internationale Markt“, ein Freiluft-Markt, auf dem es „nichts gab, was es nicht gab“, von elektronischen Haushaltsgeräten bis zu Kleidung. An der Mündung des Flusses Bosu-cheon im Viertel Chungmu-dong entstand ein Fischmarkt. Da es hier viele Kieselsteine (auf Korea-
nisch „Jagal“) gab, wurde er „Jagalchi-Markt“ genannt. Auch wenn nach Umsiedlung und Modernisierung der Jagalchi-Markt nicht mehr ganz so denselben Flair wie früher bietet, als die „Ajime“, die gestandenen Fischhändlerinnen in ihren Pluderhosen und Gummischürzen lauthals den Passanten ihre Waren anpriesen, so ist der Jagalchi-Markt nach wie vor Hauptsymbol der Stadt Busan. Das Viertel Bosu-dong ist bekannt für seine Büchergassen. Angefangen hat es damit, dass während des Koreakrieges in der Nähe des Gukje-Marktes Gassen entstanden, wo — mit Apfelkisten als Stand dienend — Bücher ge- und verkauft wurden. Bosu-dong ist heute einer der Hotspots zum Fotografieren, da es hier nicht nur kleine, gemütliche Bücher-Cafés, sondern auch farbenprächtige Graffiti-Kunst gibt. Dann gibt es Spezialmärkte, die quasi gegen den Strom der Zeit schwimmen. Der Kunst- und Antiquitätenmarkt im Seouler Viertel Dapsimni (Dapsimni Antique Shopping Mall) sieht heute noch so aus wie in den 1980er Jahren, als er entstand. Fährt man mit der Linie 5 des Seoul Metropolitan Rapid Transit bis zum U-Bahnhof Dapsimni und verlässt die Station durch Ausgang 1 oder 2, kommt man auf eine große Straße. Nach ein paar Schritten findet sich eine breite Auswahl an Dingen aus alter Zeit, die man höchstens im Museum anzutreffen erwartet, angefangen bei Antiquitäten wie traditionellen Hüten aus schwarzem Pferdehaar, Keramik, Holzarbeiten, Volkskunst, alte Malereien mit Kalligraphien, im Ausland bei Auktionen erstandene Gegenstände usw. Auf der Suche nach Dingen von einst gehen die meisten ins bekanntere Seouler Antiquitätenviertel Insa-dong. Wer jedoch „wirklich Altes“ sucht, für den ist Dapsimni die richtige Adresse. Hier befinden sich ca. 140 Antiquitäten- und Trödelläden, die in den 1980er Jahren aus verschieden Orten wie Cheonggyecheon, Ahyeon-dong, Chungmu-ro und Hwanghak-dong hierher zogen, und die heute 15% aller Antiquitätenläden des Landes ausmachen.
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MÄRKTE IN SEOUL: FAKTEN, DIE SIE NOCH INTERESSANTER MACHEN Kim Hyun-jin Freiberufliche Autorin
Der Namdaemun-Markt Der Namdaemun-Markt (Südtor-Markt) trat erstmals 1414, in der Anfangszeit des Joseon-Reiches (1392–1910) in Erscheinung. Schon damals befand er sich wie auch noch heute in der Nähe des Namdaemun, eines der vier Haupttore in der Festungsmauer der Hauptstadt Hanyang, wie Seoul zu der Zeit hieß. Song Byung-jun (1858–1925), ein pro-japanischer Reichsbeamter, gründete 1911 die Joseon Agrarwirtschaft AG, auf deren Basis sich der Markt zu seiner heutigen Form entwickelte. Der Namdaemun-Markt erlebte eine Reihe Auf und Abs: 1922 ging er in den Besitz eines Japaners über und 1936 wurde sein Name auf Direktive des japanischen Generalgouvernements in „Jungangmulsan-Markt (Zentralmarkt für Produkthandel)“ geändert. Zu der Zeit gab es aufgrund des Monopols und Faustrechts der japanischen Händler kaum noch Läden, die von Koreanern betrieben wurden. Die noch verbliebenen koreanischen Händler wurden schließlich in Richtung Yeomcheon-Brücke (neben dem heutigen Hauptbahnhof) vertrieben. Nach der Befreiung und dem Abzug der Japaner im Jahr 1945 kehrten die Koreaner auf den Namdaemun zurück und der Markt blühte wieder auf. Jedoch wurde mit dem Ausbruch des Koreakriegs im Juni 1950 der ganze Handel eingestellt. 1968 und 1975 kam es zu Großbränden, die fast den ganzen Kernbereich des Marktes zerstörten. Heute erstreckt sich der Namdaemun-Markt über eine Fläche von 42.225m2 und umfasst 58 Gebäude und 9.265 Läden. Das Warenangebot ist so vielfältig, dass sich schwer sagen lässt, was als Spezialprodukt gelten könnte. Es gibt hier im wahrsten Sinne des Wortes „nichts, was es nicht gibt“, angefangen bei Kinder-, Herren- und Damenbekleidung über Küchen- und Haushaltsbedarf, Elektrogeräte, Accessoires, Volks18 KoREANA Sommer 2015
kunstprodukte und lokale Spezialprodukte, bis hin zu Importwaren, Brillen, Kameras usw. Ist das Auge vom gewaltigen Produktangebot hinreichend gesättigt, gilt es, den Gaumen zu verwöhnen. Auf den Fressmeilen des Namdaemun, die des Nachts immer mit Besuchern aus dem In- und Ausland überfüllt sind, ist das bekannteste und repräsentativste Gericht definitiv Galchi jorim (in scharfer Soße geschmorter Degenfisch mit Rettichstücken). Als vor dreißig Jahren ein Restaurant auf dem Markt dieses Gericht zum ersten Mal anbot, war die Resonanz so groß, dass ein Restaurant nach dem anderen Galchi Jorim auf die Speisekarte setzte, bis schließlich die ganze Gasse als „Galchi jorim-Gasse“ bekannt wurde. Sie zieht einen endlosen Strom von Besuchern, die diese Spezialität probieren möchten, auf den Namdaemun-Markt. Der Namdaemun-Markt, in der Seouler Innnenstadt gleich in der Nähe des Einkaufsviertels Myeong-dong und des Lotte Department Store gelegen und mit einer langen, von vielen Höhen und Tiefen geprägten Geschichte, wird wohl auch in Zukunft der Markt bleiben, der von ausländischen Touristen am häufigsten besucht wird.
Der Dongdaemun-Markt Preisbewusste Fashionista gehen zum Dongdaemun-Markt (OsttorMarkt). Aber der Markt ist mehr als nur ein normaler Einzelhandelsmarkt. Die auf den Großhandel spezialisierten Läden öffnen um 20 Uhr und schließen im Morgengrauen. Gegen Mitternacht sieht man Händler aus allen Teilen des Landes, die – große Taschen mit Bekleidung über die Schultern geschwungen – mit den Besitzern der Kleiderläden um die Preise feilschen, während zig Großbusse, mit denen sie nach Seoul
1 Ein Hanbok-Laden auf dem Namdaemun-Markt. Die traditionelle koreanische Tracht hat im Laufe der Zeit verschiedene Veränderungen in Bezug auf Farben und Design erfahren. 2 Dongdaemun Fashion Town, ein riesiger Groß- und Einzelhandelskomplex mit mehr als 30.000 Läden und 100.000 Beschäftigten, ist zu einer international bekannten Touristenattraktion geworden. 3 Die Imbissstände auf dem Gwangjang-Markt sind berühmt für ihr vielfältiges Angebot an „Straßenessen“, das die Koreaner so sehr mögen. 4 Der Bangsan-Markt ist auf DIY-Zubehör spezialisiert. Die Beliebtheit von Duftkerzen hat dazu geführt, dass immer mehr Läden Materialien für Duftkerzenherstellung anbieten. 3
gekommen sind, am Straßenrand warten, um sie bis zur Morgendämmerung wieder nach Hause zu transportieren: Solche Szenen machen einen glauben, dass dieser Markt der einzige Teil in Seoul ist, der nicht schläft. Der Dongdameun-Markt ist nicht nur bei den Einzelhändlern in ganz Korea bekannt, sondern auch bei ausländischen Händlern und Touristen aus Südostasien, Südamerika, Europa, Russland usw. Der Dongdaemun-Markt ist ein riesiger Komplex, der das traditionelle Marktareal von Jongno 4-ga und Cheonggye 4-ga bis hin zur Gegend am alten Osttor, dem Dongdaemun, sowie eine Reihe moderner Einkaufszentren umfasst. Während der japanischen Besatzungszeit (19101945) wurde der Dongdaemun zwar „Baeogae-Markt“ genannt, er war aber 1905 als erster moderner Markt Koreas offiziell als „Dongdaemun-Markt“ registriert worden. Nach 1996 entstanden hier mehrere Fashion Shopping Center der Megaklasse, so dass das ganze Gebiet als „Dongdaemun Shopping Town“ bzw. „Dongdaemun Fashion Town“ bekannt wurde. Hier wird nicht nur Bekleidung verschiedenster Art verkauft, sondern alles, was man für die Kleiderherstellung braucht, angefangen von diversen Stoffen bis hin zu Verzierungen und Accessoires. Außerdem ist der Markt ein Ort, auf dem junge Designer mit Leidenschaft daran arbeiten, ihren Traum vom Vorstoß auf den internationalen Modemarkt zu verwirklichen.
Der Gwangjang-Markt Offiziell heißt der Gwangjang-Markt „Traditioneller Markt am JongnoPlatz“. Die 1904 gegründete Gwangjang AG, die den Markt betreibt, zählt zu den ältesten Unternehmen Koreas. Der Name des Marktes leitet sich von den beiden Brücken, zwischen denen er sich befindet, ab, nämlich von der Brücke Gwang-gyo in Cheonggyecheon 3-ga und Brücke Jang-gyo in Cheonggyecheon 4-ga. Einst für seine Vintage-Kleidung bekannt, macht er sich seit einiger Zeit eher einen Namen für seine Fressgassen. Zu den beliebtesten Speisen zählen Bindaetteok (Mungobohnen-Pfannkuchen), Janchi Guksu (Engelshaarnudeln in Anschovis- oder Rindfleischbrühe),
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Gogijeon (Fleisch-Pfannkuchen), Yukhoe (Tartar), Daegutang (scharfe Kabeljausuppe) und Mayak Gimbap, wörtlich „Drogen-Reisrollen", deren Geschmack süchtig machen soll. Diese Köstlichkeiten ziehen die ganze Woche über einen endlosen Strom von Besuchern an. Wer sich einen geschmacklichen Eindruck vom Essen des kleinen Mannes verschaffen möchte und den Markt ohne allzu hochgeschraubte Erwartungen besucht, der wird sicherlich auf seine Kosten kommen.
Der Bangsan-Markt Der Bangsan-Markt, direkt in der Mitte des alten Seouler Stadtkerns gelegen, bietet alles, was man zum Backen braucht, DIY-Materialien sowie Ein- und Verpackmaterial für alle Zwecke. Für Back-Enthusiasten hält der Markt günstiger als anderswo alle möglichen Zutaten und Materialien bereit, so dass man mit vollen Händen und süßen Träumen nach Hause zurückkehren kann. An Tagen wie Weihnachten oder Valentinstag wird die normalerweise eher eintönige Atmosphäre auf diesem traditionellen Markt schlagartig durch Trauben von aufgeregten Schülerinnen in Schuluniform und jungen Frauen aufgeheitert. Derzeit macht er sich auch zunehmend einen Namen als Ort, an dem man alles bekommen kann, was man für die Herstellung der derzeit bei den Damen so beliebten Duftkerzen braucht. Die meisten Verpackungsmaterialien wie die diversen Tüten und Pappkartons, die zum Einpacken von Lebensmitteln benötigt werden, sind ebenfalls hier zu finden. Der Bangsan-Markt ist in kleinem Maßstab auch auf Druckereibedarf aller Art spezialisiert, da sich gleich nebenan das Viertel Euljiro mit seiner hoch entwickelten Druckerei-Industrie befindet. Neben Verpackungsmaterial bringt dieser Markt gleich einem Zauberstab schnell und günstig auch alle Arten von Druckmaterialien für den Geschäftsbedarf hervor, seien es Plaketten oder Werbebroschüren. Anders als auf sonstigen Spezialmärkten schließen die meisten Geschäfte hier bereits um 18 Uhr, da die Kundschaft meist aus Händlern und nicht aus Einzelkunden besteht.
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Illustration : Kim Si-hoon
Das Leben der Fliegenden Händler
Wenn der Buchweizen blüht Auszüge aus der Erzählung Wenn der Buchweizen blüht von Lee Hyo-seok (auch: Yi Hyo-sok, 1907-1942). Die Übersetzung stammt von Anneliese Stern-Ko und Ahn, In-kyoung und wurde in der Sommerausgabe 2010 von KOREANA veröffentlicht.
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m Sommer war das Marktgeschäft von Anfang an lau. Die Sonne stand zwar noch hoch am Himmel, aber der Marktplatz lag bereits verlassen da und die sengenden Sonnenstrahlen verbrannten einem unter den Planen der Marktstände den Rücken. Die meisten Dorfbewohner waren bereits nach Hause gegangen und es würde sich nicht lohnen, ewig auszuharren, nur um dann mit den Holzfällern, die sich beklagten, dass sie ihr Feuerholz nicht los werden konnten, ins Geschäft zu kommen. Sie würden sowieso nur ein Fläschchen Petroleum und einige Fische kaufen. Sowohl die aufdringlichen Fliegenschwärme als auch die Lausbuben aus dem Dorf waren die reinste Plage.
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„Sollen wir nicht lieber Feierabend machen?“, lockte Heo Saengwon, ein linkshändiger Mann mit einem pockennarbigen Gesicht, seinen Gefährten Cho Seondal, mit dem zusammen er als Fliegender Stoffhändler von Markt zu Markt zog. „Gute Idee. Hier in Bongpyeong haben wir sowieso nie ein gutes Geschäft gemacht. Lass uns lieber morgen auf dem Markt in Daehwa einen ordentlichen Batzen verdienen.“ „Dann müssen wir wohl heute die ganze Nacht hindurch laufen, meinst du nicht?“, sagte Heo. „Der Mond wird doch scheinen, oder?“ Heo Saengwon schaute zu, wie Cho Seondal unter lautem Klimpern der Münzen den Tagesverdienst zählte, während er damit begann, die auf Pfosten ruhende Plane des Marktstandes zusammenzurollen und die feil gebotenen Waren einzupacken. Die Baumwollrollen und Seidenstoffbündel füllten seine beiden Weidenkörbe bis zum Rande. Auf der Strohmatte, die den Boden bedeckte, lagen Stofffetzen herum. Die meisten anderen Fliegenden Händler waren ebenfalls dabei, ihre Stände abzubauen. Es gab auch einige ganz Gewitzte, die bereits im Aufbruch begriffen waren. Von den Fischhändlern, Kesselflickern, Toffeehändlern und Ingwerverkäufern war schon nichts mehr zu sehen. Morgen war Markttag in Jinbu und in Daehwa. Aber egal, in welche Richtung man sich wandte, man würde die ganze Nacht hindurch marschieren müssen, um die sieben bis acht Meilen hinter sich zu bringen. Der Marktplatz lag jetzt unordentlich da wie der Hinterhof bei einer Feier und in den Wirtshäusern brachen Streitereien aus. Das Rumgefluche von Betrunkenen, vermischt mit einer schrillen Frauenstimme, zer-
riss die Luft. Der Abend eines Markttages begann unweigerlich mit dem Gezetere eines Weibes. * In den rund zwanzig Jahren, die Heo nun bereits als Fliegender Händler von Markt zu Markt gezogen war, hatte er auf seinen Runden nur selten Bongpyeong ausgelassen. Manchmal zog er auch in die benachbarten Kreise wie Chungju oder Jecheon und gelegentlich wanderte er sogar noch weiter nach Süden bis in die Provinz Gyeongsang-do. Aber wenn er nicht bis nach Gangneung oben im Norden musste, um seinen Warenbestand aufzustocken, zog er immer nur kreuz und quer durch den Kreis Pyeongchang. Noch regelmäßiger als der Mond wanderte er alle fünf Tage von Marktfleck zu Marktfleck. Voller Stolz erzählte er, dass sein Heimatort Cheongju sei, aber sein Weg schien ihn nie wegen irgendwelcher Familienangelegenheiten dorthin zu führen. Die schönen Landschaften entlang der Wege von einem Marktflecken zum nächsten waren seine Heimat. Wenn sie sich nach einem Halbtagestrott endlich dem nächsten Marktflecken näherten, der vor sich hin keuchende Esel ein kräftiges IAAAA ausstieß und dazu noch die Lichter der Ortschaft im nächtlichen Dunkel flackerten, dann klopfte Heos Herz immer noch unweigerlich schneller, obwohl er das alles längst gewohnt war. In seinen jungen Jahren hatte Heo ein strebsames Leben geführt und sogar einmal ein ordentliches Sümmchen auf die Seite gelegt. Aber dann, in einem Jahr, als das buddhistische Allerseelenfest in der Ortsmitte stattfand, hatte er einen drauf gemacht und gespielt und alles innerhalb von nur drei Tagen auf einen Schlag verloren. Und nur seine innige Zuneigung zu seinem Esel hatte ihn davon abhalten können, auch noch das Tier zu verkaufen. Am Ende war alles den Bach runtergegangen und ihm war nichts anderes übrig geblieben, als wieder als Fliegender Händler herumzuziehen. Nachdem er mit dem Esel zusammen aus dem Dorf geflohen war, brach er am Straßenrand in Tränen aus, streichelte den Rücken des Tieres und sagte: „Was für ein Glück, dass ich dich nicht verkauft habe.“ Da er Schulden gemacht hatte, konnte er erst einmal gar nicht daran denken, Geld zu sparen. Und so kam es, dass er von Markt zu Markt zog und von der Hand in den Mund lebte. Auch in den wenigen Tagen der zügellosen Verschwendung war es Heo nicht gelungen, ein Weib zu verführen. Die Frauen waren für ihn kalte und herzlose Geschöpfe. Der Gedanke, dass er sein Leben lang kein Glück mit den Frauen hatte, ließ ihn in Selbstmitleid versinken. Der einzige, der ihm stets treu war, war der Esel. Aber trotzdem hatte es auch für Heo ein erstes Mal gegeben, und das konnte er nie vergessen. Es war eine höchst seltsame Liebschaft, wie sie ihm nie zuvor begegnet war und auch nie wieder danach begegnen sollte. Es geschah, als er noch jung war und begonnen hatte, auf dem Markt in Bongpyeong Halt zu machen. Aber wenn er sich daran erinnerte, fühlte er, dass es sich gelohnt hatte, zu leben.
„Es war eine Mondnacht, aber ich weiß selbst heute immer noch nicht, wie es dazu kam,“ sinnierte Heo vor sich hin. Heo wollte auch in dieser Nacht die alte Geschichte wieder ausgraben. Seit Cho sein Freund geworden war, hatte der diese Geschichte schon so oft gehört, dass er ihrer überdrüssig geworden war. Und da Cho sich seinen Überdruss nicht anmerken lassen konnte, begann Heo voller Unschuld von Neuem damit und wiederholte die Geschichte gerade wie es ihm zupass kam: „In einer Mondnacht wie dieser ist so eine Geschichte genau das Richtige.“ Er blickte Cho von der Seite an, aber nicht etwa aus schlechtem Gewissen, sondern weil er vom Mondschein angeregt worden war. Der Mond, der die Vollmondphase gerade überschritten hatte, hatte etwas abgenommen und strahlte ein heitersanftes Licht aus. Bis Daehwa war es ein nächtlicher Marsch von acht Meilen, der über zwei Bergpässe, ein Flüsschen und über Feld- und Bergpfade führte. Der Weg, den sie jetzt gingen, lag auf dem Bergrücken. Es war wohl kurz nach Mitternacht. In der Totenstille klang das Atmen des Mondes greifbar nah wie das eines Tieres und die ins Mondlicht getauchten Sojapflanzen und Maisblätter schienen einen Ton grüner als sonst. Die Buchweizenfelder, die mit ihren gerade aufgehenden Blüten den ganzen Bergrücken bedeckten, schienen wie mit Salz bestreut und boten im heiteren Schein des Mondes einen Anblick, der einem den Atem stocken machte. Die roten Stiele machten wehmütig wie schwerer Blütenduft und die Schritte der Esel klangen lebhafter. Da der Pfad enger geworden war, ritten die drei jetzt auf ihren Eseln im Gänsemarsch hintereinander. Das Bimmeln der Glöckchen am Hals der Tiere strömte mit einem hellen Kling-Kling zu den Buchweizenfeldern. Die Stimme von Heo, der vorne ritt und seine Geschichte erzählte, war für Dongi, der das Schlusslicht bildete, nicht mehr so genau zu verstehen, aber er fühlte sich auch nicht einsam, da er sich erfrischt fühlte und dieses Gefühl ungehindert auskosten konnte. „Es war eine Nacht genau wie diese nach einem Markttag. Auf der schmalen Holzveranda der Händlerherberge war es schwül und ich konnte nicht einschlafen. Gegen Mitternacht stand ich auf und ging allein zum Bach, um zu baden. Bonpyeong war damals schon genau so, wie es heute ist. Wohin man auch blickte, überall gab es Buchweizenfelder und auch am Bach war alles voller weißer Blüten. Ich hätte mich da am Kiesufer ausziehen können, aber da der Mond zu hell war, ging ich in die Wassermühle. Es passieren schon seltsame Dinge zwischen Himmel und Erde! Da fand ich mich doch plötzlich von Angesicht zu Angesicht mit der Tochter von Seong. Sie war doch das schönste Mädchen von ganz Bongpyeong...“ „Das Schicksal muss sie dir wohl zugedacht haben.“ „Das wird wohl so gewesen sein“, bejahte Heo, paffte dann aber eine ganze Weile nur an seiner Zigarette, als wollte er sparsam mit seinen Worten sein. Violetter Tabakqualm stieg reich-aromatisch auf und schmolz in der Nachtluft. KoREANIScHE KuLTuR uND KuNST 21
SPEZIAL 3 Traditionelle Märkte: Ihre Geschichte und Entwicklung
Menschen, die den Tagesanbruch wecken Meine Marktgeschichten
Lee Myoung-lang Schriftstellerin Fotos Ahn Hong-beom
Der traditionelle Markt: ein Ort, an dem der Tag früher anbricht als anderswo und der nur so schäumt vor Vitalität. Hier leben Menschen mit völlig unterschiedlichen Biografien auf ganz unterschiedliche und doch sehr ähnliche Weise. Die Händler auf dem Obstmarkt, die anhand des jeweils angebotenen Obstes das Kommen und Gehen der Jahreszeiten beobachten, sind Konkurrenten und spenden einander doch Trost und Kraft wie in einer Familie.
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ch wurde im Seouler Stadtteil Yeongdeungpo geboren und wuchs auf dem dortigen Obst- und Gemüsegroßmarkt auf. Eine Zeitlang verdiente ich dort sogar mein täglich Brot mit dem Verkauf von Obst. Eines Tages stellte sich ein Fremder vor meinen Stand. Er trug völlig ausgelatschte Kunststoff-Sportschuhe und eine abgewetzte Camouflage-Jacke, die an den Ellbogen mit Flecken übersät war. Dieser Fremde wollte wissen, wie man Zwischenhändler werden könne. Kaum hatte er die Frage gestellt, überschlugen sich auch schon die Obsthändler neben mir mit Antworten: „Hier? Da können Sie auch ruhig Analphabet sein!“ „Wenn Sie hier was werden wollen, müssen Sie studiert haben. So einfach ist es nicht.“ Der Mann stand ob der dermaßen unterschiedlichen Antworten verwirrt da. Dieser Zwischenfall wurde dann eine lustige Anekdote auf unserem Markt. Aber an beiden Antworten war etwas Wahres dran: Auf dem Obst- und Gemüsegroßmarkt Yeongdeungpo, dem Zuhause meiner Kindheit, arbeiteten Menschen unterschiedlichster Herkunft. Während die einen Analphabeten ohne formale Grundschulbildung waren, hatten andere die Universität absolviert und sogar einen Doktortitel. Entsprechend grundverschieden waren ihre Lebensweisen. Für alle galt jedoch ohne Ausnahme: Ihr Lebensunterhalt hing einzig und allein von dem am jeweiligen Tag gelieferten Obst und Gemüse ab. Kamen Erdbeeren herein, mussten Erdbeeren verkauft werden. Waren es Pfirsiche, hatte man sich um die weiche Schale zu kümmern. Waren es Wassermelonen, mussten sie in stundenlanger Schwerstarbeit aufeinander gestapelt werden. Die wichtigste Frage für unsere Marktleute war daher immer, welches Obst und Gemüse am jeweiligen Tag geliefert würde, wobei auf dem Markt auch der Wechsel der Jahreszeiten anders wahrgenommen wurde: Sobald Erdbeeren hereinkamen, war Frühling, der Sommer begann mit Wassermelonen und der Winter mit Tangerinen. Auf diese Weise die Jahreszeiten gemeinsam begrüßend und verabschiedend wurden die Händler, die Makgeolli-Schale in der Runde kreisen lassend, gemeinsam alt.
Kinder eines Händlers sind Kinder aller Händler Ich wuchs als Kind aller Marktleute auf. Wenn ich bei einem Test als Klassenbeste abschnitt, bekam ich von den Stammgästen im Imbiss meiner Mutter zur Belohnung ein 22 KoREANA Sommer 2015
Bei einem Großhändler auf dem Ganseo-Großhandelsmarkt für Agrarprodukte prüfen Einzelhändler frisch vom Produzenten gelieferte Wassermelonen auf Schalendicke und Reifegrad.
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paar Münzen, und wenn ich spätabends noch im Park spielte, bekam ich von den vorbeigehenden Männern aus der Nachbarschaft etwas zu hören. Denn was die Kinder anbetraf, so waren die des einen Händlers die aller Händler und umgekehrt. Die Kinder der Händler müssen Vater oder Mutter bereits früh am Morgen auf den Markt begleiten. Die Krabbelkinder sitzen lachend, weinend oder zum Vergnügen der Großen den Kopf schüttelnd in leeren Apfel- oder Tangerinenkartons, bis die Erwachsenen den Stand schließen. Die Kinder, die schon laufen können, erforschen unbekümmert alle Ecken des Großmarktes. In einem Moment sitzen sie noch neben der Mutter, kaum aber hat man es sich versehen, sind sie schon im Bananenladen weiter weg verschwunden, nur um gleich darauf im Imbiss daneben herumzuflitzen. Da diese Frechdachse jederzeit etwas anstellen können, dürfen die Erwachsenen sie keine Sekunde aus den Augen lassen. Manchmal stibitzen sie einen Pfirsich aus dem Korb und rennen davon, manchmal eine teure Treibhaus-Tangerine, die sie dann so flink verputzen, dass es nicht mal für eine Schelte reicht. Trotz dieser Streiche strafen die Händler die kleinen Racker mit ihren schmutzigen Gesichtern und mageren Rücken nicht mit bösen Blicken, sondern nehmen sie liebevoll in die Arme. Wissen doch alle nur zu gut, was es heißt, mit dem Verkauf von Obst und Gemüse den Lebensunterhalt zu verdienen und Kinder großzuziehen. Die Kinder, die von den Eltern nicht ordentlich betreut werden können, laufen auf dem Großmarkt herum wie auf einem Riesenspielplatz. Wenn sie nach dem Herumgesause müde werden, kriechen sie in irgendwelche herumliegenden Obst- oder Gemüsekisten im Laden und schlafen dort ein: So sieht der Tag für die Marktkinder aus. Aus dem Grund können ihnen die Erwachsenen wohl trotz aller Schelmenstücke nie wirklich böse sein und decken die in den Kisten schlafenden Kleinen liebevoll zu. Wenn ich als kleines Kind die Plastiktüten eines Tütenhändlers zerriss oder teure Treibhaus-Tangerinen verputzte, taten die Händlerinnen zuerst mit weit aufgerissenen Augen so, als ob sie mich ausschelten würden. Doch wenn ich meinen „Ich-muss-mal“-Gesichtsausdruck aufsetzte, brachten sie mich zur Toilette, wenn ich hinfiel, halfen sie
Der Gangseo-Großhandelsmarkt für Agrarprodukte hält gesonderte Auktionen für Obst und Gemüse ab. Ab 2.30 Uhr kann im Halbstundentakt für Obst und ab 8.30 Uhr für Gemüse geboten werden.
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IHRE GESCHICHTEN VOM MARKT Bereits vor Sonnenaufgang stehen vor der Halle der Marktkooperative, wo die Produkt-Auktionen stattfinden, die Zwischen- und Großhändler Schlange. Apfelkisten sind mannshoch aufgestapelt. Darum herum drängen sich Händler, die sich entweder mit Fingerzeichen für die Gebotenabgabe aufwärmen — „eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neuen, zehn!“ — oder aber mit Argusaugen das Warenangebot prüfen. Allen Anschein nach handelt es sich heute um eine „stationäre“ Auktion, denn alle Zwischen- und Großhändler stehen auf dem Auktionspodium und prüfen die Apfelkisten. Produkt-Auktionen lassen sich in „stationäre“ und „nichtstationäre“ Auktionen unterteilen. Bei den ersteren stehen die Bietenden auf dem Auktionspodium und prüfen die Probeexemplare, die auf der mobilen Auslage an ihnen vorbeiziehen. Für Obstarten wie Äpfel, Birnen oder Khaki, die nicht leicht verderblich sind und beim Transport kaum beschädigt werden, wird die erste Methode angewendet. Bei „nicht-stationären“ Auktionen werden alle Waren an einem Ort zur Schau gestellt und die Bieter laufen die präsentierten Produkte ab. Nicht lange haltbare Obstarten wie Erdbeeren, weiche Khaki oder Trauben werden auf diese Weise versteigert. „Rück mal zur Seite!“ „Warum willst du immer das haben, worauf ich ein Auge hab?“ Vor den Apfelkisten, um die sich die Zwischen- und Großhändler drängeln, herrscht ein Heidenchaos, die einen quetschen sich durch die Menge nach vorn, andere öffnen die Kisten, um die Äpfel zu inspizieren. Einige geben bald auf und stellen sich an den Rand, nachdem sie mehrfach weggedrängt, geschubst und weggezogen worden sind oder ihnen jemand auf die Zehen gestiegen ist. „Zehn Kisten mit fünfzig Tsugaru-Äpfeln, angebaut von Lee Bok-soon aus Yeongcheon!“, ruft der sog. „Ausrufer“. Heute ist irgendein Herr Park vom Ladeteam dafür zuständig. Seine Aufgabe ist es, vor dem offiziellen Beginn der Versteigerung Cultivar, Herkunftsregion, Name des Erzeugers, Stückzahl pro Karton und Gesamtliefermenge auszurufen. Dieser Job scheint auf den ersten Blick keine besonderen Fähigkeiten zu erfordern, aber er wird nicht einfach so an jeden, der ihn mal machen möchte, vergeben. Vielmehr werden drei oder vier erfahrene Mitarbeiter des Ladeteams mit kräftigen Stimmen und rascher Auffassungsgabe ausgewählt, die wenigstens Teamleiterrang haben. Sie übernehmen die Aufgabe des Ausrufers dann im Turnus. „Ah! Zehn Kisten mit fünfzig Tsugaru-Äpfel von Lee Boksoon aus Yeongcheon!“
Der Auktionator auf dem Podium wiederholt die gerade vom Ausrufer bekannt gegebenen Informationen und die Zwischen- und Großhändler hinter den Apfelkisten machen sich für die Auktion bereit, indem sie sich einen Sichtschutz ums Hangelenk schnallen, damit die Konkurrenz ihre Zeichen nicht sehen kann. „Ah, dreißigtausend! Ah, einunddreißigtausend! Ah, zweiunddreißigtausend, dreiunddreißig! Fünfunddreißig, achtunddreißig, neununddreißigtausend! Vierzigtausend???“ Als der Auktionator die Auktion für eine Kiste mit 50 Äpfeln bei 30.000 KW startet, fliegen die Finger der Händler, die nur darauf warten, die qualitativ hochwertige Ware günstig zu erwerben, flugs in die Luft. „Niemand? Niemand bietet vierzigtausend? Dann geht die Ware für neununddreißigtausend an Nummer 702!“ Der Auktionator stampft mit dem Fuß auf. Damit ist der Handel besiegelt. Das Stampfen ist das Markenzeichen dieses Auktionators, mit dem er den Zuschlag vergibt. Nicht nur die Zeichen für die Zuschlagserteilung sind von Auktionator zu Auktionator unterschiedlich, sondern auch die Zwischenrufe. Der eine sagt „Ah, dreißigtausend“, der andere „Gut, nun dreißigtausend!“ oder „Gutschi, gutschi, gutschi, gutschi, dreißigtausend!“. Anscheinend hat jeder eine bevorzugte Art, die ihm im Laufe der Zeit bequem geworden ist. „Dreißig Kisten mit achtzig Tsugaru-Äpfel von Lee Boksoon aus Yeongcheon! Ah, siebentausend! Ah, achttausend! Ah, neuntausend!“ Durch die schnelle Abfolge der Ausrufe des Auktionators wissen die Händler, die jeweils nach anderen Produkten suchen, bald nicht mehr, wo ihnen der Kopf steht. Bei den Obstgroßhändlern können je nach Anspruchstandards drei Typen unterschieden werden: Die einen wollen Qualität um jeden Preis, die anderen sind zufrieden mit akzeptabler Qualität für akzeptablen Preis, für den Rest zählt nur der Preis und sie stürzen sich auf die billigste Ware. Ein kleines Quiz an dieser Stelle: Welche der drei Händlertypen hat die meisten Stammkunden? Die Antwort lautet: alle drei. Im Großhandel bedeutet gute Qualität nicht unbedingt viele Stammkunden. Nur Einzelhändler mit hohem Qualitätsanspruch gehen zu den Großhändlern des ersten Typs, während Kneipen- oder Barbetreiber eher bei den mittelpreisigen Anbietern kaufen. Und die mobilen Straßenstandverkäufer, die unabhängig von Jahreszeit, Sorte und Marktpreis für zwei Stück nie mehr als 3.000 KW zu zahlen bereit sind, gehen immer nur zu den Billighändlern. Auch heute bricht bei Tagesanbruch auf dem Markt die Geschäftigkeit aus. Die Händler eilen nach der Auktion mit den ersteigerten Waren zu ihren Ständen zurück, die Brust hoffnungsfroh geschwellt. KoREANIScHE KuLTuR uND KuNST 25
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Die Markthändler werden gemeinsam alt, die mit trübem Makgeolli-Reiswein gefüllte Schale in der Runde kreisen lassend, aus der dann jeder einen Schluck nimmt. Ein ort, an dem Menschen, die kein Tropfen gemeinsames Blut verbindet, enger als echte Geschwister zueinander stehen – das ist der Yeongdeungpo-Markt, meine wahre Heimat.
mir auf und kauften mir ein Eis, um mich zu trösten, und manchmal machten sie mir sogar kleine Geschenke wie ein gelbes T-Shirt, auf dem mein Name aufgedruckt war. Daher waren all diese Marktfrauen „meine Mütter“ und ich für alle „ihre Tochter“. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass auch heute noch die Kinder vom Großmarkt zum Elterntag am 8. Mai fleißig rote Nelken basteln und dieses Zeichen der Dankbarkeit an die Brust dieses „Onkels“ und jener „Tante“ heften. Ein Ort, an dem Menschen, die kein Tropfen gemeinsames Blut verbindet, enger als wirkliche Geschwister zueinander stehen - das ist der Yeongdeungpo-Markt, meine wahre Heimat. Doch diese Heimat konnte der übermächtigen Welle der Modernisierung nicht widerstehen und wurde weiter an den Stadtrand zum Gangseo Obst- und Gemüsegroßmarkt gedrängt. Dort, wo einst die gemeinsame Verkaufshalle unseres Marktes stand, war eine Zeitlang das Regionalbüro einer Partei untergebracht. Derzeit sind die Umbauarbeiten zu einer Shopping Mall im Gange.
Der Yeongdeungpo Obst- und Gemüsemarkt öffnet frühmorgens für GroßhandelsAuktionen und ist nachmittags für den Einzelhandelsverkauf geöffnet. Auf dem Markt gibt es einen ständigen Strom von Besuchern, die frisches Obst guter Qualität kaufen möchten.
„Man weiß nie, was noch alles passiert“ Auch nach der Umsiedlung des Marktes hat sich nichts am Tagesablauf der Händler geändert: Frühmorgens kommen sie zum Großmarkt, um Obst und Gemüse zu verkaufen, so ihren Lebensunterhalt zu verdienen und ihre Kinder großzuziehen. Auch an ihren Devisen wie „Man kann, wenn man muss“ oder „Man weiß nie, was noch alles passiert“ hat sich nichts geändert. Diese Sprüche mögen etwas pessimistisch klingen, doch wenn man genauer in das Leben der Händler hineinblickt, wird einem die wahre Bedeutung klar . Unter den Händlern gibt es einen gewissen Choi, der aussieht, als ob er überhaupt kein Glück in Gelddingen hätte, aber in Wahrheit macht er den höchsten Umsatz. Er ist ein ehemaliger Elektrotechniker, der im Zuge der Asienkrise 1997 arbeitslos wurde. Eines Tages lungerte er auf der Suche nach Obstabfällen auf dem Großmarkt herum, als einer der Zwischenhändler auf ihn zukam, ihm mietfrei den Platz vor seinem Laden anbot und ihm vorschlug, sich im Einzelhandel zu versuchen. Seitdem ist der Spruch „Man weiß nie, was noch alles passiert“ zu Chois Devise geworden. Das bedeutet nicht, dass es egal ist, wie man lebt, weil man sowieso nicht weiß, was kommt. Es bedeutet vielmehr, dass man, eben weil man nicht weiß, was morgen kommt, heute sein Bestes geben sollte . Eine weitere Berühmtheit des Marktes, die unter dem Spitznamen „die alte Kartonsammlerin“ bekannt ist, verbreitete den Spruch „Man kann, wenn man muss“. Die alte Dame, die die ausrangierten Obst- und Gemüsekartons sammelt, vergisst nie, höflich zu fragen, ob sie sie mitnehmen dürfe. Abfälle oder verfaultes Obst, das vielleicht noch in den Kartons ist, steckt sie zum ordentlichen Entsorgen in eine Mülltüte, die sie stets dabei hat. Umsichtiger könnte ihr Verhalten nicht sein. Man kann kaum glauben, dass dieses Großmütterchen mit dem Wiederverkauf von Kartons ihren Lebensunterhalt verdient. Wenn man sie darauf anspricht, schmunzelt sie nur und meint: „Man kann, wenn man muss“. Menschen, die glauben, dass man alles schaffen kann, wenn man muss, dass man nie wissen kann, was der morgige Tag für einen bereit hält; Menschen, die deshalb früher als andere in den Tag starten und ihn voll nutzen – das sind gerade die Menschen, die auf dem Markt zu finden sind. KoREANIScHE KuLTuR uND KuNST 27
SPEZIAL 4 Traditionelle Märkte: Ihre Geschichte und Entwicklung
Traditionelle Märkte als neue regionale Kulturzentren
Park Eun-young Freiberufliche Journalistin Fotos Shim Byung-woo
Gedämpftes Licht, unordentliche Verkaufsstände, enge Durchgänge: Das ist das gängige Bild eines traditionellen Marktes. Während er in der Vergangenheit im wahrsten Sinne des Wortes als Zentrum der lokalen Gemeinschaft fungierte, zieht es heutzutage immer weniger Menschen dorthin. Aber seitdem sich in letzter Zeit Nachwuchskünstler und junge Händler für diesen Ort des Niedergangs zu interessieren begannen, gehen die Lichter allmählich wieder an. Machen wir einen Streifzug durch die traditionellen Märkte, die durch zündende Ideen und brodelnde Energie ihren Glanz wiedererlangen.
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as Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus führte von 2008 bis 2013 das Projekt zur Wiederbelebung der traditionellen Märkte durch Kultur durch. Ziel war, die eigentliche Bedeutung des traditionellen Marktes aufs Neue bewusst zu machen und auf die Besonderheiten des jeweiligen Marktes abgestimmte Förderprogramme zu entwickeln. Laut Vertretern des Ministeriums habe das Projekt die traditionellen Märkte in regionale Kultur- und Kunstszenen umgewandelt, die jetzt auch von jungen Leuten gern besucht werden. Es gibt aber auch die Kritik, dass das Projekt „zu sehr auf reinen Schaueffekt und quantitativen Erfolg“ abgezielt habe. Tatsache ist jedoch, dass es die Märkte definitiv positiv beeinflusst hat, da jüngere Menschen allmählich Interesse an traditionellen Märkten entwickelt und dort für sich eigene Kulturräume erschlossen haben.
Märkte als neue Kultur- und Kunstzentren Eins der repräsentativsten Erfolgsbeispiele ist die Youth Mall des traditionellen Nambu-Marktes in Jeonju, Provinz Jeollabukdo. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass sich der Nambu-Markt mittlerweile zu einem Hotspot in Jeonju entwickelt hat. Auf 28 KoREANA Sommer 2015
der zweiten Etage des Marktgebäudes, wo ein Laden nach dem anderen wegen der düsteren Geschäftslage schloss, gingen die Lichter erst wieder an, als dort junge Startups einzogen, denen man die Ladenräume zu günstigen Mietpreisen überließ. Denn um junge Kunden anzulocken, bedurfte es junger Menschen. Heute finden sich in der Youth Mall u.a. ein Deko-Laden, dessen Inhaber in Frankreich Plastische Kunst studiert hat, ein Geschenkeladen, dessen Besitzer die von seinen monatlichen Auslandsreisen mitgebrachten Souvenirs verkauft, ein von einem Alternativmediziner betriebenes Gesundheitszentrum, aber auch eine Cocktailbar, ein Taco-Restaurant, ein koreanisches Restaurant etc. Mit dem steigendem Bekanntheitsgrad der Youth Mall stieg der Umsatz des traditionellen Marktes um 10 - 20%. Der Nachtmarkt, der freitags und samstags von 18.00 bis 24.00 Uhr auf ist, lockt mit kulinarischen Genüssen, Handwerks- und Handarbeitsprodukten sowie Kulturveranstaltungen wie kleine Ausstellungen und Vorführungen — ein farbenfrohes Treiben, dass die Besucher unabhängig von Geschlecht und Alter begeistert. Der Nambu-Markt gehört heute zusammen mit dem HanokDorf zu den wichtigsten Touristenattraktionen von Jeonju.
Markthändler und Nachwuchsfotografen SoHo und Chelsea in New York und der Kunstbezirk 798 in Beijings DashanziViertel sind Beispiele für ehemals heruntergekommene Fabrik- und Wohngebiete, wo sich junge, mittellose Künstler auf der Suche nach günstigem Mietraum ansiedelten. Dank ihnen machten in der Umgebung Geschäfte und Kunstgalerien auf, die weitere Besucher anlockten, was dann wiederum zur Entstehung von Cafés und Restaurants führte, so dass eine lokale Kulturszene mit distinktiv eigenem Flair entstand. Koreanische Pendants dazu wären u.a. die Seouler Viertel Hongdae-ap, bekannt für Kunst, Design und Clubbing, Garosugil, das neue Trend-Mekka der Mode, und Itaewon mit seinem international geprägten Shopping- und Clubbing-Ambiente. Dass die Viertel, in denen sich Künstler niederlassen, sich alsbald zu den neuesten Hotspots entwickeln, scheint mittlerweile so sicher wie das Amen in der Kirche zu sein. Wie wäre es, daraus ein Prinzip für die traditionellen Märkte abzuleiten? Im Untergeschoss des Marktgebäudes auf dem Jungang-Zentralmarkt im Seouler Stadtviertel Hwanghak-dong befindet sich die Kunsthandwerker- und Designer-Community Sindang Creativity Arcade. Die einst florierende, in den 1970er Jahren angeleg-
1 Die Werkstätte eines Handwerkers in der Sindang Creativity Arcade. Die einstige unterirdische Einkaufsmeile wurde von der Stadtregierung Seoul renoviert, um Werkstätten für Künstler und Handwerker zur Verfügung zu stellen, was den traditionellen Markt erfolgreich wiederbelebte. 2 Ein Laden in der Youth Mall im zweiten Stock des Nambu-Marktes in Jeonju. Die angebotenen Artikel sind sehr beliebt bei jungen Leuten auf der Suche nach originellen Stücken.
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te Untergrund-Shoppingmeile verlor im Laufe der Zeit immer mehr an Beliebtheit, bis nur noch eine Handvoll Läden übrig blieb. 2009 renovierte die Stadt Seoul das Marktgebäude und stellte die Räumlichkeiten jungen Kunsthandwerkern und Designern zur Verfügung. Die ihnen zugeteilten Werkstätten sind zwar nicht größer als etwa 7m2, dafür konnten sie sich frei von der Sorge um Miete und Nebenkosten auf ihre Arbeit konzentrieren. Doch die Künstler blieben nicht im Untergrund. Sie kamen hinauf, um sich unter die „alteingesessenen“ Händler des Jungang-Marktes zu mischen. Sie designten für sie neue Ladenschilder und veranstalteten Marktfeste. Anders als bei normalen Marktfesten, die darauf fokussieren, Touristen anzulocken und Besucher zur Teilnahme zu animieren, ging es darum, dass die jungen Künstler und die Händler näher zusammenkamen. Nicht unerwähnt bleiben kann in diesem Kontext der Daein-Markt in der Stadt Gwangju, Provinz Jeollanam-do, der ebenfalls durch die Zusammenarbeit von Nachwuchskünstlern und alteingesessenen Händlern wiederbelebt wurde. Park Sunghyen, Kurator der Gwangju Design Biennale 2008, ermutigte junge Künstler, die leer stehenden Läden als Ateliers zu nutzen. Dahinter stand der Gedanke, dass sich die Kunst auch in den Alltag des Normalverbrauchers hinein erstrecken sollte. Die Ladenbesitzer kooperierten, indem sie ihre Räume günstig vermieteten. Dreißig Künstler zogen ein und das erfolgreichste Ergebnis dieses Zusammengehens ist der Star Market, ein Nachtmarkt, der seit 2010 zweimal monatlich veranstaltet wird. In dem Viertel, das keine besonderen Kulturangebote zu bieten hatte, sorgte Mundpropaganda schnell dafür, dass der Star Market um das Doppelte wuchs, als die Markthändler begannen, ihre Stände reizvoller zu gestalten und mehr Erlebnisveranstaltungen anzubieten. Im Sommer 2013 wurde auf dem Daein-Markt das Dada Kreativitätsstudio eingerichtet, wodurch sich der Aktivitätsbereich der Künstler auf Kunstmessen, -auktionen und -ausstellungen 30 KoREANA Sommer 2015
Doch die Künstler blieben nicht im untergrund. Sie kamen hinauf, um sich unter die „alteingesessenen“ Händler des JungangMarktes zu mischen. Sie designten für sie neue Ladenschilder und veranstalteten Marktfeste.
etc. erweiterte, d.h. der traditionelle Markt wird aktiv als Atelier und Bühne genutzt. Doch anders als erhofft, erhöhte sich der Umsatz der Markthändler kaum. An Wochenenden kommen zwar pro Tag über 1.000 Besucher zum Markt, aber meist sind es Touristen, die sich für die Veranstaltungen und Vorführungen auf dem Star Market und nicht für die Alltagsprodukte der Händler interessieren. Aber allein die Tatsache, dass mit dem Einzug der jungen Künstler immer mehr jüngere Besucher auf den fast vergessenen Markt kommen und für eine lebhafte Atmosphäre sorgen, stimmt die Händler positiv. Der im Hongdae-Umfeld gelegene Dongjin-Markt in Yeonnam-dong verlor bereits vor langer Zeit seine Funktion als Markt und wurde von den Ladenbesitzern des Viertels in eine Art Lagerhalle umfunktioniert. Dieser vernachlässigte Marktplatz, so klein und ruhig, dass er leicht zu übersehen war, wurde von jungen Projektleitern und Designern mit großem Interesse an Kultur und traditionellen Märkten revitalisiert. Auf dem Dongjin-Wochenmarkt, der seit letztem Jahr alle sieben Tage stattfindet, werden von jungen Schreinern Holzmöbel aus wiederverwertetem Holz angeboten und junge Künstler und Händler veranstalten Workshops u.ä., was auch die
Gassen in der Umgebung wiederbelebte. Jüngst entstanden dort Schlag auf Schlag Cafés, Restaurants, Buchhandlungen, Künstlerwerkstätten, Galerien und andere Einrichtungen und machten so diese Gegend zur gefragtesten in der Umgebung des Trendviertels Hongdae-ap.
Bongpyeong-Markt: ein neues Gesicht durch Design Der Bongpyeong-Markt im Kreis Pyeongchang, Provinz Gangwon-do, wurde durch die aktive Unterstützung der Kommunalverwaltung und die Kooperationen von Händlern und Unternehmen erfolgreich umgewandelt. Jahrhunderte lang galt der Bongpyeong-Markt als der landesweit größte Markt. Auch heute noch gibt es dort einen ständigen Markt mit ca. 70 Läden, und auf dem Fünf-Tage-Markt, der an den Daten, die auf 2 oder 7 enden, stattfindet, sorgen ca. 100 Händler für den Weiterbestand des Marktes. Der Bongpyeong-Markt ist berühmt als Kulisse von Lee Hyo-seoks Erzählung Wenn der Buchweizen blüht, die den Alltag der Fliegenden Händler sowie ihr Freud und Leid beschreibt. Dank dessen wimmelt es dort im September, „wenn der Buchweizen blüht“, von Touristen. Auf dem Bongpyeong-Markt, der von den Touristenzielen und vom Lee-Hyo-seok-
1 Ein Accessoire-Laden auf dem Daein-Markt in Gwangju. Da die Werkst채tten von den jungen Kunsthandwerkern als Arbeits- und Verkaufsraum genutzt werden, wird der Markt an sich jetzt von mehr jungen Leuten besucht. 2 Der Seoul Central Market in Hwanghak-dong hat ein gewisses k체nstlerisches Flair erhalten, als die in der Sindang Creativity Arcade ans채ssigen K체nstler ihr kreatives Talent auf dem traditionellen Markt entfalteten.
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Literaturmuseum nur 100m entfernt liegt, herrschte dagegen lange einsame Stille. (Auszüge aus Wenn der Buchweizen blüht finden Sie auf S. 20) Auf der Suche nach Wegen zur Sicherung der Zukunft der regionalen traditionellen Märkte einschließlich des Bongpyeong-Marktes klopfte die Regierung der Provinz Gangwon-do schließlich bei Hyundai Card an. Die Idee war, das Hyundai Card’s Dream Realization Project, das u.a. Geschäftsrenovierung und Entwicklung von systematischen Serviceprogrammen für Kleinbetriebe anbietet, auf traditionelle Märkte anzuwenden. Im Rahmen des Projektes bemühte sich Hyundai Card Design Lab zusammen mit der Provinzregierung,
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ein nachhaltiges System aufzubauen, das unter Wahrung der eigentlichen Funktion des Marktes seine Selbstständigkeit sicherstellen sollte. Sie überlegten sich, was man mit dem Vorhandenen tun kann, ohne etwas Neues zu schaffen oder hinzuzufügen. So entschieden sie sich, die für einen Fünf-Tage-Markt unverzichtbaren Planen für die Stände je nach Produktangebot mit bestimmten Farben zu versehen: Grün für Agrarprodukte, Blau für Fischereiprodukte, Lila für Kleider, Orange für Esswaren etc. Darüber hinaus wurde an jedem Stand ein Schild mit dem Foto des Händlers und einer kurzen Produktbeschreibung angebracht. Für das Projekt führte die Provinzregierung zudem
Schulungen der Händler durch, in denen z.B. über Herkunftsauszeichnung, Preisetikettierung, Farbarrangement und Produktpositionierung aufgeklärt wurde. Doch das war wohl kaum ausreichend, um die Handelspraktiken und Eigenheiten des Geschäftsbetriebs, die den Händlern über Jahrzehnte in Mark und Bein übergegangenen waren, grundlegend zu verändern. Der Bongpyeong-Markt hat auch nicht viele Promotions- oder Kulturveranstaltungen wie Märkte mit jungen Künstlern. Seine Attraktivität ist gerade, dass der Besucher dort das authentische Gesicht eines Marktes mit langer Geschichte und den einfachen Alltag der Bewohner der Region erleben kann.
„MIT DEM ZUFLUSS DER BESUCHER KAM DER EINFLUSS DES KAPITALS.“
„STOLZ DARAUF, DER EINZIGE TRADITIONELLE MARKT MIT KUNST-SCHWERPUNKT ZU SEIN“
Kim Chae-ram Leiterin des Vereins Bottaridan auf dem Nambu-Markt in Jeonju
Jung Sam-jo Generaldirektor des Star Market auf dem Daein-Markt in Gwangju
Bottaridan („Die Packer“), angesiedelt in der Youth Mall des NambuMarktes, organisiert verschiedene Veranstaltungen zur Revitalisierung des Marktes. Unter dem Motto „Kulturhub der Region“ führt der Verein verschiedene Aktivitäten durch, darunter Planung und Leitung von Flohmärkten, Betrieb von ausgewiesenen Läden, die lokale Marken führen und Veranstaltung von inspirativen Workshops. Doch mit den steigenden Besucherzahlen streckte auch das Großkapital seine Tentakel im Markt aus: Im Erdgeschoss der Markthalle und in der Umgebung des Marktes entstehen immer mehr Franchise-Läden und verdrängen die alteingesessenen Händler. Wie jede Medaille zwei Seiten hat, so mag auch diese Erscheinung unvermeidlich sein, bedauerlich ist sie allemal.
Zurzeit betreiben auf dem Daein-Markt ca. 20 junge Startup-Teams eigene Läden. Dank ihrer Aktivitäten hat seit letztem Jahr die Zahl der jungen Besucher deutlich zugenommen und der Markt hat landesweit an Bekanntheit gewonnen. Auch die alteingesessenen Markthändler begrüßen den Wandel allgemein. Die jungen Händler fühlen einen gewissen Stolz darauf, dass sie an der Schaffung des „einzigen traditionellen Marktes mit Kunst-Schwerpunkt“ mitwirken. Sie bemühen sich, die Selbstständigkeit des Marktes zu erhöhen, damit auf dem „KunstMarkt“ Tradition und Kunst, Händler alter Schule und junge Händler sowie junge Künstler koexistieren können.
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„FÜR JUNGE KÜNSTLER IST DER FLOHMARKT DIE DEBÜTBÜHNE PER SE“ Song Yoon-gi Geschäftsführerin und Designerin von Susurrus
Nachdem ich in Großbritannien Fashion Accessoires Design studiert und nach Korea zurückgekehrt war, brachte ich meine eigene Marke auf den Markt. Letztes Jahr habe ich zum ersten Mal an einem Flohmarkt, der im Rahmen eines Events in Digital Media City im Seouler Stadtviertel Sangam-dong stattfand, teilgenommen. Danach habe ich meine Marke landauf, landab auf allen Flohmärkten von Busan bis Seoul vorgestellt. Etwa sechs Monate später kam ein Anruf von einem Merchandiser der Kaufhauskette Hyundai mit dem Angebot, an einem Pop-up-Stand für Nachwuchsdesigner teilzunehmen. Heute gehört Susurrus zum ständigen Sortiment der großen Kaufhausketten in Seoul und Daegu. Für Nachwuchsdesigner ist der Flohmarkt über einen Handelsort hinaus die Debütbühne per se.
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1 Eine Künstlerin bei der Arbeit in der Sindang Creativity Arcade. Die nur 6,6m² große Werkstatt dürfte der ideale Ort für die Künstlerin sein, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. 2 Die Youth Mall auf dem NambuMarkt in Seoul. Jedes Wochenende finden hier unter Federführung der Planungsgruppe Boddaridan Events aller Art statt. 3 Die Arkade im Daein-Markt in Gwangju. Die Designs an den Eingängen zu den einzelnen Geschäften stammen von den hier ansässigen Künstlern. 4 Marché, ein bekannter Flohmarkt in Seoul, öffnet seine Pforten im Viertel Daehangno. Dieser alle zwei Wochen abgehaltene Markt bietet jungen Entrepreneurs eine wertvolle Gelegenheit, für Produkte aus eigenem Anbau zu werben.
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INTERVIEW
Seung Hyo-sang plant eine Stadt der Regenerierung und Gemeinschaft
Park Seong-tae Generalsekretär der Junglim Foundation
Der koreanische Architekt Seung Hyo-sang (auch bekannt als Seung H-Sang) verfolgt in seinen Bauwerken eine Philosophie der „Schönheit der Armut“, die „Nutzen“ über „Haben“, „Teilen“ über „Mehren“ sowie „Leeren“ über „Füllen“ stellt. Die Wurzeln des Menschen als in Einklang mit der Natur lebendem Wesen nicht vergessend, will er durch seine Bauwerke zum Ausdruck bringen, wie schön es ist, Wege und Land miteinander zu teilen, und wie großartig es ist, einen Raum zu gestalten, in dem die Menschen miteinander kommunizieren können. Wie wird das Gesicht der koreanischen Hauptstadt, das Seung als erster Stadtarchitekt Seouls präsentieren wird, aussehen? 34 KoREANA Sommer 2015
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eung Hyo-sang (geb. 1952) ist einer der repräsentativsten intellektuellen Architekten in Korea. Nur wenige in koreanischen Architekturkreisen verfügen über ein so breit gefächertes und tiefschürfendes Wissen wie er. Auf Grundlage des Konzepts „Schönheit der Armut“, das er als Mitglied der sog. 4.3 Gruppe, die 1990 von Architekten ähnlichen Alters frei von akademischen Alumni-Beziehungen zur Anregung eines neuen Diskurses gegründet wurde, vertritt, hat Seung sich in den letzten zwei Jahrzehnten als einer der repräsentativsten Architekten Koreas etabliert. Seit September 2014 hat er seine eigentliche Tätigkeit hintenan gestellt, um als Stadtarchitekt für Seoul die Stadtregierung bei Auswahl und Bewertung der Stadtentwicklungspläne zu beraten. Zurzeit werden unter seiner Federführung Stadterneuerungsprojekte wie der Ausbau des Gwanghwamun Plaza, die Erneuerung der auf Elektronik aller Art spezialisierten Sewoon Shopping Mall und die Umgestaltung der Hochstraße am Hauptbahnhof Seoul in einen „Schwebenden Garten“ vorangetrieben. Welche Rolle spielt er in der Stadtentwicklungspolitik Seouls und was will er erreichen?
Seouls erster „Stadtarchitekt“ Park Seong-tae Sie haben Ihre Arbeit als Stadtarchitekt der Stadt Seoul jetzt richtig in Angriff genommen. In Korea ist eine solche Position im Rahmen des Öffentlichen Dienstes ja noch neu. Seung Hyo-sang Zurzeit liegt hier meine Priorität. Reaktionen wie „Ach, zu kompliziert, zu kontrovers, lass es lieber!“ wären ein Desaster. Ich muss selbst politisch handeln, was wirklich stressig für mich ist. Aber jetzt bin ich alt und kann es besser ertragen. Früher wäre das nicht in Frage gekommen. Park Sie haben bislang Ihre Rolle im Dienste der Gesellschaft stets erfüllt, z.B. als Koordinator der Buch- und Verlagsstadt Paju
1 Seung Hyo-sang, Seouls erster Stadtarchitekt, träumt von einem Ort, an dem die Menschen miteinander und mit der Natur kommunizieren können. 2 Welcomm City (2000). Das Hauptquartier der Werbeagentur Welcomm in Jangchungdong, Seoul, ist eins der wichtigsten Werke von Seung Hyo-sang.
©Osamu Murai
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Bookcity oder als Kommissar des koreanischen Pavillons auf der Internationalen Architektur-Biennale in Venedig, aber die Belastungen und Schwierigkeiten, die mit der Stadtarchitekt-Position verbunden sind, scheinen noch größer zu sein. Was möchten Sie trotz dieses schwierigen umfelds an Seoul ändern? Seung Wird sich etwas großartig verändern, nur weil ich es ändern will? Es geht mir nicht ums Ändern, sondern darum, den Forderungen des Zeitalters zu entsprechen. Wir befinden uns jetzt in einer Zeit des geringen Wachstums. Das spüre ich hautnah. In den Zeiten des Aufschwungs war eine wahllose, kompromisslose Stadtentwicklung möglich. Doch nun wandelt sich das Entwicklungsparadigma: Zusammen mit den betroffenen Bürgern werden erst notwendige Verbesserungen im Kleinen unternommen, dann wird abgewartet und schließlich der Schritt zur nächsten Stufe gemacht. Es wird jetzt also eine weisere Methode der Stadterneuerung bevorzugt, die vielleicht zwar zeitaufwendiger ist, dafür aber die durch Versuch-und-Irrtum entstehenden Kosten reduziert. Die Tendenz geht also vermehrt hin zur sog. Städtischen Akupunktur. Park Sie wollen also die Schwachstellen Seouls wie die Hochstraße am Bahnhof, die Sewoon Shopping Mall oder den Gwanghwamun Plaza, deren Entwicklung zurzeit von der Stadtregierung vorangetrieben wird, identifizieren, durch begrenzte architektonische Eingriffe wiederbeleben und Seoul auf diese Weise verändern? Seung Die bisherige Stadtentwicklung hat die Gemeinschaft von der Natur und den Menschen vom Menschen getrennt. Es ist meiner Meinung nach an der Zeit, sie nun schrittweise wieder in Verbindung zu bringen. Für die Belebung einer Stadt bedarf es keiner zusätzlichen prächtigen und spektakulären Mammuträume, sondern vielmehr einer Verbindung von öffentlichen Räumen mit Potential. Daher kann man sagen, dass die genannten Erneuerungsprojekte sowie die Verbindung dieser Projekte genau den Forderungen des Zeitalters entsprechen.
Wiederbelebung von Gemeinschaft, Natur und zwischenmenschlichen Beziehungen Park Welches dieser Projekte finden Sie am schwierigsten? Wohl die Erweiterung des Gwanghwamun Plaza, für die fünf Fahrspuren weg sollen. Das Projekt ist sehr umstritten. Seung Das Gwanghwamun-Projekt ist eher unproblematisch. Bislang gab es dort schon verschiedene Experimente wie die Sperrung einiger Fahrbahnen am Wochenende, was aber kaum Verkehrsbehinderungen verursachte. Man braucht den Platz nur schrittweise zu erweitern. Außerdem planen wir dort mehr kulturelle Einrichtungen. Dort soll ein Ort der Geruhsamkeit entstehen, wo man bei gutem Wetter Aufführungen und Ausstellungen genießen und sich bei einer Tasse Tee unterhalten kann. Park Sie scheinen eine fußgängerfreundliche Stadt im Sinn zu haben. Sie möchten wahrscheinlich das Stauproblem, das als eines der Gegenargumente vorgebracht wird, durch Zufahrtsbeschränkungen in Richtung Gwanghwamun lösen? KoREANIScHE KuLTuR uND KuNST 35
Seung Richtig. Der Bereich innerhalb der Festungsmauern ist die Altstadt. In anderen Ländern sind historische Städte meistens klar in eine Altstadt und eine Neustadt unterteilt. In Seoul ist diese Grenze verschwunden. Sie wurde einfach abgeschafft, weil wir immer nur die modernen ausländischen Städte nachgeahmt haben. 2014 veröffentlichte die Stadtregierung den 2030 Seoul Plan als neue Vision. Erst jetzt werden darin auch die Berge berücksichtigt. Davor wurden sie völlig außer Acht gelassen und waren nicht einmal auf den Skizzen eingezeichnet. Die Einbeziehung der Berge bedeutet, dass man die Stadt wieder dreidimensional betrachtet. Wenn die Stadtentwicklungspolitik auf dieser Stadtstruktur fußend aufgebaut wird, könnte durchaus Potential für eine Altstadt als „slow city“ bzw. eine Stadt der Leere erschlossen werden.
Altstadt-Wiederbelebung und Kleinviertel-Projekt Park Sie sagen, dass sich auch die umgebung verändert, wenn sich das Zentrum verändert. Haben Sie für die Gebiete außerhalb des durch die vier Haupttore markierten Altstadt-Kerns noch klei36 KoREANA Sommer 2015
nere Gemeinwesen mit eigenen kleinen „Viertel-Kernen“ im Kopf? Seung Das große Bild von Seoul, das mir vorschwebt, ist eine Stadt der Leere bzw. der Langsamkeit innerhalb der vier Haupttore, während außerhalb davon rund 150 Gemeinwesen geschaffen werden können. Zu den Wahlversprechen von Seouls Oberbürgermeister Park Won-soon gehörte u.a. das „10-Minuten-Viertel-Projekt“. Danach sollen die einzelnen Viertel so gestaltet werden, dass die Einwohner innerhalb von zehn Gehminuten Büchereien, Parks sowie soziale und kulturelle Einrichtungen erreichen können, d.h. es geht um Viertel und Gemeinwesen, die selbstständig existieren, aber gleichzeitig auch miteinander verbunden werden können. Park 2017 soll in Seoul der Kongress der union Internationale des Architectes (uIA) stattfinden, nicht wahr? Seung Ja. In Seoul gibt es bislang keine internationalen Kulturveranstaltungen. In anderen Regionen werden bereits internationale Kulturfestivals veranstaltet wie das Internationale Filmfestival Busan, das Internationale Musikfestival Tongyeong und die Gwangju Biennale. Daher sind gerade Vorbereitungen für die erste Archi-
„Die bisherige Stadtentwicklung hat die Gemeinschaft von der Natur und den Menschen vom Menschen getrennt. Es ist meiner Meinung nach an der Zeit, sie nun schrittweise wieder in Verbindung zu bringen. Für die Belebung einer Stadt bedarf es keiner zusätzlichen prächtigen und spektakulären Mammuträume, sondern vielmehr einer Verbindung von öffentlichen Räumen mit Potential.“
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1 Seoul Arboretum des niederländischen Architekten Winy Mass ist der Gewinner der Ausschreibung für das Seoul Station 7017 Project . Der Entwurf zeigt einen „Schwebenden Garten“ mit Bäumen und Pflanzen auf der Hochstraße neben dem Hauptbahnhof Seoul. 2 Der Sewoon Greenbelt Garden. Die Stadt Seoul brachte einen Plan auf den Weg, um das in der Entwicklung hinterher hinkende Gebiet um die Sewoon Shopping Mall durch die Schaffung grüner Flächen attraktiver zu gestalten.
tekturbiennale im Gange, die anlässlich des UIA-Kongresses 2017 in Seoul stattfinden soll. Für 2015 ist eine Pre-Biennale geplant. Ich habe mehrmals an der Biennale di Venezia teilgenommen, aber der Schwerpunkt lag ausschließlich auf dem Westen. Letztes Jahr war ich auch da. Als ich vor drei Jahren zur Hauptausstellung eingeladen wurde, war der britische Architekt David Chipperfield (geb. 1953) als Kommissar zuständig. Damals kamen von über 100 eingeladenen Architekten nur zwei aus Asien: die japanische Architektin Kazuyo Sejima (geb. 1956) und ich. Da dachte ich, dass auch einmal eine Architekturbiennale in Asien stattfinden sollte. Park Was würden Sie nach Ablauf Ihrer Amtszeit als Stadtarchitekt am liebsten machen? Gibt es besondere Pläne? Seung In Europa arbeiten Architekten in Dreier- oder Viererteams an einem Projekt, weshalb man sich nicht so stark um den verwaltungstechnischen Betrieb des Büros kümmern muss. Es bleibt mehr Zeit zum Überlegen und es werden mehr Skizzen und Baupläne angefertigt. Das sieht mir nach Glück aus. So möchte ich auch arbeiten.
Wer ist Seung Hyo-sang? Seung Hyo-sang wurde 1952 in Busan geboren. Nach seinem M.A.Abschluss in Architektur an der Seoul National University studierte er an der Technischen Universität Wien weiter. 15 Jahre lang arbeitete er im Büro des Architekten Kim Swoo-geun (Vorgänger von SPACE Group), wo er an der Gestaltung mehrerer wichtiger Bauwerke beteiligt war, z.B. der Kathedrale Yangdeok in der Diözese Masan, und der Presbyterianischen Kirche Kyungdong in Seoul. 1989 gründete er die Firma IROJE. Zu seinen repräsentativen Werken gehören Sujoldang (1993), das Haus des koreanischen Kunsthistorikers Yu Hong-jun, sowie das Haus Subaekdang (1998), das Bürogebäude Welcomm City (2000) und die Grab- und Gedenkstätte des ehemaligen Präsidenten Roh Moo-hyun (2010) im Dorf Bongha. 2002 wurde Seung als erster Architekt mit dem Korea Artist Prize des Nationalmuseums für Moderne und Zeitgenössische Kunst (MMCA) ausgezeichnet. Außerdem arbeitete er als Kommissar für den koreanischen Pavillon auf der Biennale di Venezia und als Generaldirektor der Gwangju Design Biennale. Er verfasste auch Bücher wie Alte Sachen sind alle schön (2012), Das Grab von Roh Moo-hyun (2010), Kulturreise auf 50 Grad nördlicher Breite (2010), Landscript: The Inscription of Nature and Life on the Land (2009), Bauen, ein Zeichen des Denkens (2007) und Schönheit der Armut (1996).
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HÜTER DES TRADITIONELLEN ERBES
auf der Suche nach den verschwindenden klängen des koreanischen Volkes Chung Jae-suk Leitartikelschreiberin und Kulturredakteurin, Tageszeitung The JoongAng Ilbo Fotos Cho Ji-young
Choi Sang-il, Radioproduzent beim Rundfunk- und Fernsehsender MBC (Munhwa Broadcasting Corporation), hat sich stärker dem Sammeln und Erforschen der koreanischen Volksweisen als der Produktion von Radiosendungen gewidmet. Sein 25-jähriges Berufsleben verbrachte er ausschließlich „auf der Suche nach den verschwindenden
Klängen des koreanischen Volkes“ (Choi ist Produzent der gleichnamigen Radiosendung). Hinterlassenschaft seines bisherigen Berufslebens, von dem er nur noch ein Jahr vor sich hat, ist eine Sammlung von 18.000 regionalen Volksliedern. Nun träumt er davon, den zweiten Abschnitt seines Lebens damit zu beginnen, sich über die koreanische Halbinsel hinaus auf die Suche nach regionalen Volksliedern in ganz Asien zu begeben.
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Choi Sang-il hat das Schlafzimmer seiner Wohnung in ein Archiv für Volkslieder-Aufnahmen verwandelt. Umgeben von seinen Sammelstücken meinte er, er sei am glücklichsten beim Anhören der Lieder seiner letzten Aufnahmereise gewesen.
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1 Nach der Aufnahme der von ihnen vorgetragenen Volksweisen vergnügen sich einige ältere Frauen im Dorf Baksil, Kreis Goryeong-gun, Provinz Gyeongsangbuk-do, mit dem Spielen von Trommel oder Gong, während andere singen oder tanzen. In allen Dörfern, die das MBC-Team aufsuchte, waren die Aufnahmearbeiten stets von solch fröhlichem Treiben begleitet. 2 Auf einem an einem Berghang gelegenen Feld in Samcheok, Provinz Gangwondo, wird gerade das „HäckselLied“ aufgenommen, wobei die Sänger die Hächselmaschine wie in alter Zeit per Hand betreiben. Das so geschnittene und auf den Feldern in Haufen gelagerte Stroh wurde als organischer Dünger verwendet. Diese alte Düngemethode verschwand jedoch mit dem Aufkommen chemischer Dünger. 3 Inmitten einer Wiese singt eine Frau aus der Provinz Khovd in der westlichen Mongolei die Lieder ihres Nomadenstammes, die von Choi Sang-il aufgenommen wurden. Choi träumt davon, durch ganz Asien zu reisen und die Volkslieder der einzelnen Regionen zu sammeln.
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Die Sehnsucht nach dem, was verschwindet „Meine Familie zog nach Seoul, als ich in der fünften Klasse war. Ich, ein Landei aus Yeoju in der Provinz Gyeonggi-do, verstand nicht, warum alles immer schnell, schnell gehen sollte. Es entsprach absolut nicht meiner Art, immer der Erste, immer besser als andere sein zu sollen. Von Kindesbeinen an genoss ich es, mich auf dem Dachboden zu vergraben oder stundenlang bei Kerzenlicht in einer ruhigen, gemütlichen Ecke zu sitzen. Als ich während meiner Studienzeit Ende der 1970er Jahre im Rahmen des freiwilligen Landwirtschaftseinsatzes einmal nach Wonju in der Provinz Gangwon-do ging, hörte ich ein Großmütterchen beim Arbeiten auf dem Bohnenfeld ein Lied singen, das noch lange wie ein Echo in meinem Inneren nachhallte. Erst sehr viel später fand ich heraus, dass es sich um das Volkslied Ara-ri handelte, also um die in der Region Gangwon-do gesungene Version des landesweit berühmten Volksliedes Arirang“ – erinnert sich Choi. Als er bei MBC anfing, konnte er sich nicht mit den tagtäglich rotierenden Produktions- und Aufnahmeplänen anfreunden. Auch nicht mit dem mit Blick auf die Ausstrahlungszeiten notwendigen Arbeiten auf die Minute, ja die Sekunde. Er, der es mochte, wenn sich etwas von dauerhaftem Wert langsam ansammelte, konnte sich nicht recht mit dem sich verflüchtigenden Gehalt von Radioausstrahlungen anfreunden. Deshalb wechselte er als Bibliothekar zur Medienbibliothek der FM-Radioabteilung, wo er schließlich ein Betätigungsfeld nach seinem Herzen fand. Zu der Zeit fand gerade der Übergang von Schallplatten zu CDs statt. Choi hörte Musik aus aller Welt wie sie ihm gerade unter die Hände kam. Dazu gehörten auch Alben der koreanischen Volksmusik, von denen es allerdings nur einige Hunderte gab. Aber dann entdeckte er Aufnahmen, die
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ihm einen Schock versetzten: Es waren Tonaufzeichnungen mit dokumentarischem Charakter, 50 Schallplatten mit Aufnahmen von den koreanischen US-Einwanderern der ersten Generation. Choi war bewegt von der Gründlichkeit der Amerikaner, die nur auf eine kurze Landesgeschichte von etwa 200 Jahre zurückblicken konnten und es trotzdem verstanden, solch historische Zeugnisse zu erstellen. „Es war für mich wie ein Weckruf, der mir klar machte, worin meine Bestimmung lag. Ich brachte meine Arbeit für die Firmengewerkschaft zu Ende, kehrte ins Produktionsteam zurück und legte, immer noch den Klang des vor langer Zeit gehörten Ara-ri im Kopf, einen Projektvorschlag vor. Ich wollte, eine reguläre Sendung auf den Weg bringen, bei der es um die Suche nach verloren gehenden Volksliedern gehen sollte. Das war der Anfang der jedes Wochenende ausgestrahlten Sendung Das große Handbuch der koreanischen Volkslieder“ – so beschreibt Choi die Anfänge. Als die Arbeit dann routiniert von der Hand ging, verlangte es ihn nach einer eindrucksvolleren, das Publikum stärker ansprechenden Volkslieder-Sendung. Daraufhin schlug ein älterer Kollege vor, eine Art Kampagnen-Programm mit Unternehmen-Sponsoring zu starten. Schließlich fand sich ein Pharmakonzern als Sponsor des neuen Programmformats und Auf der Suche nach den verschwindenden Klängen des koreanischen Volkes wurde geboren. Choi, der als Skriptwriter, Moderator und Produzent die volle Kontrolle über die Sendung hatte, überwand schnell seine anfängliche Schüchternheit und verlieh der live ausgestrahlten Sendung durch spontan eingeflochtene anspornende Ausrufe ein stärkeres Profil. Als dann auch noch positive Bewertungen über den gemeinnützigen Charakter der Sendung folgten und die Einschaltquoten stiegen, wurde die Sendung drei, vier Mal pro Tag ausgestrahlt. Es dauerte nicht lange, bis Choi CDs mit den Sendeinhalten an einschlägige öffentliche Institutionen und Hochschulen spendete und
Es sind einfache, aber herzergreifende Lieder, schlicht, aber doch tiefgründig. Gesungen zur Selbstanspornung bei harter Arbeit und zur geselligen Aufmunterung, wenn die Bauern sich gegenseitig bei der Feldarbeit aushalfen, sind es lebendige, wacker klingende Weisen. KoREANIScHE KuLTuR uND KuNST 41
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ie Stimme von Produzent Choi Sang-il (58) ist vielen passionierten Radiohörern vertraut. Diese irgendwie gemütlich klingende und doch feste Stimme, die mehrmals am Tag aus dem Radio zu hören ist, blieb über all die Jahre so unverändert wie der Geschmack der gut gereiften, hausgemachten koreanischen Gewürzpasten: „Auf der Suche nach den verschwindenden Klängen: Hören Sie das Lied, das Großväterchen XY aus dem Dorf Z beim Herunterladen der Reisgarben vom Garbenstapel singt.“ Seit der Erstausstrahlung der Sendung im Jahr 1991 sind 24 Jahre vergangen, was 8.160 Ausstrahlungen macht — ein beachtlicher Rekord, der ohne Chois Sang-ils vertraute, klare Stimme wohl nicht möglich gewesen wäre. Obwohl die alten, von Mund zu Mund tradierten Volksweisen im sog. „Spot-Format“ mit jeweils kurzen, auf 40 Sekunden komprimierte Ausschnitten präsentiert werden, graben sie sich dank der ihnen eignen Kraft in Ohr und Herz der Zuhörer.
man auch von MBC-Seite die Bedeutung der Sendung erkannte und die Unterstützung erhöhte.
Schatztruhe der Lebensgeschichte eines Zeitalters Es folgten Tage und Tage, an denen Choi in allen Ecken und Enden des Landes traditionelle Volkslieder sammelte. Da er ohnehin ein begeisterter Wandersmann war, störte es ihn nicht, dass er über die Hälfte des Jahres immer woanders übernachten musste. Darüber hinaus hatte er eine Vorliebe für technische Spielereien, was er wohl von seinem Vater, einem Uhrmacher, geerbt hatte. Da die Aufnahmen meistens im Freien ohne Schalldämmung und unter schlechten akustischen Bedingungen gemacht werden mussten, verlangte es ihn stets nach den hochwertigsten aller Aufnahmegeräte. Jede Neuheit musste er haben und die Mikrofone baute er seinen Bedürfnissen entsprechend um. Das siebenköpfige Produktionsteam, zu dem neben Choi noch zwei Toningenieure, ein Dokumentar, ein Fotograf, ein Forscher und ein Fahrer gehörten, war stets mit einem Minivan unterwegs. „Ich sage manchmal zum Spaß, dass ich mir auf meinem Tisch für das Totenverehrungsritual die neusten Aufnahmegeräte mit voll geladenen Akkus wünsche. Auch jetzt habe ich noch Albträume, in denen ich kurz vor dem Ausstrahlungstermin in der letzten Minute feststelle, dass die vor Ort gemachte Aufnahme nichts geworden ist.“ Die Suche nach Volksliedern hat etwas mit einer archäologischen Ausgrabung gemeinsam: Wenn die Alten den Volksliedern, die in ihrem Gedächtnis gespeichert sind, freien Lauf lassen, werden automatisch die Bilder des Alltags aus längst vergangenen Zeiten beschworen. Besuchte Chois Team ein größeres Dorf mit reichem Volksliedgut, sangen die zwanzig, dreißig Senioren im Gemeindehaus reihum die Volkslieder der Region. Es war, wie uralten Geschichten über die Kultur eines Gemeinwesens aus alter Zeit im Chor zu lauschen: Wer auch immer vorbeikam, wurde hereingebeten und mit einem Imbiss und trübem Makgeolli-Reiswein bewirtet. Herrschte nach getaner Feldarbeit ausgelassene Stimmung, wurden traditionelle Ssireum-Ringkämpfe oder ein Dorffest veranstaltet. Dieser von Lebenslust durchdrungene Gemeinschaftsgeist ist in die Texte der traditionellen Volkslieder eingeflossen. Im Gegensatz zu den Tongsok minyo , allgemein verbreiteten, populären Volksliedern, die meist von professionellen Sängern gesungen werden, handelt es sich bei den Tosok minyo, den regionalen Volksweisen, um eine Art Arbeitslieder und gleichzeitig Alltagslieder des koreanischen Volkes. Im Zuge ihrer mündlichen Tradierung unterliegen sie nur sehr allmählichem Wandel, während sie die jeweiligen regionalen Eigenheiten gut bewahren. Es sind einfache, aber herzergreifende Weisen, schlicht, aber doch
tiefgründig. Gesungen zur Selbstanspornung bei harter Arbeit und zur geselligen Aufmunterung, wenn die Bauern sich gegenseitig bei der Feldarbeit aushalfen, sind es lebendige, wacker klingende Weisen. Choi beobachtete des Öfteren, wie beim Singen der Schmerz aus den Gesichtern verschwand und einem freudigen Strahlen Platz machte. „Als ich Anfang der 1990er Jahre mit meiner Suche begann, standen die Alten, die die regionalen Weisen noch beherrschten, kurz vor dem Scheiden aus dieser Welt. Daher fühlte ich mich unter Druck gesetzt. Als ich später einmal grob Bilanz zog, stellte ich fest, dass ich von rund 20.000 Sängern ungefähr 18.000 Volkslieder in 900 Dörfern, die zu 120 Städten und Landkreisen gehörten, gesammelt hatte. Wenn ich mein Sammelprojekt später gestartet hätte, hätte ich nicht einmal die Hälfte der Volkslieder aufnehmen können, denn die meisten Sänger, die ich traf, waren Ende 70.“
Ausweitung des Projekts auf ganz Asien Choi verbringt sein Forschungsjahr gerade mit der Planung sei-
Eine Sammlung von traditionellen Trommeln, Glocken, Gongs und anderen Perkussionsinstrumenten ist in Chois Archiven zu sehen. Er fühlt sich der akustischen Welt enger verbunden als der visuell erfahrbaren Welt.
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nes zweiten Lebensabschnitts. Er ist inmitten der Auswertung des Datenmaterials, das er für seine Vorlesungen Unsere Volkslieder, unsere Kultur und Das Potential der traditionellen koreanischen Kultur an der Sungkonghoe University und seine geplanten Bücher mit denselben Titeln gesammelt hat. Er plant, eine Sammelbiografie über die wichtigen Tradierer der traditionellen Volkslieder in Form einer „Bürgerbiografie“ (eine auf Volkserzählungen basierende Sammelbiografie über einfache Bürger, herausgegeben vom Verlag Ppurigipeun Namu) zu verfassen. Darüber hinaus erzählt er bei seinen Bühnenauftritten für Feiern und Genießen: Seine Erzählung über Schallplatten , organisiert vom Korea Cultural House, über die traditionellen koreanischen Volkslieder. Sein Haus am Fuße des Bukhansan-Gebirges verwandelt sich mehr und mehr zu einem Lager für all die Aufnahmekassetten, die die Rundfunkstation nicht länger aufbewahren kann. Angesichts dieser uralten Aufnahmen, die sogar statt Kleidung den Platz in den Schränken im Schlafzimmer okkupieren, fragt man sich, in welcher Form sie wohl veröffentlicht werden. Choi hat unter größten Anstrengungen
ca. 3.000 Volkslieder aus den verschiedenen Regionen in Nordkorea gesammelt und in Album-Form herausgebracht. Daher gleicht der Anblick seines „Schrank-Archivs“ der traditionellen Jangdokdae-Aufbewahrungsplattform für die Vorratskrüge mit Würzpasten und -soßen, die langsam reifen und auf den richtigen Moment warten, um im neuen Gewand präsentiert zu werden. „Mein Plan ist, in die abgelegenen Gegenden der einzelnen asiatischen Länder zu reisen und dort die traditionellen Lieder zu sammeln. Ich bin besorgt darüber, dass die traditionelle Musik der ethnischen Minderheiten in Asien ebenfalls allmählich ausstirbt. Jemand muss dieses wertvolle Kulturgut der Menschheit dokumentieren. Bei der derzeitigen Geschwindigkeit des Aussterbens kann es sehr gut sein, dass das traditionelle Volksliedgut anderer Länder genau so schnell wie in Korea verschwindet. Die Konservierung kann keine Einzelperson leisten, weshalb ich ein Team für ein entsprechendes Projekt bilden möchte.“ Choi sagt, dass jede neu angelegte Straße ihm einen Schrecken einjagt. Denn nach seinen Erfahrungen verschwinden überall in Asien traditionelle Kulturen und Lieder, sobald neue Straßen gebaut und die Regionen für den Autoverkehr zugänglich werden. Daher sei es nicht mehr angemessen, im Sinne von „dein“ und „mein“ zwischen nationaler Zugehörigkeit zu unterscheiden. Vielmehr sei es an der Zeit, das Bewusstsein zu entwickeln, dass auch Korea als zu Asien gehörig die Kulturen der anderen asiatischen Völker verstehen und einen gemeinsamen Weg beschreiten solle. „In China singen auf Festen auch jüngere Menschen noch gern traditionelle Lieder. Da diese Leute jetzt zwischen 20 und 30 Jahre alt sind, werden die Liedtraditionen noch mehrere Jahrzehnte erhalten bleiben: Im Lied des Fliegens ahmen die jungen Frauen der chinesischen Miao-Minderheit den Flug der Vögel nach; in Laos singt man auch heute noch beim Mahlen des Getreides mit der traditionellen Tretmühle die altüberlieferten Arbeitslieder. Ich bin glücklich, wenn ich solche Klänge aufnehme. Ich verstehe nicht, warum man diese interesssante Arbeit nicht machen will!“ Choi hofft, seine umfangreiche Sammlung so katalogisieren zu können, dass sie eines Tages zu einer allgemein zugänglichen Datenbank wird. Er plant, auf Basis der systematisierten Daten ein Lexikon der traditionellen koreanischen Lieder zu erstellen, wobei die Stichwörter eben aus den Liedern, die einer Schatztruhe der regionalen Sprachvarianten gleichen, ausgewählt werden sollen. Allein der Gedanke, wie bereichernd diese seltenen Wörter und Wendungen, die nicht in den Standardwörterbüchern des Koreanischen zu finden sind, auf die koreanische Sprache wirken können, lässt Chois Herz höher schlagen. „Dokumentarisierung ethnischen Liedguts auf Weltebene — davon träume ich. Wenn ich Musik höre, muss ich unwillkürlich lächeln. Ich habe dabei sogar das Bild des Sängers vor Augen. ‚Kein Leben ist verschwendet’. Das ist eine Weisheit, die ich aus den Liedern des einfachen Volkes, aus der Sprache der lebenden Menschen, gelernt habe.“ KoREANIScHE KuLTuR uND KuNST 43
VERLIEBT IN KOREA
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Annaliisa Alastalos
KUNST ZU LEBEN Darcy Paquet Freiberuflicher Autor Fotos Ahn Hong-beom
Annaliisa Alastalo ist eine versierte Glaskünstlerin, deren Arbeiten bereits in mehreren Solo-Ausstellungen in Korea präsentiert wurden. In ihrer Wahlheimat zog sie aber auch mit ihrer entspannten und überzeugten Einstellung zu Leben, Kindererziehung und Kunstschaffen Bewunderung auf sich. Sie spricht fließend Koreanisch und fühlt sich ganz offensichtlich wohl in ihrem Zuhause, dass sie und ihr Mann sich auf dem Lande gebaut haben. Vor kurzem habe ich Annaliisa zu einem Gespräch über die wichtigen Dinge im Leben getroffen.
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Die Glaskünstlerin Annaliisa Alastalo lebt schon seit acht Jahren in Korea. Ihr „slow life“, der langsame Lebensstil, in dem sie zusammen mit ihrem Mann, einem koreanischen Künstler, auf dem Lande lebt, arbeitet und die beiden Kinder erzieht, sorgt für immer mehr Aufmerksamkeit.
ir scheint, ich lebe in meiner eigenen Blase“, sagt die finnische Glaskünstlerin Annaliisa Alastalo über den ungewöhnlichen Lebensstil, den sie für sich in Korea geschaffen hat. Tatsächlich ist das Zuhause und das Familienleben mit ihrem Mann, dem Künstler und Architekturdesigner Hong Sung-hwan, und den beiden Töchtern etwas, was sie selbst und zu ihren eigenen Konditionen geschaffen hat. Besucht man ihr Studio cum Zuhause in Sudong, Namyangju, rund 45 Fahrtminuten von Seoul entfernt, scheint man sich für kurze Zeit in einer entspannteren, ästhetischeren Umgebung zu befinden. In einem Land, das für seine geschäftige und oft erschöpfende Stadtkultur bekannt ist, zieht Annaliisa Astalos Leben auf dem Dorf die Aufmerksamkeit auf sich. „Manchmal sagen mir die Leute: Wir sind so froh, dass Sie uns hier diesen langsameren Lebensstil vorleben“, erzählt sie. „Viele meiner koreanischen Freunde fühlen sich von der Arbeit zugeschüttet. Zu sehen, wie ich lebe, bringt sie vielleicht auf den Gedanken, dass es andere Möglichkeiten gibt, das Leben zu gestalten.“ Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, das Leben zu gestalten, aber die meisten Menschen geraten automatisch in vertraute Muster. Bewusst oder unbewusst neigen wir dazu, den Anforderungen von Beruf oder Schule oberste Priorität zu geben. Aber die Entscheidungen, die Annaliisa für ihr Leben getroffen hat, zeigen, dass es möglich ist, der allgegenwärtigen Konkurrenz der modernen Gesellschaft zu entkommen und den Fokus auf Zeit mit der Familie, Zwiesprache mit der Natur und künstlerisches Schaffen zu legen.
Ein neues Leben in Korea Annaliisa, 1984 als drittes von zwölf Kindern geboren, wuchs in einem kleinen finnischen Dorf in der Nähe von Joensuu auf. 2003 zog sie nach Helsinki, um an der Aalto Universität Keramik zu studieren. Sie sagt, sie liebte es, mit Ton zu arbeiten und ihre Gefühle über ihre Hände weiterzugeben. Während des Studiums lernte sie auch, mit Glas zu arbeiten, was ein völlig anderes Gefühl vermittelt: „Bei der Keramik geht es um KoREANIScHE KuLTuR uND KuNST 45
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„Viele Leute in Korea scheinen eine negative Einstellung zum Land zu haben und denken, dass es arm und unterentwickelt sei. Aber ich finde die Natur in Korea wirklich schön. Ich käme nie auf die Idee, unsere Kinder in der Stadt großzuziehen.“ die Berührung, Glas ist dafür zu heiß, weshalb man Werkzeug verwendet.“ An der Universität traf Annaliisa ihren künftigen Mann, einen Künstler aus Korea, der sich nach dem GlasStudium in der Tschechischen Republik in derselben Abteilung einschrieb. „Er machte sofort Eindruck auf mich“, sagt sie lächelnd. „Er sah auch sehr gut aus.“ Hong berichtet, es habe ihn – wie auch schon davor in die Tschechische Republik – wegen der Kunsttraditionen, die sich sehr von den koreanischen unterscheiden, nach Finnland gezogen. „Ich war wirklich überrascht von einigen der künstlerischen Arbeiten dort und wollte lernen, wie man sie herstellt.“ Das Treffen mit Annaliisa sollte schicksalhaft sein. Nachdem sie eine Weile miteinander ausgegangen waren, heirateten sie und dann wurden die Töchter geboren, Saaga 2005 und Saara 2006. 2007 beschlossen sie, nach Korea zu ziehen. „Als wir nach Korea gingen, hatte ich nicht gedacht, dass wir so lange bleiben würden. Ich wollte wenigstens einige Jahre im Land meines Mannes leben und fand, dass es auch für die Kinder gut wäre, beide Kulturen zu erleben“, sagt Annaliisa. Zunächst ließen sie sich im Seouler Stadtviertel Jongno nieder, aber nachdem sie sich für einen Langzeitaufenthalt entschieden hatten, zogen sie nach Namyangju um. Ihr Haus liegt an einer schmalen, unbefestigten Straße und bietet einen weiten Blick auf die Berge in der Umgebung. „Viele Leute in Korea scheinen eine negative Einstellung zum Land zu haben und denken, dass es arm und unterentwickelt sei. Aber ich finde die Natur in Korea wirklich schön. Ich käme nie auf die Idee, unsere Kinder in der Stadt großzuziehen“ – meint Annaliisa. Sie entwarfen ihr Haus mit Werkstattraum im Erdgeschoss – dort gibt es auch einen von Hong gebauten Glas-Brennofen – und Wohnraum im ersten Stock selbst. Die Bäume, die sie beim Einzug im Garten setzten, sind schon recht stattlich geworden.
1 Glassarbeiten, gefertigt von Annaliisa Alastalo, die an der Aalto Universität in Helsinki Glas studierte. Diese Stücke im persischen Stil kombinieren Kunstsinn und Funktionalität. 2 Von der weißen JoseonKeramik inspirierte Stücke.
Sich in Glas ausdrücken Das Leben auf dem Land bietet Annaliisa die Möglichkeit, sich auf ihre Kunst zu konzentrieren. Überall im Haus finden sich aus Glas gemachte Schalen, Teller, Krüge und Vasen in allen Größen und Farben, sei es in Schaukästen oder in der Küche. „In letzter Zeit habe ich viel mit halb-opakem Glas gearbeitet“, sagt sie und erklärt den Rauchton, den viele Stücke aufweisen. Delikat und fein geformt, sind die Werke nichtsdestoweniger funktional. „Ich bin die praktische von uns beiden. Mein Mann schafft abstraktere Arbeiten“, meint sie lächelnd. Für die Glasherstellung muss ein Brennhofen mehrere Tage lang erhitzt und dann bei gleichmäßig hoher Temperatur betrieben werden. Der Sand, das Rohmaterial, wird im Ofen geschmolzen und das Flüssigglas am Ende einer langen Glasbläserpfeife gesammelt. Nachdem die glühende Masse auf einer Stahlplatte gerollt wurde, wird vom Glasbläser durch die Pfeife geblasen, um eine große Blase in der Schmelzmasse zu erzeugen. Anschließend wird das Glas mit Werkzeug der verschiedensten Art in die gewünschte Form gebracht. „Zur Farbgebung setzt man dem Sand jeweils bestimmte Materialien hinzu und je nach angewendeter Technik kann das Glas mit Bläschen oder anderen Effekten versehen werden“, erklärt Annaliisa. In den letzten Jahren hat sie u.a. Solo-Ausstellungen im Gana Art Center in Seoul und in der Gallery Pfo in Busan abgehalten. Handgeblasene Glaswaren haben noch keine lange Tradition in Korea und ihre Ausstellungen haben diese wenig bekannte Kunst der Öffentlichkeit näher gebracht. Diese Ausstellungen vorzubereiten, war zwar harte Arbeit, brachte aber auch eine gewisse Befriedigung. „Ich wusste wirklich nicht, wie die Ausstellungen angenommen werden würden. Ich war überrascht und glücklich zu sehen, dass sie den Leuten gut gefielen.“ Inzwischen zieht ihr Haus, das auch als Verkaufsstelle fungiert, immer mehr Leute, nach Namyangju. Dort angekommen, werden die Besucher von der entspannten Atmosphäre eingenommen. Manchmal werden aus Kunden Freunde. KoREANIScHE KuLTuR uND KuNST 47
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Auch die koreanischen Medien sind auf Annaliisa aufmerksam geworden. Bereits 2010 traten sie und ihr Mann in der beliebten TV-Show Ingan geukjang (Theater der Menschen) auf und über sie und ihre Familie wird oft in den Medien berichtet. 2011 hat sie einen Fotoband mit Texten über ihr Familienleben in Finnland und Korea herausgebracht: Annaliisa‘s Onnela. Das finnische Wort meint „ein Ort, wo das Glück wohnt“.
1 Annaliisa bei der Arbeit in ihrer Werkstatt. Unter der Woche widmet sie die Morgenstunden meist der Arbeit. 2 Annaliisa und ihre Kinder im Garten ihres Hauses in Namyangju, Provinz, Gyeonggido. 2011 veröffentlichte sie Annaliisa’s Onnela , einen Fotoband mit Geschichten über ihr Familienleben in Finnland und Korea.
Kinder zweier Kulturen Saaga und Saara gehen derzeit in eine Grundschule in der Nähe von zu Hause. „Die kleinen Klassen haben Vor- und Nachteile. Die beiden erhalten viel Aufmerksamkeit von ihrem Lehrer, was gut ist. Sie lernen auch, wie man mit einem begrenzten sozialen Kreis zurechtkommt“, sagt sie. Die großen Entscheidungen über den Bildungsweg der Mädchen dürften in der Zukunft anstehen. „In Finnland haben wir ein Bildungssystem, in dem die Kinder gut unterrichtet werden, ohne sie unter allzu viel Stress zu setzen. Ich bin mir bewusst, dass die koreanischen Mittel- und Oberschüler viel Stress haben. Es wäre mir lieber, wenn Saaga und Saara dem nicht ausgesetzt würden.“ Die Mädchen sind gerne draußen in der freien Natur und legen ein Selbstbewusstsein an den Tag, das wohl von dem ungezwungenen, positiven Stil, in dem sie erzogen werden, herrührt. Ihr Koreanisch ist fließend und sie haben auch keine Verständnisprobleme, wenn ihre Mutter Finnisch mit ihnen spricht, aber zu Annaliisas leichtem Bedauern antworten sie oft auf Koreanisch. „Ich hoffe, dass sie mehr Finnisch sprechen, wenn wir in Zukunft einige Zeit in Finnland verbringen“, sagt sie. Sie und ihr Mann unterhalten sich in einer Mischung aus Koreanisch und Englisch. Saaga und Saara haben beide erklärt, dass sie auch einmal Künstlerinnen werden wollen. Obwohl sie bislang wenig Interesse an der Glasherstellung an sich gezeigt haben, haben sie die Werke ihrer Mutter in eindrucksvollen Bildern abgebildet. Annaliisa regt sich etwas über den Kommentar auf, dass viele koreanische Eltern versuchen würden, ihre Kinder in finanziell stabilere Karrieren zu lotsen. „Ich würde nie diese Art von Druck auf meine Kinder ausüben!“, sagt sie.
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Die Welt mit anderen Augen sehen Das Leben in Korea hat Annaliisa in verschiedenster Weise inspiriert und als Künstlerin schätzt sie die lange Geschichte und Tradition der koreanischen Keramikkunst. „Es ist wirklich erstaunlich, was Korea auf dem Gebiet der Keramik hervorbringen konnte. Einige der Werke sind schier atemberaubend“, meint sie. Unter ihren eigenen Arbeiten gibt es ein Stück, dass breite Aufmerksamkeit auf sich zog: ein Gefäß in Form der weißen Keramiktöpfe der JoseonZeit. Die vertraute Form, gestaltet aus zart gefärbtem Glas, wirkt gleichzeitig traditionell und modern, östlich und westlich. „Ich glaube, wenn ich nach Finnland zurückginge, würde ich vielleicht wieder mit der Keramikherstellung beginnen. Aber mit einer so starken Keramiktradition hier in Korea ... ich weiß nicht, wo ich da hineinpassen sollte“, sagt sie. Auch wenn Kindererziehung eine völlig auslastende Tätigkeit sein kann, hat Annaliisa noch Zeit für Hobbys wie Fotografieren (Ihre Fotos auf Instagram wären auch in Hochglanz-Magazinen nicht fehl am Platz), Schneidern (Vor kurzem hat sie ein elegantes Brautkleid für eine Freundin genäht), und Backen (Apple Pie ist einer ihrer Lieblingskuchen). Vom Haus, das ihr Mann entworfen hat, bis zu den Tellern, von denen sie essen, und den Kleidern, die die Kinder tragen, sind viele Alltagsgegenstände selbst und mit ästhetischem Auge hergestellt. „Kunst kann die Leute dazu bringen, die Welt mit anderen Augen zu betrachten. Ich mag die Art und Weise, wie Kunst Schönheit ins Leben der Menschen bringt“, sagt Annaliisa. Ihr eigenes Leben ist das beste Beispiel dafür. Und je mehr Leute in Korea ihre Werke entdecken und etwas über ihre Geschichte erfahren, desto stärker wirkt sie inspirierend auf andere. KoREANIScHE KuLTuR uND KuNST 49
UNTERWEGS
Der „Garten des Bambusgrüns“ (Jungnogwon) in Damyang an einem windigen Tag. Damyang, Koreas „Heimat des Bambus“, bietet das ganze Jahr über den reizvollen Anblick immergrünen Bambusses.
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Wo Leben und Legende einander begegnen
Damyang
Gwak Jae-gu Dichter Fotos Lee Han-koo
Damyang ist die Heimat des durch die Bambuswälder wehenden Windes, der klaren Flüsse und der warmen Sonnenstrahlen – ein Ort, wo im Hinterhof jedes Hauses Bambus wächst. Daraus flochten die Bewohner Körbe und prächtige Schatullen für die Mitgift der Töchter. Damyang ist auch die Heimat altehrwürdiger Pavillons – ein Ort, der das Sentiment der alten Seonbi-Gelehrten atmet, die in den von frischen Brisen durchzogenen Tälern Pavillons bauten, um die Schatten des Lebens eine Weile ruhen zu lassen. KoREANIScHE KuLTuR uND KuNST 51
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s gibt einen schicksalhaften Moment, in dem man am Scheideweg des Lebens eine Wahl treffen muss. An einem Frühlingstag im Jahr 1989 verließ ich die Schule, an der ich siebeneinhalb Jahre lang unterrichtet hatte, um mich alle 24 Stunden des Tages der Poesie zu widmen. Als Lehrer konnte ich zwar auch Gedichte schreiben, aber das war nicht der Weg zum professionellen Dichtertum. Ich drückte meiner Frau meine bescheidenen Ersparnisse und die Abfindung in die Hand und bat sie, mir „drei Jahre Zeit zu geben“. Dankbarerweise willigte sie ein. Auch sie ging keiner Arbeit nach. Das war der Zeitpunkt, zu dem wir beschlossen, uns als waghalsiges Paar planlos in die Welt zu werfen. Drei, vier Monate lang kamen wir irgendwie durch. Wir reisten sogar nach Dunhuang und Loulan, einer Wüstenregion im Westen Chinas, sodass unser Leben trotz Arbeitslosigkeit nach außen hin glanzvoll wirkte. Doch als ein halbes und dann ein ganzes Jahr vergingen, begann sich alles zu ändern. Unsere Ersparnisse waren auf die Hälfte geschrumpft und der Mietvertrag für unsere Wohnung sollte in einem Jahr auslaufen. Ich hatte zwar bereits vier Gedichtbände herausgebracht, doch da ich pro Jahr maximal fünf Gedichte veröffentlichen konnte, brachte mir das weniger als insgesamt 200.000 Won (etwa 165 Euro) ein. Nirgendwo auf der Welt könnte eine dreiköpfige Familie — wir hatten ein Kind — anderthalb Jahre davon leben. Mich befiel ein Gefühl des Verlassenseins, das der selbstsicheren Hochgestimmtheit bei meiner Kündigung an der Schule konträr entgegengesetzt war und gegen das ich nichts zu tun vermochte. Da fing ich an, zu wandern. Die Stadt Gwangju, in der ich damals wohnte, ist von Bergen umgeben, und oft fuhr ich mit einem Bus bis zur Endstation am Stadtrand, wo ich dann in irgend einem Dorf herumwanderte. Während ich wanderte, wehte der Wind, blühten die Blumen und flogen die Regentropfen. Die Stunden, die ich auf diese Weise verbrachte, bildeten allmählich einen ruhigen Fluss in meinem Herzen. An diesem Fluss schrieb ich Gedichte, las die
eingesteckten Bücher und lauschte der Musik aus dem Kassettenrekorder. So verstrich dann ein Tag und abends kehrte ich schweigend nach Hause zurück.
Da stieß ich auf den Baum Es geschah, als ich durch das Dorf Hanjaegol in Damyang wanderte. Es war ein kleines Dorf mit einer kleinen Grundschule, die wie von einem Wandschirm von Bergen umrahmt war. Die Schulglocke läutete. Dem überaus friedlichen Glockengeläut folgend, fand ich mich bald auf dem Weg zum Schulhof wieder. Gedankenverloren schaute ich den Kindern beim Ballspielen, Seilspringen und Herumrennen zu, als plötzlich meine Aufmerksamkeit auf eine Ecke des Schulhofs gelenkt wurde: Ich sah, wie etwa ein Dutzend Kinder sich an beiden Händen haltend um einen Baum schlossen. Es war ein fröhlicher Anblick, wie sie da den Baum umschlangen und lachten. Als ich näher heranging, dachte ich, dass auch ich gerne mit ihnen zusammen den Baum umarmen würde. Die Kinder gingen wieder in ihre Klassenräume zurück. Alleine zurückgeblieben, nahm ich den Baum still in meine Arme. Es war eine Zelkove, gut 600 Jahre alt, 26m hoch und mit einem Umfang von 8,3m: Naturdenkmal Nr. 284. Der Baum war grandios. Vor allem warf er riesige Schatten. In dem Augenblick, als ich den Baum umarmte, überkam mich ein Gefühl unendlichen Friedens. Von da an suchte ich den Baum auf, wann immer sich ein Schatten auf mein Herz legte. Eines Tages hörte ich dann von einem alten Dorfbewohner die Legende des Baumes: Als Taejo (Yi Seong-gye), der erste Joseon-König (reg. 1392-1398), auf seiner Suche nach einem Ort der heiligen Energie für die Gründung eines neuen Reiches betend durchs Land zog, soll er in diesem Dorf nach Verrichtung seiner Gebete in den hinter dem Dorf gelegenen SaminsanBergen einen Baum gepflanzt haben: die besagte Zelkove. Eine Legende graviert Muster neuer Träume ins Herz der Menschen, die sie in sich aufnehmen. Mir gefiel die Geschichte des
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1 Ein Pavillon in Soswaewon (Garten des Klaren Geistes), einem typischen LiteratiGarten der mittleren JoseonZeit. In traditionellen koreanischen Häusern konnten die Falttüren geöffnet und an die Decke geklappt werden, so dass im heißen Sommer der Wind zirkulieren konnte. 2 Mit einem Bach, der vom Berg Mudeung-san durch die Mitte des Gartens geleitet wurde, reflektiert der Soswaewon die Ideale der konfuzianischen Gelehrten der Joseon-Zeit, die danach strebten, aus den Gesetzen der Natur über das Leben zu lernen.
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Als das Leben hart war, wanderte ich in Damyang. Die alten Bäume gewährten mir erfrischenden Schatten und verliehen mir den Mut, mich an einem Scheideweg im Leben für die Herausforderung des Traums zu entscheiden. Die Pavillons in Jisil und der Garten Soswaewon lehrten mich, dass der grundlegendste aller Träume des Menschen der Traum von der Natur ist. Die Natur ist nämlich ein Weggefährte im Leben, dem man keinen einzigen Augenblick lang grollen kann. Auf den Wegen von Damyang kam ich zu der Erkenntnis, dass das Leben die Fortsetzung einer Legende ist.
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1 Ein Paar beim Spaziergang durch den Jungnogwon-Bambuswald, der selbst im tiefsten Sommer noch angenehm kühl ist. 2 Für Bambus-Reis, ein Lieblingsgericht der Bewohner von Damyang, wird Reis in einem Bambusrohr gedämpft. 3 Seo Han-gyu, Träger des Titels „Wichtiges Immaterielles Kulturgut“, in seiner Werkstatt bei der Herstellung einer Schachtel aus gefärbten Bambusstreifen.
Alten. Hier hatte also ein Mensch sich ein Herz gefasst, der den großen Traum hegte, ein neues Reich zu schaffen. Ich fühlte, wie sich mein sehnlicher Traum, dichtend durchs Leben zu gehen, am Saum dieser Legende niederließ. Nach drei Jahren ohne Arbeit war mein Konto leer. Der Frühling kam, die Blumen blühten, und der blütenduftgeschwängerte Wind streifte hier und da durch die Welt. Eines Abends suchte ich die Zelkove wieder auf, und als ich sie still mit meinen Armen umfasste, hörte ich die Stimme meiner Mutter, die nicht mehr auf dieser Welt war. Sie erzählte mir von meiner Großmutter. Diese hatte zwölf Kinder zur Welt gebracht, meine Mutter war das neunte. Während des Zweiten Weltkriegs verstreuten sich die Geschwister in alle Winde, um dem Einberufungsbefehl der Japaner zu entgehen. Großmutter betete jeden Tag in aller Frühe. Aus der kleinen Quelle am Berghang hinter dem Dorf schöpfte sie bei Tagesanbruch frisches Wasser und betete unter der Zelkove, dem heiligen Baum des Dorfes, zu den Göttern für das Wohl ihrer Kinder. Eines Tages, als sie wie immer zu früher Morgenstunde Wasser schöpfte, sah sie im Wald gegenüber zwei große Lichter aufblitzen. Es war ein Tiger. Doch Großmutter blieb völlig ruhig, erhob sich langsam und betete inbrünstig in Richtung Tiger: „Oh, Sansin-Berggott, beschütze bitte alle meine Kinder“. Danach sei sie, als ob nichts geschehen wäre, zur Zelkove zurückgekehrt, um dort wie gewohnt ihr Gebet zu verrichten. „Wenn du dir etwas aus der Tiefe deines Herzens wünschst, geschieht ein Wunder“ – das sagte mir Mutter, als ich in die Grundschule ging und sie mir von ihrer Mutter erzählte.
An dem Tag begann ich eine Kindergeschichte zu schreiben Sie handelte von einem Spatzenkind, das, als es herangewachsen war, alle möglichen Feinde besiegte und ein eigenes Königreich der Spatzen errichtete. Das Motiv der Reichsgründung entnahm ich der Legende von König Taejo, die große, goldfarbene Zelkove diente als Symbol für das Spatzenreich. In nur zwei Wochen war die Geschichte fertig. Ich schickte das Manuskript an einen Verlag. Im anhaltenden Zustand der planlosen Dahinlebens kam unser zweites Kind zur Welt und am selben Tag kam das Kinderbuch Das Spatzenkind Jjiggu (1992) heraus. Eine Legende oder ein Wunder wurzeln schließlich im echten Leben. Oder vielleicht sollte man besser sagen: Legenden und Wunder sind Träume, die aus dem Leben hervorgehen. Das Buch erlebte mehrere Auflagen, so dass ich von den Tantiemen eine kleine Wohnung kaufen konnte. Dass ich meine Ängste abschütteln und das Schreiben zu meinem Beruf machen konnte, geschah nach meiner Begegnung mit der Zelkove. Der Weg nach Damyang-eup, der vom Dorf Hanjaegol aus am Dorf Subuk vorbeiführt, ist von Urweltmammutbäumen gesäumt. Er gilt als Aushängeschild von Damyang. Bei den Bäumen handelt es sich um laubabwerfende Koniferen, die auf den ersten Blick wie die Tannen am Fuße des Himalaya aussehen. Doch im Winter fällt das Laub und im Frühling sprießen neue Blätter. Wenn die Nadeln im Herbst goldene Töne annehmen, kommen viele zu dieser Allee,
machen Fotos oder schlendern im Schneckentempo dahin, während Pärchen auf Tandems vorbeifahren. Der Wald, der sich entlang des Flusses von Damyang erstreckt, heißt Gwanbangjerim. Unter den Wäldern des Landes rühmt sich der Gwanbangjerim wohl der schönsten Landschaft. Über 420 große Bäume im Alter von 200 bis 400 Jahren säumen den Weg durch diesen Wald. Die Bäume, von denen jeder einzelne zu Recht als heiliger Baum des Dorfes gewürdigt werden könnte, stehen Seite an Seite und blicken in die Welt der Menschen hinein – was für ein herzerwärmender, schöner Anblick! 1648 pflanzte der Magistrat der Verwaltungsbehörde Damyang den ersten Baum, 1854 wurden ein zweites Mal Bäume gesetzt, wieder vom Magistrat des Ortes. Dieser Weg, gesäumt von Laubbäumen wie Zelkoven, Chinesischen Zürgelbäumen oder Mukubäumen, die frische Brisen säen, ist ein typisches Beispiel für den koreanischen Ästhetiksinn. Wenn jemand einen Monat lang durch Korea wandern und erleben möchte, wie Natur, Wald und Mensch im Einklang leben, würde ich ihm empfehlen, zuallererst durch den Gwanbangjerim in Damyang zu wandern.
Säuseln des Windes und Fallen des Schnees im Bambuswald Überquert man den schmalen Fluss vor dem Waldweg, kann man auch durch den Bambuswald Jungnogwon, den „Garten des Bambusgrüns“, wandern. Seit alter Zeit legten die Menschen von Damyang in ihrem Hinterhof einen Bambushain an. Sie ehrten den Bambus als „Sindae“, als „göttliches Rohr“. Das Geräusch, das an windigen Tagen aus dem Bambushain im Hinterhof zu hören war, reinigte die Herzen der Menschen, und das Geräusch der dicken Flocken, die an einem schneereichen Tag auf Bambushain fielen, galt als Krone poetischer Empfindsamkeit. Wenn jemand die auf die Blätter fallenden Regentropfen hören kann, kann er auch die sanft auf die Blätter rieselnden Schneeflocken hören. Dem Fallen der Schneeflocken lauschend, verbrachten die Bewohner von Damyang den langen Winter, indem sie die verschiedensten Alltagsgegenstände aus Bambus herstellten. Mit Bestimmtheit lässt sich behaupten, dass bis vor dreißig, vierzig Jahren der größte Teil aller Bambuswaren landesweit aus Damyang stammte. Die Menschen von Damyang genießen „Daetongbap“, Bambusreis, der in einem hohlen Bambusrohr gedämpft wird, und „Daetongsul“, Reiswein, der, in Bambusbehältern gelagert, Bambusaroma annimmt. Im Frühling gibt es dazu keine bessere Beilage als junge Bambussprossen in einer Soße aus roter Peperonipaste und Essig, dazu Deckelschnecken. Im September 2015 wird in Damyang die Weltbambusmesse (World Bamboo Fair Damyang KOREA 2015) veranstaltet, auf der Bambus-Volkskunsthandwerk aus aller Welt zu sehen sein wird. Wenn man nach einem Spaziergang durch den Gwanbangjerim und den Jungnogwon leichten Hunger verspürt, sollte man sich auf keinen Fall das Vergnügen entgehen lassen, in der Nudelgasse KoREANIScHE KuLTuR uND KuNST 55
Wie man nach Damyang kommt gimpo International airport
Bahnhof yongsan
Seoul
Seoul > Damyang
Damyang Bahnhof gwangju
auto Zugverbindung flug
Auto: Die Fahrt von Seoul nach Damyang (rd. 300km) dauert rd. 3 Std. 30 Min. Vom Central City Terminal (hticket.co.kr) Expressbus: im Seouler Viertel Banpo-dong dauert die Fahrt nach Damyang rd. 3 Std. 45 Min. Die Busse fahren ab 8:10 Uhr vier Mal pro Tag in 3-stündigen Abständen. 1) KTX: Der KTX-HochgeschwindigZugverbindung: keitszug verkehrt in Abständen von ca. 30 Minuten 22 Mal pro Tag zwischen dem Bahnhof Yongsan und der Station Gwangju Songjeong. Die Fahrtdauer beträgt ca. 2 Stunden. Von Gwangju Songjeong fährt man zum GwangjuBusterminal U-Square, von dem aus Busse Richtung Damyang gehen. 2) Mugunghwa, ITX Saemaeul: Die Züge fahren vom Bahnhof Yongsan nach Gwangju. Je nach Zugart beträgt die Fahrtzeit etwa 4 Std. bis 4 Std. 30 Min. Weitere Details finden Sie auf der Webseite der Korea Railroad Corporation (korail.com). Vom Bahnhof Gwangju fahren Busse nach Jungnogwon und Soswaewon in Damyang ab. Von Gimpo nach Gwangju bietet Korean Air Flug: (koreanair.com) 2 Flüge und Asiana Airlines (flyasiana. com) 3 Flüge pro Tag an. Die Preise variieren je nach Wochentag. Auf der jeweiligen Webseite finden Sie Detailinformationen zu Preisen und Flugreservierung.
Karte von Damyang
Jungnogwon Dorf hanjae
weg der Urwaldmammutbäume Intercity Bus Terminal Korea Bambusm museum
Sigyeongjeong Soswaewon
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auf der einen Seite des Waldweges vorbeizuschauen. Nudeln sind in Korea ein beliebtes Gericht des kleinen Mannes. Ohne besondere Garnierung werden sie in einer Brühe auf Anschovis-Basis serviert und mit der traditionellen Sojasoße Joseon Ganjang abgeschmeckt, was ein überaus schmackhaftes Gericht ergibt. Einer der besten Wege, Korea auf Schusters Rappen zu erkunden, ist wahrlich nach einer Portion Nudeln, heruntergespült mit einem Glas Bambusschnaps, den sich vor den Augen erstreckenden Urweltmammutbaumpfad aufs Geratewohl entlang zu schlendern. Das Dorf Jichim-ri in Damyang-eup hieß früher Hyoja-ri. Hier heiratete vor langer Zeit die Tochter der Familie Han den Sohn der Familie Jeon. Doch bevor das erste Kind zur Welt kam, starb der Mann, sodass die junge Witwe den Jungen durch harte Arbeit alleine ernähren musste. Eines Tages sah der inzwischen herangewachsene Sohn, wie seine Mutter frühmorgens in der Küche ihren Rock trocknete. In der darauf folgenden Nacht schlich er ihr hinterher, als sie heimlich das Haus verließ. Er fand heraus, dass ihr Rock vom Tau durchnässt gewesen war, weil sie bei Tagesanbruch vom Stelldichein mit dem verwitweten Dorfschullehrer im Dorf nebenan zurückgekehrt war. Am nächsten Tag mähte er das Gras auf dem Waldweg, den seine Mutter nahm, damit ihr Rock nicht mehr nass wurde, und später bemühte er sich darum, dass die beiden zusammen leben konnten. Diese Geschichte wurde auch den Dorfbewohnern bekannt, sodass sie das Dorf Hyoja-ri, „Dorf des pietätvollen Sohnes“, nannten. Das Dorf Samjinae in Changpyeong-myeon, Damyang, wurde als Cittaslow akkreditiert. Doch der Reisende, der deshalb mit großen Erwartungen hierher kommt, könnte vielleicht etwas enttäuscht sein. Denn außer den langen Steinmauern scheint es nichts zu geben, was mit dem Geist der Cittaslow-Bewegung in Zusammenhang steht. Die großen Hanok-Häuser sehen aus, als ob sie hastig zusammengebaut worden wären, und die Pensionen und Restaurants erinnern nicht gerade an Menschen, die ein langsames, ruhiges Leben führen. Wäre dieser Ort nicht zur Cittaslow ernannt worden, hätte er wohl sein altes Flair erhalten und eine Übernachtung dürfte sich gelohnt haben.
Pavillons zwischen klaren Gebirgsbächen Jigok-ri in Nam-myeon befindet sich am südlichen Ende von Damyang. Das Dorf, das früher den anheimelnderen Namen „Jisil“ trug, liegt am Fuße des Berges Mudeung-san. In den Tälern, in denen das klare Wasser pausenlos plätschert, stehen von poetischem Geist erfüllte Pavillons, wie man sie sonst nur aus der östlichen Malerei kennt. Der Anblick von Pavillons wie Hwanbyeokdang, Doksujeong, Chwigajeong und Sigyeongjeong, die mit anderen Pavillons in der Nähe wie Songgangjeong und Myeonangjeong harmonieren, kann ohne Übertreibung als Shangri-La des Landes der Morgenstille bezeichnet werden. Als ich meinen Posten an der Schule aufgab und arbeitslos herumwanderte, eigneten sich diese Pavillons bestens dafür, nachmittags dem Gesang der Singzikaden lauschend ein Nickerchen zu machen und die herumflatternden KronwickenBläulinge beobachtend einige Zeilen zu dichten. Mein Lieblingspavillon war der Sigyeongjeong, ein „Ort, an dem die Schatten zum Rasten Halt machen“. Alle Lebewesen haben einen Schatten. Wo es kein Licht oder Leben gibt, gibt es auch keinen Schatten. Der Besitzer des Sigyeong-jeong wollte hier womöglich sein Ich als solches, seine Ambitionen und seine unerfüllbaren Träume eine Weile ruhen lassen. Der Name spricht von der Realität der Joseon-Zeit, als den Gelehrten, die aus dem Machtzentrum
Samjinae, ein Dorf in Damyang, das als Cittaslow akkreditiert wurde. Mit seinen traditionellen Hanok-Anwesen, zwischen deren Einfriedungsmauern die Wege verlaufen, hat es das Erscheinungsbild eines Dorfes aus alter Zeit bewahrt.
des Königshofes gedrängt worden waren, nichts anderes übrig blieb, als sich hier im Dorf Jisil, einem Ort tief in den Bergen und mit klaren Flüssen, dem Dichten und dem verfeinerten Leben zu widmen. Damals, als ich mir wünschte, mein Leben der Dichtkunst zu widmen, war es vielleicht auch mein Traum gewesen, die Schatten des Lebens eine Weile Ruhe zu lassen. Während Jeong Cheol (1536-1593; Beiname: Songgang), ein Gelehrter und Hofbeamter der mittleren Joseon-Zeit, im Dorf Jisil im Exil weilte, verfasste er „Gasa“, poetische Gesänge wie Samiingok („Gesang der Sehnsucht nach dem Schönen Herrn“, der die tiefe Loyalität des Dichters gegenüber dem König besingt) und Seongsan byeolgok („Gesang über Seongsan“, der die landschaftliche Schönheit um die Pavillons Seohadang und Sigyeongjeong zu Ehren des Gelehrten Kim Seong-won besingt). Jeong Cheol sang aus den Tiefen seiner Seele: der Sehnsucht nach dem Herrscher, der ihn im Stich ließ, dem langsamen Versinken in Kümmernis angesichts der Schönheit der Natur inmitten von Bergen aus Sternenlicht. Nun ist es eine gute Zeit, unsere Schritte in Richtung Soswaewon zu lenken. Selbst im Schneckentempo kann man diesen Garten von Sigyeongjeong aus in einer Stunde erreichen. Der Soswaewon, der „Garten des Klaren Geistes“, wurde von Yang San-bo (1503-1557), einem Gelehrten der mittleren Joseon-Zeit, angelegt. Das Wasser, das vom Berg Mudeung-san herabfließt, wurde in die Mitte des Gartens geleitet, sodass es zwischen Jewoldang („Klarer Mond nach dem Regen“), den Gemächern des Besitzers, und dem Pavillon Gwangpunggak („Wind, der nach dem Regen durch die Sonnenstrahlen weht“), der als Unterkunft für Reisende diente, fließt. Nachts plätschert das Wasser reinigend durch die Traumwelt des
Hausherren und seiner Gäste. Vor 15 Jahren konnte ich dank des freundlichen Entgegenkommens eines Nachfahren von Yang Sanbo zusammen mit der Schriftstellerin Park Wan-seo (1931-2011) und anderen Begleitern im Gwangpunggak übernachten. Die ganze Nacht schien hell der Mond und der Wind strich mit klarem Ton durch den Bambus. Die Krönung war aber der Klang des Gebirgswassers. Als ich am Morgen erwachte, lauschte Park bereits wie verzaubert dem Gesang der Vögel im Wald. Auf meine Frage hin, ob sie gut geschlafen habe, antwortete sie, dass der Klang des Wassers so angenehm gewesen sei, dass sie erst in der Morgendämmerung eingeschlafen sei. Die Kreppmyrten, die in den Tälern wachsen, blühen vom Frühsommer bis zum Herbst. Die Mischung aus Rot- und Grüntönen lassen die Myrten wie Blumen aus dem Garten der Götter erscheinen. Jeong Cheol nannte den Bach, an dem diese Blumen blühen, „Jamitan“: „Bach der weinroten Kreppmyrten“. Hat es nicht etwas Mysteriöses, dass diese Blüten, die dem Wanderer am Ende seines Weges durch Damyang vom Wind bewegt vor den Augen zittern, vor Hunderten von Jahren von einem Gelehrten des Joseon-Reichs besungen wurden? Als das Leben hart war, wanderte ich in Damyang. Die alten Bäume gewährten mir erfrischenden Schatten und verliehen mir den Mut, mich an einem Scheideweg im Leben für die Herausforderung des Traums zu entscheiden. Die Pavillons in Jisil und der Garten Soswaewon lehrten mich, dass der grundlegendste aller Träume des Menschen der Traum von der Natur ist. Die Natur ist nämlich ein Weggefährte im Leben, dem man keinen einzigen Augenblick lang grollen kann. Auf den Wegen von Damyang kam ich zu der Erkenntnis, dass das Leben die Fortsetzung einer Legende ist. KoREANIScHE KuLTuR uND KuNST 57
ENTERTAINMENT
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m Februar 2015 unterzeichnete der terrestrische öffentlichrechtliche Sender KBS gemeinsam mit DAUM, dem zweitgrößten, von DAUMKAKAO betriebenen Internetportal Südkoreas, eine Absichtserklärung zur Webserien-Förderung. Bald darauf wurde bekannt gegeben, dass Sung Kyu von der Idolgruppe Infinity die Hauptrolle in Love Detective Sherlock K übernehmen würde und Yura von der Girl Band Girl’s Day die Hauptrolle in Prince of Prince . Von KBS-Seite verlautete, dass allein für 2015 rund zehn Webserien geplant sind. Schon 2014 kamen mehr als zehn Webdramen heraus und zogen als neue Form des Bildmediums die Aufmerksamkeit von Industrie und Publikum auf sich. Der Marktwert ist so offensichtlich, dass sogar terrestrische TV-Sender in die Offensive gehen. Wie konnten die Webdramen in so kurzer Zeit so weit kommen? „Webserie“ bedeutet wortwörtlich „Serie, die im Web ausgestrahlt wird“. In den USA bietet das Videoportal Hulu (www.hulu.com) bereits beliebte amerikanische TV-Serien in vollständiger oder edierter Version im Internet an, aber in Korea meint „Webserie“ exklusiv fürs Netz produzierte und online ausgestrahlte Serien. Das hinter dem MOU von KBS und DAUM stehende Konzept ist damit zu vergleichen, dass 2013 die Originalfassung der US-Fernsehse-
rie House of Cards vom Online-Abonnement-Service Netflix per Streaming veröffentlicht wurde. Im Januar 2014 wurden dann z.B. Aftermath, Lovecell, Ganseochi über NAVER und Flirty Boy and Girl über DAUM ausgestrahlt, sodass der bis dato unbekannte Begriff „Webdrama“ im Nu Zeit zum Schlüsselwort der Populärkultur avancierte. Wenn House of Cards gezeigt hat, dass sich auf Internetplattformen Serien produzieren lassen, die TV-Serien in nichts nachstehen, so zeigen koreanische Webserien, dass sie als spezifisch mobile Contents attraktiv sind. Trotz der kurzen Laufzeit von je 20 Minuten gelang es der auf einem Webcomic basierten Webserie Aftermath die Handlung (Ein junger Mann erhält nach einem Autounfall übernatürliche Kräfte.) kompakter als in der TV-Version darzustellen. Yoon Seong-ho, der als einer der bekanntesten Indie-Regisseure Koreas geistreiche Werke produziert, vermochte in seiner Komödie Flirty Boy and Girl , einer Parodie auf die Dating Reality-TV Show Jjak des Senders SBS, im Gegensatz zum Original die authentische Gefühlswelt von Verliebten einzufangen. Die Popularität der leichten und leicht zugänglichen Webserien ist auf die Besonderheiten der mobilen Plattform zurückzuführen.
Webdramen: Quo vadis?
Wee Geun-woo Journalist, Web Magazine IZE
Spricht man von Serien, ist die erste Assoziation „TV-Serien“. Doch jetzt sind „Webserien“ bzw. „Webdramen“ aufgekommen, die nur per Computer oder Smartphone angeschaut werden können. Als im Januar 2014 Aftermath als erstes südkoreanisches Webdrama auf NAVER, dem größten Internetportal des Landes, veröffentlicht wurde, schlug es dermaßen ein, dass in nur vier Wochen mehr als 3,5 Mio. Videoaufrufe verzeichnet wurden. Wie wird dieses kometenhaft aufsteigende neue Medium den koreanischen Populärkultur-Markt neu ordnen?
1 1 The Best Future mit Seo Kang-jun und Bang Minah hatte am 28. oktober 2014 auf Naver TVcast Premiere. 2 Prominent Woman mit cheon Woo-hee und Ahn Jae-hong lief am am 26. August 25 2014 auf Naver TVcast an. 3 Dr. Ian mit Kim Youngkwang und Sandara Park startete am 29 März 2015 auf Naver TVcast. ©samsung
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Mobiles TV im Handflächenformat In puncto Internet- und Smartphone-Verbreitung steht Korea weltweit an der Spitze. Fast überall in Seoul kann mühelos Wifi genutzt werden, sodass Online-Inhalte schnell und einfach aufs Smartphone heruntergeladen oder gestreamt werden können – ideale Wachstumsbedingungen für Webdramen. Hauptgesprächsthema unter koreanischen IT-Unternehmen wie NAVER und DAUM ist zurzeit die Dominanz im Mobile-Markt. Mit der weiten Verbreitung von Smartphones werden die meisten Internet-Inhalte nicht über PC, sondern über Smartphone genutzt, weshalb die Unternehmen Mobile-Webseiten umbauen oder Smartphone-spezifische Inhalte entwickeln. Auch die sog. Webtoons, die sich unter den von NAVER angebotenen Diensten der größten Popularität erfreuen, konnten durch die Entwicklung von speziellen Smartphone-Apps und Smartphone-gerechten Comics ihren Marktanteil erhöhen. Wie am Webtoon zu sehen, begünstigt das mobile Umfeld die sog. „Snack Culture“, d.h. Medien-Contents, die wie Snacks schnell zu essen und überall zu haben sind: Die Contents sind damit für Kurzstrecken wie den Weg zur Arbeit oder Schule bestens geeignet. Mit ca. 20 Minuten Laufzeit sind Webtoons auf die spezifischen Bedürfnisse von Smartphone-Nutzern zugeschnitten. Dass der Konsum von Online-Inhalten sich auf mobile Geräte verlagert, bereitet nicht nur den PC-zentrierten Internetportalen und Diensten Sorgen. Es ist bereits soweit gekommen, dass nun auch das Fernsehen, welches in den letzten vierzig Jahren das einflussreichste Medium darstellte, den mobilen Markt berücksichtigen muss. Bis jetzt konkurrierten die terrestrischen TV-Stationen mit den Kabel-TV-Sendern um die Einschaltquoten, doch nun tritt auch noch der Mobile-Markt als großer Rivale in Erscheinung. Außerdem verlassen immer mehr junge Zuschauer, die Hauptzielgruppe der Werbung, die TV-Plattform. Heutzutage nutzen Zuschauer in der Altersklasse der 20- bis 30-Jährigen größtenteils Video-on-
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Demand Internet-Dienste, um die gewünschten Programme zur gewünschten Zeit zu sehen. Teenager bevorzugen fürs Smartphone edierte Videoclips. Von daher sehen sich die Fernsehanstalten noch stärker unter Zugzwang als die Internetportale.
Wird der neue Markt die Contents-Entwicklung anführen? Webdramen können als der geeigneteste Inhalt bezeichnet werden, wenn es darum geht, den bestehenden Plattformen Zugang zum Mobile-Markt zu verschaffen und die Anforderungen der Smartphone-Nutzer zu erfüllen. Bis zu dem Zeitpunkt, als Kim Dong-joon, Sänger der Idolgruppe ZE:A , die Hauptrolle in einer Webserie übernahm, war das Potential von Webdramen noch schlecht einschätzbar. Doch jetzt stehen gerade solche Webdramen im Rampenlicht, in denen Sänger von beliebten Idol-Bands in ihrer ersten Hauptrolle als Schauspieler debütieren. So trat Sandara Park von der Girl Band 2NE1 gemeinsam mit dem Schauspieler Kim Young-kwang in der Webserie Dr. Ian auf. In The Best Future, einer Serie, die von dem koreanischen Konzern Samsung produziert wurde und deren Zuschauerzahl bereits die 10-MillionenMarke überschritten hat, spielte Minah von der Mädchengruppe Girl’s Day mit. Das Webdrama Lovecell , das auf dem bei NAVER unter gleichem Namen veröffentlichten Webtoon basiert, zeigte — wiewohl in Nebenrollen — Top-Stars wie Jang Hyuk und Kim Woobin und sorgte auch deshalb für Furore. Vor diesem Hintergrund hat der Vorstoß des terrestrischen Fernsehsenders KBS auf den Webdramen-Markt umso größeren Symbolgehalt. Denn auch die großen Fernsehanstalten sollten ihr Angebot um Web-Contents erweitern, um auf dem Medienmarkt, der sich auf das Internet umstellen wird, zu überleben. Können die bereits auf dem mobilen Markt agierenden Produzenten und die Neueinsteiger Mobilgeräte-spezifische Contents produzieren, die den Nutzer zufriedenstellen? Die Webdramen, die sie in Zukunft produzieren, werden darauf eine Antwort geben.
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©kirin production
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LIFESTYLE
HAUSMANNSKOST: EIN NEUER HYPE BEWEGT DIE GESELLSCHAFT Kim Yong-sub Direktor des Edged Imagination Institute for Trend Insight & Business Creativity
Es gibt wohl kaum etwas Wichtigeres auf der Welt als Essen. Das ist womöglich der Grund, warum man früher in Korea seinen Nachbarn mit „Haben Sie gegessen?“ grüßte, um sich im Sinne von „Wie geht es Ihnen?“ nach seinem Befinden zu erkundigen. Und auch heute wird wohl noch gern die Wendung „Wir arbeiten, um zu essen und zu leben“ benutzt. Zu den Hochgenüssen in Sachen Essen dürfte wohl die gemeinsame Mahlzeit mit Menschen, die uns nahe stehen, gehören. In diesem Sinne dreht sich der jüngste Hype um Hausmannskost in Korea nicht so sehr um die Gerichte an sich, sondern mehr um das Interesse am gemeinsamen Essen mit Menschen, die einem etwas bedeuten.
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ie Reality-Show Drei Mahlzeiten am Tag des koreanischen Kabelsenders tvN hat kein besonderes Thema. Es geht nur darum, wie einige TV-Berühmtheiten an irgendeinem abgelegenen Ort drei Mal pro Tag selbst kochen und essen: Gezeigt wird etwa, wie sie mit ungeschickter Hand aus dem im Küchengarten selbst gezogenen Gemüse Speisen zubereiten oder aus dem frisch gefangenen Meeresfisch im Nu ein schmackhaftes Gericht zaubern. Überraschenderweise begeistern sich viele Zuschauer für dieses einfach gestrickte Programm. Ob Frauen oder Männer, Junge oder Alte – alle verfolgen mit großem Vergnügen diese Sendung, die eigentlich leicht langweilig werden könnte.
Warum diese Begeisterung? In jüngster Zeit essen viele Koreaner jeden Tag ein- bis zweimal außer Haus oder ernähren sich von Fast Food. Wenn die einzelnen Familienmitglieder nach Hause kommen, haben sie meist das Essen bereits draußen erledigt. Das heißt, viele legen keinen großen Wert darauf, zu Hause mit der Familie zusammen zu kochen und die Mahlzeiten gemeinsam einzunehmen. Das, was die Zuschauer wirklich sehen wollen, sind daher nicht die fertigen Speisen auf dem Tisch, sondern wohl eher das, was davor kommt: das Besorgen der Zutaten, Holz hacken und Feuer anzünden sowie die eigenhändige Zubereitung des Mahls für die Familie. Das gemeinsame Zubereiten und Essen der Speisen lässt sie mit einem Anflug von Neid erkennen, wie wertvoll die Familie ist, welch warme Gefühle hausgemachtes Essen vermittelt, und dass ein solcher Alltag kleines Glück beschert. Mit anderen Worten: Uns verlangt jetzt nach Essen, das die Mutter selbst gekocht hat, und das wir gemeinsam mit der Familie essen. Dies bedeutet zugleich Sehnsucht nach einem Leben mit erholsamen Feierabend, der in der Tretmühle des hektischen Alltags verloren gegangen ist. Hausmannskost, die nichts Besonderes ist, hat also die längst in Vergessenheit geratenen Erinnerungen an das gemeinsame Essen im Familienkreis wiederbelebt. Ist nicht eins der ersten Dinge, die wir im Strudel von Modernisierung, Urbanisierung und Industrialisierung aufgegeben haben, drei Mal am Tag am Esstisch mit den Familienmitgliedern zusammenzukommen und gemeinsam die Mahlzeit zu teilen? Veränderungen im Zuge des Hausmannskost-Booms „Jipbap“, wortwörtlich „Haus-Essen“, ist das zu Hause selbst gekochte und eingenommene Essen. Diese gewöhnlich von der Mutter zubereitete einfache Hausmannskost sorgt seit kurzem in der koreanischen Gastronomie für Aufmerksamkeit. Buffet-Restaurants, die koreanische Gerichte nach Hausmacherart anbieten, sind derzeit so beliebt, dass die Leute Schlange stehen. Während früher in Buffet- oder Familienrestaurants westliche oder japanische Küche, die nun überhaupt nichts mit koreanischer Hausmannskost zu tun hat, angeboten wurde, bringt derzeit die alltägliche koreanische Küche, die bislang gerade wegen ihrer Gewöhnlichkeit und Gewohntheit nicht hinreichend gewürdigt wurde, frischen Wind ins Gastronomiegewerbe. Derzeit sollen die Familienrestaurants, die im Stil des Casual Dining westliche Gerichte relativ preiswert anbieten, langsam aus der Mode kommen, während Buffet-Restaurants mit koreanischer Hausmannskost boomen. In den letzten zwanzig, dreißig Jahren fiel die Wahl für ein Familienessen außer Haus meistens auf Restaurant-Ketten oder Buffets mit westlichen Menüs. Nun hat sich aber die koreanische Küche als neuer Gastronomie-Trend durchgesetzt. Die Begeisterung dafür zeigt sich auch darin, dass die Großunternehmen eins nach dem anderen koreanische Buffet-Restaurants eröffnen, die überraschenderweise auch sehr gut ankommen. Bedenkt man, dass sie ihre Ketten beständig ausbauen und weitere Firmen auf den Trend aufspringen wollen, dann bietet koreanische Hausmannskost gute Geschäftsgelegenheiten. Bei einer 2013 unter 7.000 Bürgern gemachten Umfrage des Ministeriums für Gesundheit und Soziales antworteten 64,4%, dass sie mindestens zwei Mal pro Woche mit ihrer Familie zu Abend essen. Umgekehrt bedeutet das, dass ein Drittel der Befragten kaum mit der Familie zu Abend isst. Bei einer ähnlichen Umfrage im Jahr 2005 betrug der Anteil der Befragten, die mindestens vier Tage pro Woche im Familienkreis zu Abend essen, noch 76%. D.h. innerhalb von acht Jahren ging der Anteil um fast 12 Prozentpunkte zurück. Dass die Familien immer seltener KoREANIScHE KuLTuR uND KuNST 61
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1, 3 „Social dining“ meint, „ein gutes, aber nicht übermäßig besonderes Essen gemeinsam mit Fremden zu sich nehmen“. Dieser neue Trend bedient in einer Zeit, in der sich viele Menschen nach der einfachen Freude eines Mahls im Familienkreis sehnen, das Verlangen nach hausgemachtem Essen. 2 Die Reality Show Drei Mahlzeiten am Tag , ausgestrahlt von dem Kabelsender tvN, gewinnt immer stärker an Beliebtheit. Sie hat kein besonderes Thema, sondern zeigt nur, wie einige TV-Stars an irgendeinem abgelegenen Ort mit Zutaten, die sie sie sich in ihrer Umgebung besorgen, drei Mal pro Tag selbst kochen.
zusammen essen, bedeutet gleichzeitig, dass das Verlangen nach hausgemachten Mahlzeiten umso größer wird. Der Hausmannskost-Hype hat auch einen Wandel bei den TV-Kochsendungen herbeigeführt. Während früher v.a. Profis ihre Kochkünste demonstrierten oder man das Geheimnis der Speisekreationen kulinarischer Hotspots erkundete, werden heute Sendungen immer beliebter, in denen Gerichte vorgestellt werden, die man ohne großen Aufwand mit dem, was heimische Vorratskammer und Kühlschrank zu bieten haben, nachkochen kann. So z.B. der Spot Night Snack Bar im Rahmen der Talkshow Happy Together des koreanischen Fernsehsenders KBS 2, bei dem die Gäste die Zubereitung eines leckeren und preiswerten Mitternachtssnacks demonstrieren, oder die noch recht junge Kochsendung Kümmert euch um meinen Kühlschrank des Kabelsenders JTBC, in der Profi- bzw. Amateurköche aus den Lebensmitteln, die zwei Gäste zu Hause im Kühlschrank haben, kreative Gerichte zubereiten. Kochen wird so dem Zuschauer in Form einer vergnüglichen Alltäglichkeit näher gebracht, die nicht erst professionell erlernt werden muss und jeder ausprobieren kann. Daher wächst das Interesse am Kochen, und die Zahl derjenigen, die Kochen lernen möchten, ist ebenfalls gestiegen. Es werden auch immer mehr Kochkurse z.B. in den Kulturzentren der Kaufhäuser angeboten und v.a. die Zahl der männlichen Interessenten steigt.
Kinfolk-Style und Social Dining Kinfolk ist ein amerikanisches Lifestyle-MagaMit „Hausmannskost“ bezeichnet man keine zin und zugleich ein Trendcode: „Kinfolk-Style“ sensationell schmackhaften oder großartigen meint einen Lebensstil, bei dem Menschen, die Gerichte. Auch ein schlichtes Essen ist perfekt, wenn einander nahe stehen wie Verwandte, Nachbarn oder auch Bekannte, zusammenkommen man es im Kreise der Familie isst. Das koreanische und ihren schlichten Alltag teilen. Oft sitzen Wort „sikgu“, Familienmitglied, bedeutet wortwörtlich sie gemeinsam am Tisch, der mit bescheide„jemand, mit dem man seine Mahlzeiten teilt“. nem, aber gesundem, hausgemachtem Essen gedeckt ist. Das ist im wahrsten Sinne „Hausmannskost zu Hause“. Während sie früher in ihrem Verlangen nach sozialem Aufstieg, Erfolg und Reichtum ein gehetztes Leben führten, nehmen sie sich nun Zeit für sich selbst, für ihre Familie, Freunde und Menschen in ihrer Umgebung. Anstatt blindlings nach vorn zu stürmen, suchen sie nach Muße und Glück im Leben, auch wenn sie dafür langsamer vorankommen oder kurz innehalten müssen. Die Frage nach dem Wesen des Glücks gewinnt erneut an Aufmerksamkeit. Das Interesse am Kinfolk-Style besteht weltweit, weshalb der Hausmannskost-Hype quasi ein globales Phänomen ist. In diesem Zusammenhang bietet der soziale Netzwerkservice Social Dining eine Plattform, auf der Menschen, die sonst ihre Mahlzeiten alleine einnehmen müssten, zum Essen zusammenkommen und so ihr Verlangen nach Beisammensein stillen können. Fremde Menschen sitzen also gemeinsam am Tisch, essen zusammen, unterhalten sich miteinander und genießen die Gesellschaft. Die Idee des Social Dining, die in den USA aufkam, hat jetzt auch in Korea Einzug gehalten, wobei es interessant ist, dass Koreas repräsentative Social-Dining-Plattform „Jipbap“ heißt: „Essen zu Hause“. Mit „Hausmannskost“ bezeichnet man keine sensationell schmackhaften oder großartigen Gerichte. Auch ein schlichtes Essen ist perfekt, wenn man es im Kreise der Familie isst. Das koreanische Wort „sikgu“, Familienmitglied, bedeutet wortwörtlich „jemand, mit dem man seine Mahlzeiten teilt“. Da Social-Dining-Plattformen Menschen zum Essen zusammenbringt, schaffen sie - wenn auch nicht dauerhaft, so doch zumindest für die Zeit des gemeinsamen Essens - quasi „Sikgu-Bande“. Die täglich steigende Zahl der Einpersonenhaushalte in Korea wird das Verlangen nach Hausmannskost steigern. Erst jetzt, wo wir kaum noch eine Mahlzeit mit der Familie einnehmen, ist uns bewusst geworden, wie wertvoll das Essen zu Hause ist. Ob die getrennt voneinander eingenommenen Mahlzeiten in uns die Sehnsucht nach familiärer Zuneigung geweckt haben? In diesen Zeiten des Hausmannskost-Hypes versuchen wir nun, zum Wesentlichen zurückzukehren. KoREANIScHE KuLTuR uND KuNST 63
REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR
REZENSION
Jenseits der traurigkeit – Verzweifelter schrei nach licht und hoffnung
Chang Du-yeong Literaturkritiker
Die Erzählungen von Choi Eun-mi sind voller Traurigkeit. In ihrem Erzählband Ein allzu schöner Traum wird das Leben als Ort der qualvollen Tragödie und als Prozess, die Traurigkeit zu erdulden dargestellt. Die Titelgeschichte beschreibt einen gigantischen Sandsturm. Im dichten gelben Sandstaub ist kaum noch Luft zu kriegen und ein Moment des Augenschließens bringt nur die Qual, im Traum unablässig von Toten angesprochen zu werden. Aber die Figuren in der Erzählung träumen auch in ihrer Traurigkeit noch von Walen, die frei im Meer herumschwimmen. Es ist eine Welt, in der die Verzweiflung darüber, dass man im Zentrum dieser Qual namens Leben keinen einzigen Schritt nach draußen machen kann, und die Hoffnung, dass das Leben trotzdem etwas Schönes ist und man daher keinen Moment zu träumen aufhören kann, nebeneinander bestehen.
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uch die Erzählung Winter jenseits des Fensters ist voller Traurigkeit. Der Protagonist träumt einen süßen Traum: Im hellen Sonnenschein, so blendend und strahlend, dass man nicht direkt hinein zu blicken vermag, erscheint eine Frau. Er ist sofort gefesselt von ihr und kostet einen Moment lang ein Gefühl des Glücks. Aber schon bald erwacht er aus seinem Traum. Zurück in der Realität kann er aber nicht umhin, sich einzugestehen, dass das, wonach ihn so sehnlichst verlangt, unerreichbar für ihn ist. Ein allzu schöner Traum. Und daher nur noch trauriger und bedauerlicher.
Die Frau saß hinter der Scheibe im Inneren und schaute hier irgendwo nach draußen. Wassertropfen liefen die Oberfläche des feucht beschlagenen Fensters herunter. Die Frau saß da, mit dem Rücken an den Sitz gelehnt, den Blick wie völlig geistesabwesend nach draußen gerichtet. Die Wassertropfen, die sich geformt hatten, liefen ihr an Stirn und Kinn vorbei Hals und Nacken hinunter. Hinter dem fest verschlossenen Fenster sah die Frau so aus, als ob sie sich nach dem Sex ausruhte, oder wie jemand, der im Vorbeifahren gleichgültig beobachtet, wie sich draußen irgendeine Szene abspielt. Er wirft einen verstohlenen Blick auf sie und verliert sich in erotischen Phantasien. Dieser Blick des Protagonisten auf die Frau verweist eindeutig auf Voyeurismus. Das belegt auch sein Geständnis, als er später mit ihr als Arbeitskollegin zusammentrifft: „Trafen sich unsere Blicke, fühlte ich mich unwohl wie ein Kind, das bei einer Unartigkeit erwischt worden war.“ Die Glasscheibe fungiert einerseits als eine Art verbindender Korridor, durch den der Protagonist einen heimlichen Blick auf die Frau werfen kann, dann aber auch als Wand, die die Räume, in denen sich die beiden jeweils befinden, trennt. Dass die Scheibe beschlägt
oder von Reif überzogen wird, lässt erkennen, dass die Räume jenseits und dieseits der Scheibe völlig voneinander getrennt sind und äußerst unterschiedliche Temperaturen aufweisen. Ein Objekt des Begehrens kann besonders verlockend sein, wenn es etwas Verbotenes ist. So wie der Blick, den der Protagonist auf die Frau seines Cousins wirft, aufgrund der Tabu-behafteten verwandschaftlichen Beziehung an Bizarrheit gewinnt, so wird sein Verlangen, sich der Kollegin zu nähern, durch die trennende Scheibe eher verstärkt. Er möchte sich ihr nähern. Aber die so sehr von ihm begehrte Frau ist für ihn wie eine nicht greifbare Phantasmagorie. Um sie berühren zu können, müsste er die Trennscheibe zerschlagen, aber den notwendigen Mut dazu kann er nicht aufbringen. Er will sie, unterdrückt aber seine Begierde. Warum versinkt er in seinem Unvermögen, die Wand aus Glas zu zerschlagen, in Traurigkeit? Die Erzählung verweist auf die Familientragödie, den Selbstmord des Vaters, als die primäre Ursache hin. Leider gibt es keine hinreichende Erklärung dafür, warum der Vater seinem Leben durch das Trinken von Unkrautvertilgungsmittel ein Ende setzte, aber aus den Erinnerungen des Protagonisten wird zu Genüge klar, unter welch unermesslichen Qualen er starb und welch immensen psychischen Schock die Familie dadurch erlitt. Das eigentlich Problem ist jedoch, dass die Traurigkeit immer noch große Macht ausübt und die Hinterbliebenen immer noch nicht frei von den Nachwirkungen sind. Die unerträgliche Qual des Juckens in der Leistengegend, das der Protagonist von seinem Vater geerbt hat, steht für Ausmaß und Tiefe der Traurigkeit, von der er sich nicht befreien kann. Um den Juckreiz zu heilen, braucht er Sonnenschein, wie das helle Lächeln, das strahlend wie die Sonne auf dem Gesicht der Kollegin erscheint, als sie sich den schönen traditionellen Haarschmuck ins Haar steckt. Für eine Heilung muss es außerdem Winter sein. Eine eisige Kälte wie die jenseits des Fensters des Busses, in dem die Frau zur Arbeit fährt, kann die gefürchtete Vermehrung der Schimmelpilze merklich verlangsamen. Alles was er braucht, ist Winter und Sonnenschein – letztendlich ist sein Verlangen nach der Frau nichts anderes als sein Kampf, sich von der Traurigkeit, die ihn niederdrückt, zu befreien. Traurigkeit kann nicht leicht überwunden werden. Wie der Arzt erklärt, ist die Krankheit des Protagonisten nicht leicht auszuheilen — „Schimmelpilze sind die Organismen mit der höchsten Reproduktionsrate auf der Welt“ — , was auch für die Traurigkeit gilt. Seinen ganzen Mut sammelnd, versucht er wiederholt, die Hand nach ihr auszustrecken, aber es scheint, dass seine Hand bei jedem Versuch nur abrutscht und er weinend auf den Boden schlägt. Aber dies wird nicht zur völligen Verzweiflung führen. Nach den Worten, die die Kollegin auf der Groupware gepostet hat, dreht sich die Erde lautlos. Und weil sich die Erde dreht, wird irgendwann der Sommer vorbei sein und der Winter kommen. Dann werden vielleicht auch Traurigkeit und Juckreiz einigermaßen erträglich werden. In diesem Sinne ist die Erzählung eine Geschichte von den Anstrengungen und dem Willen, jenseits der Traurigkeit zu gelangen – und damit eine Geschichte der Hoffnung. KoREANIScHE KuLTuR uND KuNST 65
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