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Verehrtes Konzertpublikum!
Sollte ich dem heutigen Konzertprogramm einen Übertitel geben müssen, würde ich es „Zusammenhänge“ nennen oder vielleicht den philosophischen Begriff vom „Gleichzeitigen des Ungleichzeitigen“ aufgreifen: Die drei Werke des Abends sind untereinander verbunden, ohne dass dies bei einer ersten Betrachtung des Programms ins Auge fallen würde.
Als der junge Anton Webern für sein Opus 1 die aus dem Barock stammende Technik der Passacaglia wählte, knüpfte er damit an den letzten Satz der 4. Sinfonie von Johannes Brahms an. Berücksichtigt man die große Bedeutung, die Brahms für die Komponisten der später sogenannten Zweiten Wiener Schule, zu der Webern zählt, hatte, so ist es durchaus sinnfällig, dass Webern hier elf Jahre nach Brahms’ Tod an dessen letzten sinfonischen Satz anknüpft, auch wenn das Resultat aktuelle Entwicklungen reflektiert und eher der Klangwelt Gustav Mahlers nahesteht. Brahms und Webern (und nach ihnen unter anderen Alban Berg und Benjamin Britten) dürften gleichermaßen fasziniert gewesen sein von den Möglichkeiten, die die Passacaglia einem modernen Kom- ponisten bietet: Sie fordert eine große Strenge in der Organisation des musikalischen Materials, lässt aber gleichermaßen Spielraum für eine expressive Entfaltung und ist darüber hinaus ein sinnfälliger Rückbezug auf die Musik des Barock, ohne notwendigerweise in einem neobarocken Idiom geschrieben sein zu müssen.
Brahms und Carl Reinecke entstammten derselben Generation und kannten sich persönlich gut. Reinecke war 35 Jahre lang Gewandhauskapellmeister in Leipzig und begegnete in dieser Funktion Brahms mehr als ein Dutzend Mal: sei es, dass er das Gewandhausorchester dirigierte, wenn Brahms seine Klavierkonzerte in Leipzig spielte, sei es, dass Brahms in einem ansonsten von Reinecke geleiteten Konzert ein eigenes Werk selbst dirigierte – darunter 1886 auch die 4. Sinfonie. Reinecke war selbst auch ein profilierter Komponist, der heute zu den vergessenen Meistern der Romantik zählt. Wir haben im Oktober 2018 hier bereits sein Harfenkonzert aufgeführt und lassen nun das nicht minder klangvolle Flötenkonzert folgen.
Und Webern und Reinecke? Die Passacaglia des 24-jährigen Webern und das Flötenkonzert des 84-jährigen Reinecke stammen aus demselben Jahr (und sind zufällig sogar tonal verbunden). Damit erlauben sie einen faszinierenden Einblick in die Vielfalt der Musikgeschichte, die immer wieder Überraschungen bereithält und Programmzusammenstellungen sinnvoll erscheinen lässt, die man ursprünglich nicht für möglich gehalten hätte! Ihr
Florian Csizmadia
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Anton Webern: Passacaglia op. 1
Anton Webern
Dies schrieb Anton Webern in einem Brief an die befreundete Hildegard Jone am 6. August 1928. Klarheit, Reduktion, Konzentration auf das Wesentliche. Diese Merkmale sollten zu Maximen seines Werkes und somit prägend für Weberns Stil werden. Und auch Arnold Schönberg attestierte seinem nur neun Jahre jüngeren Schüler die bemerkenswerte Fähigkeit: Webern könne in einem Seufzer einen ganzen Roman ausdrücken. Was zu sagen ist, wird gesagt. Nicht mehr und nicht weniger. Die Folge dieser radikalen Verdichtung, der Eindampfung des Materials, rhythmischer und motivischer Prägnanz ist wohl die Tatsache, dass Weberns Werke allesamt recht kurz sind. Sowohl in seinem umfangreichen Frühwerk als auch unter seinen Werken, die er selbst mit Opuszahlen versehen hat, 31 an der Zahl, findet man nur wenige Kompositionen, die über eine Spieldauer von circa zwölf Minuten hinausgehen.
Mit einer Spieldauer von circa zehn Minuten liegt die Passacaglia op. 1 im guten Schnitt aller seiner Orchesterwerke. Am 4. November 1908 vom Orchester des Tonkünstlervereins in Wien unter der Leitung des Komponisten selbst uraufgeführt, bekundet sie Weberns Abschluss seiner Studien bei Arnold Schönberg. Doch ist sie mehr als bloß das „Gesellenstück“ eines 24-Jährigen, offenbart sie sich vielmehr als Meisterwerk, das Weberns künstlerischen
Anspruch im Kern zum Ausdruck bringt. Dies zeigt sich bereits im Umgang mit der Besetzung, die vom Umfang her der spätromantischen Tradition folgt: Er fordert neben Streichern zwölf Holz- und elf Blechbläser, Pauke, Triangel, Tamtam, Becken, Große Trommel und Harfe. Außergewöhnlich ist hier nicht die üppige Besetzung als solche. Vielmehr besteht Weberns Meisterschaft und Einzigartigkeit in der Art der Behandlung des Instrumentariums: namentlich in seiner kammermusikalischen Faktur zur Unterstützung der anzustrebenden Konzentration der Gedanken. Die Satztechnik der Passacaglia (span. „pasar“ und „calle“ = die Straße überqueren) bot Webern ein geeignetes Terrain, auf dem er seine Ideen entwickeln konnte: Ursprünglich ein spanisches Gitarrenstück im Dreiertakt, im 16. Jahrhundert dann ein langsamer Hoftanz, hatte sich die Passacaglia in der Zeit des Barock zu einem eigenständigen Instrumentalwerk ausgebildet, das sich vor allem in der Klavier- und Orgelmusik großer Beliebtheit erfreute. Über einer vier- oder achttaktigen immer wiederkehrenden Bassfigur, dem Ostinato, entfaltet sich das musikalische Geschehen.
Für eine Aufführung in Düsseldorf (1922) verfasste Webern eine Werkbeschreibung seines Opus 1: „Die Streicher pizzikieren unisono das Hauptthema. Es folgen 23 Variationen und eine durchführungsartige Coda. Die erste Variation bringt die grundlegende Harmonisierung des Hauptthemas und ein Gegenthema. Damit sind die beiden Grundgestalten des Stückes gegeben. Alles, was folgt, ist von diesen abgeleitet. […]“ Doch wer Webern kennt, hat nun freilich keine Komposition in barocker Manier zu erwarten. Das, was das Werk zusammenhält und auch für den Hörer erkennbar ist, ist seine achttaktige Gliederung, doch wird der Hörer Mühe haben, das Hauptthema im Verlauf durch alle Variationen hindurch herauszuhören, da sich das Thema nicht immer im Bass befindet, sondern auf die Lagen anderer Stimmgruppen verteilt wird. Hier kann nur eine gründliche Analyse der Noten behilflich sein, um zu erörtern, wo Webern das Hauptthema „versteckt“. Was die Wahl der Tonart betrifft, so lässt sich zwar im Thema und in den meisten Variationen d-Moll ausfindig machen, doch deuten chromatische Alterationen darauf hin, dass bereits hier in diesem frühen Werk von einer für Webern typischen und von ihm auch so bezeichneten „schwebenden Tonalität“ gesprochen werden kann. Hinzu kommt, dass er statt des traditionellen Dreiermetrums den Zweivierteltakt wählte. Weberns Passacaglia ist eine Komposition des Übergangs, Endpunkt und Neuanfang zugleich – und in der Idee der Verknüpfung alter Formen mit fortschrittlichen Kompositionsprinzipien Brahms’ künstlerischem Anspruch und namentlich dessen Passacaglia am Ende seiner 4. Sinfonie nicht ganz unähnlich.
Der Rezensent Adolf Aber bringt es in seinem 1922 in der Zeitschrift „Die Musikwelt“ erschienenen Artikel auf den Punkt:
„[In Weberns Opus 1 wird] ein Problem gestellt und auf das Glücklichste gelöst [...], das Problem nämlich, wie man mit äußerster Formenstrenge modernste Harmonik mit allen ihren letzten Verfeinerungen und Übergängen verbinden kann, und wie man auch bei Verwendung eines großen Orchesters nicht den Verlockungen neudeutscher Koloristik zu verfallen braucht und sich peinlichste musikalische Sauberkeit bewahrt. Diese Aufgabe hat Anton von Webern ausgezeichnet gelöst, und man wird in Zukunft der Arbeit dieses SchönbergSchülers zweifellos stets große Aufmerksamkeit zuwenden.“
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