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Der Mensch zählt ORF Zeitgeschichte-Dokumentationen als Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs Es war ein überraschendes Bild: ein ehemaliger Waffen-SS-Mann im Gespräch mit einem Auschwitz-Überlebenden, eine Widerstandskämpferin, die im KZ Ravensbrück terrorisiert wurde, am Tisch mit einem Ritterkreuz-Träger der Wehrmacht. Keine Fantasie, sondern Realität bei der Präsentation des Films „Verfolgt, verschleppt, vernichtet“, der die Geschichte NS-Vernichtungsmaschinerie erzählt. Die erwähnten Personen: Interviewpartner im fünfteiligen ORFDokumentationsprojekt „Der Zweite Weltkrieg“. Es sind ausnahmslos engagierte Zeitzeugen, die zur öffentlichen Aufarbeitung ihrer ganz persönlichen Geschichte bereit sind. Als ich nach 4 Jahren Lager wieder frei war, habe ich mir geschworen, nie aufzuhören darüber zu berichten, was geschehen war. Das war irgendwie ein Versprechen, dass wir denen schuldig sind, die nicht überlebt haben. Irma Trksak, KZ-Überlebende Für Menschen, die Krieg, Verfolgung, Lagerhaft, den Tod von Angehörigen und anderes menschliches Leid erleben mußten, ist die Mitarbeit an Zeitgeschichte-Dokumentationen ein meist schmerzhafter Prozess, aus dem Verdrängen und Schweigen heraus in das Licht der Kamerascheinwerfer zu treten. Vor allem für Holocaust-Opfer bedeutet die Erzählung der eigenen Vergangenheit das Wieder-Erleben eines folgenschweren Traumas. Dazu braucht es Vertrauen: Vertrauen in die Gesprächspartner während der Dreharbeiten, Vertrauen in einen öffentlich-rechtlichen ORF und seiner Verpflichtung, Beiträge zur nationalen Erinnerung zu leisten, aber auch Vertrauen sich einem breiten Publikum zu präsentieren und damit zur öffentlichen Person zu werden.


Es fällt mir schwer, das zu sagen, aber heute bin ich froh, dass wir den Krieg verloren haben! Karl Gabriel, ehemaliger Soldat der Waffen-SS Auch Erwin Sensel aus der einzigen jüdischen Familie der kleinen obersteirischen Stadt Kindberg hatte Vertrauen in die Zeitgeschichte-Redaktion des ORF. Er war bereit, seine Lebensgeschichte in die Dokumentation „Flucht ins Ungewisse“ einzubringen, als Einziger, heute bereits über 100 Jahre alter Überlebender seiner Familie. Nur durch Flucht konnte er den Mördern entkommen; im Exil in Caracas, Venezuela blieb ihm nur die Erinnerung - an Menschen, die ihn verfolgten und am Tod seiner Eltern mitschuldig waren; aber auch an Andere, die menschlich blieben. Heimat ist ein Begriff, der schwer zu beschreiben ist. Wenn man seine Kindheit dort verbracht hat und mit einem Schlag einem alles genommen wurde, dann bleibt nur ein Weh-Heimatgefühl. Erwin Sensel, Kindberg - Caracas Die Voraussetzung für den Aufbau von Vertrauen ist Zeit – Zeit, die im modernen ökonomisierten Medienbetrieb oft fehlt. Darin liegt eine Qualität öffentlich-rechtlichen Fernsehens: Zeit zu haben für den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Zeitzeuge und Dokumentarist; für lange Gespräche vor den Dreharbeiten; für die Begleitung während der Entstehung des Films und auch noch lange danach. Was mit einem Recherchegespräch beginnt, wird so oft eine lang dauernde Beziehung mit tiefen Einblicken in persönlich erlebte Zeitgeschichte auch abseits von


Dreharbeiten und Sendungen. Die Zeitgeschichte-Redaktion wird dabei auch zur Drehscheibe für die Wiederaufnahme von Beziehungen über Raum und Zeit hinweg. Wenn die Familie Sensel nicht gewesen wäre, dann wären wir damals verhungert! Herta Mühlbacher, aufgewachsen in Kindberg Zahlreiche Verwandte und Bekannte hatten nach Erwin Sensels Flucht 1939 jeden Kontakt zu ihm verloren – und so wurde die ORF-Dokumentation „Flucht ins Ungewisse“ zur Wiederbegegnung mit einem Totgeglaubten. Fast siebzig Jahre nach den folgenschweren Ereignissen konnte Herta Mühlbacher endlich Danke sagen – für die Hilfe, die der jüdische Gemischtwarenhändler Sensel ihrer arbeitslosen Familie in der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre zukommen ließ. Wie wichtig diese zwischenmenschliche Dimension bei Zeitgeschichte-Recherchen sein kann, zeigte sich auch bei der Arbeit zum ersten ORF-Zeitgeschichte-Schwerpunkt „Die Alliierten in Österreich“ im Jahr 2005. Heidi Braun wurde 1946 als Kind einer Vorarlbergerin und eines Besatzungssoldaten geboren - eines Marokkaners im Dienste der französischen Armee. Noch vor Heidis Geburt wurde der Soldat, Sabi Ben Ali nach Marokko abkommandiert – seine Versuche, die Beziehung aufrechtzuerhalten, scheiterten. Im Nachkriegsvorarlberg waren solche Beziehungen und ihre Folgen – dunkelhäutige Besatzungskinder - ein Tabu. Heidi Braun wuchs ohne Vater, aber mit Ausgrenzung und Verachtung auf.


„Es war eine Schande für die ganze Familie, für das Dorf, es war ganz was Schlimmes – meine Mutter wurde alleingelassen, beschimpft. Niemand hat Anteil genommen –sie war auf sich alleine gestellt. Heidi Braun, Tochter eines Besatzungssoldaten Erst kurz vor ihrem Tod war ihre Mutter bereit, Informationen über den Vater preiszugeben – für Heidi Braun die langersehnte Gelegenheit, ihren Wurzeln nachzugehen. In der Zusammenarbeit mit dem ORF sah sie nicht nur die Möglichkeit, ihr persönliches Lebenstrauma zu thematisieren, sondern auch die Chance auf Unterstützung bei der Suche nach ihren Wurzeln. Trotzdem sie viele Jahrzehnte davon geträumt hatte, nach Marokko zu fahren und dort ihre Vater zu finden, fiel es ihr schwer, dieses Projekt tatsächlich in Angriff zu nehmen. Den richtigen Vater zu treffen, von dem es nur eine vage Vorstellung gab, in Kauf zu nehmen, dass die Realität vielleicht ganz anders aussehen könnte als die über Jahrzehnte gehegte Wunschvorstellung – die Bereitschaft zur Reise nach Marokko bedeutete für Frau Braun, sich auf eine emotionale Grenzerfahrung einzulassen. Nach vielen Treffen und Gesprächen, die sich über fast 9 Monate hinzogen, machte sich Heidi Braun mit uns gemeinsam auf den Weg nach Marokko, in ein kleines Bergdorf, die Heimat von Sabi Ben Ali. Der Vater selbst war in der Zwischenzeit gestorben, doch seine Familie mit vier Söhnen und zwei Töchtern lebt noch immer hier. So gab es einen berührenden Empfang für Heidi Braun. Sie wurde umgehend von den neuen Brüdern und Schwestern aufgenommen, bei einem Familienfest gefeiert und bekam sogar einen Teil des elterlichen Grundstücks. Die „Oral History“ über den Vater lieferten die Verwandten. So entstand ein Puzzle aus Bildern und Geschichten, sie zusammen präzisierten das Vaterbild, verkoppelten es mit Gefühlen. Seit der Rückkehr gibt es einen regen Briefkontakt mit vielen Familienmitgliedern in Marokko – ein Lebenstraum ging so in Erfüllung – eine Familie, die


durch historische Ereignisse zerrissen wurde, ist jetzt wieder geeint. Und Heidi Braun konnte nun stolz sagen: „Ich kenne meinen Vater.“ „Ich bin total stolz auf meinen Vater, wie viel Anerkennung er im Dorf hat, ich glaube dass die Dorfbewohner gewusst haben, er hat es erzählt dass er eine Tochter in Österreich hat.“ Heidi Braun, Tochter eines Besatzungssoldaten ORF Zeitgeschichte versteht sich als Beitrag zur „nationalen Archäologie“. Jeder von uns befragte Zeitzeuge ist ein lebender Teil der Geschichte unseres Landes, ein Chronist, der über die Folgen von Politik berichtet. Wir graben überwiegend zu „ebener Erde“, legen den Mikrokosmos individueller Wahrnehmung frei. Die Verbindungskanäle zum ersten Stock, die breiten Zusammenhänge stellen dann die Historiker her. Die ORF-Zeitgeschichte versteht sich als Chronik der Vielfalt. Wir wollen unseren Zusehern/-innen die ereignisreiche Geschichte des 20. Jahrhunderts näher bringen, die dramatischen, konfliktreichen, und blutigen Auseinandersetzungen um individuelle, kollektive und nationale Identität. Die historischen Spannungen eines Jahrhunderts, zwischen Monarchie, Diktatur und Demokratie, zwischen Bürgerkrieg, Weltkrieg und Kaltem Krieg, zwischen Staatspolitik, Ideologie und Religion haben tiefe Spuren in der Geschichte des Landes und seiner Menschen hinterlassen. Deshalb sind Alle die sich für solche persönlichen Zeitreisen zur Verfügung stellen für uns von unschätzbarem Wert. Die von uns gewählte Form der Vermittlung von Zeitgeschichte findet auch bei jungem TV-Publikum großes Interesse, das zeigen die Medienanalysen der Altersstrukturen.


Um Zeitgeschichte Produktionen und Themen-Schwerpunkte kßnftig zur Üffentlich-rechtlichen Marke zu machen, bedarf es der dringenden Verbesserung der Ressourcen. Das bedeutet auch in Zeiten des Sparkurses eine ausreichende finanzielle Bedeckung ebenso zu garantieren wie die Kontinuität.


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