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Gespräch

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Grußworte

Grußworte

Die künstlerische Leitung – Julien Chavaz, Clemens Leander, Bastian Lomsché, Jörg Mannes, Anna Skryleva und Clara Weyde – im Gespräch mit Ulrike Schröder über ihren Start am Theater Magdeburg

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US: Der Beginn einer Intendanz ist ein großer

Neuanfang. Welche Erfahrungen habt ihr mit

Neuanfängen bisher gemacht? JC: Für uns Theatermenschen sind Neuanfänge eigentlich unser täglich Brot. Es gibt alle paar Monate neue Produktionen, alle Mitwirkenden sind gespannt und brennen für die neue Aufgabe. Wir sind einfach daran gewöhnt, mit Neustarts konfrontiert zu werden. Theater ist ja eine Kunstform, die jeden Tag neu ist, jede Vorstellung ist anders und immer wieder neu. Deshalb sehe ich das Besondere an unserem Neuanfang vor allem in der Konstellation mit uns allen als Spartenleiter:innen, ob nun neu am Haus oder nicht. Ein Neuanfang aus vielen einzelnen Neuanfängen heraus. Das macht einfach Spaß! JM: Auch in meinem künstlerischen Leben war es quasi Routine, immerfort Neues zu produzieren, wobei sich die verschiedenen Stadien von Neuproduktionen dann sogar oft überlagert haben: die Neukonzeption von der übernächsten Premiere, Bühnenentwürfe von der nächsten und gleichzeitig die Endproben der aktuellen Produktion. Corona hat in diesen Prozess

tatsächlich einmal Ruhe hineingebracht – und das war wirklich neu für mich. Ich kann hier in Magdeburg einen Neuanfang „von

Null“ aus starten, mich ganz darauf konzentrieren. AS: Ich bin ja von Hause aus Pianistin und da bist du für deine Kunst ganz allein verantwortlich – du bist eigentlich sehr einsam. Als ich dann 1999 nach Deutschland kam, habe ich ein ganz anderes Leben kennengelernt. Mir wurde bewusst, dass der Weg, ganz allein mit dem Klavier konfrontiert zu sein, nicht mehr mein Weg ist. Die Möglichkeit, zum Dirigieren zu wechseln, war nicht einfach nur ein neuer Beruf, sondern eine völlig neue Art Musik und Kunst zu machen – im Austausch mit anderen. Theater ist Teamarbeit. Das hat mich sofort angesteckt! BL: Für mich hat der Neuanfang auch viel mit Freiheit zu tun – sich die Freiheit zu nehmen, an eine neue Aufgabe unvoreingenommen, ein wenig unbedarft und vielleicht auch manchmal naiv heranzugehen. Das beinhaltet ganz bewusst auch die Freiheit, die eigenen Fehler machen zu müssen, machen zu dürfen. Es setzt eine große Energie frei, sich sozusagen „ins kalte Wasser“ zu stürzen. Und es braucht Mut, denn es hängt auch eine große Verantwortung an unserem Neuanfang.

JC: Die neue Ära in Magdeburg korrespondiert mit dem Neuanfang des Theaterwesens nach Corona, zumindest nach der unmittelbaren Corona-Krise. Wir sehen nach zwei Jahren Licht am Ende des Tunnels. Wir spüren die Verantwortung, wieder unmittelbare Theatererlebnisse schaffen zu können. Und als gegenläufige erschreckende Entwicklung erleben wir den Krieg gegen die Ukraine und sind aufgefordert, uns dazu zu verhalten – eine weitere große Verantwortung. US: Angesichts von diesen weltweiten Krisen stellt sich die Frage nach der Relevanz von

Theater … BL: Wenn ich ehrlich bin, habe ich erst in dieser Corona-Zeit wirklich verstanden, was es bedeutet, wenn man von der Einmaligkeit des direkten Theatererlebnisses spricht – alle sind in einem Raum, live, jede Vorstellung ist anders usw. Das erschien mir manchmal wie ein Klischee. Aber in den zwei Jahren mit stark eingeschränktem „analogen“ Theater ist doch deutlich geworden, was gefehlt hat: dieser Ort, an dem Leute aus eigener Entscheidung zusammenkommen, gemeinsam sich etwas anzuschauen. Hoffentlich wird das aufs Neue wieder zur Selbstverständlichkeit. CW: Die gemeinsame Imagination in einem Theaterraum – das ist einfach etwas Einzigartiges.

Darsteller:innen und Publikum erschaffen das Theatererlebnis eigentlich erst – ganz anders als im Kino. In der gemeinsamen Imagination kann man sich auch von der Realität lösen, kann sich andere Dimensionen vorstellen – das bietet ein großes Potential für Veränderung, dafür, Gesellschaft anders zu denken. In diesem Sinne verstehen wir Naturalismus als verpasste Chance für die Kunstform Theater. CL: Gerade auch Jugendliche haben den realen Ort und Treffpunkt Theater vermisst. In der Corona-Zeit haben ja viele Theater – gerade für ein junges Publikum – auf digitale Formate gesetzt und es dämmert nun die Erkenntnis, dass das kein wirklich zukunftsweisender Weg ist. Jede Generation braucht diese konkreten Orte, Orte für unmittelbare Begegnung. Das ist eine schöne Bestärkung in unserem Bemühen, Theater für alle Generationen zu machen und uns in besonderer Weise um Vermittlung in alle Altersgruppen zu bemühen. JC: Zum Erlebnisraum Theater gehört auch das gemeinsame Reflektieren über das Erlebte. Das Theater ist ein Ort, wo man sich vor oder nach der Vorstellung mit anderen Menschen austauschen kann, mit Bekannten, aber möglicherweise auch mit völlig Fremden. Theater strahlt so über den eigentlichen Aufführungsort in das Leben der Menschen aus – und das oft sehr nachhaltig. Gerade wenn man am Anfang vielleicht skeptisch war und Zweifel hatte, ob etwas gelungen ist, dann beschäftigt es einen lange über die eigentliche Aufführung hinaus. Theater ist keine Schmerztablette, Theater ist dauerhafter Bestandteil eines neugierigen und temperamentvollen Lebens!

US: Deswegen ist es wichtig, das Publikum zu kennen, ein Gespür dafür bekommen, für wen wir Theater machen. BL: Wir wollen die Menschen verführen. Es kann nicht darum gehen, einfach gefälliges Theater zu machen, das allen nach dem Mund redet und keinerlei Hürden oder Widerstände aufbaut. Wir wollen die Magdeburger:innen verführen, zu kommen, wiederzukommen, nachzudenken und in irgendeiner Form etwas von dem, was sie im Theater erlebt haben, mit hinauszunehmen. CW: Die Menschen sind aufgefordert, auch etwas dazulassen in ihrem Theater, eine Rückmeldung zu geben. Das muss kein intellektueller Beitrag sein oder eine konkrete Frage. Es kann ein Nachgespräch sein oder ein kleiner Text – wichtig ist, den gegenseitigen Kontakt über die Vorstellung hinaus zu verlängern. JM: Mich fasziniert, dass der Dialog zwischen Publikum und Bühne freier ist als im Kino, weil der Blick der Zuschauer:innen nicht so stark gelenkt wird. Im Kino wird mir oft – durch Schnitte und Einstellungen – vorgegeben, wohin ich gucken soll, worauf ich mich konzentrieren soll. Im Theater kann ich auswählen zwischen unterschiedlichen Perspektiven – während einer Vorstellung und auch beim mehrmaligen Anschauen derselben Produktion. Theater ermächtigt das Publikum!

BL: Umso wichtiger und spannender ist es, sich auf dieses Publikum vorzubereiten. Wir beschäftigen uns viel mit Magdeburg und seinen Bewohner:innen, haben z. B. auch eine Stadtrundfahrt für alle Regieteams organisiert, damit auch die Gäste, die ans Haus kommen, die Stadt kennenlernen. Nach diesem ersten Eindruck kann man mehr ins Detail gehen, tiefer in die Geschichte einsteigen und mit den Menschen ins Gespräch kommen. So setzt sich nach und nach ein Bild zusammen. Eine tolle, inspirierende Chance, sich einen Ort zu erschließen! CL: Ich fand es sehr spannend, die verschiedenen Communities der Stadt kennenzulernen. Ich habe viele Gespräche mit den unterschiedlichsten Leuten geführt und bin total begeistert, auf wieviel Interesse an Theater, an Zusammenarbeit, an Engagement ich dabei gestoßen bin! Und es ist inspirierend sich vorzustellen, dass all diese Menschen hier bei uns einen Ort finden, an dem sie vorkommen und in den sie sich einbringen können. JC: Auch das Repertoire ist ein sehr charakteristischer Aspekt der Theaterarbeit. Es ist in Magdeburg völlig anders als in Hamburg, Stuttgart, Zürich oder der Westschweiz. Da ich wegen des Lockdowns kaum Vorstellungen sehen konnte, habe ich mir das Magdeburger

Repertoire seit den 1970er Jahren angeschaut, um ein Gefühl für die hiesige Theaterwelt zu bekommen. Das war eine spannende Abenteuerreise ins kulturelle Herz der Stadt, die Menschen hier können sich selbst wohl kaum vorstellen, wie spezifisch ihr Repertoire ist. JM: Ich gehe gern abstrakter an eine neue Situation heran. Ich suche in der Stadt eher Strukturen, auch Gefühlsstrukturen. Ich bin viel zu Fuß unterwegs, um ein Gefühl für die Beschaffenheit der Stadt zu bekommen. Irgendwann fließen diese Strukturen dann auch in die Stücke, in die Choreografien mit ein. Dabei geht es mir nicht um ganz konkrete Abbildung, sondern abstraktere Wahrnehmung: Wie stehen die Häuser zueinander? Wie bewegen sich die Menschen auf der Straße? Wie sind die Straßen angelegt? Und dann freue ich mich ganz direkt auf den Dialog mit dem Publikum, den wir auch im Tanz durch eigene Formate verstärken wollen. AS: Ich bin zwar nicht neu am Haus, aber dennoch freue ich mich darauf, jetzt endlich mehr von dem umsetzen zu können, was in meinen ersten beiden Spielzeiten wegen Corona nicht möglich war, v. a was den Austausch mit dem Publikum betrifft. Dabei habe ich schon festgestellt, dass das Publikum in Magdeburg immer offen für Neues ist – das kann uns allen Mut machen!

Bild auf Seite 14/15 v.l.n.r.: Ulrike Schröder, Jörg Mannes, Anna Skryleva, Clara Weyde, Clemens Leander, Julien Chavaz, Bastian Lomsché

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