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Workshop Die Frage der Massen in der Kunst
Das Manifest im Mittelpunkt des Workshops im Literaturforum im Brecht-Haus
Die Frage der Massen in der Kunst
Untersuchung eines unbekannten Theatermanifests von Asja La ¯ cis
Von Marianne Streisand 1921 in Riga schreibt und verö entlicht eine Frau ein avantgardistisches Manifest – ein bemerkenswerter Vorgang. Asja Lācis, Regisseurin, Netzwerkerin deutsch-russisch-lettischer Kunst- und Kulturbeziehungen, Gründerin des ersten alternativen Kindertheaters 1918 im zentralrussischen Orel. Die Spielleiterin der proletarischen Revue „Die Gesichter der Jahrhunderte“ 1921/22 in Riga, die mit einem gewaltigen Massenumzug durch die Stadt und dem gemeinsamen Absingen der „Internationale“ endete, ist endlich selbst Gegenstand von kunst- und theatergeschichtlichen Forschungen geworden. Das wurde Zeit, denn bis dato interessierte sich die Forschung für Asja Lācis vorrangig als Geliebte Walter Benjamins und als Anlass für seinen nachgelassenen wichtigen Text „Programm für ein proletarisches Kindertheater“. Hildegard Brenners Verö entlichung dieses Textes 1968 in der Zeitschrift alternative sowie ihr Buch mit Lācis-Texten und Interviews „Revolutionär im Beruf“ (1971) stellten seinerzeit einen Paradigmenwechsel im Denken und Tun hinsichtlich des Kindertheaters dar.
Die Kultur- und Theaterwissenschaftlerin Mimmi Woisnitza und die Theaterpraktikerin Konstanze Schmitt stellten dieses Manifest in den Mittelpunkt eines Workshops im Literaturforum des Brecht-Hauses, im Kontext des Sonderforschungsbereichs „Intervenierende Künste“ der Freien Universität Berlin. Der Text „Die neuen Richtungen in der Theaterkunst“ wurde 2017 für die documenta 14 wiederentdeckt und erstmals ins Deutsche übersetzt. In ihm sind so erstaunliche Sätze zu lesen wie: „Das Hauptaugenmerk soll auf kollektives Handeln gerichtet sein“, bei der Theaterarbeit mit Laien gehe es zuerst darum, in jedem „den Wunsch nach Selbsttätigkeit zu wecken, die schöpferischen Instinkte zu wecken, die Persönlichkeit sich entfalten zu lassen. Man muss in o enen Labors arbeiten.“ Zugleich operiert der Text von 1921 auch mit eher traditionellen Kunstbegri en, andererseits mit dem Rückgri auf die seit 1909 üblichen Slogans der Manifeste der selbsternannten europäischen Kunstavantgarden und den Forderungen des russischen Proletkults. Lācis verlangt nicht nur die übliche „Vereinigung der Kunst mit dem Leben” und revolutionäre Kunstexperimente, sondern vertritt auch die an den Proletkult-Theoretiker Platon Kerschenzew angelehnten Forderungen nach der generellen Kollektivität der Theaterproduktion, nach dem Vorrang von Laienschauspieler:innen sowie der Beteiligung von Massen an der Kunstproduktion, nach einem wahrhaft „proletarischen Theater“. Der Workshop selbst war ein „Labor zwischen Theorie und Praxis“, fragte danach, was so ein Text uns heute sagen könnte. In den „o enen Beziehungen“ zwischen theoretischem und künstlerischem, historischem und aktuellem Zugri waren Paare gebildet worden: Woisnitza stellte das Manifest in den Kontext der Arbeitsbiografie der Autorin sowie den zeitgeschichtlichen Rahmen, Schmitt machte mit ihrer eigenen Theaterarbeit 2020/21 an der Protestoper unter Massenbeteiligung gegen den Ausverkauf der Stadt in BerlinKreuzberg „Wem gehört Lauratibor?“ bekannt. Ich war gebeten, das Manifest in die Diskurse der Avantgarden und in theatergeschichtliche Linien zu stellen, während Luise Meier über ihr aktuelles Interesse am Proletkult und die Frage nachdachte, wie der unter neoliberalen Bedingungen aussehen könnte. Christoph Braun, Soziologe bei der AWO, berichtete über seine Theaterarbeit mit Geflüchteten und beschrieb die Grenzen des Theaters. Florian Gass und Mirija Reuters, die seit Jahren ein mobiles Kindertheater im Wedding betreiben, entwickelten die Vision eines Kindertheaterhauses, Tatjana Ho mann sprach über verschiedene Inszenierungskonzepte des von ihr neu übersetzten Stücks „Ich will ein Kind“ von Tretjakow. Dazwischen theaterpädagogisches, performatives und künstlerisches Tun - ein überaus anregender, vielversprechender Auftakt zu einer ganzen Workshopreihe. T
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© an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags © Fotos: Fotografinnen und Fotografen Druck: Druckhaus Sportflieger, Berlin
78. Jahrgang. Heft Nr. 1, Januar 2023. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft 05.12.2022
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Autorinnen / Autoren 1/2023
Jenny Erpenbeck, Schriftstellerin, Berlin Peter Helling, Kulturredakteur, Hamburg Christoph Leibold, Hörfunkredakteur und Kritiker, München Tom Mustroph, freier Autor und Journalist, Berlin Johannes Odenthal, Kurator, Berlin Hans-Dieter Schütt, Autor, Berlin Theresa Schütz, Theaterwissenschaftlerin, Berlin Beate Seidel, Dramaturgin, München Bernd Stegemann, Dramaturg, Hochschullehrer, Berlin Marianne Streisand, Theaterwissenschaftlerin, Berlin Marla Thermann, Kultur- und Medienpädagogikstudentin, Halle Juliane Voigt, freie Kulturjournalistin und Theaterkritikerin, Stralsund Thomas Wieck, Theaterwissenschaftler und Dramaturg, Berlin
Vorschau 2/2023
„100 % Narva“ von Rimini Protokoll bei der Premiere im November in Narva
Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Februar 2023
Schwerpunkt: Seit dem 1. September 2022 gilt die deutlich erhöhte Mindestgage für Solobeschäftigte und Bühnentechniker:innen an den deutschen Theatern, zusammen mit ebenfalls stark gestiegenen Gastgagen. Für die Theater eine finanzielle Herausforderung, die ohne zusätzliche Mittel der Rechtsträger kaum zu bewältigen ist. Zumal Corona-Folgen und Energiekosten ohnehin eine Belastung darstellen. Was das alles für die betriebswirtschaftliche Situation verschiedener Theater bedeutet, das ist das Schwerpunktthema im Februar. Ausland: Narva in Estland ist die russischste Stadt des gesamten Baltikums. Dort hat jetzt Rimini Protokoll die vielleicht schwierigste Ausgabe ihrer seit über zwanzig Jahren weltweit recherchierten und produzierten demografischen 100-Prozent-Performances mit Einwohnern veranstaltet. Ein spannender Moment, der in einer großen Reportage über die aktuelle Theaterszene dort auch viel über die Stimmung in Estland erzählt.