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NGELI N A
Die Ursprünge von „Aschenbrödel“, einem der beliebtesten Märchen, reichen weit in die Vergangenheit zurück. Vermutlich ist es eine orientalische Geschichte, genauer gesagt, eine chinesische, worauf zwei Details hindeuten: zum einen der aus einem kostbaren und seltenen Material gefertigte Pantoffel und zum anderen der kleine Fuß der Titelheldin, in China Zeichen außergewöhnlicher Schönheit und gleichzeitig starker erotischer Anziehungskraft. Die erste uns bekannte und schriftlich festgelegte Version von „Aschenbrödel“ stammt tatsächlich aus China und datiert aus dem 9. Jahrhundert v. Chr.
Mit der Zeit hat sich das Märchen immer wieder verändert und weiterentwickelt; überall auf der Welt wird es anders erzählt. Folklorespezialisten haben etwa 300 Varianten des Stoffes ausfindig machen können! Die bekannteste Fassung ist die des französischen Schriftstellers Charles Perrault aus dem 17. Jahrhundert, die auch uns geläufig ist. Es ist die Version mit der grausamen Stiefmutter, der Fee als Patin, dem Kürbiswagen, der von Mäusen gezogen wird, und dem berühmten Pantöffelchen – eine sehr weibliche Version des Märchens, mit einem starken Anteil an romantischer Fantastik. Rossini und sein Librettist Jacopo Ferretti waren sich jedoch einig, dass sie sich weniger an dem altbekannten Kindermärchen orientieren als vielmehr eine Erzählung schaffen wollten, die von allen magischen und fantastischen Momenten befreit ist. Und so griffen sie auf ältere Opernlibretti zurück, an deren dramaturgischem Aufbau und Figurenpersonal sie sich orientierten, wonach die 1810 in Paris uraufgeführte Oper „Cendrillon“ von Nicolò Isouard und insbesondere die Aschenputtel-Oper „Agatina o La virtù premiata“ von Stefano Pavesi, uraufgeführt 1814 in Mailand, als direkte Vorlagen dienten.
Als der Dichter Théophile Gautier später eine Aufführung von Rossinis „Cenerentola“ in Paris erlebte, war er entsetzt, denn das vielleicht zentralste Element, das für jede Aschenputtel-Erzählung charakteristisch ist, war auch verschwunden: „Ist Cendrillons niedlicher, kleiner Pantoffel, der für ihren winzigen Fuß immer noch zu groß ist, nicht eine poetische, originelle Erfindung? Nun, können Sie sich vorstellen, dass in der ‚Cenerentola‘ von dem Pantoffel überhaupt nicht die Rede ist? ‚Cendrillon‘ ohne Pantoffel, o Himmel! Niemals haben die Librettoschreiber ihre italienische Unbekümmertheit weitergetrieben. Ein Märchen von Perrault zu nehmen, sein bestes, und ausgerechnet die zauberhafte Besonderheit, das sinnreiche, hübsche Detail wegzulassen! – An seine Stelle tritt ein gewöhnlicher Armreif […].“
Für diese Änderung gab es mit Sicherheit gleich mehrere Gründe. In einer Zeit, als Röcke bis zum Boden reichten, war es nicht nur unschicklich, auf der Bühne beschuhte – und erst recht unbeschuhte – Füße zu zeigen, weil sie gewisse erotische Fantasien wecken könnten, so dass die Zensur hier ein Veto einlegte. Hinzu kam, dass die Schuhprobe in Ferrettis Libretto sowieso redundant und fast lächerlich gewirkt hätte, denn Ramiro und Angelina haben ein solches Erkennungszeichen gar nicht nötig: Mit der Suche nach dem zweiten Armreif vergewissert sich Ramiro lediglich, dass die schöne Unbekannte auf dem Fest dasselbe Mädchen ist wie die Dienstmagd im Hause Don Magnificos; denn dort ist er Angelina zum ersten Mal begegnet, er lernte sie in Lumpen kennen, nicht erst auf dem Ball. Und auch Angelina verliebt sich ja in den vermeintlichen Diener, denn erst viel später erfährt sie, dass er eigentlich der Prinz ist. Ungeachtet von Stand und Status folgen beide Liebenden von Beginn an ihrem Herzen. Wahre Liebe durchdringt alle Hindernisse und überwindet selbst gesellschaftliche Grenzen.
Stephanie Langenberg
„Die Kunst, die geringsten Gradationen auszudrücken, den Ton aufs Feinste abzuteilen, unmerkliche Verschiedenheiten fühlbar zu machen, [...], die Geschicklichkeit in den Appoggiaturen, Passagen, Trillern, Kadenzen [...] sind daher lauter Wunder des italienischen Himmels, die von wenigen noch lebenden Sängern vortrefflich in Ausübung gebracht werden.“
„La Cenerentola“ ist ein Schlüsselwerk in Rossinis Opernschaffen, fokussierte sich der Komponist doch in kaum einem Bühnenwerk stärker auf seine Kernkompetenz, den musikalischen Faden nie abreißen zu lassen, ganz gleich, welche vertrackten Wendungen die Bühnenhandlung nimmt. In „La Cenerentola“ schnurrt Rossinis musikalischer Motor von der ersten bis zur letzten Minute und treibt die Beteiligten in den jeweiligen Ensembles und Finali bis an die Grenzen des Sing- und Spielbaren, an den Rand des szenischen Wahnsinns. Dabei ist es bemerkenswert, dass Rossini in der „Cenerentola“ – entgegen seiner sonst üblichen Schreibpraxis und trotz enormen zeitlichen Drucks – nur wenige musikalische Anleihen bei anderen Opern machte. Somit erscheint die Textur dieses Werkes durchweg frisch und originell. Und doch ist es „typischer Rossini“, den das Publikum hier erlebt, voller Witz und Virtuosität. In dem Bestreben, durch genaue Notation sämtlicher Verzierungen dem musikalischen Wildwuchs in der Praxis des Belcantogesanges des 19. Jahrhunderts Einhalt zu gebieten, rettete Rossini die äußerst tempo- und wortreiche „Italianità“ seiner Zeit in die kommenden Jahrhunderte hinüber, sodass wir in der Lage sind, den Genuss, den Geschwätzigkeit in ihrer virtuosesten Form bereiten kann, körperlich nachzuempfinden. Dies gilt für beide Seiten – die ausführende ebenso wie die rezipierende. Der virtuosen Künstlichkeit der solistischen Koloraturen stellt Rossini dabei den puren Irrsinn in den Ensembles gegenüber, in denen meist nicht nur die Sprache, sondern zugleich auch der Sinn in einem gnadenlos mitreißenden musikalischen Orkan verwirbelt wird. Ein rein instrumentales Bühnengewitter droht da fast zu verblassen, wäre es nicht von der gleichen dynamischen Präzision und Verve durchdrungen wie die gesamte Oper, die – einmal angelaufen – ungebremst knapp drei Stunden lang auf ihr Finale zusteuert und erst am letzten Doppelstrich Halt macht.
Katja Pfeifer