4 minute read

Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98

„Ein paar Entr’actes aber liegen da – was man so zusammen gewöhnlich eine Sinfonie nennt. Unterwegs auf den Konzertfahrten mit den Meiningern habe ich mir oft mit Vergnügen ausgemalt, wie ich sie bei Euch hübsch und behaglich probierte, und das tue ich auch heute noch – wobei ich nebenbei denke, ob sie weiteres Publikum kriegen wird! Ich fürchte nämlich, sie schmeckt nach dem hiesigen Klima – die Kirschen werden nicht süß, die würdest Du nicht essen!“

Brahms in einem Brief an den befreundeten Dirigenten

Hans von Bülow, im Sommer 1885

Zwei Sommer verbrachte Brahms in der chronisch verregneten Steiermark in einem Ort namens Mürzzuschlag. Dort erwanderte er sich nicht nur allmorgendlich einen der umliegenden Gipfel, sondern das raue Klima brachte es mit sich, dass er Zeit hatte, sich ausgiebig mit seiner neuen Komposition zu beschäftigen. So entstanden 1874 der erste und zweite Satz und 1875 schließlich zunächst der vierte und dann der dritte Satz seiner vierten und letzten Sinfonie. Mit mehreren seiner Freunde war der von Selbstzweifeln geplagte Komponist über die Entstehung des Werkes brieflich im Austausch – so auch mit seiner ehemaligen Schülerin Elisabeth, der Frau des Grazer Komponisten Heinrich von Herzogenberg, deren Meinung ihm stets wichtig war. Brahms war sich dessen bewusst, dass sein neues Werk aufgrund seines herben Charakters nicht gefallen könnte und schrieb: „[W]enn Ihnen also das Ding [die Sinfonie] nicht schmeckt, so genieren Sie sich nicht. Ich bin gar nicht begierig, eine schlechte Nr. 4 zu schreiben.“ Die Antwort kam prompt: „Man wird nicht müde, hineinzuhorchen und zu schauen auf die Fülle der über dieses Stück ausgestreuten geistreichen Züge, seltsamen Beleuchtungen rhythmischer, harmonischer und klanglicher Natur“, schrieb Frau von Herzogenberg und war ehrlich: „Es ist mir, als wenn eben diese Schöpfung zu sehr auf das Auge des Mikroskopikers berechnet wäre, als wenn nicht für jeden einfachen Liebhaber die Schönheiten alle offen da lägen, und als wäre es eine kleine Welt für die Klugen und Wissenden, an der das Volk, das im Dunkeln wandelt, nur einen schwachen Anteil haben könnte.“

Ihre Begeisterung hielt sich also in Grenzen. Und auch seine Wiener Freunde und Kollegen standen dem Werk eher skeptisch gegenüber, als Brahms ihnen Mitte Oktober 1875 seine Sinfonie in der Fassung für zwei Klaviere zu vier Händen zusammen mit Ignaz Brüll in Friedrich Ehrbars Klaviersalon vortrug. Max Kalbeck schrieb in seiner Brahms-Biografie, dass er die ganze Zeit über das Gefühl hatte, „von zwei schrecklich geistreichen Leuten durchgeprügelt“ zu werden und riet Brahms am nächsten Morgen, das Scherzo aus dem Werk zu streichen, das Finale als eigenständige Komposition herauszugeben und stattdessen zwei neue Sätze für die Sinfonie zu schreiben. Doch Brahms ging auf die Kritik nicht ein und verwies auf Beethovens „Eroica“, die, wie seine eigene Sinfonie, mit einem groß angelegten VariationsSatz schließt.

In Hans von Bülow hatte Brahms indes jemanden gefunden, dem sein neues Werk vorbehaltlos gefiel. Dieser studierte es dann auch in Anwesenheit des Komponisten mit der Meininger Hofkapelle ein. „Eben aus Probe zurück. Nr. IV riesig, ganz eigenartig, ganz neu, eherne Individualität. Atmet beispiellose Energie von A bis Z“, schrieb Hans von Bülow an seinen Konzertagenten Hermann Wolff.

Der Kopfsatz (Allegro non troppo) präsentiert das elegisch-fließende, schwermütig-seufzende Hauptthema, das aus Terzen und Sexten besteht. Brahms beleuchtet es im weiteren Verlauf von allen Seiten, es wird verfremdet, rhythmisch verändert, umgeformt. Die Terz entpuppt sich als Keimzelle für den ersten Satz, der aufgrund des Prinzips der variativen Umformung die vorherrschende Grundstruktur des Sonatensatzes zu verwischen scheint. Der zweite Satz (Andante moderato) ist von der kontrastvollen Klangfarbendramaturgie zwischen dem bläserdo- minierten Hauptthema und dem Seitenthema der Streicher geprägt. Die Tonart ist E-Dur, doch die Verwendung von kirchentonalen Elementen, wie z. B. der phrygischen Sekunde, verleiht diesem langsamen Satz archaische Züge mit einer beinahe schwebenden Stimmung. Es schließt sich der dritte Satz (Allegro giocoso) an, der die friedliche Stille durchbricht, mit der das Andante endete. Das an dieser Stelle üblicherweise zu findende Menuett oder Scherzo entpuppt sich als eine Art Humoreske in Sonatenform – und präsentiert damit Brahms’ individuellen Umgang mit der Tradition. Unbeschwerte Heiterkeit will sich trotz der Wahl der Tonart C-Dur allerdings kaum einstellen, da der kraftvolle Einsatz des Instrumentariums über die wenigen Idylle verbreitenden Momente wie ein Sturm hinwegfegt. Dem vierten Satz (Allegro energico e passionato – Più Allegro) liegt eine ostinate Bassfolge zugrunde, die Brahms dem Schlusschor der BachKantate BWV 150 „Nach dir, Herr, verlanget mich“ entlehnt und leicht verändert hat. In insgesamt 30 Variationen ergießt sich Brahms’ Einfallsreichtum immer neuer Melodien und Ideen über dem fast immer im Bass liegenden Passacaglia-Thema, wobei die Gesamtstruktur eine dreiteilige Form (A – B – A) aufweist. Schon vor langer Zeit begann sich Brahms’ Faible für Variations-Sätze herauszukristallisieren: Bereits 1869, wenige Jahre vor der Entstehung seiner „Haydn-Variationen“, hatte Brahms konstatiert: „Bei einem Thema zu Variationen bedeutet mir eigentlich fast, beinahe, nur der Bass etwas. Aber dieser ist mir heilig, er ist der feste Grund, auf dem ich dann meine Geschichten baue. Über dem gegebenen Bass erfinde ich wirklich neu, ich erfinde ihm neue Melodien, ich schaffe.“ Jahre später hat Arnold Schönberg das Prinzip der „entwickelnden Variation“ als ein Hauptmerkmal Brahms’scher Kompositionstechnik deklariert und in dem Komponisten den „Fortschrittlichen“ erkannt. Geradezu bemerkenswert, dass der Rückgriff auf alte Kompositionsmuster die Grundlage für die Techniken der modernen Künstler, namentlich der Komponisten der Zweiten Wiener Schule, bilden sollte!

Die Uraufführung der 4. Sinfonie fand am 25. Oktober 1885 im Herzoglichen Hoftheater Meiningen im Rahmen des 3. Abonnementskonzerts der Herzoglichen Hofkapelle „unter persönlicher Leitung des Meisters“ statt, wie das Originalprogramm mitteilte. Brahms entschied sich daraufhin, die Meininger Hofkapelle auf ihrer unmittelbar bevorstehenden Konzerttournee zu begleiten, wo er seine Vierte insgesamt neunmal in verschiedenen Städten Deutschlands und Hollands dirigierte.

Am 17. Januar 1886 folgte die Wiener Erstaufführung des Werkes mit Musikern des k. k. Hoforchesters unter der Leitung von Hans Richter. Eduard Hanslick berichtete nach dem Konzert, dass mehrfaches Hören dieser Sinfonie notwendig sei, um sie zu verstehen und konstatierte: „Auf den ersten Blick wird sie keinem ihren reichen Gedankenschatz erschließen, ihre keusche Schönheit enthüllen […].“ Brahms, der ewig Zweifelnde, hatte wohlwissend die Grenzen des Beethoven’schen Sinfonietypus überschritten und die Musik in eine neue Richtung gelenkt. Welche Bedeutung seine Vierte für die Nachwelt haben würde, konnten die Musiker und Kollegen zum Zeitpunkt der Entstehung nicht abschätzen – oder zumindest nur erahnen. Als Brahms, bereits schwer- krank, am 7. März 1897 einer Wiener Aufführung seiner 4. Sinfonie durch Hans Richter beiwohnte, war dies sein letzter Konzertbesuch überhaupt. Von Publikum und Orchester wurde er mit Glückwünschen überhäuft – und Max Kalbeck notierte in seinem Tagebuch: „Es war wohl der größte Triumph, den Brahms in Wien erlebte.“

„[Die] neue Sinfonie ist […] ein Riesenwerk, von einer Größe der Konzeption und Erfindung, Genialität in der Formbehandlung, Periodenbau, von eminentem Schwung und Kraft, neu und originell und doch von A bis Z echter Brahms, mit einem Worte eine Bereicherung unserer Tonkunst.“

Richard Strauss, damals 2. Kapellmeister der Meininger Hofkapelle, in einem Brief an seinen Vater, im Herbst 1885

This article is from: