Winter 2015
KoReAnISCHe KULTUR UnD KUnST
SPeZIAL
Seowon
seowon: stätten des Konfuzianismus und der konfuzianischen Gelehrten der JoseonZeit; architektur der seowon: Ästhetik der Mäßigung und schlichtheit; seowon für den „edelmann“ erwachen zu neuem leben; Moderne seowon für junge intellektuelle
Vermächtnis der Seowon, der neokonfuzianischen Akademien des Joseon-Reichs
Jahrgang 10, nr. 4
issn 1975-0617 Koreanische Kultur und Kunst 81
IMPRESSIONEN
ZU WINTERBEGINN, WENN DIE SOJABOHNENBLÖCKE UNTER DER DACHTRAUFE HÄNGEN
Kim Hwa-young Literaturkritiker, Mitglied der National Academy of Arts
I
pdong, Winterbeginn nach Lunarkalender, fiel dieses Jahr auf den 8. November. In ländlichen Regionen ist das die Zeit, wenn alle Familienmitglieder damit beschäftigt sind, sich auf den Winter vorzubereiten. Dazu gehört vor allem auch die Herstellung der fermentierten Sojabohnenblöcke Meju. Der Anblick der Meju-Blöcke, die mit Stroh gebunden dicht an dicht vom Wandregalbrett unter der Decke im Hauptzimmer oder von der Dachtraufe herunterhängen und in der Herbstsonne langsam trocknen, beschwört in meinem Herzen Bilder und Duft meines Heimatortes herauf, die die Sehnsucht nach meiner Kindheit wecken. Meju ist die Haupzutat für die Sojabohnenpaste Doenjang, für die Sojasoße Ganjang und für die rote Chilipaste Gochujang, die bei der Zubereitung koreanischer Gerichte nicht fehlen dürfen, und ein Hauptlieferant von pflanzlichem Eiweiß. In meinen Kindertagen füllten Mutter und Großmutter um Ipdong herum den großen Eisenkessel, der draußen vor dem Frauengemach aufbewahrt wurde, mit Bohnen. Einen ganzen Tag lang köchelten die Bohnen dann über schwachem Feuer, das mit gut getrockneten Kastanienfruchtbechern gefüttert wurde, und das ganze Haus war von herzhaftem Bohnenduft erfüllt. Mit heimlich stibitzten Bohnen stillte ich meinen Hunger. Zu der Jahreszeit half ich meinem Vater dabei, Schiebetüren und -fenster neu mit weißem Papier zu bespannen. Dafür werden zunächst die Holzgitterrahmen mit verdünntem Leim bestrichen und darauf das Papier angebracht, das dann mit einer Bürste glatt gestrichen und festgeklopft wird. Abschließend wird das Papier gleichmäßig mit sauberem Wasser besprüht, damit es sich im Herbstsonnenschein beim Trocknen schön spannt. Zu dem Zeitpunkt hat Mutter die Bohnen bereits aus dem Kessel genommen und damit begonnen, sie in einem Mörser zu zerstampfen. Großmutter legt die Meju-Holzrahmen mit Hanfleinen aus, um dann den Bohnenbrei hineinzupressen, sodass er Blockform annimmt. Danach werden die Blöcke auf ein Bett aus Stroh gelegt, wo sie zwei, drei Tage lang trocknen. Anschließend umwickelt Vater die getrockneten Blöcke mit Stroh und hängt sie unter die Dachtraufe, wo die Sonne gut hinkommt. Mithilfe von Sonne, Wind und Luft erzeugen die Mikroben an der Meju-Oberfläche Enzyme, die Proteine spalten. Und die frisch beklebten Schiebetüren werden den warmen Sonnenschein hineinlassen, während sie den kalten Wind blockieren. Viele der Stadtkinder von heute wissen nicht, was Meju ist. Heutzutage kann man Doenjang, Ganjang, ja sogar Meju auf den Märkten kaufen. Die junge Generation hegt immer große Zweifel an den über Jahrhunderte tradierten Weisen des Lebens und reagiert ganz nach der koreanischen Spruchweisheit: „Auch wenn es heißt, dass man aus Sojabohnen Meju macht, glaube ich es nicht.“ Sind es Pizza, Burger und Brausegetränke, die zu diesen Mangel an Interesse geführt haben?
Von der Redaktion
Morgenritual in einer konfuzianischen Akademie Frühmorgens um sechs Uhr war die Landschaft noch in Nebel gehüllt. Wir fuhren eine befestigte Straße entlang, die durch weitläufige, golden angehauchte Reisfelder führte, um uns plötzlich vor einem malerischen kleinen Dorf mit adretten Häusern wiederzufinden. Der Nebel hatte sich urplötzlich aufgelöst. Vor uns lag rechts neben dem Dorf hinter einem mit roten Spitzen bewehrten hohen Tor die altehrwürdige Akademie. So kamen wir am Morgen des 13. September in der Akademie Piram Seowon in Jangseong, Provinz Jeollanam-do, an. Das für die SPEZIAL-Beiträge der vorliegenden Koreana-Ausgabe zuständige Team freute sich auf dieser vierten Etappe seiner Entdeckungstour herausragender konfuzianischer Akademien auf ein Erlebnis der besonderen Art: den halbmonatlich stattfindenden „Ritus zum Opfern von Weihrauch“. Bald trafen die Yusa, die Akademie-Verwalter, einer nach dem anderen ein. Sie kamen im Hauptraum des alten Lehrsaals zu einer kurzen Besprechung zusammen. Dann zogen sie ihre weißen Ritualgewänder an und bewegten sich im Gänsemarsch gesetzt und in feierlicher Stille zum Schrein im rückwärtigen Teil der Akademie. Das Ritual begann mit dem lauten Verlesen des Zeremonialprotokolls durch den Kantor. Das einfache und strenge Ritual von Weihrauch-Verbrennen und Kotaus wurde mehrfach wiederholt. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein, genauer gesagt: sie schien um Jahrhunderte zurückgedreht worden zu sein (vgl. Foto S. 8). Worin liegt die Bedeutung dieses Rituals? Was sind das für Werte, die diese Männer in der heutigen Zeit noch aufrechtzuerhalten und an die nachkommenden Generationen weiterzugeben bemüht sind? Wir hoffen, dass unsere Leser Anworten auf diese Fragen in unseren SPEZIAL-Beiträgen finden, die dem Erbe der Seowon, der neokonfuzianischen Akademien der Joseon-Zeit, gewidmet sind. Ahn In-kyoung Chefredakteurin der deutschen Ausgabe
VeRLeGeR ReDAKTIonSDIReKToR CHeFReDAKTeURIn ReDAKTIonSBeIRAT
CoPY eDIToR KReATIVDIReKToR LeKToRAT KUnSTDIReKToR DeSIGneRS
Yu Hyun-seok Yoon Keum-jin Ahn In-kyoung Bae Bien-u Choi Young-in Emanuel Pastreich Han Kyung-koo Kim Hwa-young Kim Young-na Koh Mi-seok Song Hye-jin Song Young-man Werner Sasse Anneliese Stern-Ko Kim Sam Kim Jeong-eun, Noh Yoon-young, Park Sin-hye Lee Young-bok Kim Ji-hyun, Lee Sung-ki, Yeob Lan-kyeong
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KoReAnISCHe KULTUR UnD KUnST Winter 2015
„Bücherschrank“ Achtteiliger Stellschirm, ca. zweite Hälfte 18. bis erste Hälfte 19. Jh, Farbe auf Papier, 112cm x381cm (Ausschnitt), Privatbesitz ©Dahal Media
Die Stillleben namens Chaekgado oder Chaekgeori wurden meist als Dekor für das Studierzimmer eines Gelehrten verwendet. Sie zeigten Bücher, Kalligraphie-Zubehör, Kuriositäten und andere, auf Regalen arrangierte Gegenstände, die Aufschluss über Gelehrsamkeit, Lebensstandard oder persönliche Bestrebungen des Besitzers gaben.
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interVieW
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han Kang: „die sprache bereitet mir einen gewissen schmerz“ Kang Ji-hee
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KUnStKritiK
lee Quede: legende aus turbulenten Zeiten
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Kim Yoo-kyung
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hÜter DeS traDitiOneLLen erBeS
durch Geomungo die tradition hüten Chung Jae-suk
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geSchichten aUS ZWei KOreaS
alternativschulen: hilfe zur eingliederung junger nordkoreanischer Flüchtlinge
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Kim Hak-soon
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SPeZIAL
UnterWegS
Vermächtnis der Seowon, der neokonfuzianischen akademien des Joseon-reichs
traurige lieder leben in den Bergen von Yeongwol und Jeongseon
SPeZiaL 1
Shin Byung-ju
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architektur der seowon: Ästhetik der Mäßigung und schlichtheit
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entertainment
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seowon: stätten des Konfuzianismus und der konfuzianischen Gelehrten der Joseon-Zeit
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Gwak Jae-gu
VerLieBt in KOrea
Jang hüseyin: eine stimme, die für mehr Verständnis plädiert
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ein-Personen-livestreaming im terrestrischen Fernsehen Kang Myoung-seok
reiSen in Die KOreaniSche LiteratUr
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die sonne, die nicht untergeht; die sehnsucht, die nicht schwindet Cho Yong-ho
Darcy Paquet
hinter den Westbergen Kim Chae-won
Lee Sang-hae
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seowon für den „edelmann“ erwachen zu neuem leben Lee Chang-guy
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Moderne seowon für junge intellektuelle Lee Kil-woo
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SPEZIAL 1 Vermächtnis der Seowon, der neokonfuzianischen Akademien des Joseon-Reichs
SEOwON StättEN dES KONfuZIANISMuS uNd dER KONfuZIANIScHEN GELEHRtEN dER JOSEON-ZEIt Shin Byung-ju Professor für Koreanische Geschichte, Konkuk University Fotos Ahn Hong-beom
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In Vorbereitung auf die jährlich stattfindenden Gedenkriten stellen die konfuzianischen Gelehrten der Akademie Byeongsan Seowon in Andong, Provinz Gyeongsangbuk-do, den Arbeitsplan mit der Verteilung der einzelnen Pflichten auf.
Seowon, die neokonfuzianischen Akademien der Joseon-Zeit (1392-1910), waren private Bildungseinrichtungen, die von konfuzianischen Gelehrten auf dem Lande zur Verehrung der alten weisen und zur Ausbildung des Nachwuchses gegründet wurden. Sie fungierten gleichzeitig als autonome Organe der lokalen Selbstverwaltung. Anfänglich waren die Seowon akademische Zentren des Neokonfuzianismus, der offiziellen Staatsideologie des Joseon-Reichs. Es war eine Ironie der Geschichte, dass sie im Laufe der Zeit mit zunehmendem Einfluss zu Nährstätten der politischen Rivalitäten am Königshof wurden und dem Missbrauch der Staatsmacht Vorschub leisteten. die tiefverwurzelten wissenschaftlichen traditionen werden jedoch heute noch von mehr als 600 Seowon in Südkorea gepflegt. die koreanische Gesellschaft von heute, die angestrengt nach wegen für eine allumfassende humanistische Bildung sucht, wendet ihren Blick zurück auf die Pädagogik von einst. Koreanische Kultur und Kunst 5
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ie Seowon übten einen weitreichenden Einfluss auf Politik, Wirtschaft und Kultur des Joseon-Reichs aus. Die Einrichtung dieser neokonfuzianischen Akademien ist eng mit dem politischen Aufstieg der neuen Schicht adliger Literati verbunden, die ihre Machtbasis Ende der Goryeo-Zeit (918-1392) vor allem in den Provinzen vergrößert hatte. Dass sich diese Gruppe der als „Sarim“ bekannten Gelehrten trotz viermaliger gegen sie gerichteter Säuberungsaktionen im 16. Jh in der späten Joseon-Zeit als herrschende Klasse etablieren konnte, war ihrer Machtbasis in den regionalen Gemeinwesen zu verdanken. Durch die Gründung von Seowon verbreitete die Sarim-Gruppe den Neokonfuzianismus und auf Grundlage ihres Einflusses in den regionalen Gemeinwesen konnten sie ihre Stimme gegen die hochrangigen Beamten erheben, deren Macht am Hofe hauptsächlich auf ihren Verdiensten bei der Staatsgründung oder ihrer Verwandtschaft mit der Königsfamilie beruhte. In puncto Bildung legten sie großen Wert auf geistige Selbstkultivierung und -disziplinierung, was die Bedeutung der neokonfuzianischen Bildung erhöhte und zur Gründung der Seowon führte.
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wissenschaftliches Streben und Verehrung der weisen Vorfahren In einer Seowon durften vor allem Einrichtungen für Bildungszwecke und zur Durchführung der Ahnenverehrungsrituale nicht fehlen. Zu den Bildungseinrichtungen gehörten der Lehrsaal, in dem der Lehrer seine Schüler unterrichtete, und die Wohnheime, in denen die Schüler wohnten und lernten. Ritualeinrichtung war ein zu Ehren des jeweils verehrten Weisen oder Gelehrten errichteter Schrein. Die Schülerwohnheime, die jeweils einen besonderen, zu fleißigem Studium und Selbstdisziplin ermutigenden Namen trugen, standen sich auf der östlichen und westlichen Seite des Lehrsaal-Hofs gegenüber. Der Schrein wurde im innersten Bereich oder auf dem höchsten Platz des Akademiegeländes errichtet und war von einer zusätzlichen Mauer umgeben. Zu den weiteren Einrichtungen einer typischen Akademie gehörten ein Lagerraum für die Ritual-Utensilien, in dem auch die Opferspeisen zubereitet wurden, ein Pavillon, in dem die Schüler ihre Freizeit verbrachten und sich der Landschaft erfreuen konnten, sowie ein Bibliotheksgebäude für die Herausgabe und Aufbewahrung von Lernmaterialien und Büchern.
©National Museum of Modern and Contemporary Art, Korea
Baegundong Seowon: Koreas erste neokonfuzianische Akademie 1543 gründete der Gelehrte Ju Se-bung (1495-1554), der Magistrat des Kreises Punggi war, im Dorf Sunheung-myeon in der Provinz Gyeongsang-do die Baegundong Seowon. Zweck der Einrichtung dieser ersten privaten neokonfuzianischen Akademie des Landes war die Ausbildung junger Gelehrter und die Verehrung von An Hyang (1243-1306), der Ende der GoryeoZeit den Neokonfuzianismus in Korea einführte. Ju Se-bung, der davor schon einen privaten Schrein namens Hoeheon-sa zur Verehrung von An Hyang errichtet hatte, entschloss sich zur Gründung der Baegundong Seowon (Akademie zur Weißen-Wolke-Grotte) nach dem Vorbild der von dem chinesischen Gelehrten Zhu Xi (1130-1200) errichteten Bailudong-Akademie (Akademie zur Weißen-Hirsch-Grotte), womit die Tradition wiederbelebt wurde. Die konfuzianischen Gelehrten der Joseon-Zeit, die Bildung für wichtig erachteten, setzten sich für die Ausbildung junger Menschen ein, indem sie auf dem Lande unter Einsatz ihres privaten Vermögens Dorfschulen – die sog. „Seodang“ oder „Seojae“ – gründeten. Im 16. Jh setzten die Gelehrten der Sarim-Gruppe (in den Provinzen lebende Elite-Gelehrte) diese Tradition fort und gründeten die Seowon als Einrichtungen der höheren Bildung und zur Verehrung herausragender konfuzianischer Gelehrter. Das heißt, die Ahnenverehrungsriten für alte Weisen und die Heranziehung des gelehrten Nachwuchses waren die Hauptziele der Seowon. 1549 beantragte der Gelehrte Yi Hwang (1501-1570) nach seinem Amtsantritt als Magistrat von Punggi Regierungsunterstützung für die Akademie Baegundong Seowon unter Berufung auf deren Bedeutung für den Staat. 1550 gewährte der König der Akademie eine Schrifttafel mit der Inschrift „Sosu Seowon“. Die Namensgebung und Schenkung einer Schrifttafel 1
durch den König an einen Tempel oder eine konfuzianische Akademie war ein Zeichen der königlichen Akkreditierung, die Regierungsunterstützung in Form von Land, Büchern und Arbeitskräften sicherstellte und mit der Befreiung von Steuern und Frondienst einherging.
1 Dosan Seowon (1721) von Jeong Seon (1676-1759). Tusche und Farbe auf Papier. 124×67cm. Diese Darstellung der idealen Lage einer neokonfuzianischen Akademie zeigt Dosan Seowon am Fuße der Cheongnyangsan-Berge, gelegen inmitten malerischer Wälder und mit Blick über den Fluss Nakdong-gang in Togye-ri, Andong-si, Provinz Gyeongsangbuk-do. 2 In Donam Seowon in Nonsan, Provinz Chungcheongnam-do, prüfen die Verwalter die hölzernen Druckstöcke in der Lagerhalle, in der 2.103 Druckstöcke für verschiedene Werke aufbewahrt werden, darunter Die Vollständige Sammlung von Sagye von Kim Jang-saeng.
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Die konfuzianischen Gelehrten der Joseon-Zeit, die Bildung für wichtig erachteten, setzten sich für die Ausbildung junger Menschen ein, indem sie auf dem Lande unter Einsatz ihres privaten Vermögens Dorfschulen – die sog. „Seodang“ oder „Seojae“ – gründeten. Im 16. Jh setzten die Gelehrten der Sarim-Gruppe (in den Provinzen lebende Elite-Gelehrte) diese Tradition fort und gründeten die Seowon als Einrichtungen der höheren Bildung und zur Verehrung herausragender konfuzianischer Gelehrter. Koreanische Kultur und Kunst 7
Die Seowon sammelten zudem die Bücher, die die Schüler fürs Studium benötigten, und dienten somit auch als öffentliche Bibliotheken. Um 1600 war die Akademie Sosu Seowon im Besitz von 107 Titeln mit insgesamt 1.678 Exemplaren. Dank ihrer stattlichen Büchersammlungen und eigenständiger Publikationsaktivitäten leisteten die Akademien einen Beitrag zur Aufklärung und Erweiterung des Wissens der Bürger in den Provinzen.
Landesweite Verbreitung der Seowon und wachsende Macht der Sarim-Literati Ab dem 16. Jh wurden die Seowon durch die Bemühungen der Sarim-Gelehrten, die ihre Machtbasis in den Provinzen erweitern wollten, verbreitet. Unter der Herrschaft von König Myeongjong (reg. 1545-1567) wurden 18 Seowon und unter König Seonjo (reg. 1567-1608) 63 Seowon errichtet. Viele davon entstanden in der Provinz Gyeongsang-do, einer neokonfuzianischen Hochburg, die die Traditionen der Yeongnam-Schule fortsetzte. Besonders repräsentative Beispiele sind die Akademien Dosan Seowon, Deokcheon Seowon und Byeongsan Seowon, die jeweils die Gelehrten Yi Hwang, Jo Sik (1501-1572) bzw. Ryu Seong-ryong (1542-1607) verehrten. Diese privaten Akademien konkurrierten zunächst mit den Hyanggyo, den lokalen öffentlichen Schulen, die einem konfuzianischen Schrein angegliedert waren. Da die privaten Seowon jedoch ein besseres Bildungsumfeld boten und schnell an Ansehen und Einfluss gewannen, schickten die Familien der adligen Yangban-Schicht ihre Söhne bald in die Seowon. Ab Mitte der Jo8 Koreana Winter 2015
Die Verwalter von Piram Seowon in Jangseong, Provinz Jeollanam-do, bei dem am Monatsersten stattfindenden Ritual. Die Zeremonien finden in halbmonatlichen Abständen statt. Im Schrein Udongsa werden die Ahnentafeln von Kim In-hu und dessen Schüler Yang Ja-jing aufbewahrt.
seon-Zeit spielten die Seowon zwar einerseits eine zentrale Rolle bei der Verbreitung von Neokonfuzianismus und Bildung, verkamen aber andererseits zu Orten, die vor allem den Interessen der regionalen Yangban-Schicht dienten, die ihre gesellschaftlichen Netzwerke auf Basis von Blutsverwandtschaft, Regionalismus und Alumni-Beziehungen konsolidierten. Als die Konfuzianisten in den Provinzen die Seowon zur Stärkung ihrer akademischen und politischen Basis instrumentalisierten, wurden sie zum Nährboden politischer Parteikämpfe. So formierten sich aus den Denkschulen, die jeweils andere wissenschaftliche Richtungen verfolgten, verschiedene politische Interessengruppen: die Namin-Fraktion („Südländer“) aus der Toegye-Schule, die Bugin-Fraktion („Nordländer“) aus der Nammyeong- und Hwadam-Schule, die Seoin-Fraktion („Westländer“) aus der Yulgok- und Ugye-Schule, die Soron-Fraktion („Schule der Jüngeren“) aus der Myeongjae-Schule und die Noron-Fraktion („Schule der Älteren“) aus der Uam-Schule. Die Anführer der jeweiligen Denkschulen brachten ihre politischen Standpunkte zum Ausdruck, indem sie zum Beispiel in Bezug auf ideologische und politische Themen wie die Debatte um die Li-Qi-Theorie (Theoretische Grundlage des Neokonfuzianismus, die mit „Li“, den Prinzipien des Universums, und mit „Qi“, Materie und Energie, die Existenz der Natur, des Menschen und der Gesellschaft ergründet) oder den sog. Yesong-Disput (Auseinandersetzung um die Länge der offiziellen Trauerzeit der Königinwitwe) Petitionen einreichten. Dabei dienten die Seowon als Orte, in denen sie sich auf einen gemeinsamen Standpunkt verständigten. Nach Mitte der Joseon-Zeit waren vermehrt Gelehrte der Giho-Schule (Literati-Gruppen in den Provinzen Gyeonggi-do, Chungcheong-do und Jeolla-do) auf der akademischen und politischen Bühne vertreten, sodass auch in den Provinzen Jeolla-do, Chungcheong-do und Gyeonggi-do viele Seowon errichtet wurden. Repräsentativ
für Jeolla-do war die Piram Seowon zu Ehren des Gelehrten Kim In-hu (1510-1560) und für Chungcheong-do die Donam Seowon zu Ehren des Gelehrten Kim Jang-saeng (1548-1631), während in Gyeonggi-do die Akademien Jaun Seowon zu Ehren des Gelehrten Yi I (15361584) und Pasan Seowon zu Ehren des Gelehrten Seong Hon (1535-1598) bekannt waren.
Übermäßige Seowon-Verbreitung und deren folgen Unter der Herrschaft von König Sukjong (reg. 1674-1720) stieg die Zahl der Seowon rasant auf 166 an, darunter 105 staatlich anerkannte. Dies führte z. B. dazu, dass die staatlich anerkannten Akademien ihre Privilegien wie Befreiung von Steuerpflicht und Frondienst ausnutzten und dadurch der Wirtschaft des Landes einen empfindlichen Schlag versetzten. Daher verbot König Sukjong 1714 die Gründung weiterer Seowon und stellte die staatliche Anerkennung ein. Auch König Yeongjo (reg. 1724-1776), der die königliche Autorität stärken wollte, folgte Sukjongs Beispiel und befahl zudem 1741, alle nach 1714 errichteten Seowon und Schreine zu schließen. In den Annalen von König Yeongjo findet sich folgender, auf den 8. April 1741 datierter Erlass: „Alle Seowon, die nach dem Gründungsverbot von 1714 privat ohne Unterrichtung der Regierung eingerichtet wurden, sowie alle Schreine, die für private Zwecke errichtet wurden, sind allesamt abzuschaffen. [...] Falls hiernach für private Zwecke Seowon und Schreine errichtet werden, werden die für die jeweilige Lokalität zuständigen Gouverneuere bzw. Magistrate ihres Amtes enthoben und die konfuzianischen Gelehrten in die Verbannung geschickt.“ Die Wirksamkeit des Seowon-Verbots belegt die Tatsache, dass unter der Herrschaft von König Sunjo (reg. 1800-1834) und König Cheoljong (reg. 1849-1863) im 19. Jh, als anstelle der jungen bzw. unerfahrenen Könige enge Verwandte die Politik dominierten, fast keine Seowon gegründet wurden. Abschaffung der Seowon und Niedergang des Neokonfuzianismus Nach König Yeongjo machte sich Prinzregent Heungseon Daewongun (1820-1898) für die Abschaffung der Seowon stark. Der Prinzregent, der nach der Thronbesteigung seines minderjährigen Sohnes Gojong (reg. 1863-1907) die eigentliche Macht in der Hand hielt, schloss 1865 den Schrein Mandong-myo, eine Hochburg der Gelehrten und Politiker der Noron-Fraktion, die den Doktrin des Gelehrten Song Si-yeol (1607-1689) folgten. Das gleiche Schicksal erfuhren 1868 etwa 600 staatlich nicht anerkannte Seowon. Mit der Begründung, dass die Seowon Nährboden für die politischen Fraktionen am Hofe seien, befahl der Prinzregent die Schließung aller Seowon und Schreine im Land mit Ausnahme von 47 Akademien. Zu den Einrichtungen, die damals überlebten, gehören die Akademien Sosu Seowon, Dosan Seowon, Namgye Seowon und Oksan Seowon. Land und Vermögen der geschlossenen Akademien wurden vom Staat verwaltet, Neugründungen wurden nicht genehmigt. Konfuzianische Gelehrte aus dem ganzen Land demonstrierten in Seoul gegen die Abschaffung der Seowon. 1.460 Gelehrte aus der Provinz Gyeongsang-do versammelten sich vor dem Königspalast, um eine gemeinsame Petition einzureichen, und warfen dem Prinzregenten vor, Joseons Qin Shihuangdi, der legendäre chinesische Tyrann, zu sein. Doch der Prinzregent blieb hart und brach den Widerstand mit niederschmetternder Kritik: „Denjenigen, die dem Volk schaden, werde ich nicht verzeihen, selbst wenn Konfuzius wieder zum Leben erwachen würde. ... Die Seowon sind zu Räuberhöhlen verkommen.“ Während der japanischen Kolonialherrschaft (1910-1945) und später der rasanten Modernisierung Koreas verloren die Seowon zwar ihre eigentliche Bildungsfunktion, doch die Tradition der Ahnenverehrung wird bis heute fortgesetzt. In jüngster Zeit haben diejenigen, die sich für den Erhalt der Werte und Traditionen der Seowon einsetzen, ihr Augenmerk verstärkt auf die Wiederbelebung dieser Akademien und deren historischer und kultureller Implikationen für die Gegenwart gerichtet. Koreanische Kultur und Kunst 9
SPEZIAL 2 Vermächtnis der Seowon, der neokonfuzianischen Akademien des Joseon-Reichs
ArchItektur Der Seowon äStHEtIK dER MäSSIGuNG uNd ScHLIcHtHEIt
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Standort und räumliche Anordnung der Seowon beruhen auf der neokonfuzianischen ästhetik, die Zurückhaltung und Schlichtheit anstrebte. Gemäß den Idealen der Sarim, der neokonfuzianischen Gelehrten in den Provinzen, die der Geschäftigkeit der säkularen welt entflohen, um die Prinzipien des universums und des Menschen zu ergründen, finden sich die meisten Seowon an abgeschiedenen Stellen inmitten malerischer Landschaften. um ihre funktionen der Bildung und rituellen Verehrung der konfuzianischen Vorfahren zu erfüllen, folgten sie der schematischen Anordnung von niedriger Ebene im vorderen und hoher Ebene im hinteren teil, wobei der Lehrsaal vorne und der Schrein hinten lag. diese Raumaufteilung bringt symbolisch die wissenschaftlichen Zielsetzungen der Neokonfuzianer zum Ausdruck, sich in der Natur dem Studium der Klassiker zu widmen und den weisen durch Rituale Ehererbietung zu erweisen, um nach ihrem Vorbild den eigenen charakter zu vervollkommnen. Lee Sang-hae Leiter des Cultural Heritage Committee Fotos Suh Heun-gang
Der Pavillon Mandaeru (Pavillon der Späten Begegnung) am Eingang von Byeongsan Seowon im Dorf Hahoe, Provinz Gyeongsangbuk-do. Der Pavillon einer neokonfuzianischen Akademie diente den Gelehrten bei ihren Betrachtungen über die Ordnung des Universums und der Prinzipien aller Dinge als Ort zur Entspannung in der Natur.
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ie Sarim, die in den Provinzen ansässigen konfuzianischen Gelehrten der Joseon-Zeit (13921910), die die Gründung von Seowon vorantrieben, verfolgten ein holistisches Bildungsideal, das nicht auf die Vermittlung von praktischem Wissen und Fertigkeiten setzte, sondern durch die Vervollkommnung des Charakters aufrechte Menschen heranzubilden suchte. Eine solch ganzheitliche Bildung konnte ihrer Meinung nach durch „unentwegtes Studium“ erreicht werden, das Konzentration und Selbstkultivierung des Geistes voraussetzt. Für die Neokonfuzianer umfasste das Studium nicht nur die Erforschung der konfuzianischen Klassiker, sondern auch die Verehrungsrituale, um dem Vorbild der Gelehrten früherer Generationen nachzueifern, und Erholung in der Natur, um den Stress des Studiums abzubauen und - Geist und Körper entspannend - über die Prinzipien des Universums zu kontemplieren. Daher hatten Standort und Raumaufteilung der Seowon vorrangig der effizienten Umsetzung dieser Funktionen zu dienen. In diesem Punkt unterschieden sich die Seowon von religiösen Einrichtungen, die als Orte der Andacht errichtet wurden.
Sich der Natur und dem Schicksal fügen Baeugundong Seowon, die erste private konfuzianische Akademie der Joseon-Zeit, wurde 1543 von Ju Se-bung (1495-1554), dem damaligen Magistraten des Kreises Punggi, errichtet und 1550 unter dem 12 Koreana Winter 2015
neuen Namen „Sosu Seowon“ staatlich anerkannt. Die Akademie verfügt zwar über einen Schrein für Ahnenverehrungsrituale, einen Lehrsaal für das Studium und einen Pavillon zur Erholung in der Natur, folgte in puncto Raumstrukturierung jedoch nicht dem festgelegten Stil. Der Schrein befindet sich nämlich auf der westlichen Seite des Geländes und ist nach Süden gerichtet, während der Lehrsaal östlich des Schreins steht und somit nach Osten blickt. Nichtsdestoweniger wurde Sosu Seowon in Bezug auf Standortauswahl und Strukturierung des Geländes zum Modell für zahlreiche später erbaute Akademien: Sie befindet sich im Heimatdorf des Gelehrten An Hyang (1243-1306), zu dessen Ehren sie errichtet wurde, inmitten einer ruhigen, malerischen Landschaft und die dort abgehaltenen Gedenkriten galten während der Joseon-Zeit als Standard. Die Anlage der Seowon steht in enger Verbindung mit der Theorie „ge wu zhi zhi“ (Die Dinge erforschen und das Wissen erweitern), mit der kosmologischen Erkenntnis sowie mit dem Prinzip „tian ren he yi“ (Einheit von Himmel und Mensch) als Basis der Theorie über die menschliche Natur, auf der Studien und Selbstkultivierung der Neokonfuzianer, also der Protagonisten der Seowon-Gründungen, fuß-
1 In Sosu Seowon in Yeongju, Provinz Gyeongsangbuk-do, bietet der Gyeongnyeomjeong (Pavillon zur Verehrung von Yeomgye) einen Blick über den Fluss und den Kiefernwald. Die neokonfuzianischen Gelehrten der Joseon-Zeit errichteten am Eingang zur Akademie Pavillons als Stätten der Kontemplation und der Kommunikation mit der Natur. 2 Namgye Seowon in Hamyang, Provinz Gyeongsangnam-do, wurde zu Ehren von Jeong Yeo-chang (1450-1504) errichtet, eines Sohnes dieser Provinz und einer der größten Gelehrten der Joseon-Zeit. Der schöne Lotusteich vor den beiden Wohnheimen greift das Motiv des am Akademie-Eingang vorbeifließenden Gewässers auf. 3 Jungjeongdang (Halle der Zentriertheit und Korrektheit), der Lehrsaal von Dodong Seowon in Dalseong, Provinz Gyeongsangbuk-do. Durch die offene Tür sind die Stufen zu sehen, die zu dem zu Ehren von Kim Goeng-pil errichteten Schrein führen.
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© Conservation & Management Foundation of Seowon
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ten. Die Theorie „Die Dinge erforschen und das Wissen erweitern“ ist ein wichtiges Konzept aus dem Buch Das Große Lernen, das Zhu Xi (1130-1200), der bedeutendste Neokonfuzianer der chinesischen Song-Dynastie, zusammen mit den Analekten des Konfuzius, den Analekten des Menzius sowie Mitte und Maß zu den vier grundlegenden Werken des Konfuzianismus erklärt hatte. Der Gedanke von Zhu Xi, dass man „Wissen erreicht, wenn man zu den Prinzipien aller Dinge vordringt und sie bis zum Ende erforscht“, wurde von den Neokonfuzianern der Joseon-Zeit aufgenommen und daher postulierten sie, dass Seowon stets an von der Welt abgeschiedenen, ruhigen Orten mit schöner Landschaft errichtet werden sollten. Das Konzept der „Einheit von Himmel und Mensch“, das sich ebenfalls in der Seowon-Architektur widerspiegelt, besagt, dass sich der Mensch der Natur und seinem Schicksal fügen soll. Daher erachteten die konfuzianischen Gelehrten eine Landschaft als ideal, in der sie durch die Beobachtung des Wandels in der Natur die Prinzipien aller Dinge eigenständig begreifen und schließlich eins mit der Natur werden konnten. Entsprechend wählten sie Standorte weit weg von jeder menschlichen Siedlung und errichteten die Akademien im Schoße der Natur, um Körper und Geist zu kultivieren und Gelehrte der nächsten Generation heranzuziehen. Die Akademie Sosu Seowon liegt z.B. am Jukgye-Fluss, der am Fuße der Sobeaeksan-Berge entspringt, an einem geheimen Ort tief in den Bergen mit gemütlichen Tälern und Flüssen und versunken in Wolken. Die Dosan Seowon, errichtet zu Ehren des Gelehrten Yi Hwang (1501-1570), befindet sich in einer ähnlichen Umgebung. Sie wurde 1574 nach dem Tod von Yi Hwang nach dem Vorbild der konfuzianischen Dorfschule Dosan Seodang, die Yi für seine wissenschaftlichen Studien und die Ausbildung von Schülern errichtet hatte, gegründet. Der Sijo-Gedichtzyklus Zwölf Lieder von Dosan, den Yi Hwang nach der Gründung der Schule verfasste, gibt Aufschluss über seine Geisteshaltung und das landschaftliche Umfeld der Schule: 1 2
Im Frühlingswind bedeckt ein Blütenmeer den Berg, am Herbstabend erfüllt der Mondschein den Pavillon. Das schöne Frohlocken der vier Jahreszeiten gleicht dem des Menschen. Wie könnten das Mysterium der Harmonie von Himmel und Erde je ein Ende haben? Rein und sauber ist es um Wallakjae* hinter Cheonundae**, Da mein Leben das Lesen zahlloser Bücher ist, ist meine Freude endlos. Ganz zu schweigen von den Vergnügungen, die die Kunst bereitet. [*Das Zimmer in Dosan Seodang, in dem Yi wohnte. **Pavillon in Dosan Seodang]
festlegung von Standortbedingungen und Baustil Der Grundstil der Seowon-Architektur wurde zum ersten Mal bei der Akademie Namgye Seowon umgesetzt, die 1552 zu Ehren des Gelehrten Jeong Yeo-chang (1450-1504) und seines wissenschaftlichen Erbes in Hamyang-gun, Provinz Gyeongsangnam-do errichtet wurde. Der Bereich für Freizeit und Meditation, der Bereich für Studium und der Bereich für Gedenkriten (Schrein) wurden in dieser Reihenfolge vom Eingangstor aus angeordnet. Damit etablierte sich das grundlegende Arrangement der Seowon mit dem vorderen Teil und dem Studium-Bereich auf einer niedrigen Ebene und dem hinteren Teil mit dem Schrein an der höchsten Stelle des Geländes. Der Bereich für Freizeit und Meditation und 1 In Doseon Seowon liegen die beiden Wohnheime Bagyakjae (Haus des Umfassenden Lernens und der strikten Schicklichkeit) und Honguijae (Haus des Breiten Geistes und der starken Standhaftigkeit) vor dem Lehrsaal Jeongyodang (Halle der Klassischen Lehren). 2 Eungdodang (Halle zur Konzentration auf den Weg), der Lehrsaal von Donam Seowon, ist ein in großem Maßstab angelegtes Gebäude von strikter Formalität, das sich vom typischen Architekturstil der Seowon abhebt.
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1 Sungnyesa (Schrein der Erhabenen Riten) in Donam Seowon ist von schönen Mauern mit Blumendekor eingerahmt. Aufbewahrt werden hier die Ahnentafeln von Kim Jang-saeng, eines führenden Gelehrten in Ritualstudien, seines Sohnes Kim Jip, ebenfalls ein prominenter Gelehrter, sowie von Song Si-yeol und Song jun-gil. 2 Ritual-Offizianten steigen die Stufen des Schreins von Donam Seowon herab. 3 Cheinmyo (Schrein der Praktizierten Mildtätigkeit) in Oksan Seowon im Dorf Yangdong, ist durch das dreigliedrige Tor zum Ritual-Bereich zu sehen. Der Ritual-Bereich, der sich auf dem am höchsten gelegenen und abgeschiedensten Gelände der Akademie befindet, ist von einem separaten Tor abgetrennt.
der Bereich für Studium lagen im vorderen Teil, so dass das Kommen und Gehen der Schüler für eine lebhafte, geschäftige Atmosphäre sorgte. Umgekehrt lag der Schrein-Bereich im hinteren Teil der Anlage, um den Zugang zu beschränken und ein Gefühl von Ehrfurcht, Stille und Behaglichkeit zu vermitteln. Die Oksan Seowon wurde 1573 in Angang-eup in der Stadt Gyeongju, Provinz Gyeongsangbuk-do zu Ehren des Gelehrten Yi Eon-jeok (1491-1553) erbaut, der Anfang der Joseon-Zeit die Grundlagen des Neokonfuzianismus festigte. Er war zudem Begründer der Yeongnam-Schule und wird als einer der „Fünf Weisen des Ostens“ geehrt. Die Akademie befindet sich ebenfalls in einem landschaftlich schönen Tal mit Blick auf die Berge Jaok-san. Der Pavillon Mubyeollu (Pavillon der Grenzenlosigkeit) und der Lehrsaal Guindang (Halle des Strebens nach Güte) sind wichtige Bauwerke, die im Einklang mit der umgebenden Natur stehen. Da die Gebäude der Oksan Seowon im voraus geplant und gleichzeitig errichtet wurden, stehen sie in gerader Linie auf einer vom Eingang der Seowon bis zum Schrein verlaufenden Mittelachse, sodass die für eine Akademie charakteristische Anordnung gut zum Ausdruck kommt. Die Piram Seowon, die größte und älteste Akademie in der südlichen und nördlichen Provinz Jeolla-do, wurde 1590 zu Ehren des Gelehrten Kim In-hu (1510-1560) errichtet. Sie unterscheidet sich in Bezug auf topografische Merkmale und Gebäudeanordnung von anderen Akademien. So liegt sie nicht auf einem von vorn nach hinten ansteigenden Gelände, sondern auf flachem Land am Fuße eines Berges. Entsprechend blickt der Lehrsaal im vorderen Teil auf den Schrein. Der so entstandene breitflächige Raum zwischen den beiden Gebäuden strahlt ein Gefühl der Offenheit aus. Die sich vor der Akademie erstreckende weitläufige Landschaft ist vom am Eingang stehenden Pavillon Hwagyeollu (Pavillon der Offenheit und Unparteiischkeit) aus gut zu überblicken. Die Dodong Seowon in Dalseong-gun in der Stadt Daegu, Provinz Gyeongsangbuk-do erfüllt die von den neokonfuzianischen Gelehrten als ideal erachteten Standortkriterien für eine Seowon besonders gut. Die Anordnung der Gebäude und die Raumstruktur dieser zu Ehren des Gelehrten Kim Goeng-pil (1454-1504) errichteten Akademie erfüllen musterhaft die Anforderungen in Bezug auf Lage, Grundriss und Baustil einer Seowon: Mit Blick auf den Fluss Nakdong-gang, der vor der Akademie vorbeifließt, wurden die Bereiche für Freizeit und Meditation, für Studium und für Gedenkriten entlang der Mittelachse auf ansteigendem Terrain am Fuße eines Berges fein säuberlich angeordnet. Außerdem sind die Struktur der Gebäude, die verwendeten Baumaterialien und der verfeinerte Baustil dieser Akademie von herausragendem Wert. Die Donam Seowon in Nonsan, Provinz Chungcheongnam-do, liegt auf einer Ebene mit Blick auf die
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© Conservation & Management Foundation of Seowon
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sich in weiter Ferne erhebenden Berge. Kim Jang-saeng (1548-1631), dessen Andenken diese Akademie gewidmet ist, sagte, dass „einem die Gesetze der Welt anhand der Natur bewusst werden, wenn man zum Berg hinaufblickt und auf die Stadt hinunterblickt und das Wasser beobachtet“. Dies widerspiegelnd, heißt der Pavillon am Eingang „Sanangnu“: Pavillon des Hinaufschauens zu den Bergen weit in der Ferne. Das Kommunizieren mit Bergen und Wasser und der Natur ganz allgemein wird also mit der Erkenntnis der Prinzipien des Universums und des Menschen in Zusammenhang gebracht. Die Byeongsan Seowon im zur Stadt Andong gehörenden Dorf Hahoe in der Provinz Gyeongsangbuk-do wurde zu Ehren des Gelehrten Ryu Seong-ryong (1542-1607) errichtet, des Verfassers von Jingbirok (Verzeichnis der Ereignisse und Tatsachen während des Imjinwaeran-Krieges). Diese Seowon ist ein repräsentatives Beispiel dafür, wie der Bereich für Freizeit und Meditation in Harmonisierung von Architektur und Natur gestaltet werden kann. Um den bedrohlichen Anblick der steil ansteigenden Linien der jenseits des Flusses aufragenden Byeongsan-Berge mit ihren Klippen abzumildern, wurde ein langgestreckter Pavillon ohne Mauern am Akademie-Eingang errichtet. Der Pavillon schwächt die Wirkung der Steilhänge ab, ohne den Blick auf die reizvolle Landschaft zu blockieren, was ihn zu einem hervorragenden Beispiel für das Konzept der „geborgten Landschaft“ macht.
Schlichte ästhetik der Mäßigung und geborgte Landschaft Die Seowon der Joseon-Zeit weisen bezüglich Standort, Grundriss und Raumstruktur einige architektonische Gemeinsamkeiten auf: Sie befanden sich meistens an ruhigen, abgeschiedenen Orten in malerischer Landschaft. Wichtig war auch, dass sie in direkter Verbindung mit dem Gelehrten, dem zu Ehren sie errichtet worden waren, standen. Das konnte der Geburtsort oder der Ort sein, an dem er seinen Studien nachging, ein öffentliches Amt ausübte oder begraben lag. Dadurch sollte unter den Schülern das Gefühl der geistigen Verbundenheit gestärkt und die wissenschaftliche Tradition des verehrten Gelehrten weitergeführt werden. Gebäudeanordnung und Raumaufteilung waren so beschaffen, dass vom Akademiegelände aus die malerische Landschaft bestmöglichst bewundert werden konnte. Die Seowon waren Orte, in dem die Schüler als eine Gemeinschaft lebten, weshalb sich die beiden Wohnheime auf der östlichen bzw. westlichen Seite des Hofes vor dem Lehrsaal gegenüberstanden und so den Bereich fürs Studium abgrenzten. Gleichzeitig wurde das Außengelände der Akademie so angelegt, dass der Blick nach vorn frei war. Die Gebäude waren so strukturiert, dass man vom Lehrsaal oder vom Pavillon aus freie Sicht auf die Berge, die Ebenen und die Flüsse in der Ferne hatte. Dieser alltägliche Kontakt mit der Natur sollte zu Persönlichkeitsentwicklung und effektivem Studieren beitragen. Der Pavillon, in dem man der Natur am nächsten war, wurde entsprechend am Akademie-Eingang errichtet. Die Neokonfuzianer wollten die umgebende Landschaft in höchstmöglichen Maße miteinbeziehen, woraus sich ein architektonischer Stil ergab, der Innen- und Außengelände miteinander überlappen und kommunizieren ließ. Darüber hinaus wurde eine Ensemble-artige architektonische Struktur geschaffen, bei der Gebäude und Natur ineinander überfließen. Die Gebäude einer Seowon sind so angeordnet, dass das Verhältnis zwiDer typische Grundschen ihnen deutlich ersichtlich ist, während gleichzeitig diverse Außenräume riss mit den auf einem von vorn nach hinten geschaffen werden. Das heißt, die Gebäude sind grundsätzlich symmetrisch ansteigendem Terrain angeordnet, wobei die Symmetrie jedoch nicht streng geometrisch ist, sondern angeordneten Gebäubis zu einem gewissen Grade Abweichungen von den vorbestimmten Linien den ist in Byeongsan Seowon besonders erlaubt, sodass sich natürliche, lebendige Räume ergeben. Die so konzipiergut zu erkennen. In ten Gebäude sind nicht groß und prächtig, sondern mäßig und schlicht, sodass der typischen Lage mit sie die neokonfuzianische Weltanschauung architektonisch komprimiert zum Bergen im Hintergrund und Feldern und GewäsAusdruck bringen. Durch Ausweitung der Philosophie auf die natürlichen Gegesern im Vordergrund benheiten bemühte man sich um eine Aufteilung und Anordnung des Raums, spiegelt sich das von die Natürliches und künstlich Geschaffenes miteinander in Einklang brachte. den neokonfuzianischen Gelehrten hoch gehalteWohlstrukturiert und elegant in Stil und Ordnung spiegeln die Seowon die neone Ideal der Harmonie konfuzianischen Ideale der Ästhetik der Mäßigung und Klarheit wider. mit der Natur wider. Koreanische Kultur und Kunst 19
SPEZIAL 3 Vermächtnis der Seowon, der neokonfuzianischen Akademien des Joseon-Reichs
SEOwON fÜR dEN „EdELMANN“ ERwAcHEN Zu NEuEM LEBEN
Lee chang-guy Dichter und Literaturkritiker Fotos Kim Jeong-tae
Schon seit einiger Zeit macht man sich in der koreanischen Gesellschaft Sorgen um einen möglichen Zusammenbruch des öffentlichen Bildungssystems und sucht entsprechend fieberhaft nach wiederbelebungsmaßnahmen. doch gleichzeitig ist zu hören, dass uS-Präsident Barack Obama das koreanische Modell der Bildung als vorbildhaft gelobt hat. welche Qualitäten der koreanischen Bildung haben denn die Aufmerksamkeit der politischen führer erregt? und welche Qualitäten der traditionellen Bildung haben wir aus den Augen verloren? In dem Bestreben, diese Qualitäten zu revitalisieren, haben jetzt die neokonfuzianischen Akademien Seowon die Initiative ergriffen, um dem alten Ideal der „holistischen Bildung zum ganzen Menschen“ neues Leben einzuhauchen. 20 Koreana Winter 2015
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ie lobenden Worte Obamas über die koreanische Bildung sorgen in Korea nicht länger für Schlagzeilen. Bereits mehrmals rühmte er deren Wettbewerbsfähigkeit und verwies dabei u.a. auf den Lerneifer der Schüler und das Ansehen von Lehrern in der koreanischen Gesellschaft. Doch je mehr der US-Präsident die koreanische Bildung lobt, desto unbehaglicher fühlen sich die Koreaner. Denn diejenigen Koreaner, die erkennen, dass sich um Koreas Konfuzianismus-basierte Bildung einige Probleme ranken, stellen selbstkritische Fragen: Wie viel ist von den Bildungstraditionen, die Obama so beeindruckten, überhaupt noch erhalten? Welche Gültigkeit besitzen sie noch mit Bezug auf das Wertesystem des industrialisierten und kapitalisierten Zeitalters sowie in Zukunft? Und wie lange können diese Traditionen noch aufrechterhalten werden?
Bildungseinrichtung für die vom utopia träumende führungselite Als Europa das Mittelalter hinter sich ließ und ins „Zeitalter der
Entdeckungen“ aufbrach, erschien auf der koreanischen Halbinsel ein neues Herrschergeschlecht, das das JoseonReich (1392-1910) begründete. Die ambitionierten, nach Reformen strebenden Gründer der neuen Nation propagierten über einen Führungswechsel hinaus auch die Aufgabe des Buddhismus, der Asien über tausend Jahre lang dominiert hatte, und die Schaffung eines neuen, auf dem Neokonfuzianismus basierenden Reiches. Doch bei der Umgestaltung in eine konfuzianische Nation ging es um mehr als einen reinen politischen Machtwechsel. Es brauchte eine sehr lange Zeit der Versuche und Irrtümer, bis die Bürger des Joseon-Reiches sich an die neuen Werte gewöhnt hatten. Aber die Menschen von Joseon konnten schließlich eine neue Nation schaffen, von der nicht einmal die chinesische Song-Dynastie, Bei einer Nachstellung der Zeremonie zur Entgegennahme der vom König gewährten Namenstafel warten die konfuzianischen Gelehrten in Dodong Seowon auf die Ankunft der königlichen Abordnung. Dodong Seowon wurde 1568 zur Verehrung von Gelehrsamkeit und Tugend von Kim Goeng-pil, einem der sog. „Weisen von Joseon“, errichtet und 1607 staatlich anerkannt.
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die mit Zhu Xi (1130-1200) einen der Pioniere des Neokonfuzianismus hervorbrachte, geträumt hatte. Und die herrschende Yi-Dynastie von Joseon überdauerte mehr als 500 Jahre. Die Elite dieser Zeit bestand aus Hofbeamten und in den Provinzen lebenden konfuzianischen Gelehrten, den sog. Sarim, die zurückgezogen lebten und ranghohe Positionen mieden. Sie strebten danach, durch Selbstkultivierung zum „Gunja“ zu werden, zu einem ehrenhaften Mann von edlem Charakter und aufrechter Gesinnung. Ihr Traum war eine ideale Gesellschaft, in der wie in den antiken Utopien ein weiser König regierte. In diesem Sinne wollten sie eine bislang nie da gewesene, auf konfuzianischen Werten basierende Nation schaffen. Die Bildungseinrichtungen, die von der als „revolutionär“ und „fundamentalistisch“ geprägten herrschenden Elite geschaffen wurden, waren die neokonfuzianischen Akademien Seowon. Über 300 Jahre dienten die Seowon als Nährstätten einer originär Joseon-spezifischen neokonfuzianischen Kultur, die auf Lektüre, Vorlesungen, Diskussion und konzertierten Aktionen fußte. Aber die Bildung in Joseon fand nicht allein in den Seowon statt. Wer in der Klassengesellschaft von Joseon aufsteigen wollte, der musste das Staatsexamen Gwageo ablegen, das Zugang zur Beamtenlaufbahn bot. Der Bildungsweg war entsprechend auf die Gwageo-Vorbereitung ausgerichtet: Die Kinder erwarben zunächst
diese Weise ausgewählten Hofbeamten kritisch gegenüber. Die meisten Hofbeamten akzeptierten zwar den Konfuzianismus, verstanden ihn jedoch eher als System des Herrschens über die Welt und nicht als Ethik-Kodex oder Philosophie. Sie sahen in diesem bürokratisch ausgerichteten Denken ein Hindernis für die ihrer Ansicht nach notwendigen Reformen. Konkurrenzkämpfe und Konflikte zwischen beiden Gruppen waren unvermeidbar und zahlreiche Hofbeamte wehrten sich gegen den strengen Rahmen und das Tempo, das die Reformisten verlangten. Als Ergebnis verloren viele der Sarim-Reformbefürworter ihr Leben in den als „Sahwa“ („sa“: Gelehrte; „hwa“: Unheil) bekannten Gelehrten-Säuberungen. Die Tatsache, dass alle vier Sahwa sich Anfang des 16. Jhs, als sich die neokonfuzianischen Werte schnell im Land verbreiteten, ereigneten, gibt Aufschluss über die historischen Verhältnisse: Die Entstehung von Seowon ist quasi eine Folgeerscheinung der blutigen Säuberungen.
wer lernte was? Nach den Regelungen der Baekundong Seowon hatten diejenigen, die das Kleine Staatsexamen bestanden oder die Vorprüfung Choshi geschafft hatten, bei der Zulassung Vorrang. Damit waren die Zulassungsvoraussetzungen ähnlich anspruchsvoll wie die der einzigen öffentlichen Hochschule Seonggyungwan. Vermutlich betrachtete der Gründer Ju Se-bung seine Akademie als eine Art regiona2001 fand in der Akademie Dosan Seowon die Feier zum 500. le öffentliche Hochschule. Doch die Geburtstag von Yi Hwang (1501-1570) statt. Anlässlich des Gedenkens von Yi Hwang eingerichtete Akademie Isan Seowon setzte für die Aufnahme an diesen Großmeister des Neokonfuzianismus kam wieder die alte das Kleine Staatsexamen nicht voraus. Frage auf, was der Konfuzianismus im 21. Jh bedeutet. Die Antwort: Das zeigt den Willen Yi Hwangs, seine „Durch Erleben der Kultur der alten konfuzianischen SeonbiAkademie nicht als Vorbereitungsinstitution für die Gwageo-Prüfung, sonGelehrten soll deren Geist weitergegeben und Akteure herangezogen dern als Ort der Selbstkultivierung und werden, die durch die Praktizierung von Sozialethik zur Schaffung der wissenschaftlichen Gelehrsamkeit eines ethisch-moralisch gesunden Staates beitragen können.“ Mit zu etablieren. Die flexible Haltung in Bezug auf die Gwageo-Prüfung dürfte diesem Ziel wurde die Gründung des Seonbi-Kulturzentrums als jedoch zum Teil einem gewissen reaSchwesterinstitut der Akademie Dosan Seowon vorangetrieben. listischen Pragmatismus geschuldet sein, da man auch Schüler aus den 1 Herbstopfer-Riten in Provinzen anlocken wollte. Doch mit in den konfuzianischen Dorfschulen (Seodang) das notwendige Donam Seowon, erbaut der Zeit entfernten sich die Seowon Grundwissen und wechselten dann im mittleren Teenageralter auf zum Verehren des neokonimmer mehr von Erwägungen des eine der vom Hof gegründeten Sahak-Schulen in der Hauptstadt fuzianischen Gelehrten Kim Jang-saeng. Die Riten begesellschaftlichen Emporkommens oder auf eine der Hyanggyo-Privatschulen in den Provinzen, wo ginnen mit der Darbringung oder des Utilitarismus. sie sich auf das Kleine Staatsexamen (Sogwa) vorbereiteten. Wer von Opfergaben, gefolgt von Das Bildungsprogramm einer neokondas bestand, ging auf die Seonggyungwan, die Nationale Konfuzider Darbringung von Seide und der ersten Darbringung anische Akademie und höchste Bildungseinrichtung des Landes, fuzianischen Akademie lässt sich grob von Opferwein. um sich auf das Große Staatsexamen (Daegwa) für die gehobene in Lektüre und Vorlesungen untertei2 Offizianten beim Verbeugen Beamtenlaufbahn vorzubereiten. Das war der klassische Aufstiegslen: Die Lektüre wurde von den Schübei den Herbst-Opferriten in Byeongsan Seowon. lern individuell und auf täglicher Basis weg in die gesellschaftliche Elite. durchgeführt, während sie zu den VorDie Sarim standen jedoch der konformistischen Haltung der auf Koreanische Kultur und Kunst 23
lesungen zu bestimmten Zeiten in Gruppen zusammenkamen. Gelesen wurden je nach Seowon die kanonischen Bücher wie die Vier Bücher und die Sechs Schriften, aber auch Lehrbücher wie Zhu Xis Buch der Familienrituale oder Aufzeichnungen des Nachdenkens über Naheliegendes. Grundlegende Pflichtlektüre in allen Seowon war jedoch Sohak (Das Kleine Lernen). Sohak ist eine einführende Lektüre mit Erläuterungen zu Umsetzungsregeln der Kernideen des Neokonfuzianismus wie Selbstkultivierung oder den von Konfuzius festgelegten fünf wichtigen Sozialbeziehungen. Dieser Bestseller der Joseon-Zeit, für dessen Erstellung und Verbreitung der Königshof alle Kräfte mobilisiert hatte, diente dem Ziel der Konfuzianisierung der Gesellschaft. Entsprechend bemühten sich alle renommierten Gelehrten um die Verbreitung und Umsetzung dieser Sohak -Lehre. Auch König Jungjong (reg. 1506-1544) wurde von den Hofgelehrten auf Basis der Sohak-Lektüre unterrichtet und hob deren Status offiziell von einem „Buch für Kinder“ auf eine „wissenschaftliche Lektüre fürs ganze Leben“. Darüberhinaus nahm Yi Hwang, der König Seonjo (reg. 1567-1608) in dessen Kindheit als Hoflehrer unterrichtete, die Sohak-Lehre in sein Lehrbuch Die zehn Diagramme der Wissenschaft der Weisheit auf, das er dem Kronprinzen überreichte. Folgendes Sohak-Zitat des chinesischen Philosophen Guan Zhong (? – 645 v. Chr.) dürfte wohl auch Obama gefallen: „Wenn der Lehrer lehrt, soll der Schüler seine Lehre gleich annehmen und in Bescheidenheit und Ehrfurcht das Gelernte zu verstehen suchen.“ Eine weitere Lektüre, die bei der Konfuzianisierung des Joseon-Reichs eine wichtige Rolle spielte, war Zhu Xis Buch der Familienrituale. Dieses Buch hält allgemeingültige Verhaltensregeln für die wichtigen Anlässe im Leben wie Volljährigkeit, Heirat, Tod und Ahnenverehrungszeremonien fest. Das Buch sollte den Leser dazu ermuntern, sein Leben als lebenswertes menschliches Leben zu entwickeln und gleichzeitig Liebe und Respekt unter den Familienmitgliedern stärken.
wiederbelebung der Seowon durch Lernen Die Joseon-Zeit war die Ära der Seonbi-Gelehrten, die glaubten: „Das Gebot des Himmels liegt in der Natur des Menschen; der menschlichen Natur zu folgen ist der rechte Weg; den rechten Weg zu ebnen ist die Bildung.“ Zur Grundhaltung eines Gelehrten gehörte auch: „Wenn im Staat der rechte Weg waltet, so beteilige dich an der Führung; wenn es im Staat den rechten Weg nicht gibt, so behalte deinen Willen für dich und zieh dich zurück.“ Da die Anhänger des Konfuzianismus die Lehre des Meisters besonders wichtig fanden, achteten sie stets auf die sog. „Überlieferung des Weges“, was eine weitere Besonderheit der neokonfuzianischen Bildungsphilosophie darstellt. Die Seowon waren entsprechend Orte, an denen die Seonbi dem überlieferten Weg zu folgen und ihn auszubauen suchten 2001 fand in der Akademie Dosan Seowon die Feier zum 500. Geburtstag von Yi Hwang (1501-1570) statt. Anlässlich des Gedenkens an diesen Großmeister des Neokonfuzianismus kam wieder die alte Frage auf, was der Konfuzianismus im 21. Jh bedeutet. Die Antwort: „Durch Erleben der Kultur der alten konfuzianischen Seonbi-Gelehrten soll deren Geist weitergegeben und Akteure herangezogen werden, die durch die 24 Koreana Winter 2015
1 Kinder schauen aufmerksam zu, als der Lehrer während des in Donam Seowon abgehaltenen Etikette-Unterrichts vorführt, wie man sich korrekt verbeugt. Die Akademie bietet für die Kinder in der Region regelmäßig Bildungsprogramme in Etikette und ritueller Korrektheit an. 2 Gelehrte aus der Region bei der Nachstellung der in den Provinzen abgehaltenen Staatsexamen in Donam Seowon. Die Nachstellungen wurden auf die jeweilige Zielgruppe abgestimmt für Grundschüler, Mittel- und Oberschüler, Studenten und das allgemeine Publikum abgehalten. 3 Ein Konzert im Eungdodang-Lehrsaal in Donam Seowon. Die Akademie veranstaltet u.a. Konzerte klassischer koreanischer und westlicher Musik, Etikette-Unterricht und Vorlesungen renommierter Redner, um in ihrem Bestreben, die Rolle der Seowon in der modernen Zeit zu erforschen, Kontakt zur Öffentlichkeit aufzubauen und zu unterhalten.
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Praktizierung von Sozialethik zur Schaffung eines ethisch-moralisch gesunden Staates beitragen können.“ Mit diesem Ziel wurde die Gründung des Seonbi-Kulturzentrums als Schwesterinstitut der Akademie Dosan Seowon vorangetrieben. Heute, zehn Jahre später, ist das Zentrum ausgestattet mit High-Tech-Lehrräumen und Wohnheim und bietet verschiedene, dem Gründungsgeist entsprechende Bildungsprogramme an. Nach dem Untergang des Joseon-Reiches herrschte die Meinung vor, dass der Weg zur Modernisierung über das Erlernen von Methoden und Denkungsart des Westens führe. Zu einer Zeit, als Tradition nur noch etwas zum einfachen Aufrechterhalten war, hat Yi Hwang quasi die ursprüngliche Funktion der Seowon als Bildungseinrichtung wiederhergestellt, denn auf der Feier zu seinem 500. Geburtstag nahm alles seinen Anfang. Inspiriert durch diesen Schritt des Dosan Seowon versuchen auch andere Seowon unter Rückbesinnung auf ihre Besonderheiten und Traditionen sich der modernen Zeit anzupassen. Sosu Seowon in Yeongju, Provinz Gyeongsangbuk-do, bietet ein zweitägiges Erlebnisprogramm für Seonbi-Kultur an, und Donam Seowon in Nonsan, Provinz Chungcheongnam-do, das zur Verehrung des Großmeisters der Ritenlehre Kim Jang-saeng (1548-1631) errichtet wurde, bietet seit Jahren Schülern aus der Region Kurse in Etikette
und Ritenlehre an und zieht auch durch ein entsprechendes Zertifizierungssystem Lehrer im Bereich der Charakterbildung heran. Byeongsan Sewon in Andong, Gyeongsangbuk-do, berühmt für den simplen und doch gewagten Stil des Pavillons Mandaeru, wirbt mit dem alten Yusan-Brauch (Yusan: durch die Berge streifen) für die Kultivierung des Seonbi-Geistes im Freien. Und wer das altehrwürdige Ahnenritual in der Akademie Pilam Seowon in Jangseong, Provinz Jeollanam-do, das am 1. und 15. jedes Mondmonats stattfindet, einmal erlebt hat, der kann behaupten, von einem Hauch Seonbi-Geist gestreift worden zu sein. Der weltberühmte chinesische Philosoph Tu Weiming sagte bei einer Lehrveranstaltung in Seoul einmal: „Der Konfuzianismus betrachtet den Menschen nicht als eine isolierte Insel, sondern als eine ständig im Fluss befindliche Existenz, die stets in dynamischer Bewegung ist, nach Veränderungen strebt und dabei sich langsam selbst erkennt. Wenn ein Mensch sich selbst als ein Wesen inmitten endloser Veränderungen versteht, dann kann er im Zentrum einer Beziehung stehen, und zwar nicht im statischen Sinne, sondern im dynamischen Sinne.“ Ich hoffe, dass viele, die darüber nachdenken, was man in diesem Zeitalter der Fülle und des Wettbewerbs lehren soll, in diesen Worten Weimings Trost und Verständnis finden.
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SPEZIAL 4 Vermächtnis der Seowon, der neokonfuzianischen Akademien des Joseon-Reichs
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MOdERNE SEOwON fÜR JuNGE INtELLEKtuELLE Lee Kil-woo Senior Reporter, Tageszeitung The Hankyoreh Fotos Ahn Hong-beom
der „Homo mobilians“, der quasi als „neue Gattung Mensch“ im Zuge der Entwicklung der digitalen technologie erschien, erhält über mobile Geräte in seiner Hand unablässig Informationen oder kommuniziert mit der Außenwelt. In dieser modernen Gesellschaft, die sich schier atemlos inmitten der Überflutung mit digitaler Kultur verändert, gibt es aber auch junge Menschen, die klassische texte lesen und auswendig lernen, ganz so, wie es einst ihre Vorfahren taten. So wie vor Hunderten von Jahren in der Joseon-Zeit die Seonbi-Gelehrten in den in der stillen Abgeschiedenheit der Natur gelegenen Seowon zusammenkamen, um von hoch gebildeten Lehrmeistern in die Prinzipien aller dinge eingewiesen zu werden, so strömen heute junge Intellektuelle inmitten der hektischen Städte zu modernen Versionen der Seowon, um die Klassiker und Geisteswissenschaften zu studieren. 26 Koreana Winter 2015
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Jin-yeong, eine 22-jährige BWL-Studentin, liest fleißig die Joseonwangjo sillok (Annalen des Joseon-Reiches), um Informationen für ihre Semesterarbeit über das Thema „Gefängnisse und Gefängnisausbrüche in der Joseon-Zeit“ zu sammeln. Da sie Mittel- und Oberschule im Ausland besucht hat, kann sie chinesischen Hanja-Schriftzeichen des Originaltextes kaum entziffern, doch das ist kein Problem: Der gesamte Text der Annalen steht in Hangeul (koreanisches Alphabet) übersetzt im Internet, so dass sie nützliche Informationen zu ihrem Thema finden kann. U sagt: „Ich betrachte das nicht als reine Aufzeichnungen über die Vergangenheit. Wenn ich mich mit den Ereignissen befasse, die sich vor Hunderten von Jahren auf diesem Boden zugetragen haben, kann ich unser Volk besser verstehen.“
Junge Menschen, belesen in den Klassikern U, die davon träumt, auf die Law School zu gehen und Anwältin für internationales Handelsrecht zu werden, besucht derzeit die Asan Seowon, wo sie sich Wissen über die verschiedensten Themen aneignet, mit denen sie während ihrer bisherigen Studien noch nie in Berührung gekommen ist. Sie sagt, dank dessen könne sie Korea jetzt besser verstehen. Auf das Thema für ihre Semesterarbeit ist sie auch in diesem Kontext gekommen. Der 24-jährige Kim Tae-yeong, Student der Ingenieurwissenschaften, lernt im selben Seowon durch Klassiker wie Tausend-Zeichen-Klassiker oder Wegweiser für die Unwissende Jugend über die politische Philosophie und den Forschergeist der Gelehrten aus der alten Zeit – Bereiche, mit denen er als Ingenieurwissenschaftsstudent bisher wenig zu tun hatte. Kim bemerkt: „Durch die koreanischen Klassiker habe ich viel über das gesellschaftlich-kulturelle Umfeld unserer Vorfahren erfahren. Wir studieren auch die westlichen Klassiker, was hilft, die westliche Gedankenwelt besser zu verstehen.“ U und Kim gehören zu den 30 Schülern, die die Aufnahmeprüfung mit einer Konkurrenzratio von 10:1 bestanden haben und seit August im Asan Seowon studieren. Das Asan Seowon, das sich in der Nähe des Palastes Gyeonghui-gung mitten in Seoul befindet, ist in einem ultramodernen Gebäude, das einem SF-Filmset gleicht, untergebracht. Dieses Bildungszentrum für junge Leute wurde als „Seowon des 21. Jhs“ im August 2012 eröffnet. Unterrichtet wird in einer Kombination von Bildungsstil eines Seowon aus der Joseon-Zeit und dem PPE-Programm (Philosophy, Politics and Economics) der britischen Universität Oxford. Ziel ist die Heranziehung von „Leader der modernen Zeit“, die über solide humanwissenschaftliche Kenntnisse und
eine international ausgerichtete Geisteshaltung verfügen. In den ersten fünf Monaten leben die Schüler im Wohnheim des Asan Seowon, wo sie verschiedene geisteswissenschaftliche Kurse belegen. Danach steht ein fünfmonatiges Praktikum in einer Denkfabrik in Washington D.C. oder Peking an. Sie können auch an wissenschaftlichen Konferenzen verschiedener US-Denkfabriken wie der Heritage Foundation oder der Brookings Institution teilnehmen. Das Asan Seowon übernimmt nicht nur die Kosten für das inländische Programm, sondern auch für das Auslandspraktikum. Der Name „Asan“ ist der Künstlername von Chung Ju-yung (19152001), des Gründers der Hyundai Group. Das Curriculum beinhaltet grundlegende geisteswissenschaftliche Fächer wie Geschichte, Philosophie und Literatur, aber auch politisches Gedankengut aus Ost und West, internationale Politik, Wirtschaft und Englisch. Ergänzt wird der Fächerkanon durch Persönlichkeits- und Charakterbildung und vielseitige Aktivitäten wie Freiwilligenarbeit, Kulturerlebnisprogramme, Sport, etc. Darüber hinaus werden eher ungewöhnliche Kurse wie „Rhetorik“, „Offen sein und Geschlossen sein (Diskussion über Religionskultur)“ und „Raumsoziologie der Architektur“ angeboten. Wegen der vielen Aufgaben wie Präsentationen und Diskussionen müssen die Schüler oft die Nacht hindurch arbeiten. Wer in mehr als zwei Fächern durchrasselt, muss die Akademie verlassen. Die Schüler sind sich einig, dass sie ohne Fleiß nicht mithalten können. Kim Seog-gun, stellvertretender Leiter des Asan Seowon (Leiter des Koreanistik-Zentrums des Asan Institute for Policy Studies) bezeichnet das Studieren als „Seowon-Spiel“: Es ist keine erzwungene Lernerei, sondern die Schüler wählen selbst, womit sie sich befassen wollen und lernen freiwillig. „Wir sind bemüht, keine realitätsfernen humanwissenschaftlichen Themen, sondern Dinge mit Realitätsbezug zu behandeln. Wir bemühen uns, durch die Kombination von traditionellem Seowon und moderner Universität ein Bildungsinstitut zu entwickeln, dass den Bedürfnissen der heutigen Zeit entspricht“, sagt Kim.
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1 Studierende an Gunmyungwon (Seowon-artige Akademie in Bukchon, Seoul) hören eine Vorlesung über Östliche Philosophie von Choi Jin-seok, Professor für Philosophie und Leiter der Akademie. Die jeden Mittwochabend stattfindende Veranstaltung deckt eine große Bandbreite humanistischer Disziplinen ab, darunter Östliche und Westliche Philosophie und Lektüre der Klassiker. 2 Studierende beim Lernen in der Akademie Gunmyungwon, die in einem umgestalteten traditionellen koreanischen Hanok-Haus untergebracht ist.
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Zukunftspotenzial wichtiger als gegenwärtige Exzellenz Die im März dieses Jahres im Seouler Stadtviertel Bukchon eröffnete Akademie Gunmyungwon verfolgt ebenfalls das Ziel, „Multitalente der Zukunft“ zu fördern, indem sie ein vielfältiges Kursprogramm anbietet, das Östliche und Westliche Philosophie, Kunst, Naturwissenschaften usw. umfasst. Die Akademie ist ein Seowon, für dessen Einrichtung Oh Jeong-taek, Präsident der Dooyang Kulturstiftung, 10 Mrd. KW (rd. 7,96 Mio. Euro) spendete. Die Liste der Professoren ist beeindruckend: Choi Jin-seok, Akademie-Leiter und Philosophie-Professor an der Sogang Universität, unterrichtet asiatische Philosophie und Taoismus; Bae, Chul-hyun, Professor für Religionswissenschaft an der Seoul Nationaluniver-
sität, lehrt Religion und lateinische Klassiker; Kim Kai-chun, Professor für Innenarchitektur an der Kookmin Universität, unterrichtet im Bereich Kunst und Architektur; Kim Dae-shik, Professor für Elektrotechnik am KAIST (Korea Advanced Institute of Science and Technology) lehrt über Hirnforschung und Jeong Ha-woong, Physik-Professor am KAIST, über komplexe Netzwerke und Big Data; Jou Kyung-chul, Professor für Westliche Geschichte an der Seoul Nationaluniversität, unterrichtet moderne Weltgeschichte; Seo Dong-wook, Philosophie-Professor an der Sogang Universität, hält Vorlesungen über westliche Gedankenwelt; Kim Seong-do, Professor an der Korea Universität, lehrt Medienwissenschaften. Jeden Mittwochabend kommen hier 30 Schüler zwischen 20-29 Jahren zusammen, um vier Stunden lang unter diesen Professoren zu lernen. Unter anderem müssen So wie die Seowon in der Joseon-Zeit als Alternative zu den Hyanggyo sie Klassiker wie Das Buch vom (staatliche Bildungseinrichtungen zur Vorbereitung auf das GwageoWeg und seiner Wirkung des chinesischen Philosophen Laozi oder Examen für die Hofbeamtenlaufbahn) eingerichtet wurden, so Ciceros Reden jeweils auf Chineinteressieren sich heutzutage viele junge Studenten für die Seowon sisch bzw. Latein aus dem Kopf als Alternative zu den bestehenden Hochschulen, die größtenteils zu rezitieren. Nach dem zehnmonaVorbereitungsanstalten zur Sicherung eines guten Jobs degeneriert sind. tigen Programm besteht die Mög-
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©Asan Academy
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lichkeit, für einen Monat ins ren Alters. Ha, der nach dem Ausland zu gehen – auf Kosten Abschluss der Korea Military der Akademie. Academy eine Weile beim MiliProfessor Kim Dae-shik, der tär diente und bis zu seiner Hirnforschung unterrichPensionierung als Beamter arbeitete, lernte 17 Jahre lang tet, stellt seinen Schülern von Hong Chan-yu (1893-1950), „Brain-Reading“ zur Entder wiederum ein Schüler schlüsselung der Gedankenvon Jeong In-bo (1893-1950), gänge und „Brain-Writing“ zur einem Gelehrten der chinesiEingabe von Informationen ins Gehirn vor. Er sagt, „90% aller schen Klassiker, war. Gedanken eines Menschen Kim Ju-chang, Professer für sind Analyseergebnisse des Philosophie an der Dankook Hirns, die auf optischen IllusioUniversität, besucht seit Sep2 nen basieren“, und schlussfoltember den Kurs. Neben ihm 1 Studierende der Asan Akademie beim Besuch der Kongressbibliothek in Wasitzt Hwang Pil-hong, ebenfalls gert, dass „das Leben letztendshington. Nach dem fünfmonatigen Studium der Humanwissenschaften in Seoul Professor an der Dankook Unilich das Ergebnis der Informaabsolvieren die Studierenden ein fünfmonatiges Praktikumsprogramm im Ausland. tionsauswahl und –editierung versität, der seit zehn Jahren 2 Ha Yeong-seop, Leiter der Hansi-Schule, unterrichtet die klassische Poesie der Dichter der chinesischen Tang-Dynastie. Die Teilnehmer, die meisten in ihren 50ern durch das Gehirn“ sei. Er fügt mit dabei ist und die Rolle des und 60ern, lauschen aufmerksam den Erklärungen ihres 89-jährigen Lehrers. hinzu: „Es ist völlig bedeu„Klassensprechers“ übernomtungslos, im biologischen men hat. Sinne lange zu leben: Was wichtig ist, ist die kognitive LanglebigHa verliebte sich in seinen frühen Fünfzigern in sino-koreanische Gedichte. „Die sino-koreanischen Gedichte muss man mindestens keit.“ Mit diesen Worten beendet er seine Vorlesung. Die Schüler zehn Jahre lernen, um sie richtig genießen zu können. Es ist eine applaudieren lautstark. dankbare und lohnenswerte Aufgabe, Schüler heranzuziehen, die Oh Jeong-taek, Präsident der Dooyang Kulturstiftung, richtete die die Hansi-Tradition weiterführen können“, meint Ha und fügt hinzu: besondere Bitte an die Professoren, „die Schüler zu Rebellen unse„Um das musische Leben unserer Vorfahren richtig zu verstehen, res Zeitalters“ heranzuziehen. Er sagte, dass „man heute gegen muss man Hansi kennen. Was die Seowon modernen Stils nicht den Strom schwimmen muss, um im kommenden Zeitalter eine unterrichten, das kann man hier lernen.“ zentrale Rolle spielen zu können“. Und er betonte: „In dreißig JahEs gibt noch weitere kleinere Varianten der „alten Schule“: das ren, wenn für die heutigen Jugendlichen die Zeit kommt, führende Gildam Seowon, eine Art Büchercafé im Seouler Viertel TongRollen in der Gesellschaft zu übernehmen, können mit herkömmliin-dong, wo Kurse und Diskussionen über klassische Literatur chen Denkweisen keine Lösungen mehr gefunden werden. Von den stattfinden, oder Gamidang, wo Leute zusammenkommen, um künftigen Leadern wird ein völlig neuer Denkrahmen verlangt und gemeinsam Klassiker zu lesen, angefangen von den Annalen des dafür ist ein geisteswissenschaftlicher Hintergrund unabdingbar.“ Die Kandidaten werden ausschließlich nach „Leidenschaft und KreJoseon-Reiches bis hin zu den Werken Spinozas. So wie die Seowon in der Joseon-Zeit (1392-1910) als Alternative zu den Hyangativität“ ausgewählt, Bildungsgrad, Nationalität, Geschlecht oder Religion spielen keine Rolle. Die durchschnittliche Konkurrenzragyo (staatliche, regionale Bildungseinrichtungen zur Vorbereitung auf das Gwageo-Examen für die Hofbeamtenlaufbahn) eingerichtio beträgt 30:1. Das Aufsatzthema des letzten Auswahlverfahrens war: „Wo sehen Sie sich und Korea in 30 Jahren?“ tet wurden, so interessieren sich heutzutage viele junge Studenten für die Seowon als Alternative zu den bestehenden Hochschulen, die größtenteils zu Vorbereitungsanstalten zur Sicherung eines durch Hansi das musische Leben der Vorfahren verstehen guten Jobs degeneriert sind. Es ist nicht zu leugnen, dass gerade Auf dem Flachdach des Bürgerzentrums neben dem Tapgol-Park in dieser Zeit, in der eine erbarmungslose Wirtschaftslogik zum im Seouler Stadtbezirk Jongno-gu befindet sich die Hanguk Hansi mörderischen Konkurrenzkampf zwingt, die GeisteswissenschafHakdang (Schule für sino-koreanische Gedichte). Jeden Dienstag unterrichtet hier seit elf Jahren der 89-jährige Gründer und Leiten zunehmend an Popularität verlieren, aber andererseits sucht mancher gerade angesichts des Konkurrenzkampfes den Sinn des ter dieser Schule, Ha Yeong-seop, der, wie er sagt, wegen seines Lebens in den Geisteswissenschaften zu finden. Das dürfte der hohen Alters „kaum noch Freunde“ hat, „die noch am Leben sind“. wichtigste Grund dafür sein, warum die modernen Seowon zunehAuch die aus ungefähr 30 Teilnehmern bestehende Gruppe, die von ihm in die sino-koreanische Poesie eingeführt wird, besteht aus mend die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. emeritierten und noch lehrenden Professoren mittleren und höheKoreanische Kultur und Kunst 29
INtERVIEw
h A n k A n g „dIE SPRAcHE BEREItEt MIR EINEN GEwISSEN ScHMERZ“ Kang Ji-hee Literaturkritikerin Fotos Baik da-huim
In den gut zwei Jahrzehnten seit ihrem debüt veröffentlichte die Schriftstellerin Han Kang (geb. 1970) mehrere Bände mit Erzählungen wie die Liebe von Yeosu (1995) und sechs Romane wie deine kalte Hand (2002). die Autorin, die mit verschiedenen Ehrungen wie dem Yi Sang-Literaturpreis (2005) und dem tong-ni-Literaturpreis (2010) ausgezeichnet wurde, gehört zu den Schriftstellern, die in Korea besonders große Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ihr Roman die
Vegetarierin (2007) wurde Anfang 2015 von dem britischen Verlag Portobello Books auf Englisch herausgegeben und stieß auf positive Resonanz. danach hat sie mit Hogarth, einem Imprint für Literatur des weltweit größten Publikumsverlags Penguin Random House, einen Vertrag für die Rechte an ihrem 2014 publizierten Roman der Junge kommt (titel der englischen Übersetzung: Human Acts) abgeschlossen. 30 Koreana Winter 2015
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achdem sie im Jahr 1993 mit Gedichten und 1994 mit einer Erzählung debütierte, ist Han Kang stets als Schriftstellerin aktiv gewesen. Ihre Werke, die die urtümliche Tragik und Wunden des Menschen in poetischer Sprache festhalten, beschrieb ein Literaturkritiker einmal als in Schmerzen getauchte „Fingerabdrücke des Lichts“. Sie versteht es meisterhaft, die im Nu vorbeihuschenden emotionalen Impressionen einzufangen und so dem Antlitz des Schicksals, das das Leben des Menschen als solches bestimmt, ästhetischen Ausdruck zu verleihen. In diesem Sinne ist sie eine Impressionistin, die sich gänzlich dem schwachen Licht der Rettung verschreibt, das nur aus dem Abgrund der Verzweiflung zu fassen ist.
Impressionistin, die das Schicksal in flüchtigen Sinneseindrücken festhält KANG Sie haben an der Yonsei Universität Koreanische Literatur studiert und nach Ihrem Abschluss kurz im Verlagswesen gearbeitet, bevor Sie schließlich debütierten. Ihr Vater ist der bekannte Schriftsteller Han Seung-won (geb. 1939) und Sie haben einmal erzählt, dass das einzige, an dem es in Ihrer Kindheit nie mangelte, Bücher gewesen seien. Ihr Leben kann also nicht ohne den Bezug zu Büchern beschrieben werden, sodass es nur natürlich, ja schicksalhaft, zu sein scheint, dass Sie sich dem Schreiben widmen. Aber gab es trotzdem vielleicht einen besonderen Anlass, der Sie dazu bewegte? HAN In meinem letzten Mittelschuljahr las ich die Erzählung Bahnhof Sapyeong (1983) von Lim Chulwoo (geb. 1954), einem damals noch jungen Schriftsteller. Ich stellte überrascht fest, dass die Handlung nicht von einem bestimmten Protagonisten, sondern von der tiefen Dunkelheit der Nacht, dem Schnee, dem kleinen, kalten Bahnhofsgebäude auf dem Land und dem Licht aus dem Sägemehl-Ofen vorangetrieben wurde, ja dass das Leben an sich als Protagonist mit dem ihm ganz eigenem inneren Rhythmus voranfloss. Dieser ganz eigene Ansatz faszinierte mich und ich erinnere mich, dass ich da zum ersten Mal ernsthaft daran dachte, einmal auf meine ganz eigene Art und Weise schreiben zu wollen. KANG Was glauben Sie, dass Sie jetzt machen würden, wenn Sie nicht Schriftstellerin geworden wären? HAN In der Oberschule wollte ich mal Wildnisreisende werden, als Studentin ging ich gern ins Theater. Ich war zwar so schüchtern, dass ich nicht einmal gewagt hätte, bei einem Theaterclub anzuklopfen, doch wenn ich vor Aufführungsbeginn die dunkle Bühne vor mir sah, überkam mich der unerklärliche Wunsch, dort hinaufzusteigen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass da oben mein Platz sei... Auf der Bühne wollte ich weinen und lachen. KANG Wildnisreisende? Das ist aber unerwartet. HAN Vor langer Zeit hat mir mal jemand die Zukunft gedeutet und gemeint, die ewige Wanderschaft sei mein Schicksal. tatsächlich wandere ich gern, besuche gern unbekannte Orte. KANG Wie die Erzählung Die Vegetarierin, die in verschiedene Sprachen übersetzt und positiv aufgenommen wurde, behandeln auch viele anderer Ihrer Werke das Leben von Künstlern wie Malern, Fotografen, Bildhauern oder Videokünstlern. HAN Wahrscheinlich, weil ich Kunst mag und wohl von ihr beeinflusst wurde. Aber es überrascht mich immer, wenn jemand meine Werke als „Erzählungen über Künstler“ bezeichnet. Ich habe immer gedacht, dass ich nur über Menschen schreibe. Aber wenn ich’s mir recht überlege, frage ich mich, ob mein Interesse für die Kunst nicht vielleicht damit zu tun hat, dass ich mir immer über die Sprache den Kopf zerbreche. Letztendlich habe ich als Schriftstellerin mit der Sprache zu tun, und deshalb möchte ich nur durch sie allein meinen Weg finden. Die Sprache bereitet mir einen gewissen Schmerz und es ist meine Aufgabe, immer gegen diesen Schmerz zu kämpfen. Gedanken über Religion und Liebe KANG Ihre Werke wie Baby Buddha (1999) und In der roten Blume (2000) haben einen stark buddhistischen Touch. Man sagt auch, dass Literatur geboren wird, wenn man Gott den Rücken gekehrt hat. Welche Einstellung haben Sie zur Religion? HAN Ende 20 war ich sehr vom Buddhismus eingenommen. Damals hat das buddhistische Gedankengut so tiefe Wurzeln in mir geschlagen, dass ich auch heute noch, wenn ich auf bestimmte DenkKoreanische Kultur und Kunst 31
weisen und Ideen treffe, frage, in welchen Punkten sie mit dem Buddhismus übereinstimmen oder von ihm abweichen, um sie einzuordnen. Erst mit 31, als ich sehr krank war, nahm ich etwas Abstand vom buddhistischen Denken. Normalerweise wendet man sich ja der Religion zu, wenn man krank ist, aber bei mir war es genau umgekehrt. Ich wollte alles ganz nackt und neu sehen, ohne an etwas zu glauben oder mich irgendwo anzulehnen, ohne jeglichen Schutz. Dass ich danach Physikbücher gelesen habe, hing auch damit zusammen. Ich wollte die real existierende Welt von Null an zu verstehen versuchen. KANG Was die Liebe angeht, fällt auf, dass ziemlich viele Ihrer Figuren sie auf einen Augenblick einschränken oder sich vor ihr fürchten. Sie zeigen sich skeptisch gegenüber der Liebe, aber wenn sie lieben, dann umso explosiver und leidenschaftlicher, eben weil Liebe für sie auf einen Augenblick ein-
geschränkt ist. Im gleichen Kontext wird beschrieben, wie die Figuren den menschlichen Körper gleichsam als von Schmerzen heimgesuchte Schale betrachten, aber einige Szenen schildern eine überraschend tiefe, über die Liebe hinausgehende Kommunikation in dem Moment, in dem die Körper einander berühren und miteinander verschmelzen. Was bedeutet Liebe für Sie? HAN Ich weiß nicht recht ― das ist die genaueste Antwort, die ich Ihnen im Moment darauf geben kann. Mein fünfter Roman Die Griechischstunde (2011) handelt von einer Frau und einem Mann. Ich habe zwar auch andere Romane geschrieben, in denen ein Paar vorkommt, doch bis dahin war nur die Die Griechischstunde von vornherein als „eine Geschichte über einen Mann und eine Frau“ konzipiert. Aber es ist weniger eine Liebesgeschichte im eigentlichen Sinne, sondern eher eine Geschichte darüber, wie die Wahrnehmungen der Gegenwart der beiden Menschen leise aufeinander treffen. Der Mann verliert allmählich das Augenlicht und ist daher ein Porträt von uns allen, die allmählich das Leben verlieren. Die Frau, urplötzlich stumm geworden, steht für einen Menschen, der empfindlich unter der in der Sprache enthaltenen Gewalt des Lebens leidet. Ich wollte den Moment einfangen, an dem sich das Leben der beiden an einem empfindlichen Punkt überlappt.
Gwangju: Grausamkeit und würde des Menschen verstehen KANG Ihr Roman Der Junge kommt handelt von der Gwanju Demokratiesierungsbewegung vom Mai 1980, einer der tiefsten Wunden in der modernen Geschichte Koreas. Der Satz „Sie blieben dort, weil
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sie keine Opfer werden wollten“ im Epilog, den Sie anstelle eines Vorworts geschrieben haben, ist besonders vieldeutig. HAN Als es zum Gwangju-Aufstand oder Massaker kam, war ich neun Jahre alt. Ich bin in Gwangju geboren und nur vier Monate vor dem Aufstand mit meiner Familie nach Seoul umgezogen. Dahinter stand zwar keine Absicht, aber es sah so aus, als ob wir vor der Gewalt geflohen wären, sodass meine ganze Familie lange Schuldgefühle bedrückten. Alles, was in Gwangju passierte, wurde durch das Militärregime verzerrt dargestellt, doch wir hatten Freunde und Verwandte in Gwangju, sodass wir fast immer erfuhren, was sich in Wirklichkeit abgespielt hatte. Ich war damals noch sehr jung, erfuhr aber von den schrecklichen Geschehnissen, da ich die Gespräche der Erwachsenen belauschte. Und weil ich noch so jung war, prägten sich mir das Gehörte eher als Furcht vor Menschen ein, statt Hass auf das Militärregime auszulösen. Ich dachte „Menschen sind furchterregend, aber ich gehöre ja auch dazu“, was mir Angst machte. Gleichzeitig beeindruckten mich all diejenigen, die dieser beängstigenden Gewalt entgegentraten, stark. Der Gwangju-Aufstand hat mir sozusagen zwei unlösbare Rätsel aufgegeben. Nachdem ich mich dazu entschlossen hatte, Der Junge kommt zu schreiben, erfuhr ich bei meinen Recherchen mehr über die damalige Situation, die noch grausamer war, als ich angenommen hatte. Auf der Suche nach ähnlichen Beispielen las ich über Auschwitz, Bosnien, Kambodscha, das Nanking-Massaker, das Große Kanto-Erdbeben, die Massaker an den nordamerikanischen Indianern usw. Doch je mehr Materialien sich bei mir aufstapelten, umso stärker wurde das Gefühl,
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„Ich denke, Schreiben ist wie ein Streichholz anreißen und zuschauen, wie die Flamme aufleuchtet, wie sie brennt und schließlich erlischt. Vielleicht ist das alles, was eine Erzählung vermag: Fragen in Bezug auf das Leben und den Menschen anzureißen, in diesen Momenten des Betrachtens der leuchtenden Flamme.“ 32 Koreana Winter 2015
nicht darüber schreiben zu können. Das Gefühl, dass dabei mein Urvertrauen in den Menschen völlig erschüttert und zerstört würde, war zu bedrohlich. Dass ich diesen Roman dann doch schreiben konnte, ist dem zweiten Rätsel zu verdanken. Ich musste über die Tatsache nachsinnen, dass es 1980 Menschen in Gwangju gab, die sich gegen die übermächtige Gewalt gestellt hatten und die Würde des Menschen zu verteidigen versuchten. Als mir klar wurde, dass sie sich dazu entschlossen hatten, weil sie keine „Opfer“ werden wollten, konnte ich schließlich mit dem Schreiben anfangen. Ich schrieb also mit dem Gedanken, ich werde bei der Grausamkeit des Menschen anfangen und hin zur Würde des Menschen schreiben, ehrlich schreiben, wankend, wenn es sein muss.
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©Park Jae-hong
1 Einbanddeckel der koreanischen Ausgabe von Hier kommt der Junge , die die Gwangju-Demokratiebewegung vom Mai 1980 thematisiert. Der Roman wird im Januar 2016 auf Englisch unter dem Titel Human Acts im auf Literatur spezialisierten Hogarth-Imprint des Verlags Penguin Random House erscheinen. 2 Der Roman Die Vegetarierin , in dem die Protagonistin aufgrund einer Kindheitserinnerung auf Fleisch verzichtet und glaubt, sich in einen Baum zu verwandeln, wurde Anfang 2015 von Portobello Books auf Englisch herausgebracht. 3 Han Kang.
tod, Seele, Kerzenlicht auf dem Schnee KANG Der Junge kommt endet mit einer schweigenden Betrachtung der Lichter der Kerzen, die auf dem Schnee langsam herunterbrennen. Ihre Erzählung Während eine Schneeflocke schmilzt (2015), für die Sie den Hwang-Sun-won-Literaturpreis erhielten, beginnt auch mit der Rückkehr der Seele eines Verstorbenen, und auch hier kommt dem Schnee wichtiger Symbolgehalt zu. HAN Als ich mit Der Junge kommt begann, kam mir der Gedanke mit der Kerzenszene. Im ersten Kapitel zündet die Hauptfigur Dong-ho Kerzen für die Seelen der Verstorbenen an und glaubt, dass sie an den Rand der Kerzenlichter zurückkehren. Ich hatte mir für den Romanschluss, der über dreißig Jahre nach dem Gwangju-Aufstand spielt, eine Szene überlegt, in der sich der Blick auf die brennenden Kerzen vor Donghos Grab richtet. Direkt nach der Fertigstellung von Der Junge kommt, kam mir die Idee für Während eine Schneeflocke schmilzt. Darin besucht die Seele eines Toten eines Nachts den Erzähler und die beiden unterhalten sich. Nicht nur während der Arbeit an Der Junge kommt, sondern auch jetzt noch fühle ich mich manchmal so, als ob diese Tode in mir sind und ich sie
für den Rest meines Lebens in mir weitertragen müsste, auch wenn dieses Gefühl sicherlich allmählich verblassen dürfte. In diesem Sinne war die Geschichte von der Seele irgendwie etwas, dass mir nach Der Junge kommt am nächsten lag. Das Bild des Schnees, der so rein ist, wenn er auf die Welt fällt, alles völlig bedeckt und anschließend verschwindet – dieses Bild und das Bild der Seele überlappen sich in mir. KANG Sie sind mittlerweile schon über 20 Jahre als Schriftstellerin aktiv. Gibt es etwas, das sich in Ihrem Denken oder in Ihrer Haltung gegenüber dem Schreiben geändert hat? Denken Sie, dass Erzählungen dazu da sind, über etwas Zeugnis abzulegen? HAN Früher habe ich einfach nur verzweifelt geschrieben. Ich glaube, ich habe nur geschrieben, um zu leben. Vielleicht ist das jetzt auch noch so. Ich denke, Schreiben ist wie ein Streichholz anreißen und zuschauen, wie die Flamme aufleuchtet, wie sie brennt und schließlich erlischt. Vielleicht ist das alles, was eine Erzählung vermag: Fragen in Bezug auf das Leben und den Menschen anzureißen, in diesen Momenten des Betrachtens der leuchtenden Flamme. In gewisser Hinsicht schiebe ich mein Leben gerade so nach vorn, während ich vom Schreiben einer Erzählung zum Schreiben der nächsten übergehe. Von der Schriftstellerin Han Kang geht ein sanftes Schweigen aus. Jedes Mal, wenn ich frühmorgens ihre Werke lese, fühle ich mich, als ob ich lange still in einer leeren Kapelle gesessen hätte. Die von der Menschheit geschriebene Geschichte des Niederschlachtens ist wahrscheinlich eine Geschichte des Feuers. Doch die Schriftstellerin entdeckt in diesem Feuer eine Schneeflocke, die seltsamerweise nicht schmilzt. Die letzte Würde, die zwar zerbrechlich ist, aber doch nicht schwindet; die Hoffnung, die die unreinen Zweifel am Leben beseitigt: Auf diese Weise werden uns Han Kangs literarische Werke schützen. Koreanische Kultur und Kunst 33
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1 Selbstporträt im traditionellen Mantel , späte 1940er Jahre, Öl auf Leinwand, 72x60cm, Privatbesitz. Ein ikonisches Werk von Lee Quede, der die chaotischen Jahre der ideologischen Auseinandersetzung nach der Befreiung Koreas 1945 in großen Qualen verbrachte und im Rahmen des Gefangenenaustauschs während des Koreakriegs nach Nordkorea ging. Im Hintergrund erstreckt sich hinter dem Künstler eine typische koreanische Landschaft mit Bergen und Feldern. 2 Besucher betrachten Gemälde der Ausstellung Lee Quede - An Epic of Liberation, die vom 22. Juli bis 1. November 2015 im Nationalmuseum für Moderne und Zeitgenössische Kunst im Palast Deoksu-gung anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung Koreas von 34japanischen Koreana Winter 2015 stattfand. der Kolonialherrschaft
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LEE QUEDE LEGENdE AuS tuRBuLENtEN ZEItEN
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Anlässlich des 70. Jahrestags der unabhängigkeit Koreas fand vom 22. Juli bis 1. November 2015 im Nationalmuseum für Moderne und Zeitgenössische Kunst im Palast deoksu-gung in Seoul die Ausstellung Lee Quede - An Epic of Liberation statt. Als die koreanische Regierung 1988 im Rahmen ihrer sog. „Nordpolitik“ das jahrzehntelange Verbot der werke von Künstlern, die nach Nordkorea übergelaufen waren, aufhob, wurden auch Leben und werk des Malers Lee Quede (1913-1965, auch als Yi Kwae-dae bekannt) erneut beleuchtet. die diesmalige Ausstellung präsentierte erstmals neues Material, das die forschung über Leben und werk eines Malers, der in der turbulenten modernen koreanischen Geschichte einen legendären Namen hinterlassen hat, ein gutes Stück voranbringt. Kim Yoo-kyung Journalistin Fotos Ahn Hong-beom
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ezeigt wurden 412 Werke, darunter 41 Ölgemälde. Es war eine seltene Gelegenheit, solch beachtenswerte Werke wie Selbstporträt im traditionellen Mantel, Dahlie, Menschengruppe, Pferd usw. im Original zu sehen.
Prägende Einflüsse Lee Quede wurde als Sohn eines Gutsbesitzers in Chilgok in der Provinz Gyeongsangbuk-do geboren. An der Oberschule Whimoon in Seoul lernte er unter dem Maler Chang Bal (1901-2001) und studierte später an der Kaiserlichen Kunstakademie in Japan (heute: Musashino Art University). Ende der 1930er Jahre zeigte er seine Werke Tänzerin beim Ausruhen, Schicksal und Abendpicknick im Rahmen des privaten japanischen Kunstwettbewerbs Nikaten. Einer Anekdote zufolge sollen die Bewohner seiner Heimatstadt nach Erhalt der Nachricht, dass Schicksal preisgekrönt worden sei, ordentlich gefeiert haben, dann aber aus der Fassung geraten sein, als sie feststellten, dass es den Tod eines Mannes darstellte. In dieser Zeit malte Lee Quede seine koreanischen Zeitgenossen. Männer, dargestellt als Familienoberhäupter, werden mit Bildern des Todes verbunden, was den Niedergang des Landes symbolisieren sollte. Frauen hingegen mit ihrem stechenden Blick und kühn-entschlossenem Gesichtsausdruck verwandeln sich in Göttinnen, die das Volk anführen, wie in Menschengruppe zu sehen ist. Auch Ehepaar beim Kartenspiel aus den 1930er Jahren vermittelt das Gefühl der Angespanntheit und des Unbehagens eines Paares beim plötzlichen Eindringen eines Fremden. Lee Quede wurde ideologisch von seinem älteren Bruder Lee Yeo-seong (echter Name: Lee Myeong-geon, 1901-?) beeinflusst, einem Journalisten, Unabhängigkeitsaktivisten, Geschichtsmaler und Verfasser von Geschichte der koreanischen Tracht. Dank dieses Einflusses konnte Lee Quede sich der düsteren Realität seines unter japanischer Besatzung stehenden Landes nicht verschließen. Seine geliebte Ehefrau Yu Gap-bong (auch: Kap-pong Ryu) (19141980), die Lee Quede im Alter von zwanzig Jahren heiratete, war das Modell für alle Frauenfiguren in seinen Bildern und gleichzeitig diejenige, die seine Werke bis zum Ende behütete. Ihre Initialen finden sich in einer Ecke des Bildes Frau in roter Jacke, das aus den 1930er Jahren datiert, zusammen mit Lees Schwur, sein Leben der Malerei zu widmen: „K.P.R. Das ist meine Berufung. Egal welche Widrigkeiten kommen: Es gibt nur diesen einen Weg.“ Befreiung und ideologischer Konflikt Von seinen frühen Zwanzigern bis 1953, als er nach Nordkorea 36 Koreana Winter 2015
überlief, war Lee rund zwei Jahrzehnte in Südkorea aktiv. Er hinterließ ca. 60 Werke, die seinen starken Willen vermitteln, den Umständen der Zeit bis zum Letzten trotzen zu wollen. Zwischen 1941 und 1944 gründete er u.a. zusammen mit Kim Jongchan, Moon Hak-su, Lee Jung-seop, Jin Hwan und Choe Jae-deok die Neue Künstlervereinigung Joseon, in welcher er aktiv tätig war. Hinterlassenschaften aus dieser Zeit sind Briefe, in denen sich die Künstler über Werke austauschten, und Materialien mit Bezug zu den Ausstellungen, die sie bei ihren Treffen in den Kaffeestuben Jeil-Dabang und Jeonwon-Dabang im Seouler Innenstadtviertel Myeong-dong planten. Lee Quede malte Werke wie Schaukel, Frauenbild, Pferd, Junge Frau usw. und veranstaltete in dieser Zeit auch eine Soloausstellung mit dem Titel Lee Quedes Ölmalereien. Der Kunstkritiker Park Mun-won (1920-1973) kommentierte dazu: „Die Bilder von den Malern der Neuen Künstlervereinigung sind L’art pour l’art, dekadent und eskapistisch. Jedoch enthalten sie auch den Geist dieser Zeit, der vom Widerstand gegen die von den japanischen Besatzern organisierte Koreanische Kunstausstellung geprägt war, und den damit verbundenen Willen, in der Kunst alles wahrhaft Koreanische anzustreben und zu schützen.“ Lee Quedes Ansichten über die Lage der Nation finden deutlichen Ausdruck in einem Brief, den er bei der Befreiung an Jin Hwan schrieb: „Der lang ersehnte Jubeltag ist endlich gekommen! Wir Künstler sind unter den wertvollen Slogans Vereint euch, mischt euch und kämpft nicht untereinander! sowie Spiel eine Rolle in 1 der Geschichte deines Landes, und sei sie auch noch so klein! zusammengekommen, um einen Beitrag zu leisten. Lieber Bruder, komm so schnell wie möglich nach Seoul, um uns Kraft zu geben.“ Kim Ye-jin, Kuratorin der diesmaligen Ausstellung, schreibt: „Die Befreiung war ein monumentales Ereignis, das sein Schicksal als Maler und Mensch komplett veränderte. Nur wenige Maler haben sich so sehr den Kopf über die Rolle des Künstlers zermartert und ihre Gedanken so konkret umgesetzt wie Lee Quede. Er nimmt einen besonderen Platz in der modernen koreanischen Kunstgeschichte ein.“
Ein selbsterklärter Nationalist Im ideologischen Konflikt zwischen Links und Rechts sprach sich Lee Quede für eine Beseitigung aller Spuren des japanischen Kolonialismus in der Kunstwelt und gegen eine separate Regierung im Süden aus und erklärte sich selbst zum Nationalisten. 1945 schloss er sich der im Süden gegründeten Zentrale für den Aufbau der Joseon-Kunst (Joseon Art Building Headquarters) an, trat jedoch
2 1 Frühlingsmaid , Öl auf Leinwand, 45,7×38,3cm, späte 1940er Jahre, Privatbesitz. Dieses Bild einer starken, selbstbewussten Frau gilt als eins der Meisterwerke der modernen koreanischen Malerei. 2 Menschengruppe , um 1948, Öl auf Leinwand, 177x216cm, Privatbesitz. Die Serie Menschengruppe ist eine Sammlung seltener Meisterwerke, inspiriert von den realistischen Wandmalereien, die der Künstler 1946 auf seiner Nordkorea-Reise in Haeju sah. 3 Eine von Lee Quede benutzte Palette.
„Die Befreiung war ein monumentales Ereignis, das sein Schicksal als Maler und Mensch komplett veränderte. Nur wenige Maler haben sich so sehr den Kopf über die Rolle des Künstlers zermartert und ihre Gedanken so konkret umgesetzt wie Lee Quede. Er nimmt einen besonderen Platz in der modernen koreanischen Kunstgeschichte ein.“
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1 Situation , 1938, Öl auf Leinwand, 156x128cm, Privatbesitz. Eine Frau im Ritualgewand, die beim Warten auf den Beginn der Zeremonie eine defensive Pose einnimmt. Diese in der Mitte stehende Frau, die eine Tänzerin zu sein scheint, hat wohl die Schale mit dem Fuß getreten. Neben der Schale sind beschädigte Objekte zu sehen. Die perplexen Gesichter der hinter ihr stehenden Menschen vermitteln Unbehangen und Anspannung. 2 Porträt von Madame Lee , 1943, Öl auf Leinwand, 70x60cm, Privatbesitz. Für dieses auf der 3. Ausstellung des Verbandes Neuer Künstler ausgestellte Gemälde stand – wie für die meisten seiner Frauenbildnisse – Lee Quedes Frau Modell.
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wieder aus, als er ideologische Voreingenommenheit bemerkte. 1946 trat er dem nordkoreanischen Kunstverband Joseon-Kunstallianz bei, den er jedoch auch wieder schnell verließ. Ebenfalls 1946 bereiste er Nordkorea, wo ihn die Fokussierung auf Propagandakunst enttäuschte. Er war aber von einem gigantischen Wandgemälde im Stile des sowjetsozialistischen Realismus in Haeju beeindruckt, was ihn veranlasste, nach seiner Rückkehr in der Zeitschrift Sin Cheonji (Neue Welt) einen „Bericht über nordkoreanische Kunst“ zu veröffentlichen. Erneut wurde er im Süden zum Vorsitzenden des Joseon Bundes für Kunst und Kultur gewählt und auch für die 1. Nationale Kunstausstellung Koreas vorgeschlagen, reichte dort aber nur ein kleines Stillleben ein. „Natürlich hätte ich etwas Großartigeres vorlegen müssen, aber verschiedene Umstände verhinderten das leider.“ Das lässt auf seinen verstörten Zustand schließen. 38 Koreana Winter 2015
Nachdem 1948 sein älterer Bruder Lee Yeo-seong nach Nordkorea übergelaufen war, wurde Lee Quede oft zu Verhören einbestellt und nachdem die Polizei mehrmals sein Atelier, das Seongbuk Institut für Malerei, durchsucht hatte, schloss er es. Danach wurde er von der antikommunistischen Organisation „Liga zum Schutz und Anleiten der Staatsbürger“ dazu gezwungen, seine ideologischen Anschauungen zu ändern, anti-kommunistische Poster herzustellen und öffentlich anti-kommunistische Botschaften zu verlesen. Die fünf Selbstporträts, die in der Ausstellung zu sehen waren, geben Aufschluss über das sich wandelnde Identitätsbewusstsein des Künstlers, der solch turbulente Zeiten durchlebte. Selbstporträt 1 zeigt das Gesicht eines jungen Mannes, der sich furchtlos der Welt entgegenstellt. Selbstporträt 3 hingegen, ein fotorealistisches Werk, das nach seiner Nordkoreareise 1946 entstand, zeigt den Gesichtsausdruck eines Menschen, der sich der kalten Realität
bewusst wird. Selbstporträt im traditionellen Mantel gilt als Lees repräsentativstes Werk. Eine Palette mit deutlichen Farbspuren sowie einige Pinsel asiatischen Stils in der Hand haltend, steht er fest und mit flatternden Mantelschößen da, die Lippen aufeinandergepresst, den Blick entschlossen nach vorn gerichtet, als wollte er erklären: „Ich bin ein koreanischer Maler.“ Im Hintergrund sind Frauen zu sehen, die – Wasserbehälter oder Körbe mit Lebensmitteln auf ihren Köpfen tragend – friedliche Landwege entlang schreiten. Das Gegenstück zu diesem Selbstporträt ist Frühlingsmaid . Es zeigt eine junge Frau mit ruhigem Blick und von gesundem Körperbau, die – über ihr prächtig volles Haar streichend – nach vorne schreitet. Es ist ein Werk von hohem Vollendungsgrad, bei dem die friedliche Hintergrundlandschaft abstrakter und in dunklerern Tönen als beim Selbstporträt gehalten ist. Dieses großartige Bildnis einer Frau von sicherem Auftreten und Anmut ist zwar ein Meisterwerk, das in der Geschichte der modernen koreanischen Malerei herausragt, aber noch nie ausgestellt wurde. Um dem Ölgemälde im westlichen Stil einen charakteristischen koreanischen Touch zu verleihen, verwendete Lee asiatische Kalligraphiepinsel und machte stark Gebrauch von schwarzen Linien. Die Minhwa (Volksmalerei)-Malerin Kim Jeong-sun bezeichnet dies als „traditionellen Volksmalerei-Stil mit lebendiger Linienführung“. Bei der Bilderreihe Menschengruppe handelt es sich um Meisterwerke mit 30 Frauen und Männern. Nachdem Lee das Wandgemälde in Haeju gesehen hatte und in den Süden zurückgekehrt war, soll er gesagt haben, dass er mit Menschengruppe die starke gesellschaftliche Rolle der Annäherung der Malerei an die breite Masse stilisiert habe. Doch der linke Flügel kritisierte das Bild als „bourgeois“, da sich der propagandistische Inhalt erst nach mehrmaliger Betrachtung erschließe. Der rechte Flügel wiederum empfand das realitätskritische Bild unangenehm, der Lee ja z.B. auch die Bombardierung der Insel Dok-do durch amerikanische Militäreinheiten gemalt hatte. In Lees Seongbuk Institut für Malerei, das in einem Gebäude mit hohen Decken in Donam-dong untergebracht war, versammelten sich Kunsthochschul-Anwärter wie Kwon Jin-gyu und Jeon Roe-jin, um von Lee zu lernen. Der Maler Kim Suk-jin sagte rückblickend auf diese Zeit: „Die Figuren für Menschengruppe wurden zunächst einzeln gemalt und dann auf einer großen Leinwand, die wie ein Go-Brett unterteilt war, angeordnet. Meine Aufgabe war, die Bilder zu vergrößern.“ Der Maler Kim Tschang-yeul bezeichnete Lee Quede als „mein einziger Lehrer, ein wahrer Mann von Charakter. “
Als 1991 die erste Lee Quede Ausstellung in Südkorea in der Shinsegae Gallery in Seoul stattfand, kamen ältere Herrschaften aus Lees Heimatstadt Chilgok und erinnerten sich: „In diese Gemälde sind 30 majigi der Reisfelder der Familie geflossen (umgerechnet eine Reisfeldfläche von 20.000m²; heutiger Wert ca. 180.000 Euro).“
Ausbruch des Koreakrieges und Abtrünnigkeit Als 1950 der Koreakrieg ausbrach, konnte Lee nirgends Zuflucht suchen, da seine Mutter krank und seine Ehefrau hochschwanger war. Also trat er erneut in den nordkoreanischen Kunstverband Joseon-Kunstallianz ein und malte u.a. Porträts von Kim Il-sung und Stalin. Während der Rückeroberung Seouls durch die Alliierten Ende 1950 wurde er von südkoreanischen Soldaten festgenommen und in das Kriegsgefangenenlager auf der Insel Geoje-do gebracht. Das war sein letzter Aufenthaltsort in Südkorea. Der amerikanische Kommandant des POW-Lagers erkannte ihn und bat ihn, Familienporträts zu malen. Zudem erlaubte er Lee Fahrten nach Busan, um Farben zu besorgen und auch schon mal Freunde zu treffen. Als Lee einmal eine amerikanische Familie mit einem Baby in den Armen der Mutter malte, soll er geweint und gesagt haben: „Mein kleiner Sohn Han-woo (Lees jüngster Sohn, im August 1950 geboren) muss etwa so alt sein.“ Die Wandgemälde im Lager sollen unter Lees Aufsicht gemalt worden sein. Als Lee Quede einem 17-jährigen Lagerinsassen namens Lee Ju-yeong das Malen beibrachte, fertigte er für ihn ein Anatomie-Skizzenbuch an, das erstmals 2010 der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Laut Lee Ju-yeong „war Lee Quedes Leben im Lager ernsthaft in Gefahr, weil 2 die mächtigen Leute in der Kunstszene und die Rechten ihn als linken Maler in die Enge treiben und eliminieren wollten“. Als Folge davon entwickelte Lee Magengeschwüre, sodass er kaum richtig essen konnte. Als es 1953 zu einem Kriegsgefangenenaustausch kam, entschied sich Lee letztendlich für Nordkorea. Damals war er 41 Jahre alt. Auch in Nordkorea hinterließ Lee Quede viele Werke, doch mit der Säuberungsaktion gegen seinen Bruder Lee Yeo-seong verschwand er aus den Kunstkreisen. Erst 1999 tauchte sein Name wieder in der Öffentlichkeit auf. Es wurde berichtet, dass er in Nordkorea erneut geheiratet und einen Sohn und eine Tochter bekommen hatte. Er starb 1965. Seine Ehefrau Yu Gap-bong und seine übrigen Familienangehörigen in Südkorea bewahrten seine Bilder jahrzehntelang auf. Die jüngste Ausstellung zeigte nur ein Bruchstück der nach seinem Überlauf nach Nordkorea im Süden verbliebenen Werke. Koreanische Kultur und Kunst 39
HÜtER dES tRAdItIONELLEN ERBES
durch Geomungo die tradition hüten chung Jae-suk Kulturredakteurin, Tageszeitung JoongAng Ilbo Fotos Nah Seung-yull
wegen ihres tiefen, resonanten Klanges gilt die traditionelle sechssaitige Zither Geomungo, deren ursprünge rund 1.500 Jahre zurückgehen, als „maskulines“ Instrument. Heo Yoon-jeong, die diese Zither virtuos beherrscht, ist im Ausland bekannter als in Korea. Sie verfiel dem meditativen und an die Seele rührenden Klang der Geomungo und geht seitdem – gleichsam mit dem kompromisslosen Geist eines konfuzianischen Seonbi-Gelehrten – den einsamen weg der traditionswahrung. das Multitalent, das neben diversen Instrumenten auch den traditionellen tanz beherrscht, wählte die Geomungo als wegbegleiter.
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eo Yoon-jeong belebte den resonanten, allmählich in Vergessenheit geratenen Klang der sechssaitigen Zither Geomungo durch eine hochgradig moderne Neuinterpretation wieder. Während viele ihrer auf die traditionelle koreanische Musik Gugak spezialisierten Künstlerkollegen sich durch Crossover der westlichen Musik fügten, blieb sie unbeirrt bei der Geomungo. Aus ihrem Spiel hört man den kompromisslosen Gugak-Geist und die Kraft der Tradition heraus. Ihre zierliche Gestalt überrascht die Zuschauer, die sich nach ihrer kraftvoll-dynamischen Performance auf der Bühne wundern, woher diese Energie wohl kommen möge. Beim Spielen dieses Instruments mit seiner schwingenden Kraft und vollen Resonanz spürt Heo eine gewisse Freude, die von der Überwindung ihrer physikalischen Grenzen rührt. „Ich denke, dass zwischen mir und der Geomungo eine Art instinktive Verbundenheit besteht. Als Kind habe ich traditionellen Tanz gelernt und genau diesen Rhythmus fühle ich bei der Geomungo. Ich liebe dieses Schlaginstrumentartige der Zither, wenn ich mit dem Suldae (kurzer Bambusstab) an den Seidensaiten spiele. Auch der Rhythmus, den ich vom traditionellen Percussion-Quartett Samulnori kenne, kommt beim Saitenzupfen zum Ausdruck. Meine Vorliebe für Instrumente mit tiefer Tonlage wie Cello oder Viola ist auch ein Grund für meine Wahl der Geomungo.“
der schmale, profunde weg mit der Geomungo In den 1980er Jahren, als Heo ihre musikalische Ausbildung begann, verlor die Geomungo allmählich an Beliebtheit. Diese einstige „Königin der Instrumente“, um die sich nur die Besten der besten Gugak-Studenten im Hauptfach bewerben konnten, wurde von der Welle der Fusion-Musik immer mehr verdrängt. Im Zuge des Popularisierungstrends der koreanischen traditionellen Musik wurde das schwere und nicht leicht zu modernisierende Instrument schließlich immer mehr von den Musikern gemieden. „Auch ich habe mal mit dem Gedanken gespielt, im Hauptfach die große siebensaitige Wölbbrettzither Ajaeng zu studieren. Beim Spielen der Ajaeng spürte ich eine gewisse Katharsis. Doch nach zwei, drei Jahren merkte ich, dass sie nichts für mich war. Es war so, wie man sich nach einer kurzen Affäre noch mehr nach seinem alten Partner sehnt. Mir wurde klarer denn je, dass die Geomungo meine wahre Leidenschaft war. Besser den schmalen, aber profunden Weg gehen als den breiten, aber seichten – das ist die Devise meiner musikalischen Karriere.“ Diese Beharrlichkeit hat sie nicht zuletzt ihrem Vater Heo Gyu (1934~2000) zu verdanken. Der ehemalige Direktor des Nationaltheaters war ein Dramatiker und Bühnenleiter, der den Geist der traditionellen Vorführungskünste auf der zeitgenössischen Theaterbühne revitalisierte. Das Bukchon Changwoo Theater, das seine Tochter heute leitet, ist eine auf traditionelles Theater spezialisierte Bühne, in deren Aufbau er viel Kraft und Mühe steckte. Als Kind verfolgte sie die Auftritte der Künstler dort und prägte sich den Weg, den ein Künstler beschreiten muss, ein.
„Mein Vater riet mir, nach Unvergänglichem zu streben. Für mich verkörpert die Geomungo das Unvergängliche. Auch die diversen Vorführungen, die wir im Bukchon Changwoo Theater auf die Bühne bringen wollen, sind Ausdruck des Strebens, das Unvergängliche der traditionellen Künste ins Gedächtnis zu rufen.“ Eine Zeitlang war Heo auf den inländischen Bühnen selten zu hören, da kaum Geomungo-Spieler für Vorführungen engagiert wurden. Das Publikum wusste Solo-Vorführungen mit traditionellen Instrumenten nicht recht zu würdigen und fand sie langweilig. Halb freiwillig, halb gezwungen wurde Heo auf der internationalen Bühne aktiver. Ihre Vorführungen wurden von ausländischen Musikkreisen mit Erstaunen und Lob gewürdigt. Deshalb könnte man ihren Auftritt im Juli dieses Jahres auf dem im Nationaltheater veranstalteten Festival Yeowoorak ( „Hier ist unsere Musik“) als Heimkehr bezeichnen: Nah Youn-sun, Künstlerische Direktorin des Festivals, empfahl Heo nachdrücklich als „Künstlerin des Jahres“. „Ich spürte, dass all die Jahre harter Arbeit und Auftritte auf ausländischen Bühnen nicht umsonst gewesen waren. Es erfüllte mich mit Stolz, zusammen mit Meistermusikern wie Jeong Jae-guk (Piri: koreanische Bambus-Oboe) und Won Jang-Hyun (Daegeum: Große Bambusquerflöte) auf der Bühne zu stehen und die Tradition der alten koreanischen Musik weiterzuführen. Während ich mit ihnen durch die Musik kommunizierte, wurde mir die Qualität des Traditionellen bewusst, die auch die Menschen von heute ansprechen könnte“ – so Heo.
das Potential der Geomungo als Leitinstrument Auf dem Yeowoorak-Festival enthüllte Heo am Geomungo die verschiedenen Facetten ihres musikalischen Talents. Daran spürte man ihr Selbstbewusstsein als eine erfolgreiche Geomungo-Spielerin, die auf Festivals und in Theatern im Ausland begeisterte Ovationen hervorrief. Ihre Vorführung spiegelte die ganze Bandbreite ihrer Erfahrungen wider, die sie bei der Leitung verschiedener musikalischer Projekte gesammelt hatte: darunter das weltweite Musik-Projekt TORI Ensemble, für das sie drei koreanische Künstler der traditionellen Musik und freie Jazzmusiker aus New York zusammenbrachte, Black String, eine Saiteninstrument-Band mit Fokus auf Improvisation, und EASTrio, eine Gruppe, die die Klänge der chinesischen Schalenhalslaute Pipa, der japanischen dreisaitigen Laute Shamisen und der Geomungo-Zither kombiniert. In Bezug auf den Festival-Programmpunkt Timeless Time erklärte Heo: „Bei dieser Vorführung mit Jazz-Musikern stand die Geomungo nicht im Mittelpunkt, sondern spielte eine unterstützende Rolle. Die mit meiner 1 Heo Yoon-jeong an Musik vertrauten Zuhörer meinten sogar, der Geomungo beim dass die Geomungo stärker als erwarYeowoorak Festival, tet im Hintergrund gestanden hätte, was das im Juli 2015 im Nationaltheater einzigartig gewesen sei. Sie hatte eine veranstaltet wurde und eine weiterdrängende und unterstützenwo Heo als „Künstlerin des Jahres“ auftrat. de Funktion. Es war mir eine große FreuKoreanische Kultur und Kunst 41
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„Meine Identität als Künstlerin liegt in der Tradition. Mein Weg endet stets dort. Hin und wieder interessiere ich mich zwar für andere Musikrichtungen, doch ich kehre immer wieder zurück zu meinem festen Anker, der Tradition, und die Geomungo ist gleich ihr Kern.“ de, die Klänge der anderen Instrumente quasi einzuhüllen und zu umarmen. So habe ich das Potential der Geomungo nicht nur als Soloinstrument, sondern auch als Leitinstrument entdeckt.“ Heo, die auf die Fünfzig zugeht, sagt, sie empfinde es jetzt als ihre Aufgabe, junge Talente der traditionellen Musik zu entdecken und zu fördern. Die mittlerweile erfahrene Musikerin möchte dem Nachwuchs mit Rat und Tat zur Seite stehen und ihnen die Leitfigur sein, die ihr in ihren jungen Jahren, als in der Welt der traditionellen Musik ein rauer Wind wehte und sie viel durchzumachen hatte, fehlte. Sie hat jetzt eine Stufe in ihrer Karriere erreicht, in der sie nicht mehr den Ehrgeiz hat, nur durch ihre eigene Musik zu strahlen, sondern der Wunsch, in der Zusammenarbeit mit anderen die traditionelle Musik weiterzuentwickeln, stärker geworden ist. Ihr musikalisches Schaffen ist nicht länger von Ich-Zentriertheit, sondern von Wärme und Sanftheit durchzogen. „Die Geomungo ist meine Lehrmeisterin. Sie ist das Herzstück der traditionellen koreanischen Musik, das eine tiefgründige Philosophie in sich birgt. Vergleichbar wäre sie mit dem Klavier der klassischen Musik des Westens. Es ist ein Instrument voller innerer Kraft, das die Gedankenwelt der traditionellen Ritualmusik zum Ausdruck bringt. Sie verkörpert den Geist eines alten konfuzianischen Gelehrten, weshalb sie wohl oft als männliches Instrument bezeichnet wird.“ Heo verleiht diesem maskulinen Instrument einen femininen Touch und erweitert so sein Spektrum. Gleichsam wie durch die warme Umarmung der Mutter variiert sie ihren Klang, indem sie andere musikalische Genres aufnimmt und mit Jazz-Sängern kollaboriert oder elektronische Musik integriert. 42 Koreana Winter 2015
tief in der tradition verwurzelt Auch wenn Heo sich zwischen Tradition und Moderne, Konventionellem und Unkonventionellem hin und her bewegt, ist sie doch standfest wie ein tief verwurzelter Baum. Nah Youn-sun, die Künstlerische Direktorin des Yeowoorak-Festivals, schätzt diese Eigenschaft und stellte Heo in den Mittelpunkt des Festivals. Sie sagt: „Heo strahlt so hell, da sie das Gewicht der Tradition trägt.“ Als Nachfolgerin des Geomungo-Sanjo der Han Gapdeuk(1919-1987)-Schule, des „Wichtigen Immateriellen Kulturgutes Nr. 16“, ist Heo stets unbeirrt ihren einsamen Weg gegangen. „Meine Identität als Künstlerin liegt in der Tradition. Mein Weg endet stets dort. Hin und wieder interessiere ich mich zwar für andere Musikrichtungen, doch ich kehre immer wieder zurück zu meinem festen Anker, der Tradition, und die Geomungo ist gleich ihr Kern.“ Daher bemüht sich Heo, alte Partituren auszugraben und möglichst oft zu spielen. Sie machte Aufnahmen der Hoforchester-Stücke für Geomungo und Daegeum der Königlichen Musikinstituts der Yi-Dynastie (Vorläufer des National Gugak-Center) aus den 1930er und 40er Jahren und veröffentlichte die Partitur-Sammlungen auf Koreanisch und Englisch, um zeitgenössischen Musikern die Interpretation zu erleichtern. Um das Repertoire zu erweitern, 1 Heo Yoon-jeong bei ihrem Auftritt auf dem 2013 Gwangju World Music Festival , wo sie im Rahmen des Korea, China und Japan Projekt mit Künstlern unterschiedlicher Genres auftrat. Von links: Jazz-Vokalist und Komponist Jen Shyu (USA); Pipa-Spieler Min Xiaofen (China); Geomungo-Spielerin Heo Yoon-jeong (Korea); Percussionist Satoshi Takeishi (Japan). 2 Heo Yoon-jeong bei ihrem Gastauftritt mit dem Nah Youn-sun Quartet im Nationaltheater im Jahr 2013.
forscht sie auch nach Geomungo-Partituren aus Nordkorea, die jedoch sehr selten sind. Gleichzeitig arbeitet sie an einem Album und tritt zwischendurch im In- und Ausland auf. Das Ensemble SANI (Sani: archaischer Ausdruck für „Clown“ oder „Unterhalter“), das sie bei ihren Auftritten im Rahmen des Projektes Journey to Korean Music 2015 im August in London und im Oktober in Seoul begleitete, besteht aus Gleichgesinnten, die schon seit der Schulzeit zusammen geübt haben und so gut aufeinander abgestimmt sind, dass sie jederzeit und überall eine perfekte Vorführung geben können. „Wenn die Chemie stimmt, kann man mit jedem gemeinsam Musik machen, ganz unabhängig vom Musikgenre oder der Nationalität des Musikers“, sagt Heo. „Dass die traditionelle Musik beim breiten Publikum unbeliebt ist und als unverständlich betrachtet wird, hat meiner Meinung nach damit zu tun, dass die Leute nicht oft genug damit in Kontakt kommen. Nehmen wir mal die Kunst: Die Leute besuchen Ausstellungen und informieren sich über die Exponate, um die Aussage eines Werkes besser zu verstehen. Aber warum tun sie das nicht auch bei traditioneller Musik? Wir, die diese Musik als Anbieter bisher erhalten haben, tragen auch einen
Teil der Schuld daran. Aber jetzt muss sich meiner Meinung nach auch die Haltung der Konsumenten ändern. Ob leicht zu begreifen oder nicht: Es reicht doch, wenn es einfach gut klingt. Und um sich leichter mit der traditionellen Musik anfreunden und an ihr Gefallen finden zu können, müssen mehr Veranstaltungen angeboten werden.“ Heo träumt von einer Zukunft, in der die traditionelle Musik die breite Masse anspricht. Sie wird sich bemühen, in Korea ein breiteres Publikum auf den Geschmack der traditionellen Musik zu bringen und es mit ihren kraftvollen und ekstatischen Vorführungen zu fesseln, die ihr im Ausland so viel Beifall einbrachten. Da dafür häufigerer Kontakt mit dem Publikum notwendig sei, werde sie noch eifriger auf die Bühne steigen, sagt Heo. „Körperliches Durchhaltevermögen? Als langjährige Tänzerin brauche ich mir deswegen keinerlei Sorgen zu machen. Außerdem habe ich gesehen, wie mein Vater früher im Theater ein Stück sieben, acht Stunden voll konzentriert probte. Diese Energie habe ich wohl von ihm geerbt. Und dann steht mir mein Wegbegleiter, die Geomungo, fest zur Seite. Was soll mir da noch Sorgen machen?“
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GEScHIcHtEN AuS ZwEI KOREAS
Alternativschulen
Hilfe zur Eingliederung junger nordkoreanischer Flüchtlinge
Kim Hak-soon Journalist, Gastprofessor, Korea University Fotos Ahn Hong-beom
Nach der schwierigen flucht können sich jugendliche nordkoreanische flüchtlinge in Südkorea oft nicht an das ihnen fremde Bildungssystem anpassen und leben daher wieder in ihrer eigenen welt. die mangelnde Anpassung an das neue gesellschaftliche umfeld ist aber nicht alleine ihr Problem, sondern eine große Aufgabe, die die südkoreanische Gesellschaft zu bewältigen hat. daher fallen die Bemühungen von Alternativschulen, die die jungen flüchtlinge durch Programme zur psychischen Stabilisierung und gesellschaftlichen Integration fit für ein neues Leben machen, umso mehr ins Auge.
1 Schüler beim Fußballspielen auf dem Hof der Hangyeore Miltel-und Oberschule, der einzigen regulären Schule für jugendliche nordkoreanische Flüchtlinge in Südkorea. Die Schule, deren rund 200 Schüler allesamt in einem Wohnheim untergebracht sind, bietet nach dem Unterricht berufsbildende Veranstaltungen an, die die Anpassung an die südkoreanische Gesellschaft erleichtern sollen. 2 Ju Myong-hwa, die Leiterin der Kumgang Schule, in einer Klasse mit Schülern unterschiedlichsten Alters.
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er Koreanischunterricht in der Hangyeore Mittel- und Oberschule, der landesweit einzigen regulären Schule für jugendliche Flüchtlinge aus Nordkorea, ähnelt einem Fremdsprachenunterricht. Die Schüler fragen immer und immer wieder nach, weil sie die koreanischen Erklärungen des Lehrers nicht verstehen. Ein Großteil der Schüler gibt an, Verständnisschwierigkeiten zu haben, da in Nordkorea für ein und dieselbe Sache oft andere Wörter als in Südkorea benutzt werden. Beispielsweise heißt „Gebratener Reis“ in Südkorea „Bokkeum-Bap“, im Norden jedoch „Gireum-Bap“, wörtlich „Öl-Reis“. Die „Hühnerfarm“ wird in Südkorea „Yanggyejang“ genannt, in Nordkorea jedoch „Dakgongjang“ (Hühnerfabrik) und der „Parkplatz“ ist im Süden „Juchajang“, im Norden „Chamadang“ (Autohof). Beim ersten Hören ist es daher schwierig, auf Anhieb die Bedeutung eines Wortes zu erfassen. Auch gibt es Wörter, die im Norden und Süden Laut und Form nach zwar identisch sind, aber eine völlig andere Bedeutung haben: „Ojingeo“, das südkoreanische Wort für „Tintenfisch“, meint in Nordkorea „Nakji“, also „Oktopus“, während das in Südkorea gebrauchte „Nakji“ im Norden nur im Sinne von „Seohae-Nakji“ (Oktopus aus dem Westmeer) verwendet wird. Für „Kleid (einteiliges Damenkleid)“ wird in Südkorea das aus dem Englischen entlehnte „ Weonpiseu (one piece)“ verwendet, in Nordkorea heißt es „Nariot“ (Einteiler). „Röntgen“ ist im Norden ein Lehnwort aus dem Deutschen (roenteugen), in Südkorea verwendet man das Englische „X-ray“. Der Grund hierfür ist: Anders als im südlichen Teil der koreanischen Halbinsel, wo Englisch die erste Fremdsprache ist und viele Wörter sinokoreanischen Ursprungs verwendet werden, war in Nordkorea früher Russisch als erste Fremdsprache einflussreich und Fremdwörter wurden vielfach durch Wortneuschöpfungen rein koreanischen Ursprungs ersetzt.
Hohe Sprachhürde, psychische Instabilität Schuldirektor Gwak Jong-mun erklärt, dass in Nordkorea zu 30% andere Bezeichnungen als in Südkorea verwendet werden. Die Schule erstellte eine Tabelle mit jeweils unterschiedlich gebrauchten Wörtern, die jetzt im Lesesaal aushängt, strahlt über den schuleigenen Rundfunk Standardkoreanisch-Unterricht aus, bietet allmorgendlich eine 30-minütige Lesestunde an und führt regelmäßig Koreanisch-Sprachwettbewerbe durch. Doch nicht nur die Sprache ist ein Problem. Auch die psychologische Betreuung der Schüler und ihre geistige Stabilität sind wichtig. All das Leid und die Schmerzen zu heilen, die die Jugendlichen bei der lebensgefährlichen Flucht aus Nordkorea erfahren haben, ist
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keine einfache Aufgabe. Kim Gyeong-mi, die Unterricht in „Seelenheilung“ gibt, hilft den Schülern durch Meditations- und Psychotherapie-Programme unter dem Thema „Auf der Suche nach dem wirklichen Ich“ emotionale Stabilität zu finden. So lehrt sie die Schüler, allen voran sich selbst wertschätzen zu lernen. „Die Schüler haben viele Sorgen“, erklärt Kim Yong-bae, eine andere Lehrerin. „Ich versuche, ihnen zu vermitteln, dass sie nicht so ganz alleine und isoliert sind wie sie glauben.“ Aus diesem Grund belegen alle Lehrer Kurse für psychologische Betreuung. Der stellvertretender Schulleiter Shin Ho-rae erklärt, dass es für eine rasche psychische Stabilisierung wichtig ist, die Schüler zu respektieren und sich möglichst stark um sie zu kümmern.
Hangyeore: die einzige reguläre Schule für junge flüchtlinge aus Nordkorea Die 2006 in Anseong in der Provinz Gyeonggi-do von der Won-Buddhismus-Stiftung eingerichtete Hangyeore Schule setzt andere curriculare Schwerpunkte als die normalen allgemeinbildenden Schulen. Hier liegt im Stundenplan der Fokus zuallererst auf psychischer und geistiger Stabilisierung, Aneignung grundlegenden Lernverhal-
tens, Adaptation an das reguläre Schulsystem sowie Erhöhung der Anpassungsfähigkeit an die südkoreanische Gesellschaft. Was im Lehrplan am meisten auffällt, ist der berufsbildende Unterricht nach dem eigentlichen Schulunterricht. Durch die Ausbildung in 15 verschiedenen Bereichen wie Bäckerhandwerk, Kochen, Hautpflege, Nail Art, Schminktechnik, Umgang mit Schwermaschinen wie Gabelstaplern und Baggern, Barista, Computer usw. soll jeder ein Zertifikat erhalten können. 102 Schüler haben 2014 ein Gabelstapler-Zertifikat erhalten. Für die Berufsausbildung der Schüler haben auch alle Lehrer zusätzlich zu ihrem Hauptfachstudium zwei bis drei Zertifikate erworben. So hat z.B. ein Ethik-Lehrer eine Lizenz als Gabelstaplerfahrer und ein Englischlehrer bietet Barista-Kurse an. Die Schüler werden ermutigt, sich nach Abschluss der Oberschule eine Arbeit zu suchen oder eine zweioder dreijährige Fachhochschule zu besuchen, anstatt ein vierjähriges Hochschulstudium aufzunehmen, das vielleicht geringere Chancen auf eine Anstellung bietet. Unterrichten im herkömmlichen Sinne und leistungsmäßiger Fortschritt stehen an dieser Schule nicht an erster Stelle. Die Schüler werden durch die Teilnahme an Erlebnisprogrammen oder an Aktivitäten im Rahmen der freiwilligen Sozialhilfe auf natürliche Koreanische Kultur und Kunst 45
Weise dazu gebracht, sich in die südkoreanische Gesellschaft zu integrieren. Die Unterrichte der ehrenamtlichen Helfer und die Mitmach-Programme stellen eine große Hilfe dar. Besonders zufrieden waren die Schüler z.B. mit den Workshops und Lehrveranstaltungen durch den berühmten Dirigenten Gum Nanse und den Dichter Ahn Do-hyeon. Des Weiteren sammeln die Schüler durch außerschulische Aktivitäten wie z.B. Besuche der Demilitarisierten Zone zwischen beiden Koreas und der Insel Dok-do, Fabrikbesuche oder Programme für Wiederaufforstung und Wanderungen durchs Land unterschiedliche Erfahrungen und werden mit den verschiedenen Aspekten der südkoreanischen Gesellschaft, der Kultur und des Alltagslebens vertraut gemacht. Die Hangyeore Schule übernimmt die Rolle eines als sog. „Wendeschule“ fungierenden Sprungbretts, das den 13- bis 24-jährigen Jugendlichen den Curriculum-Stoff von der Grundschule bis zur Oberschule vermittelt und ihnen so den Wechsel ins reguläre Bildungssystem ermöglicht. Alle der fast 200 Schüler leben im Wohnheim der Schule. Etwa 20% der Schüler sind Waisen, nur 13% haben noch beide Elternteile, viele haben nur noch ihre Mutter. Der Schuldirektor erklärt: „Dank des guten Wohnheims und der fürsorglichen Unterweisung der Lehrer machen sich die Eltern keine Sorgen.“ Die Einrichtungen stehen denen der regulären Schulen nicht nach. Drei oder vier Schüler teilen sich ein Zimmer, halten es sauber und sind auch für die Wäsche zuständig. Essen 46 Koreana Winter 2015
wird von der Cafeteria der Schule bereitgestellt. An den meisten Alternativschulen für junge Flüchtlinge sind die Bedingungen schlechter. Es gibt zwar keine offiziellen Statistiken, aber derzeit soll es 7 Alternativschulen und 26 Schulen mit angegliedertem Internat geben. Die Kumkang Schule und die Wooridul Schule sind Beispiele dafür.
die Kumkang Schule: geleitet von ehemaligen nordkoreanischen flüchtlingen Die Kumkang Schule im Bezirk Guro-gu im Südwesten Seouls öffnete 2013 als alternative Grundschule mit Internat ihre Pforten. Der gesamte Lehrkörper einschließlich der Schuldirektorin Ju Myeonghwa, die vor ihrer Flucht 2008 in einer nordkoreanischen Mittelund Oberschule Literatur unterrichtete, besteht aus Frauen nordkoreanischer Herkunft. Sie kümmern sich um 34 Flüchtlingsschüler, deren Eltern überall im Land verstreut arbeiten. Im Moment gibt es 20 Grundschüler, 5 Mittelschüler und 9 Schüler. 80% kommen aus Familien mit nur einem Elternteil, d.h. der Mutter. Auch in dieser Schule wird mit Blick auf die Integration in die südkoreanische Gesellschaft großen Wert auf die psychologische Betreuung der Kinder gelegt. Mit einer farbpsychologischen Therapie hilft die Schule den Kindern, ihre psychische Unsicherheit zu bewältigen, ihre soziale Anpassungsfähigkeit zu stärken und ihr Selbstwertgefühl wiederzugewinnen. Außerdem gibt es viele Pro-
Das Curriculum dieser Schule unterscheidet sich von dem anderer Schulen. Hier liegt im Stundenplan der Fokus zuallererst auf psychischer und geistiger Stabilisierung, Aneignung grundlegenden Lernverhaltens, Adaptation an das reguläre Schulsystem sowie Erhöhung der Anpassungsfähigkeit an die südkoreanische Gesellschaft.
Ein Chorauftritt von Schülern der Wooridul Schule beim TwoOne Festival , an dem Jugendliche aus beiden Koreas teilnehmen. Alle 26 Schüler der Schule lernen Stoff aus dem Primär- und Sekundärbildungsbereich und werden durch Projekte wie freiwillige Sozialarbeit darin geschult, sich ihrem neuen gesellschaftlichen Umfeld anzupassen.
gramme, in denen die Schüler gemeinsam Zeit miteinander verbringen können. Die Stiftung Music for One Foundation spendete Instrumente wie Geigen, Cellos oder Klavier und stellt sogar Lehrpersonal zur Verfügung. Dank dessen konnte der Schulchor in diesem Sommer ein Konzert aufführen. Die Schuldirektorin erklärt: „Die Schule hat zwar leider kein Labor, kann aber sonst jede Art von Bildung anbieten.“ Der Computerraum der Schule wurde vom Bezirksamt Guro eingerichtet. Voller Pflichtbewusstsein unterrichten die nordkoreanischen Flüchtlingslehrer auch unter schwierigen Bedingungen, damit die Kinder schneller in der südkoreanischen Gesellschaft Fuß fassen können. Viele Freiwillige unterstützen sie, darunter pensionierte Grundschullehrer oder muttersprachliche Englischlehrer. Die Stiftung Samsung Dream Scholarship Foundation und das Chemieunternehmen Young’s Corporation gehören zu den Haupt-Sponsoren. Doch Schuldirektorin Ju erklärt: „Der Schulbetrieb läuft zwar dank der Unterstützung aus allen gesellschaftlichen Bereichen, doch das größte Problem ist nach wie vor die Finanzierung.“ Das jährliche Budget von 150 Mio. Won (rd. 115.000 EURO) reiche nicht aus.
die wooridul Schule Die Wooridul Schule im Bezirk Gwanak-gu im Südwesten Seouls unterscheidet sich von anderen Alternativschulen für jugendliche Flüchtlinge aus Nordkorea. Der Lehrplan umfasst zwar Grund-,
Mittel- und Oberschulcurriculum, die meisten Schüler sind jedoch bereits über 20. An der Schule werden auch Schüler aus der Kumkang Schule unterrichtet, die nach Schulschluss wieder ins dortige Internat zurückkehren. Die Wooridul Schule wurde 2010 von Schuldirektor Yun Dong-ju gegründet, einem Mann Ende dreißig, der seit seiner Studienzeit nun bereits schon 18 Jahre lang Hilfsaktivitäten für nordkoreanische Flüchtlinge durchführt. Die Schule wurde einmal gezwungen, ein Gebäude zu räumen, weil sie Schüler aus dem Norden unterrichtete. Zurzeit lernen im vierten Stock eines kleinen Gebäudes insgesamt 26 Schüler in den wenigen Klassenzimmern, in die jeweils nur 8 bis 12 Tische passen. Vor einiger Zeit machte hier ein 28-Jähriger seinen Abschluss. Alle Schüler bereiten sich ihrem jeweiligen Stand entsprechend auf die Aufnahmeprüfungen für die regulären Schulen vor, auf die sie bei Bestehen wechseln. 2013 gab es 3 Absolventen, 2014 waren es 4 und dieses Jahr bereits 12. Auch nach dem Abschluss bietet diese Schule ihren Absolventen regelmäßig weiterbildende Kurse an. Der Fachunterricht beginnt zwar um 9.00 Uhr und geht bis 15.30 Uhr, aber bis 18.00 Uhr gibt es noch Kunst- und Sportunterricht und eine freie Lernstunde. Etwa 30 freiwillige Helfer, darunter 5 Vollzeitlehrer in den 40ern bis 50ern, ein Absolvent der renommierten Pohang Universität für Naturwissenschaft und Technologie, ein Lehrer, der in Deutschland studiert hat, und pensionierte Lehrer in den 70ern unterrichten die Schüler. Finanzschwache Schüler werden mit Mahlzeiten versorgt, im Gegenzug sollen sie sich für soziale Hilfsaktivitäten engagieren. So helfen die Schüler z.B. Kindern in Afrika und besuchen das Dorf für Leprakranke auf der Insel Sorokdo. Seit zwei Jahren veranstaltet die Schule das Two-One Festival, das neben einem Konzert auch eine Kunstausstellung umfasst, um Schülern aus dem Norden und dem Süden die Chance zu bieten, gemeinsam zu feiern und eins zu werden.
Vorbereitung auf die Vereinigung 2016 feiert die Hangyeore Mittel- und Oberschule ihr zehnjähriges Bestehen. Damals, als die Schule eingerichtet wurde, wehrten sich die Anwohner mit aller Kraft dagegen, doch heute zeigen sie sich hilfsbereit. Für die Absolventen ist die Schule ihr Zuhause. Zu den Zielen der Schule gehört auch, Schüler heranzuziehen, die später im Falle einer Wiedervereinigung dank ihres besonderen Hintergrundes eine unterstützende Rolle spielen können. Koreanische Kultur und Kunst 47
VERLIEBt IN KOREA
JAng hüSeyIn
darcy Paquet Freiberuflicher Autor Fotos Ahn Hong-beom
EINE StIMME, dIE fÜR MEHR VERStäNdNIS PLädIERt der türkischstämmige Hüseyin Kirdemir, der mittlerweile die koreanische Staatsangehörigkeit besitzt und den Namen Jang Hüseyin trägt, ist von warmherzigem und ganz und gar unkämpferischem charakter. doch wenn es etwas gibt, gegen das er tag für tag kämpft, dann sind es Ignoranz und falsches Verständnis gegenüber dem Islam. Nachdem er viele Jahre lang als Übersetzer, Schriftsteller und dozent gearbeitet hatte, gründete er seinen eigenen Verlag: Jannah Mumin Books. Heutzutage gehört er zu den führenden Stimmen, die sich für ein tiefgreifenderes Verständnis des Islam einsetzen.
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anche Menschen erkennen erst später im Leben, dass ihre wahre Berufung auf der anderen Seite des Globus liegt. So erging es Jang Hüseyin, der in der kleinen Stadt Yozgat in der mittleren Türkei lebte, bevor er sich entschloss, an der Fakultät für Fremdsprachen der Universität Ankara Koreanistik als Hauptfach zu studieren. „Mein Vater diente zur Zeit des Koreakriegs in der türkischen Armee“, erzählt er. „Damals wurden nur die größten Soldaten für den Kampfeinsatz in Korea ausgewählt, und weil er zu klein war, hatte er keine Chance.“ Trotzdem wuchs Jang mit einem gewissen Bewusstsein und einer gewissen Neugier in Bezug auf Ostasien und Korea auf, die sich dann im Erwachsenenalter durch Filme und Geschichten über den Buddhismus und Konfuzianismus nur noch weiter verstärkten. „Das erweckte in mir den Wunsch, Korea, dieses Land, in das mein Vater nicht gehen konnte, einmal mit eigenen Augen zu sehen“, sagt er. Seine Koreanischkenntnisse machten schnell Fortschritte und nach seinem Abschluss im Jahr 1994 wurde er eingeladen, sich für einen neunmonatigen Koreanischkurs an der Seoul Nationaluniversität einzuschreiben. „Für englische Muttersprachler ist Koreanisch wirklich eine Herausforderung, aber für türkische Muttersprachler ist die Sprache viel einfacher. Die Syntax ist z.B. dieselbe“, erklärt er. „Natürlich musste ich fleißig lernen, um mir die chinesischen Zeichen oder dialektale Besonderheiten anzueignen, aber es war für mich wesentlich einfacher als z.B. für meine amerikanischen Studienkollegen.“ Nach Abschluss des Kurses machte Jang seinen Magister-Abschluss und schrieb sich dann für den Promotionsstudiengang in Koreanistik ein. Heutzutage spricht er Koreanisch mit einer wirklich erstaunlichen Flüssigkeit.
Erste Eindrücke von Korea Südkorea war Mitte der 1990er Jahre in mancher Hinsicht ganz anders als heute. „Als ich hier ankam, gab es nicht besonders viele Ausländer. Und die Koreaner hielten alle Ausländer automatisch für Amerikaner und sagten: Schau, da ist ein Amerikaner.“ 48 Koreana Winter 2015
Jang Hüseyin mit seiner Familie in der Seoul Central Mosque in Itaewon. Von links: Jang Hüseyin, sein Sohn Mumin, seine Tochter Jannah und seine Frau Aliyah Eunno Yoon.
Als Muslim gehörte Jang zudem einer kleinen Minorität an, die oft missverstanden wurde. „Damals gab es zwar auch schon Muslims in Korea, aber längst nicht so viele wie heutzutage. Wenn ich meinen Freunden erzählte, dass ich im Ramadan fastete, konnten sie das gar nicht verstehen und glaubten, ich sei auf Diät oder hätte nicht genügend Geld für Essen.“ Er lacht. In den Jahren danach erlebte er dann, wie Korea immer multikultureller wurde. „Wenn ich heutzutage nach Itaewon oder auf einen Markt gehe, treffe ich überall auf Muslims. Bei meiner Ankunft gab es in ganz Seoul nur zwei Restaurants, die Halal-Gerichte anboten, aber heute gibt es viele. Sogar in großen Supermärkten werden jetzt Lebensmittel angeboten, die als halal gekennzeichnet sind.“ Das, was ihn ganz am Anfang in Bezug auf die koreanische Kultur beeindruckte, ist aber immer noch dasselbe: „Die Koreaner besitzen so viel Leidenschaft. Sie verfolgen die einmal gesetzten Ziele bis zum Schluss und geben nie auf. Das bewundere ich wirklich“, sagt er. Er beschreibt die Koreaner als großzügig und warmherzig. „Im letzten Jahr bin ich eines Tages mal von einem Regenschauer überrascht worden, hatte aber keinen Schirm dabei. Da hat eine Frau auf der anderen Straßenseite eine Plastiktüte für mich geholt, damit ich nicht völlig nass wurde. Diese großzügige Warmherzigkeit gegenüber einem Fremden hat mich wirklich berührt“, erinnert er sich. „Kritisch anzumerken ist aber, dass die Koreaner dazu neigen, einen Menschen zu sehr nach Äußerlichkeiten zu beurteilen: nach der Kleidung, ob sie wohlhabend zu sein scheinen, welche Uni sie besucht haben usw.“, meint er. „Ich würde mir wünschen, dass die Leute nicht so schnell mit Urteilen bei der Hand wären. Aber daran hat sich in all den Jahren, die ich jetzt hier lebe, nichts geändert.“
Eine Stimme für den Islam In den Jahren nach der Millenniumwende geschah Einiges, was Jangs Beziehung zu seiner Wahlheimat auf eine neue Ebene brachte. Das Halbfinal-Spiel Südkorea gegen Türkei während der Fußballweltmeisterschaft Korea/Japan 2002 machte die Menschen in beiden Ländern stärker auf die Kultur des anderen Landes aufmerksam. So wurde in den Medien z.B. oft die unterstützende Rolle der Türkei im Koreakrieg thematisiert. Der Terroranschlag vom 11. September 2001 rückte hingegen den Islam und die Staaten des Nahen Ostens in den Fokus der Öffentlichkeit. Das war nicht nur in den USA der Fall, sondern auch in Korea. „Der Koreanische Kultur und Kunst 49
1 Jang Hüseyin beim Lesen des Korans in koreanischer Übersetzung. 2 Auf Koreanisch veröffentlichte Bücher von Jannah Mumin Books, Jang Hüseyins Verlag, den er gründete, um den Islam und die islamische Kultur in Korea bekannt zu machen.
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Grund ist zwar ein unglücklicher, aber nach September 2001 gab es auch im koreanischen Fernsehen plötzlich viele Sendungen über den Islam und Muslims“, erzählt Jang. „Immer mehr Koreaner reisten in muslimische Länder wie Malaysia und in die Türkei, sodass auch Neugier und Wissen größer wurden.“ Es war etwa um diese Zeit, dass ihm bewusst wurde, dass ein größeres Wissen über den Islam vonnöten war. „Auf der Suche nach koreanischsprachigen Büchern über den Islam ging ich in die Kyobo-Buchhandlung, aber das, was ich da fand, vermittelte oft einen falschen Eindruck oder enthielt inkorrekte Informationen. Die meisten Bücher waren nicht von Islamwissenschaftlern geschrieben und vermochten daher nicht, die volle Breite des islamischen Geistes zu erfassen“, erklärt er. Die eklatanten Fehler, die er in vielen Büchern fand, frustrierten Jang. In einem bekannten koreanischsprachigen Werk gab es z.B. Informationen über zakat, die Verpflichtung aller Muslims, 2,5% ihres Jahreseinkommens für wohltätige Zwecke zu spenden. Zu lesen war jedoch von 25%. „So ein Fehler ist unentschuldbar, auch wenn er nicht beabsichtigt gewesen sein mag“, meint Jang. „Ein Freund aus New York zeigte mir das Buch Understanding Islam and Muslims. Es war im Frage-Antwort-Stil gehalten, enthielt zahlreiche Fotos und ver-
mittelte grundlegende Informationen über den Islam.“ Jang hielt es für eine für Koreaner geeignete Einführung in den Islam und übersetzte das Buch ins Koreanische. „Die Erstauflauge war bald ausverkauft, dann auch die zweite und so weiter bis hin zur sechsten Auflage. Mir wurde klar, dass die Leute wirklich noch mehr erfahren wollten.“ Schon bald schlugen ihm Freunde andere Bücher zum Übersetzen vor. Bis heute hat Jang mehr als 20 Bücher übersetzt und herausgebracht.
In der wahlheimat wurzeln schlagen In der Zwischenzeit erfuhr Jangs Leben eine weitere entscheidende Wende. „Kurz nach 9/11 produzierte ich das Magazin Schöner Islam und ein türkischer Freund half mir dabei, eine Webseite mit Inhalten aus dem Magazin zu erstellen“, berichtet er. „Zu der Zeit kontaktierte mich eine Koreanerin, die in New York studierte und zum Islam übergetreten war. Sie war auf der Suche nach koreanischsprachigen Informationen über den Islam auf meiner Webseite gelandet.“ Jang und Aliyah Eunno Yoon begannen eine lebhafte E-Mail-Korrespondenz und als sie mit ihrem Master-of-Fine-ArtsAbschluss in der Tasche nach Korea zurückkehrte, trafen sie sich persönlich. „Nach nur ein paar Treffen beschlossen wir, zu heiraten“, erzählt Jang. „Das Schicksal geht manchmal schon seltsame Wege. Sie war genau die Art Mensch, nach der ich immer gesucht hatte.“ Die Hochzeit fand 2004 statt und heute leben die beiden glücklich mit der Tochter Jannah (9) und dem Sohn Mumin (6). Mitte der Nullerjahre entschloss sich Jang, die koreanische Staatsangehörigkeit zu beantragen. „Hier in Korea kenne ich so viele Leute, aber wenn ich in die Türkei fliege, gibt es außer meiner Familie niemanden, mit dem ich mich unterhalten kann. Ich komme mir dort fehl am Platze vor. Hier habe ich Freunde, eine sinnvolle Arbeit, aber was sollte ich in der Türkei anfangen? Daher habe ich beschlossen, für immer hier zu bleiben.“ Der Antrag auf die koreanische Staatsangehörigkeit ging viel glatter als erwartet über die Bühne. „Ich hatte mich schon auf die Prüfung vorbereitet, aber nachdem die Zuständigen meinen Antrag gecheckt hatten, meinten sie, dass ich wegen meines Doktortitels in Korea-
„Die große Mehrheit der Muslims ist friedliebend, warmherzig und offen. Ich hoffe, dass ich durch die Veröffentlichung von Büchern dazu beitragen kann, dass sich beide Seiten besser verstehen lernen. Das Fernsehen ist nicht der geeignete Weg, etwas über den Islam zu lernen.“ 50 Koreana Winter 2015
nistik von der Seoul Nationaluniversität davon befreit wäre“, berichtet Jang. „Ich hatte sogar die Nationalhymne auswendig gelernt, da ich über einen Amerikaner gehört hatte, der zwar exzellent Koreanisch sprach, aber dann doch durchfiel, weil er die Nationalhymne nicht konnte.“ Er lacht. Heute, zehn Jahre später, sagt er, dass er diese Entscheidung noch kein einziges Mal bereut habe.
die Berufung auf eine höhere Ebene bringen Im Laufe der Zeit wurde Jang dann immer stärker in die Aufklärungsarbeit über den Islam involviert. Ab 2005 arbeitete er als Repräsentant der Seoul Zentralmoschee im Bereich Veröffentlichung und Marketing. In dieser Funktion übersetzte er nicht nur, sondern hielt auch Vorträge, betreute die Webseite der Moschee und veröffentlichte einen wöchentlichen Newsletter. Nach fünfeinhalb Jahren beschloss er jedoch, sich auf seine eigenen Veröffentlichungen zu konzentrieren: „Ich hatte so viel zu tun, dass meine eigenen Übersetzungen ständig zu kurz kamen. Deshalb reichte ich schließlich die Kündigung ein.“ Das wiederum führte 2012 zur Gründung von Jannah Mumin Books (www.jannahmuminbooks.com), benannt nach seinen beiden Kindern. Der Verlag hat seinen Sitz in Paju – nur zehn Minuten von der Verlagsstadt Paju Book City entfernt – und fokussiert auf drei Arten von Büchern: Bücher für in Korea lebende Muslims, Kinderbücher über den Islam und Bücher, die dem allgemeinen Publikum zu einem besseren Verständnis des Islam verhelfen. Zu den jüngsten Veröffentlichungen gehören z.B. Geschichten von Menschen, die sich für den Islam entschieden haben (2012), die Einführung Islam (2013), Al-Nawawi: Vierzig Hadithe und Kommentar (2014) und Antworten auf die 40 häufigsten Fragen, die Koreaner über den Islam stellen (2014). Für Kinder hat Jangs Frau Aliyah Eunno Yoon das Bilderbuch Verlaufen in Istanbul: Die Geschichte von Jannah & Mumin (2013) herausgebracht. Die Verkaufszahlen sind stabil, was auf ein nachhaltiges Geschäftsmodell hinweist. Mittlerweile ist man auch anderweitig auf die Firma aufmerksam geworden: „Im August wurde ich von den Organisatoren der ersten Halal Expo Korea kontaktiert, die unbedingt einen Stand mit Büchern über den Islam haben wollten. Im September gab es dann noch eine Halal Expo, an der ich auch teilgenommen habe. Das lässt mich hautnah spüren, wie groß der Bedarf an solchen Büchern ist.“ In der Zwischenzeit ist selbst die koreanische Regierung auf Jang aufmerksam geworden. Anlässlich des Iftar Dinners 2014, das zur Förderung des Austausches zwischen Korea und den Kulturen des Islam veranstaltet wurde, erwähnte Außenminister Yun Byung-se Jangs Namen in seiner Begrüßungsansprache.
lims in Korea. Darunter befindet sich eine nicht geringe Anzahl ethnischer Koreaner, aber auch viele Menschen, die sich in Korea angesiedelt haben. Mit dem zunehmenden Wandel der koreanischen Gesellschaft in Richtung Multikulturalität gibt es nicht nur praktische und soziale Gründe, sich besser über den Islam zu informieren. „Rund ein Viertel der Weltbevölkerung bekennt sich zum Islam“, bemerkt Jang. „Daher sollte jeder, der ernsthaft Auslandsgeschäfte machen will, etwas von der muslimischen Kultur verstehen.“ Jang argumentiert auch, dass die Lehren des Islam nützliche Herangehensweisen zur Überwindung sozialer, aber persönlicher Probleme enthalten: „Der Islam kann dabei helfen, positive Wege für Lebensführung zu entdecken. Er ist nicht so restriktiv, wie man allgemein annimmt.“ Nichtsdestoweniger hat das Aufkommen des Islamischen Staates (IS) im Nahen Osten dem allgemeinen Verständnis über die islamische Religion und Kultur in vieler Hinsicht einen herben Schlag versetzt. „Die Medienberichte vermitteln den Eindruck, als wäre der Islam eine seltsame und gewaltbetonte Religion. Personen wie Osama bin Laden werden als Repräsentanten des Islam vorgeführt. Aber normale Muslims erkennen solche Leute nicht einmal als Mitglieder ihrer Religionsgemeinschaft an“, sagt Jang. „Die große Mehrheit der Muslims ist friedliebend, warmherzig und offen. Ich hoffe, dass ich durch die Veröffentlichung von Büchern dazu beitragen kann, dass sich beide Seiten besser verstehen lernen. Das Fernsehen ist nicht der geeignete Weg, etwas über den Islam zu lernen.“
die Notwendigkeit, zu verstehen Es ist zwar schwierig, an genaue Zahlen zu kommen, aber Schätzungen zufolge leben derzeit 130.000 Mus-
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uNtERwEGS
Traurige Lieder Leben in den bergen von YeongwoL und
Gwak Jae-gu Dichter Fotos Ahn Hong-beom
Jeongseon tief in den Bergen von Yeongwol und Jeongseon, die als die abgelegendsten Regionen in Korea gelten, gibt es zwei besonders interessante Orte: cheongnyeongpo in Yeongwol, das die traurigkeit über das tragische Schicksal des jungen JoseonKönigs danjong atmet, und Auraji in Jeongseon, wo die herzzerreißenden Melodien des Jeongseon Arirang erklingen. Bei Sabuk, einer einstigen Kohleminen-Gemeinde, steht heute ein Kasino, sodass unzählige touristen nach cheongnyeongpo strömen. Auch suchen immer noch viele, die sich nach der für tief in den Bergen gelegenen Marktflecken typischen Stimmung sehnen, den Fünf-Tage-Markt in Jeongseon auf.
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Jangneung, die Grabstätte des tragischen Königs Danjong in Yeongwol, Provinz Gangwon-do, eingehüllt in den ersten Schnee des Jahres und Stille. Danjong, der vor seiner Ermordung im Exil 1457 entmachtet und auf den Status eines Prinzen degradiert worden war, wurde 1698 unter König Sukjong posthum wieder die Königswürde verliehen und in einer seinem Rang entsprechenden Grabstätte zur letzten Ruhe gebettet.
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1 Touristen bei einer Fahrt mit dem Panoramazug „Arari“ erfreuen sich der schneebedeckten Landschaft von Jeongseon. Dieser Zug, der abgestimmt auf den Fünf-Tage-Markt in Jeongseon alle fünf Tage von Seoul aus fährt, ermöglicht den Fahrgästen, das Auraji-Flussgebiet, das Dorf Arari und den Jeongseon-Markt zu erforschen. 2 Die Statue des Mädchens, die die Heldin des Liedes Arirang sein soll, blickt in Auraji über den Fluss. Die in dieser Gegend überlieferte Version des klagevollen Volksliedes erzählt die herzzerreißende Geschichte eines in Liebe zueinander entbrannten Mädchens und Jungens, die während der Hochwasserzeit im Sommer den Fluss nicht überqueren und einander nicht sehen konnten.
wir drei uns wiedersehen und nie mehr getrennt werden. Mir ist, als riefen meine liebe Frau, die stets hingebungsvoll und bescheiden war und mein armseliges Leben bereicherte, und mein Sohn nach mir, die Hände nach mir ausstreckend...“ Vor 25 Jahren war ich diesen Weg angetreten, um eines Mannes zu gedenken, den ich nie in meinem Leben gesehen hatte. Die Entscheidung dieses 33-Jährigen, der bis zum Ende seines Lebens mit seinen Lieben zusammen sein wollte, empfand ich als unendlich schön und herzzerreißend zugleich. Zu seinen Lebzeiten war er Englischlehrer und Dichter. Hier eins seiner Gedichte: 1
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as Mondlicht leuchtet hell auf die Wege. Es ist ein Segen, in einer hellen Vollmondnacht durch die Berge der Provinz Gangwon-do zu fahren. Das Mondlicht häuft sich weiß wie Salz auf den Straßen und überall herrscht Stille. In aller Ruhe nimmt der Wagen im Mondschein die Serpentinen hinauf in die Berge, die von Yeongwol über Jeongseon nach Hongcheon führen. In jener Nacht im Oktober 1990 lernte ich diese Strecke zum ersten Mal kennen. Das helle Mondlicht war so fein wie Seide. In dieser Nacht fuhr ich langsam die einsame Bergstraße entlang, die Scheinwerfer ausgeschaltet, von der Stimmung überwältigt hin und wieder einige Tränen wegwischend.
Ein Dichter, der durch den Tod die Liebe vollendete Am 1. September 1990 stürzte ein Bus, der auf der regennassen Yeongdong-Autobahn mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr, in den Fluss Seom-gang. Dabei kamen 24 der 28 Insassen ums Leben. Bei diesem Unglück verlor ein Mann namens Jang Jae-in seine Frau und seinen Sohn. Dieser Mann verbrachte die letzten beiden Wochen seines Lebens damit, im strömenden Regen an den Ufern des Seom-gang auf die Rückkehr seiner Frau und seines Sohnes zu warten. Nachts zündete er ein Lagerfeuer an, das das Ufer hell beleuchtete. Fünf Tage nach dem Unfall entdeckte man die Leiche seiner Frau, weitere acht Tage später die des Sohnes. Das Lagerfeuer, das zwei Wochen lang den Fluss erhellt hatte, erlosch. „Meine Frau. Sie kam in das Leben eines unglücklichen Mannes und erlebte nur Kummer. So wie meine Frau, die in den Fluss gesprungen sein soll, um unseren Sohn zu finden, habe ich beschlossen, meiner Frau und meinem Sohn zu folgen und diese Welt zu verlassen. Das war der einzige Wunsch, den ich in meinem Herzen hegte, als ich nach meiner Ankunft an der Unglücksstelle auf das Flusswasser blickte... Trauert bitte nicht um meinen Tod, denn ich folge meiner Frau und meinem Sohn. Betet für das Glück meiner Familie, dafür, dass 54 Koreana Winter 2015
Die Sterne Bevor ich die Sterne kannte, Kannte ich zwar die Fülle. Doch als ich die Sterne kennenlernte, Wurde ich der Leere im Herzen gewahr. Bevor ich die Sterne kannte, Kannte ich die Fülle der Überzeugung. Doch als ich die Sterne kennenlernte, Begann in der Fülle der Durst zu erwachen. An dem Tag, an dem die Sterne in mich kamen, War mein Herz voll von Sternen. Doch von dem Moment an Wurde ich der Leere einer Ecke im Herzen gewahr. Bevor ich die Sterne kannte, Gab es etwas, das ich für Stille hielt. Doch erst als ich die Sterne kennenlernte, Wusste ich, dass es Mahlströme waren.
Cheongnyeongpo: Exil des Kindkönigs Der Ort Yeongwol ist umrankt von den Geschichten eines jungen Mannes mit dem wohl traurigsten Schicksal in der Geschich-
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Die Essenz des Lebens findet sich wohl eher in den unerwartet aufziehenden dunklen Regenwolken als in freudigen Dingen. Auch wenn die Berge tief und das Wasser wild sein mögen, so hauchen die Menschen der kargen Erde doch bereitwillig Leben ein.
te: König Danjong, der 6. König des Joseon-Reichs (reg.1452-1455). Danjong wurde 1441 als Enkelsohn von König Sejong dem Großen (reg.1418-1450), dem das koreanische Schriftsystem „Hangeul“ zu verdanken ist, geboren. Nur drei Tage nach seiner Geburt verstarb seine Mutter im Kindbett. Es heißt, dass König Sejong den kleinen Enkel sehr liebte und ihn bei Spaziergängen auf dem Rücken trug. Danjongs Vater, der kränkliche König Munjong (reg.1450-1452), verschied nur zwei Jahre nach seiner Thronbesteigung, sodass ihm Danjong im zarten Alter von elf Jahren auf den Thron folgte. Das Schicksal des verwaisten Königs war grausam. Sein Onkel, Prinz Suyang, den es nach der Krone gelüstete, bemächtigte sich des Königlichen Siegels und bestieg den Thron (König Sejo, reg, 1455-1468). Nach der Usurpierung des Throns durch König Sejo kam es zu Geheimtreffen der loyalen Anhänger von Danjong, die ihn wieder auf den Thron heben wollten. Der Plan des Geheimbundes, König Sejo beim Empfang eines Gesandten aus dem chinesischen Myung-Reich zu ermorden, wurde von einem Informanten verraten. Daraufhin ließ König Sejo alle an diesem Hochverrat Beteiligten durch Vierteilen hinrichten und deren Väter und Söhne ebenfalls umbringen. Die damals hingerichteten sechs Untertanen 56 Koreana Winter 2015
wurden später hochverehrt, da ihre Treue für die Verkörperung des Geistes der tradtionellen Gelehrten Seonbi stand. Zu diesen „Sechs Königstreuen Märtyrern“ gehörten u.a. Seong Sam-mun, Bak Paengnyeon, Lee Gae und Ha Wi-ji. Danjong, der danach zu „Prinz Nosan“ degradiert wurde, wurde ins Exil nach Yeongwol verbannt, wo er die ihm noch verbleibenden Jahre in Cheongnyeongpo verbrachte. Dieser Ort war auch als Dosan („Messerberg“) bekannt, da er an drei Seiten von Wasser mit starken Strömungen umgeben war und an der Rückseite eine raue Steilklippe aufragte. Dieser Ort der Verbannung war nur per Boot zugänglich. Der entthronte 16-jährige König schrieb hier ein Gedicht über eine Eule, in dem er die Sehnsucht nach seiner Gemahlin, Königin Jeongsun, zum Ausdruck brachte: Ein verbitterter Vogel fliegt aus dem Palast. Die Gefährtin verloren, irrt sein einsamer Schatten in den grünen Bergen umher. Die Nacht bricht herein, der Schlaf will nicht kommen. Das Jahr vergeht, doch der Groll im Herzen kennt kein Ende. König Sejo, der sich des Thrones nicht sicher sein konnte, solange sein Neffe am Leben war, ließ ihn durch Gifteinnahme hinrichten. Es heißt aber auch, dass Danjong ständig zum Selbstmord gedrängt worden sein soll. Danjong, der bereits in jungen Jahren beide Eltern verloren hatte, bestieg mit elf Jahren den Thron. Nur drei Jahre später wurde er nach einem blutigen Umsturz in eine einsame Gebirgsgegend verbannt und im Alter von 16 ums Leben gebracht. Kein König hat je ein leidvolleres Schicksal erfahren! Seine Grabstätte in Yeongwol wird „Jangneung“ genannt. Danjong, der wegen seiner Degradierung heimlich und informell beerdigt worden war, wurde erst 200 Jahre später unter König Sukjong (reg.1674-1720) in der Königlichen Grabstätte Jangneung zur letzten Ruhe gebettet. Im Winter, wenn der Fluss Dong-gang kaum Wasser führt, feiern die Bewohner von Yeongwol ihr ganz eigenes Fest: Sie bauen einen Übergang aus Reisig, der sie über den Fluss zum Deokpo-Damm auf der anderen Uferseite bringt. Dafür werden im Herbst, wenn der Wasserstand niedrig ist, Reisigäste miteinander verflochten, die dann im darauffolgenden Sommer von der Strömung wieder fortgeschwemmt werden. Wenn Schnee die umliegenden Berge und den zugefroreren Fluss bedeckt, können die Anwohner über die Reisigbrücke ans andere Ufer gelangen. Beim Anblick der Brücke empfindet man tief die Weisheit der Bewohner, die Widrigkeiten ihres harten Lebens zu ertragen und zu überkommen. Vielleicht ist das Überqueren und Rückkehren über den gefrorenen Fluss mit dem Leben des Menschen zu vergleichen: Wer die wackelige Behelfsbrücke schon früh überquert hat, dem wird das neue Jahr näher an ein Leben heranbringen, in dem eine stabile Steinbrücke auf ihn wartet.
Im Winter, wenn der Fluss Donggang zu frieren beginnt, wird eine Reisigbrücke über den Fluss gelegt. Die Brücke, ein berühmtes jahreszeitliches Wahrzeichen von Jeongseon, wird im nächsten Sommer vom Hochwasser fortgespült.
Auraji: Ort einer Dorfliebe Der Weg führt mich weiter von Yeongwol nach Jeongseon. Über Jeongseon kann man nur nach einem Besuch an den Ufern des Auraji sprechen, wo die beiden Flussarme Song-cheon und Golji-cheon ineinander fließen. Die Bewohner der Gegend betrachten Song-cheon als Yang-Gewässer und Golji-cheon als Yin-Gewässer, wobei beide erst in der harmonischen Vereinigung positive Energie generieren. Genau das meint „Auraji“: In Einklang miteinander stehen und eine harmonische Welt schaffen. Der Auraji spielte in der Zeit, als Prinzregent Heungseon Daewongun den Palast Gyeongbok-gung wiederherrichten ließ, um im späten 19. Jh der Dynastie neue Energie einzuflößen, eine große Rolle als Transportweg. Die mächtigen Stämme der tief in den Wäldern wachsenden Kiefern wurden über den Auraji zum Fluss Han-gang und von dort in die Hauptstadt geflößt, wo sie für den Palastbau verwendet wurden. Wahrscheinlich sangen die Flößer dabei die Lieder aus ihrer Heimat, um die harte Arbeit leichter zu ertragen. Eins dieser Arbeitslieder war das Arari, was so viel Sinn tragen soll wie „Wer vermag schon mein Los und meine Gefühle zu verstehen?“ Im Laufe der Zeit vermischten sich die verschiedenen Arari-Versionen aus Jeongseon, sodass unterschiedliche Liedtexte über Liebe und Abschied, Klage über das Schicksal, Zurechtkommen in der Welt usw. vermischte wurden.
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Werter Bootsmann vom Auraji, bring mich über den Fluss. Die Kamelienfrüchte an der Heckenmauer im Buschklee-Dorf fallen alle herab. Doch sie fallen wenigstens auf die gefallenen Blätter. Die Sehnsucht nach meinem Liebsten jedoch ist jeden Augenblick unerträglich hart. Arirang Arirang Arariyo, Bring mich doch über den Arirang-Pass! An den Ufern des Auraji lagen sich zwei Dörfer gegenüber. Ein Junge und ein Mädchen aus diesen Dörfern verliebten sich ineinander. Das Mädchen ging jeden Tag unter dem Vorwand, Kamelienfrüchte zu pflücken, ins Dorf des geliebten Jünglings. Aber als im Hochsommer der Fluss so stark anschwoll, dass sie Tag auf Tag nicht ans andere Ufer übersetzen konnte, brachte sie ihre Sehnsucht klagend im Arari-Lied zum Ausdruck. Die Mädchenstatue am Auraji-Ufer erinnert sanft an die Freuden und Leiden der Menschen, die hier am Fluss lebten. Wird es schneien? Wird es regnen? Werden Regenströme gießen? Über dem Mansusan-Berg brauen sich schwarze Wolken zusammen. Arirang Arirang Arariyo. Bring mich doch über den Arirang-Pass! Die Essenz des Lebens findet sich wohl eher in den unerwartet aufziehenden dunklen Regenwolken als in freudigen Dingen. Auch wenn die Berge tief und das Wasser wild sein mögen, so hauchen die Menschen der kargen Erde doch bereitwillig Leben ein. Gemeinsam mit dem Jindo-Arirang von der Insel Jin-do, Provinz Jeollanam-do, und dem Miryang-Arirang aus Miryang, Provinz Gyeongsangnam-do, gehört das Jeongseon-Arirang, das von den Bewohnern Jeongseons Arari genannt wird, zu den drei bekanntesten Arirang-Variationen. In vergangenen Zeiten sangen die einfachen Bürger landauf, landab das Arirang, um die Unbilden des Lebens zu ertragen, weshalb Arirang zum Symbol für Korea und sein Volk geworden ist.
Bescheidene Tafel, gesegnet von Sonne und Wind Wenn man entlang der Flüsse durch die Dörfer in den Bergen reist, verspürt man schnell Hunger. Das liegt daran, dass die frische Luft und der Duft der Bergkräuter die Verdauung befördern. Das Essen in Yeongwol und Jeongseon kann durchaus als „Essen der Unsterblichen“ bezeichnet werden. Besonders gern mag ich Gondeure-Namul-Bap (Reis gemischt mit Gondeure-Bergdisteln), Memil-Jeonbyeong (Buchweizen-Pfannkuchen) und Susu Bukkumi (Hirse-Pfannkuchen mit Rote-Bohnen-Füllung). Wenn
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1 Auf dem Arari-Marktplatz in Jeongseon geben Künstler der traditionellen koreanischen Musik Gugak das Jeongseon Arirang zum Besten. Für die aus dem ganzen Land anreisenden Besucher des Fünf-Tage-Marktes wird viel Interessantes zum Sehen und zum Erleben vorbereitet. 2 Der Kunstkomplex Samtan Art Mine, für den die Anlagen des 2001 geschlossenen Kohlebergwerks Samcheok umgestaltet wurden, öffnete 2013 seine Pforten. Das Museum, das sich als Kunst- und Kulturstätte, die eine Geschichte zu erzählen hat, versteht, versucht einem kulturell isoliertem Gebiet neues, kreatives Leben einzuhauchen.
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ich an einem einfachen Tisch in einem kleinen Restaurant sitze, das ich beim Herumreisen zufällig entdeckt habe, beschert mir der Bergkräuterduft meiner Lieblingsspeisen ein Gefühl endlosen Friedens im Herzen. Der Duft der Wildblumen, der Wind, Sonnenstrahlen und Sternenlicht der Jahrtausende enthält, wird in einer Schüssel Reis serviert. Die Ortschaften Sabuk und Gohan südlich von Jeongseon liegen an der Taebaek-Bahnstrecke, die Jecheon in der Provinz Chungcheongbuk-do und Baeksan in der Provinz Gangwon-do miteinander verbindet. Eine Zugfahrt auf dieser Strecke, die auf und ab durch eine schöne Gebirgslandschaft führt, ist im Winter besonders romantisch. Ursprünglich war dieses Gebiet für den Kohlebergbau bekannt, doch jetzt sind alle Minen stillgelegt. Die Zugreise durch diese Gegend lohnt allein schon deshalb, da überall die Spuren schwarzer Kohle inmitten der weißem Schneelandschaft hervorlugen. Das nächtliche Sabuk mit seinen Neonlichtern erinnert an Bilbao, eine Stadt des Bergbaus in Spanien. Bilbao, wo sich die europäische Filiale des Solomon R. Guggenheim Museums befindet, erwachte als weltweit beliebtes Reiseziel zu neuem Leben. Dagegen wurden in Sabuk anstelle der verlassenen Bergwerke Freizeiteinrichtungen und ein Kasino gebaut. Ein Museum und ein Kasino: Es kann nicht verneint werden, dass dieser Unterschied einen mit Bedauern und Schamgefühl erfüllt. Dennoch war auch das unsere Entscheidung und insofern gehört sie wohl auch mit in die reuevolle Lyrik des Arari. Der Besuch des Kunstkomplexes Samtan Art Mine, in dem die Lebensspuren der Bergleute von früher im Kohlenbergwerk zu entdecken sind, war mir ein Trost. Ich fahre mein Auto in Richtung Osten. Von hier aus nur 30 Minuten, dann sehe ich das blaue, brausende Ostmeer.
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ENTERTAINMENT
Mit der zunehmenden Popularität von „Einmann-Medienproduktionen“ entdecken auch die herkömmlichen terrestrischen TV-Stationen das neue Format. 18 Sekunden (unten) von SBS und My little Television von MBC gewinnen dank der Echtzeit-Kommunikation zwischen Zuschauern und Moderator zunehmend an Beliebtheit.
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Ein-Personen-Livestreaming im terrestrischen Fernsehen Dank der Fortschritte der digitalen Medientechnologien kann heute jeder mit minimaler IT-Ausrüstung und Internetanschluss eine sog. „Einmann-Medienproduktion“ starten. Daher ist die Contents-Vielfalt so hoch wie die Zahl ihrer Produzierenden. Wegen ihrer Beliebtheit haben es die Einmann-Produktionen jetzt auch ins herkömmliche terrestrische TV geschafft. Besonders die junge Generation ist dem neuen Medium verfallen, da anders als bei traditionellem Radio und Fernsehen die Kommunikation interaktiv läuft. Die Aufmerksamkeit richtet sich jetzt darauf, wie das neue TV-Format das terrestrische Fernsehen verändern wird. Kang Myoung-seok Chefredakteur, Webmagazin für Kultur ize
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as Fernsehen ist nun ein Medium geworden, in dem jeder, der will, jederzeit auftreten kann. Mehr noch: Jeder kann seine eigene TV-Station starten. Alles, was man braucht, ist Internetanschluss, ein Smartphone oder eine Kamera am PC. In Korea ist sogar eigens eine Plattform dafür entstanden: AfreecaTV, eine Webseite exklusiv für Livestreams. Einige der dort aktiven Moderatoren können sich in puncto Beliebtheit mit regulären TV-Stars messen und haben sogar wie Star-Entertainer Verträge mit Talentagenturen abgeschlossen. International populär sind die Youtuber, die Video-Clips zu Kosmetik, IT oder Musik hochladen. Das sog. „Zeitalter der Einmann-Medienproduktion“, in dem jeder seine eigene TV-Show gestalten und sogar Starruhm erlangen kann, ist angebrochen.
Wieso ins terrestrische Fernsehen? Die populäre Sendung My Little Television des öffentlich-rechtlichen Senders MBC lässt den Einfluss des Zeitalters der Einmann-Medienproduktionen hautnah spüren. Die Show läuft eine Woche vor der terrestrischen Ausstrahlung im Internet: Die fünf, sechs Moderatoren – alles bekannte Stars – sollen während der Live-Ausstrahlung in separaten Sets genau wie bei den Einmann-Internetclips möglichst viele Zuschauer anlocken. Dafür müssen sie sich alles Mögliche einfallen lassen, um das Publikum zu unterhalten, wobei sie auf die in Echtzeit per Chat an sie herangetragenen Aufforderungen einzelner Zuschauer spontan reagieren sollen. Das Ganze wird gefilmt und in edierter Version eine Woche später im Antennenfernsehen ausgestrahlt. Das terrestrische Fernsehen hat also die neue Medienform in sein Programmangebot eingebaut. Weitere Beispiele sind 18 Sekunden des Senders SBS, bei dem die Protagonisten im Wettbewerb um die meisten Aufrufe selbst produzierte Videos hochladen, und die Reality-Show Channel So-Si des Kabelsenders OnStyle, bei der die einzelnen Mitglieder der beliebten Girl Band Girls' Generation in jeweils eigenen Spots nach individuellen Konzepten eine Show moderieren. Die Einmann-Medienproduktionen sind also ein solcher Hit, dass schließlich auch die großen terrestrischen Kanäle das Format adaptiert haben, wobei die Stars in Echtzeit die Reaktionen ihrer Fans lesen und ihre Sendung entsprechend moderieren müssen. Die Popularität der individuell erstellten Livestreams ist darauf zurückzuführen, dass sie die Bedürfnisse der Zuschauer live stillen. Die herkömmlichen TV-Stars unterhalten zwar das Publikum, können jedoch nicht auf einzelne Publikumsreaktionen eingehen. Dagegen
kommt bei Einmann-Medienproduktionen während der Sendung ein direkter Dialog zwischen Moderator und Zuschauer zustande. In My Little Television ist oft zu sehen, wie die Zuschauer den jeweiligen Moderator zur „Kommunikation“ auffordern. Entsprechend wichtig ist es, dass der Moderator die Reaktionen der Zuschauer genau verfolgt und auf ihre Wünsche reagiert.
Wandel und Dynamik aus dem Nischenmarkt Nicht alle der zahlreichen Moderatoren der Einmann-Medienproduktionen im Netz können so gut singen oder schauspielern wie die erfahrenen TV-Stars. Doch sie reagieren sofort auf die Kommentare der Zuschauer und erfüllen alle möglichen Wünsche mit großem Enthusiasmus. Es sind quasi Berühmtheiten, die man per Computer oder Smartphone einfach ansprechen kann. Genau das ist auch die Antriebskraft hinter dem Phänomen, dass sich Einmann-Shows im Internet vom bloßen Zeitvertreib Einzelner zu einem Zweig der Entertainment-Branche entwickeln konnten. Außerdem greifen sie Themen auf, die bislang noch abseits der klassischen TV-Inhalte lagen. TV-Unterhaltung bestand meist aus Musikprogrammen, Serien oder Filmen. Doch mit dem Wandel der Zeiten sind Themenbereiche wie Kochen, Fashion, Zauberkunst etc. hinzugekommen, Nischen, die die Live-Sendungen im Netz erschlossen haben. Die Protagonisten der erfolgreichsten Einmann-Medienproduktionen wurden nicht zu Stars, weil sie gut singen können oder mit gelungenen Slapsticks die Zuschauer zum Lachen gebracht haben. Sie haben die Aufmerksamkeit bloß durch das Kommentieren von Videospielen, durch Kochen oder genussvolles Essen vor der Kamera auf sich gezogen. Früher wäre z.B. niemand mit Geschichtsunterricht im Internet berühmt geworden. Doch heute kann jeder, der Inhalte interessant zusammenstellen und präsentieren kann, einen gewissen Starruhm erlangen. Im Laufe des Lebens wird der Erwerb des unterschiedlichsten Wissens notwendig und da sich in der Öffentlichkeit immer mehr individuelle Vorlieben entwickeln, gibt es Bedürfnisse, die die Massenmedien nicht abdecken können. Diese Lücken füllen die Live-Videoclips im Netz. Im Zuge dieses Wandels findet auch ein Generationswechsel bei den Medien statt. Im Falle von My Little Television sind z.B. alle Produzenten Anfang 30. Dass sie ein solches Programm entwerfen konnten, lag nicht zuletzt daran, dass alle mit der Internetkultur vertraut sind. Zusammen mit bis dahin im traditionellen TV ausgesparten Themen vermitteln sie nun dem Massenpublikum über die Massenmedien auch den Netzjargon. Das Format der Einmann-Medienproduktion setzt die Themenwünsche der jungen Generation wie Spielekritik und Schminktipps unmittelbar um. Daher verbringen Teenager und junge Leute in den 20ern die meiste Zeit damit, sich über ihre Mobilgeräte Internetsendungen und Inhalte im Netz anzuschauen statt Sendungen im Antennenfernsehen einzuschalten. Die Einmann-Livestreams an sich stehen für Wandel und Dynamik. Ihr Erscheinen beeinflusst die traditionellen TV-Sender und die präsentierten Inhalte stimulieren das Interesse der breiten Öffentlichkeit für neue Themenbereiche, sodass in den einzelen Industriebereichen die junge Generation in den Blickpunkt rückt. Dieses Phänomen kann nicht einfach durch den Wandel in PR-Strategien zur Eigenwerbung oder durch Technologieentwicklung erklärt werden. Die Ein-Personen-Medienproduktionen verdeutlichen am schnellsten und prägnantesten, wie sich die Welt, in der wir leben, verändert.
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REISEN IN DIE KOREANISCHE LITERATUR
REZENSION
Die Sonne, die nicht untergeht; die Sehnsucht, die nicht schwindet Cho Yong-ho Schriftsteller, Journalist, The Segye Times Fotos Paik Soo-jang
Die Schriftstellerin Kim Chae-won stellt tiefgründige Reflexionen über das Leben auf malerische Weise dar. In der Erzählung Hinter den Westbergen wird das unruhige, einsame Innenleben der Autorin treffend zum Ausdruck gebracht. Die Autorin selbst definiert das Gefühl, das sich den Erzählband Das Lied des kleinen Bootes, in dem diese Erzählung enthalten ist, durchzieht, als „Wehmut und Gram“. Sie sagt: „Da ich immer nur zu Hause sitze, sind meine Fenster für mich so etwas wie Guckfenster zur Welt.“ „Ich denke, man schreibt Erzählungen über die Welt, die man kennt, und man schreibt über die Welt durch diese Guckfenster.“
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Wenn man die drei leuchtenden Grundfarben Rot, Gelb und Blau mischt, erhält man Schwarz. Die Schriftstellerin Kim Chaewon, die Malerei studierte, drückt es so aus: „Wenn man viele Farben mischt, kann sich letztendlich kein Farbton zur Geltung bringen und alle verwandeln sich in Schwarz.“ Dies sagt sie in ihrer Erzählung Wer hat Angst vor Rot, Blau und Gelb, die in ihrem nach elfjähriger Pause erschienenen Erzählband Das Lied des kleinen Bootes enthalten ist. Kim wurde 1946 als zweite Tochter des Dichters Kim Dong-hwan und der Schriftstellerin Choe Jeong-hi geboren. Ihr Vater wurde während des Koreakrieges nach Nordkorea entführt und über sein Leben und die Umstände seines Todes ist nichts bekannt. Nach dem Abschluss des Malereistudiums an der Ewha Frauenuniversität debütierte Kim 1975 mit der Erzählung Nachtgrüße in der traditionsreichen Literaturzeitschrift Hyundae Munhak . 1989 wurde sie für ihren Erzählband Winterfantasien mit dem prestigereichen Yi-Sang-Literaturpreis ausgezeichnet. Die Literaturgene der Eltern wurden wohl an die Kinder vererbt, denn auch Kims ältere Schwester Kim Ji-won wurde acht Jahre später mit dem Yi-Sang-Preis geehrt. Der Erzählband Winterfantasien ist eine Hommage an ihre vor zwei Jahren verstorbene Schwester. Ihre Schwester war das Modell für den Charakter der sehr früh in die USA emigrierten Cousine in der Erzählung Hinter den Westbergen. In dieser Erzählung wuchsen die Erzählerin „ICH“ und ihre Cousine gemeinsam in einem Haus auf und verbrachten die langen Nächte mit Fantasiespielen. Die Cousine hatte in den Bombardements des Kore-
akriegs ihre Mutter und Geschwister verloren und die Erzählerin den Vater, sodass sie unter ähnlichen Umständen aufwuchsen und auch emotional ähnlich veranlagt sind. Die beiden sind Abbilder von Kim und ihrer Schwester, aber die Cousine in der Erzählung wird als eine von einem widrigeren Schickal verfolgte Gestalt beschrieben. Die Cousine war nach der Auswanderung kein einziges Mal auf Heimatbesuch. Und die Erzählerin ist nie über die Grenzen ihres Heimatlandes hinausgekommen. Über viele Jahre hinweg führen die beiden Frauen nur lange Telefongespräche miteinander und tauschen Geschenkpäckchen aus. Bis zum Ende sehen sie sich kein einziges Mal von Angesicht zu Angesicht. In den USA betreibt die Cousine, die die beiden Kinder nach dem frühen Tode ihres Mannes alleine aufzieht, nacheinander einen Gemüseladen, einen Kleiderladen und einen Hamburgerladen. Zweimal wird sie bei der Arbeit Opfer von bewaffneten Raubüberfallen, überlebt aber, indem sie die Räuber anfleht, sie um der Kinder willen am Leben zu lassen. Später gibt es Gerüchte, dass sie jedes Mal vergewaltigt worden sei. Nach dem Terroranschlag vom 11. September ruft die Erzählerin häufiger an, um sich nach dem Befinden der Cousine zu erkundigen. Da erkennt sie „dass ich sie eher weniger kannte, aber auf jeden Fall hatte ich deutlich das Gefühl, dass wir im Vergleich zu früher enger aneinander gerückt waren.“ Aber eines Tages kann sie die Cousine nicht mehr erreichen. Die Cousine hatte um die Zeit ihrer Einschulung ein Gedicht geschrieben: Die Sonne, die hinter den Westbergen untergeht, / Winkt mit der Hand: Ich gehe, ich gehe. Während die Cousine hinter den
Bergen im Westen weit in der Ferne in tiefes Schweigen verschwunden ist, stößt die Erzählerin auf eine alte „Wahrheit“, als handele es sich gleichsam um eine neue Entdeckung: Die Wahrheit, dass die Sonne eigentlich nie untergeht, die allzu selbstverständliche Wahrheit, dass sie hinter die Berge im Westen wandert, um die Cousine zu bescheinen, während sie selbst schläft. Solange die Sonne nicht untergeht, lebt die Cousine in ihrem Herzen weiter, auch wenn sie weit weg in der Fremde gestorben ist. Kim Chae-wons Werk wird als „lyrische Malerei“ mittels Erzählens gewertet. Auf Basis der Kontemplation über das Leben drückt sie Dinge, Menschen und Welt in ihren originären Farben aus. In der Erzählung Das Lied des kleinen Bootes ist ihre Schaffenswelt in symbolisch komprimierter Form dargestellt. Diese Erzählung, die stark autobiographische Züge hat, schildert vor dem Hintergrund des Elternhauses, in dem sie Kindheit und Jugend verbrachte, Reminiszenz und Wehmut auf lyrische Weise. Der „Protagonist“ der Erzählung ist das Haus, in dem die alleinerziehende Mutter, der romantische Bruder und die jüngeren Schwestern leben. Die Autorin betrachtet das Haus, das jetzt nur noch in ihrer Vorstellung existiert, als Boot, das auf der verflossenen Zeit, die sie in der Erinnerung wieder einzufangen versucht, treibt. Die Erzählung beginnt daher mit dem Satz: „Hat das Boot es durch die Nacht geschafft?“ „Die Nacht war so tief, dass sie sich zu weit zu erstrecken schien, um sie durchqueren zu können, eine unermessliche Finsternis. Ein wilder Wind, der durch den Hof raste, gegen das Tor schlug, gegen den Brunnen, gegen die Baumwipfel, gegen
den Dachfirst, gegen die Mauern, die Luft wütend in tausend Fetzen zerreißend. Das Geräusch eines Vorratskrugs, umgefallen und zerbrochen, das Geräusch der Aluminiumschüssel, mit der der Krug zugedeckt gewesen war und die jetzt klappernd herumrollte, das Geräusch der gefallenen Blätter, die hierhin und dorthin gefegt wurden…“ Der Bruder kann sich nicht besonders gut der Wirklichkeit anpassen. Er ist ein sentimentaler Typ, der Akkordeon spielt und sich gern Filme ansieht. Für seine Schwestern ist er ein einfühlsamer Bruder, aber für seine Mutter ein labiler Erbe der Familienlinie, der sie zum Weinen und Seufzen bringt. Er hat eine Liebesbeziehung zu einer schönen Frau, verfällt dann aber, als die Frau sich wegen der Ablehnung ihrer Eltern von ihm trennt, aus Herzeleid dem Alkohol und stirbt in jungen Jahren. Die Mutter, die den Lebensunterhalt für die Familie verdienen muss, verlässt jeden Morgen leise das Haus, nimmt den Frühzug und schleicht sich abends spät wieder zurück ins Haus. Diese Zeit, schmerzvoll und doch zurückersehnt, kann nicht wieder kommen. Kann diese Zeit denn als „Boot der Erinnerung“ zurückkommen? Die Autorin lässt ihren sehnlichsten Wunsch in die letzten Sätze einfließen. „Wenn das Boot es durch die Nacht schaffen würde… Wenn das Boot der Kindheit, das zitternd vor Schreck abgelegt hatte, diese tiefe Nacht durchqueren und kommen würde… Mit einer Brise sanften Windes, die ein im Schatten des Baumes schlafendes Baby nicht wecken würde, würde ich ein Lied des Frohlockens anstimmen … an einem der Frühlingstage, die noch nicht verstrichen sind...“ Koreanische Kultur und Kunst 63
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