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JOURNAL SOMMER 2020

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BILDENDE KUNST. GESTALTUNG.MUSIK. BÃœHNE.WISSEN


Material Über visuelles Vokabular, darüber, wie man die Stimme als Material benutzt, über Rhythmus, Körper, Klang und Bewegungsmaterial

Anfangen Künstlerische Arbeit findet immer an der Grenze des Machbaren statt, und sie gelingt nur, wenn sie diese Grenze überschreitet. Sie fängt nicht mit dem Einfall an, sondern mit der Frage davor.

Rahmen Sie sind für jede Art von künstlerischer Produktion notwendig. Ob als Konvention, als Raumoder Materialvorgabe, als constraints und als Partner.

Erinnern/Vergessen Ein Blick in die Vergangenheit kann eine aufgeschlossene Perspektive auf das Neue öffnen. Kann man dennoch das Vergessen vergessen?

Energie So sinnlich wie körperlich ist Energie in den kreativen Prozess eingeschrieben und in jedem großen Kunstwerk „spürbar“. Oder ihre Abwesenheit. Lässt sie sich versprachlichen, materialisieren, übertragen? Und was ist Raumklangenergie?

Cover: Der Ruinengarten in der Hardenbergstraße, Juni 2020 Foto: Marina Dafova

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Unfertig Ist Fertigwerden das Ziel allen Tuns, oder ist es der Genuss des Unvollständigen?


Wiederholung Was bedeutet Wiederholung für den künstlerischen Prozess? Als gestalterisches Mittel, in der Komposition, als Muster, als Wieder-Holen, als Lernen …

LESEN Der kreative Prozess ist der rote Faden des journals der UdK Berlin. In seinen ersten zwei Jahren hat es ihn aus nächster Nähe aufmerksam beobachtet, begleitet und sich mit und entlang der Hochschule immer weiterentwickelt. Mit neun Themen, die aus den Künsten selbst und aus der Lehre und Forschung an der Hochschule kommen, haben wir versucht, den Prozess zu umreißen und einen Einblick in die Arbeit der Studierenden und Lehrenden gleichermaßen zu ermöglichen. Auch als Inspirationsquelle und als ein immerwährender Rundgang durch die Ideen- und Gedankenwelten und die üppige künstlerische Produktion. Wir danken den Studierenden, dass wir ihre Arbeiten im journal zeigen können. Über den Prozess selbst reflektieren die Texte, eigens für das j­ournal entstanden, die hier in einer kleinen Auswahl zusammengestellt sind. Wir danken sehr den Professorinnen und Professoren für die Offenheit, Großzügigkeit und interessierte Bereitschaft, über ihre Arbeit und den kreativen Prozess mit uns zu sprechen, darüber zu schreiben und ihre Erfahrung, ihr Wissen und ihre Ideen mit uns zu teilen.

Schatten Mit Schatten – als Gegenpol zu Licht – operiert nicht nur die Bildende Kunst. Das ist ein Phänomen, das alle Disziplinen beschäftigt. Schatten können einen Raum formen, einen Faltenwurf sichtbar machen. Sie sind Metapher und Allegorie.

Die Cover der Ausgaben beschäftigen sich mit dem jeweils gestellten Thema, und auch sie sind als Semesterprojekte, Kollaborationen oder einzelne Arbeiten extra für das journal entstanden. Unser großer Dank gilt allen Studierenden der Fakultät Gestaltung, die sich engagiert und begeistert den nicht immer einfachen Themen gestellt haben. Dieses Sommer-Semester war für uns alle – und auch im globalen Maßstab – eine außergewöhnliche Herausforderung an Erfindungsreichtum, an die schöpferische und intellektuell-emotionale Kraft in einer vollkommen neuen sozial-räumlichen Landschaft mit neuen digitalen Infrastrukturen. Wir beenden das Semester mit KUNST RAUM STADT, einem Dialog zwischen Kunstschaffenden und Publikum, der von uns in der Demonstration Mitte Juli herausgefordert wird.

Entwerfen Es ist der Kern der Profession für Architekten, für Designerinnen wie auch für Komponisten oder Theatermacherinnen. Was ist ein guter Entwurf? Wie funktioniert der Prozess des Entwerfens? 3 … www.udk-berlin.de

Die Herbst-Ausgabe hoffen wir nunmehr in gewohnter Form herauszubringen: mit den Listings der Formate, Reihen, Festivals, Wettbewerbe, Konzerte, Ausstellungen und Aufführungen, die regulär an den Standorten der Hochschule zu sehen sind. Und wir wollen eine kleine Auswahl aus der überwältigenden Fülle der Projekte und Arbeiten von Studierenden zeigen, die während des Lockdown-Semesters entstanden sind. Jetzt wünschen wir Ihnen eine anregende Sommerlektüre mit dieser Extra-Edition des journals. Die Redaktion Die vollständigen Ausgaben finden Sie zum Blättern und als Download unter: www.udk-berlin.de/journal


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DIE MEISTERDIEBIN KITO NEDO ZU GAST BEI VALÉRIE FAVRE

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Zum Anlass einer großen Museumsausstellung von Valérie Favre in Neuchâtel ist auch eine Monografie erschienen, dick und kompakt wie ein Roman. Doch Zeit zum Ausruhen bleibt ihr nicht. In ihrem Berliner Atelier arbeitet die Schweizer Künstlerin, die 1998 von Paris in die deutsche Hauptstadt kam, bereits an zwei zukünftigen Ausstellungsprojekten. Hierfür hat sie eine Art Zufallsgenerator konstruiert, der ihr mit einem ausgeklügelten, auf mathematischen Formeln beruhenden Aufschreibesystem bei der Komposition zukünftiger, großformatiger Gemälde hilft. Der Ausstellungs- und Publikationsbetrieb – manchmal muss er der 1959 in Evilard (Kanton Bern) geborenen Malerin wie eine gefräßige, nimmersatte Maschine vorkommen, die immerzu mit Bildern, Objekten, Texten und Ideen gefüttert werden will. Gleichzeitig weiß Favre aber auch, dass sie nie genug Zeit haben wird, um alle Bilder, die sie im Kopf hat, auch tatsächlich auf die Leinwand zu bringen. Und nicht weniger fordernd ist vermutlich auch ihre Tätigkeit als Professorin für Malerei an der Universität der Künste Berlin (UdK). Schließlich gilt es, gemeinsam mit ihren Studierenden, die nicht nur unter Künstlerinnen und Künstlern selbst weit verbreitete Ansicht, Kunst könne man weder lernen noch lehren, täglich aufs Neue zu widerlegen – und es eben trotzdem zu tun. Die gleichzeitige Arbeit als freie Künstlerin und Akademie-Professorin verlangt unterschiedliche Arten des Handelns und Nachdenkens. Und doch bildet beides, das Produzieren und das Vermitteln, eine Einheit, womöglich verbunden über das alles umfassende Kunst-Denken. Vielleicht ist das vergleichbar mit zwei Beinen, auf denen man steht und die einen Schritt für Schritt voranbringen.

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Favre, die hauptsächlich figurativ malt, geht es nicht darum „schöne Bilder“ zu malen, sondern bei ihr steht das umfassende Narrativ im Vordergrund. „Ähnlich wie ein Schriftsteller die Schrift benutzt, benutze ich die Malerei, um eine Geschichte zu erzählen.“ Vielleicht ist es daher auch nicht so sehr verwunderlich, dass die Künstlerinnen und Künstler, von denen sie selbst am meisten lernte, keine Maler sind: die Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé etwa, der Regisseur Jean-Luc Godard oder der Komponist John Cage. Kunst speist sich aus dem Alltag, genauso wie andere Formen der Erzählung, die einem bei der Lektüre, Theater- und Kinobesuchen begegnen. Die Künstlerin arbeitet bevorzugt in thematischen Serien, die etwa den Selbstmord umkreisen oder das berühmte Goya-Bild der fliegenden Hexen. Ihre Geschichten wuchern wie pflanzliche Wurzelgeflechte: Additiv und verästelt bauen sich so über mehrere Jahre große Erzählbögen auf, deren Architektur oft nur in der Retrospektive Konturen annimmt. Ihre Zeichnungen erscheinen als Hybride zwischen Text und Bild. „Malerei“, sagt


Favre, „ist eine Anhäufung von Schichten, ist zum Stehen gebrachte Zeit.“ Man denkt unwillkürlich an Jahresringe, wie etwa bei der Serie „Balls and Tunnels“, einer Reihe von kosmisch-entropisch wirkenden Abstraktionen, zu der die Malerin seit 1995 jedes Jahr wie in einem Ritual ein Bild hinzufügt, dessen Produktion nach einer selbst gestellten Handlungsanweisung „so wenige Entscheidungen wie möglich erfordert“.

institutionell verselbstständigen, sich nicht mehr miteinander verbinden lassen.“ (Der Berliner Theoretiker Tom Holert spricht sogar von einer Dreiteilung zwischen „Kunstmarktkunst, Biennalenkunst und alternativ-dissidenter Praktiken ohne institutionelle Rahmung“.) Noch kommunizieren die verschiedenen Lager miteinander, doch Ullrich spekuliert, dass es die sowieso ständig unter Profilierungsdruck stehenden Kunstakademien sein könnten, die sich als erste auf die eine oder andere Seite schlagen könnten und so zu Agenten der Spaltung werden. Wie soll man in der Lehre dieser Zerreißprobe begegnen?

Wer sich mit Kunst beschäftigt, der erfährt diese Landschaft als ein höchst bewegliches System. Auch eine Universität der Künste bildet da keine Ausnahme. Selbst wenn die traditionsreiche AkademieGeschichte oder das gravitätische Gebäude an der Hardenbergstraße vielleicht etwas anderes suggerieren mögen: Die Künstlerausbildung ist eine fluides System, das vielen verschiedenen Einflüssen unterworfen ist. „Die Kunst“, sagt Favre, „entwickelt sich extrem schnell und erschließt sich neue Felder, an die man noch vor dreißig Jahren nicht zu denken wagte.“ Diese transversale Kraft der Künste stellt die Institution der Akademie immer neu in Frage. Potentialitäten, Beweglichkeit und Verfestigungen müssen immer neu ausbalanciert werden, auf vielen Ebenen. Die Feministin Favre selbst könnte Beleg für die Wandlung der Akademie sein: Als sie 2006 zur Malerei-Professorin berufen wurde, war sie die erste Frau auf diesem Posten in der Geschichte der Institution. In der Malerei gaben bis dahin Maler wie Georg Baselitz den Ton an, der gern mit frauenfeindlichen Äußerungen provoziert. Favre spricht davon, dass es wichtig für die Kunstakademie sei, eine eigene Identität zu entwickeln. „Der jetzige Charakter der UdK ist unklar,“ meint sie. Schließlich stünden auch Akademien untereinander im Wettbewerb. Genauso wichtig wie die freie Kunst findet Favre das Lehramt. Bildung generell schreibt die Künstlerin eine große Bedeutung zu: „Ohne Bildung würde unsere Gesellschaft in einer Katastrophe enden.“ Kunst, da ist sie sich sicher, wird auch in den kommenden Jahren nicht nur ein sehr relevantes Thema bleiben, sondern an Bedeutung zunehmen. Nicht zuletzt deshalb, weil Kunst nicht mehr nur Avantgarde, Labor für progressive soziale oder ästhetische Praktiken oder ein kritisches Instrumentarium für die Gegenwart ist, sondern sich in bestimmten Bereichen eben seit einiger Zeit auch zu einer Art eigener Industrie ausgewachsen hat. In der Künstler-Ausbildung, so die Künstlerin, sollte man diese unterschiedlichen Rollen, welche Kunst gegenwärtig in der Gesellschaft spielt, diskutieren, um den Studierenden Hilfe zur Orientierung zu bieten. Das klingt einfach, erscheint jedoch als kein einfaches Unterfangen, denn die Lage stellt sich verworren und unübersichtlich dar.

Valérie Favre ist Professorin für Malerei. Kito Nedo schreibt u. a. für art – Das Kunstmagazin, die Süddeutsche Zeitung sowie frieze und hat eine regelmäßige Kunstkolumne in der Berliner taz. Er ist Preisträger des Art Cologne-Preises für Kunstkritik 2017. Erschienen in journal 1.

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Favre zitiert den Leipziger Kunst- und Medientheoretiker Wolfgang Ullrich, der kürzlich davon sprach, dass sich in der Kunstwelt gegenwärtig eine Art tiefgreifende Spaltung vollziehe. Auf der einen Seite sieht Ullrich kommerzielle, glamouröse Events wie die Kunstmesse Art Basel und auf der anderen Seite eher politisch und inhaltlich orientierte, kuratorische Veranstaltungen wie die documenta. Womöglich, so Ullrichs These, eint diese beiden Pole in naher Zukunft bald kein gemeinsamer Kunstbegriff mehr. „Ein Schisma –“, so Ullrich, „das hieße, dass sich einzelne Teile des Kunstbetriebs abspalten, sich

Ihre Lehr-Philosophie umschreibt Favre mit dem Wort „Präsenz“ – im Sinne von Begleitung im Prozess. Ihren Studierenden möchte sie vor allem einen gewissen „Überblick“ vermitteln, der sie in die Lage versetzt, Prioritäten zu bestimmen und wichtige Entscheidungen für sich selbst treffen zu können. Dazu gehöre auch die Fähigkeit, „politischen Widerstand“ entwickeln zu können und das System nicht als von vornherein gegeben zu akzeptieren. Gerade weil dem Medium der Malerei traditionell ein konservativer Moment innewohnt, oder gerade weil Gemälde eben auch eine Ware sind, mit der man als Künstlerin oder Künstler seinen Lebensunterhalt bestreiten können soll, sei die Herausbildung einer eigenen Haltung entscheidend. Die besten Künstler seien „Meisterdiebe“, sagt Favre, die alles das, was sie umgibt für ihre künstlerischen Zwecke verwenden können und unter deren Händen alles zur Quelle für ihre Arbeit transformiert werden könnte. „Ein Meister kann sich an vielen Stellen unbemerkt bedienen.“ Wie beim Schach müsse man auch in der Kunst vorausschauend denken und strategisch handeln: Wer in der Kunst erfolgreich sein wolle, der müsse es lernen, die Züge des Gegners und den Verlauf einer Partie vorherzusehen. „Malerei setzt eine Art von visionärem Sehen voraus,“ erklärt Favre. Dieses spezifische „Sehen“ müsse sich jedoch idealerweise auf das „kollektive Unbewusste“ richten. Insofern hat die Praxis der Kunst auch etwas Dämonisches. Bei der Betrachtung guter Bilder spürt man das sofort.


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AM ENDE DAS UNFERTIGE … BERLIN MATTHIAS NOELL

Etwas über einhundert Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen von Karl Schefflers Buch „Berlin. Ein Stadtschicksal“ flanieren wir erneut durch „dieses hart determinierte Stadtindividuum“, das verdammt zu sein scheint, „immerfort zu werden und niemals zu sein“. Aber was meinte Scheffler mit dieser apodiktischen Verdammnis Berlins, er, der wenige Jahre vor dem Erscheinen seines Buchs noch Ornamentzeichner in einer Tapetenfabrik gewesen war und daher wohl an die Perfektion der ewigen Wiederholung des „Fertigen und Schönen“ gewöhnt war? Es war ein Vergleich, der ihn schockierte. 1908 hatte er Paris seine ersten städtischen Notizen gewidmet, hier war er dem „empfindsamen Reisen“ nachgegangen, angeregt wohl durch seine Vorläufer Laurence Sterne und Otto Julius Bierbaum. In Paris konnte

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2018 wird „endlich“ das zentrale Eingangsgebäude zur Museumsinsel fertiggestellt, auch die Staatsbibliothek Unter den Linden wird, so der Zeitplan, ihre Pforten auf beiden Seiten des Blocks öffnen. Der baldigen Fertigstellung harren derweil andere Langzeitbaustellen, ungewiss scheint noch immer der Endpunkt des gerade nicht enden wollenden Fortschritts. Fertig zu werden, ist das Ziel allen Tuns, auch das der Architektur.

er die Homogenität der Großstadt mit einer jahrhundertealten Tradition goutieren, denn „Paris ist nie der Gefahr ausgesetzt gewesen, durch überschnelles Wachsen die Herrschaft über sich selbst zu verlieren, und so in einen Zustand des Parvenütums zu geraten.“ Aber er schätzte auch die Ewigkeit des Unfertigen: „Merkwürdig ist es, wie sehr sich das ästhetisch anschauende Auge, das vom historischen Bewußtsein ja stark beeinflußt wird, an die unfertigen Zwillingstürme der Notre-Dame, an diese vierkantigen Rumpfe, die man so oft ja bei alten Kirchen antrifft, gewöhnt hat! Man wünscht die fehlenden Spitzen gar nicht hinzu und genießt das Bild wie ein vom Baumeister gewolltes. Diesen Genuß am Unvollständigen lehrt der größte aller Baumeister: die Zeit. Pfuscht der Nachgeborene diesem göttlichen Künstler ins Handwerk, so folgt gleich auch die Dissonanz.“ Die ergänzenden Restaurierungen Viollet-le-Ducs verstimmten Schefflers Empfindsamkeit. In Berlin hingegen, einer Stadt, die sich in seiner Zeit als gigantische Dauerbaustelle und so als permanenter Bruch mit dem Bestehenden darstellte, war an den großen Baumeister Zeit gar nicht zu denken – er fühlt sich bekanntlich bis heute nicht so recht heimisch bei uns. In Paris ging es vergleichsweise geruhsam zu: „Es fehlt alles Getöse, aller Schmutz des Werdens. Die Häuser stehen nicht in ungastlich blanker Neuheit da, in der kalt gleißenden Helle des frischen Anstrichs, und die Gärten, Plätze und Wege sind überall freundlich angewachsen.“ Mit Alois Riegl könnte man auch schlussfolgern, Berlin fehlte der Alterswert, um die Stadt erträglicher zu machen. Lange Zeit war Berlin als eine arme, aber reiche Stadt berühmt. Nach Jahrzehnten der Offenheit aber bewegt sie sich allmählich auf den


Punkt der „Komplettierung“ zu. Die Freiräume schwinden, der Platz wird knapper, die Möglichkeiten des Experimentierens rarer. Die vertraute Vergangenheit der Brandwände und Brachflächen, der entstuckten Fassaden und vergammelten Hinterhöfe, die Nachkriegszeit – alles verschwindet aus dem Antlitz der Stadt und macht Platz für neue Substanz und neue Oberflächen, die sich nicht selten an den alten orientiert haben wollen, aber dennoch nur als die Marx‘sche Wiederholung der Geschichte als Farce enden – denn die von ihm ebenfalls angekündigte Tragödie liegt bereits hinter uns. Hier und da bewahren wir immerhin einige architektonische Merkwürdigkeiten, auch wenn die neureiche Nachbarschaft dem doch eigentlich so verehrten Überrest allzu nah auf den Leib rückt. Ab und an retten wir sogar städtebauliche Ensembles vor der „Nach“-Verdichtung und restlosen Verwertung, deren Resultate dann hinter einem freundlicher klingenden Begriff des „Urbanisierungsprozesses“ kaschiert werden. In vollkommener Synchronizität dazu überbieten sich die Vorschläge zur Bebauung, Aufstockung und Umnutzung in ihren Attitüden der Innovation. Manch einer hat sich gar Archive angelegt, in denen unfertig gebliebene Objekte aufgenommen werden, natürlich um sie schneller Vermarktung entziehen zu können – oder um sie anderen Nutzungen zuführen und sie dafür umbauen zu können. Ein Berliner Parteivorsitzender wünschte sich jüngst – zum Wohle aller naturgemäß – eine ordentliche Liste zur passenden Vermarktung des ungenutzten „Flächenpotenzials“. Und „für mehr Transparenz und neue Möglichkeitsräume in der Stadt“ sammelt und veröffentlicht deutschlandweit auch eine Homepage den nutzlosen Freiraum in der Stadt. Schon Honoré de Balzacs habgieriger und skrupelloser Kunsthändler Elias Magus verzeichnete übrigens, so erfahren wir in „Vetter Pons“, in einer Karte von Europa alle noch nicht kapitalisierten Meisterwerke, die er künftig in seinen Besitz zu bringen hoffte. Sind sich am Ende alle einig, dass alles einer Nutzung zugeführt werden soll, alles zu einem Ende gebracht werden muss?

„Er ist fertig!“, schließt Adolf Loos seine berühmte Satire „Vom armen reichen Mann“. Dieser lässt sich von einem Architekten sein Zuhause einrichten. Nach umfänglichen Maßnahmen ist jeder Gegenstand

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Die Stadt und das Wohnhaus, sie ähneln sich. Leon Battista Alberti beschrieb Mitte des 15. Jahrhunderts die Analogie zwischen beiden vom Vorgang und der Nutzung bestimmten Artefakten, seiner Einschätzung folgten Josef Frank und Aldo van Eyck. Stadt und Haus sind durch permanenten Wandel bestimmt, Änderungen, Anpassungen, Umbauten, der Nutzung unterworfen. Eine Stadt, die fertig ist, in der kann wohl niemand mehr wohnen, und selbst wenn sie denn entvölkert wäre, schreitet der Baumeister Zeit voran, denn „der Geist der Natur waltet fort, kennt weder Vernichtung noch Grenzen“, wie es Johanna Schopenhauer angesichts der Überreste der Zisterzienserabtei Fountains Abbey empfand. So verharrt auch die seit mehreren Jahrhunderten aufgegebene, „tote“ armenische Stadt Ani nicht in ihrem Zustand, sie verfällt, wird ausgegraben, konserviert, zum UNESCO-Welterbe erklärt und wieder besucht. Wann ist eine Stadt eigentlich fertig?

gestaltet, alles definiert, nichts mehr offen – der Bauherr hat keinen Spielraum für eine weitere Entwicklung, „er ist complet!“ Eine triste Vorstellung, die Loos hier im Jahr 1900 in einer Wiener Tageszeitung zum Besten gab und einen Gedanken wieder aufgriff, der ihn schon zwei Jahre zuvor beschäftigt hatte – sein Interesse an den persönlichen Erinnerungen, die sich an einem Gegenstand festmachen lassen: „Aber unser tisch, unser tisch! Wißt ihr, was das heißt? Wißt ihr, welche herrlichen stunden wir da verlebt haben? Wenn die lampe brannte! [...] Jedes möbel, jedes ding, jeder gegenstand erzählt eine geschichte, die geschichte der familie. Die wohnung war nie fertig; sie entwickelte sich mit uns und wir entwickelten uns in ihr.“ Nichts anderes meint auch Heinrich Böll, wenn er schreibt: „Der Ausdruck ‚ich bin fertig‘ ist der Ausdruck vollendeter Trostlosigkeit.“ Eine Stadt berichtet von ihren Bewohnern, jedenfalls wenn man sie lässt. Im Juni 2018 suchte das Institut für Architektur und Städtebau der UdK Berlin gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen anderer Disziplinen im Rahmen des Festivals „Make City“ das Unfertige in unserer Stadt und in der Architektur. In zwei vom Institut und den Studenten entwickelten ephemeren Pavillons wurde über die verbleibenden und neu entstehenden Freiräume und das „Prinzip des Unfertigen“ diskutiert. Denn unfertig ist nicht nur der Mensch, unfertig muss auch seine Stadt sein. Matthias Noell ist Professor für Architekturgeschichte und -theorie. Erschienen in journal 1.


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So beginnt „Mo-No“, ein ungewöhnliches, radikales und beeindruckend zeitgemäß-interaktives Buch – Kunstwerk und Partitur zugleich. Der simple Titel „Musik zum Lesen“ verrät kaum, was beim Aufblättern folgt: eine rauschhafte Verführung, alle Lese-, Konsumund Wahrnehmungsgewohnheiten zu vergessen. Darin sind Noten, mit und ohne Linien. „Sie führen ein Eigenleben“, sagt Schnebel. „Angefangen habe ich mit normalen Noten, dann habe ich begonnen, sie zu deformieren: phantastische Noten, kranke Noten, eine Note, die Bauchweh hat. Sie sausen durch die Gegend, kommen von fern nach nah, verdichten sich, kollidieren miteinander, wachsen, schrumpfen, tanzen, schwirren und sirren und tönen. Manche schweben einsam durch den Raum.“ Dazwischen gibt es Anweisungen und Beschreibungen in kurzen Zeilen, Zeichen, Wirbel, leere Blätter. Lässt sich der konzentrationsbereite Leserhörer darauf ein, erlebt er ein Paradox: Er sieht, liest, erschafft und hört Musik in seinem Kopf. Die Imaginationskraft wird aktiviert und er wird zum Interpreten, auch selbst zum Komponisten seiner eigenen akustisch unmöglichen „Mu-sik jenseits des Klangs“, gezeichnet mit Tusche auf Transparentpapier von Dieter Schnebel.

„Bitte seien Sie nun ruhig!“ „ganz ruhig.“ „regungslos! den Atem anhaltend / konzentriert / und“ „–“ „lauschen Sie!“ „da“

Dieter Schnebel (1930-2018) zählt zu den wichtigsten zeitgenössischen Komponisten. Von 1976 bis 1995 war er Professor für Experimentelle Musik an der Hochschule der Künste Berlin, heute UdK Berlin. Die Originalzeichnungen wie auch Schnebels Archiv befinden sich in der Paul Sacher Stiftung in Basel, internationales Forschungszentrum für die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Dieter Schnebel, „MO-NO. Musik zum Lesen“, erschienen 1969 bei DuMont in Köln, neu aufgelegt in der Edition MusikTexte 016, Gisela Gronemeyer, Hg. Das Gespräch führten kurz vor seinem Tod Claudia Assmann und Marina Dafova. Erschienen in journal 2.

„Mich interessiert die Frage, wie wir Musik hören, und das ist auch die Grundlage meines Buches. Es ist eine Weiterführung meiner Komposition ‚Ki-No. Nachtmusik für Projektoren und Hörer’ (1963). Drei Diaprojektoren zeigen Dias eben mit Noten, Sätzen und Fragmenten, die optische Musik entsteht aus der rhythmischen Komposition der Geräusche vom Diawechseln und Brummen der Projektoren. Für ‚Mo-No’ habe ich auch an Musik gedacht, die völlig unmöglich ist, die man sich ausdenken, aber niemals umsetzen kann, ein dreifaches pianissimo zum Beispiel. So etwas entsteht im Kopf und bleibt auch dort.“ Wie auch dieses Buch. „Nachts muss man es lesen, bei völliger Stille. Um 90 Grad gedreht und – im Bett.“

DIETER SCHNEBEL MUSIK ZUM LESEN


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THOMAS ARSLAN SCHRITTE ZU EINEM SPIELFILM

Auch das zur Recherche, aber auch gleichzeitig zum Abschweifen einladende Internet und die ständige Erreichbarkeit durch Mails stören in dieser Phase meine Konzentration. Das hat Freunde von mir dazu bewogen, temporäre Internet-Sperrprogramme zu benutzen. Ich sollte vermutlich ihrem Beispiel folgen.

Parallel dazu sammle ich zunächst eher zusammenhangslose Notizen, mit Bleistift auf losen Zetteln notiert, nicht in einem Notizheft, welches ich erst bei den Dreharbeiten benutze. Aus diesen noch schwebenden, atomisierten Bruchstücken formt sich manchmal nichts, manchmal aber auch ein konkreter werdender Ausgangspunkt zu einem möglichen Film. Da ich die Exposés und Drehbücher für meine Filme selber entwickle, beginnt die konkrete Arbeit an einem Filmprojekt für mich mit dem Schreiben. Nach dem Sozialchaos der Dreharbeiten einer vorangegangenen Filmproduktion ist dieser Arbeitsschritt (zunächst) ein wohltuend einsamer Prozess. In dieser Phase höre ich viel Musik, oft auch zu viel, was ich mir dann vorübergehend wieder verbieten muss.

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Zu Beginn gehe ich nie von einem Thema aus („darüber müsste man mal etwas machen“ usw.). Meistens ist es ein Bild, das etwas noch Unbestimmtes in mir auslöst, ein Plattencover, ein bestimmtes Licht an einem konkreten Ort, an dem ich gewesen bin, ein Foto aus einem Bildband, aus dem Internet, eine Beobachtung, manchmal auch ein Foto, das ich ohne praktischen Verwertungsaspekt selber gemacht habe. Manchmal, eher seltener, ein Musikstück, ein Song oder auch ein paar Zeilen aus einem Buch.

Für die Entwicklung des Exposés brauche ich meist länger, oder zumindest ebenso viel Zeit wie für die Ausarbeitung des Drehbuchs. Die Festlegung der Eckpunkte, der tragenden Säulen einer Geschichte, die Skizzierung der Personen und ihrer Relationen, des Handlungsverlaufs auf ein mögliches Ende hin; all das nimmt in meinem Arbeitsprozess viel Zeit in Anspruch. Diese Etappe, die schrittweise Annäherung an das eigentliche Drehbuch durch ein Exposé – ein gängiges Verfahren – stellt sich für mich immer wieder als hilfreich heraus. Den Schritt der Skizze bzw. des Exposés als Vorarbeit zum Drehbuch habe ich nur einmal ausgelassen (bei der Entwicklung des Drehbuchs zu „Im Schatten“). Mit dem Ergebnis, dass ich das Drehbuch nach zwei Dritteln komplett neu beginnen musste. Mit einer völlig neuen Ausrichtung. Die Dinge möglichst lange in der Schwebe zu halten und nicht zu früh festzuschreiben, versuche ich sowohl beim Schreiben als auch in der


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Zeitschrift für Ballett, Tanz und Performance

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erzählerischen Form. Das ist eine schöne Illusion, die ab einem bestimmten Punkt implodiert. Dennoch arbeite ich mich immer wieder aufs Neue daran ab. Das Drehbuch ist zwar wichtig (und natürlich auch ein Tauschwert hinsichtlich der Finanzierung eines Films), aber keine Literatur, sondern eine Arbeitsgrundlage, die bei jedem weiteren Schritt korrigiert wird: bei der ersten gemeinsamen Lesung des Drehbuchs mit den Schauspielern, bei den Dreharbeiten, beim Schnitt. Bei allen diesen Schritten, die jeweils eine Kritik der vorangegangenen Arbeit sind, stellt sich die Frage nach dem Anfangen auf verschiedene Weise immer wieder neu. Bis der Film schließlich fertig ist – wobei François Truffaut mit seiner Bemerkung recht hat, dass man einen Film nicht zu Ende schneidet, sondern ihn irgendwann aufgibt. Was dann wiederum zu einem neuen Anfang führt. 11 … www.udk-berlin.de

Thomas Arslan ist Drehbuchautor, Filmemacher und Professor für narrativen Film sowie Geschäftsführender Direktor des Instituts für zeitbasierte Medien. Dieser Text ist entnommen aus: „Vom Anfangen“, Hg. Thomas Düllo und Susanne Lorenz, Verlag der UdK Berlin 2016. Erschienen in journal 2.

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Les Ballets de Monte Carlo, «Choré» Foto: Alice Blangero


ERRICO FRESIS UND FRANK HILBRICH ÜBER DIE OPER ALS ODYSSEE Sie inszenieren seit mehreren Jahren gemeinsam die großen Opernproduktionen im Sommersemester, als Regisseur und musikalischer Leiter. Wie fangen Sie an? Frank Hilbrich: Eigentlich mit einem Blick auf die Listen unserer Studierenden. Dieses Projekt dient ja nicht unserer eigenen künstlerischen Verwirklichung, sondern vor allem den Studierenden. Um eine Produktionserfahrung zu machen, und um möglichst viele Studienabschlüsse zu ermöglichen. Dann stellt sich für uns immer die Frage: Wen haben wir eigentlich? Und was passt zu diesen Leuten? Errico Fresis: Bühnencharakter und Stimme unserer Studierenden kennen wir ziemlich gut. Jetzt gehen wir jedoch nicht unbedingt den direkten Weg, sondern wir überlegen: Was kann man aus den Personen machen, was sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht sind? Was können wir aus diesen Personen herausholen? Es geht nicht darum, ein Ergebnis zu zeigen, sondern sie ein letztes Mal herauszufordern – fern von Bequemlichkeit.

existenziellen Angst, ob man es diesmal nicht doch zu weit getrieben hat. Hilbrich: Rein praktisch heißt das natürlich: Wenn die Stücke gefunden sind, muss man sie erst einmal studieren. Musiktheater-Arbeit ist immer auch Lesearbeit. Lesen, lesen, lesen, noch mal lesen, immer wieder lesen. Gleichzeitig suchen wir studentische Kooperationspartner im szenischen Bereich für Bühnenbild und Kostüm. Inwiefern sind die Studierenden am Entstehungsprozess beteiligt? Hilbrich: Sie fangen natürlich ähnlich an wie wir auch. Zum Teil sind sie noch ein bisschen überrascht davon, dass sie jetzt wirklich solistisch arbeiten sollen. Wenn es um die konkrete Ausformulierung geht, sind sie selbstverständlich komplett beteiligt – auf allen Ebenen. Als Darsteller, und als Sänger sowieso. Errico kann sich ja wünschen, wie sie es singen mögen – am Ende sind sie diejenigen, die es singen! (lacht) Wir geben gerne viele Impulse und Anregungen. Aber wenn das Ganze zum Leben kommen soll, müssen sie sich sehr aktiv nach vorne drängen und aktiv Gestalter werden. Fresis: Es ist uns lieber, wenn die Leute nicht genau das machen, was wir wollen, sondern sich inspirieren lassen von dem, was wir sehen, und daraus ihre eigene Darstellung entwickeln.

Was passiert, wenn Sie die Idee gefunden haben? Fresis: Dann beginnt eine sehr proletarische Art von Arbeit. Diese Phase ist sehr handwerklich, mit Schrauben und Maschinenöl – nicht unbedingt die feinsten Substanzen, aber es ist notwendig. Mit der Zeit sieht man ein Licht am Ende des Gangs. Das ist das Trügerische. Denn wenn man zum Licht gelangt, landet man, ich will nicht sagen, in der größten Depression, aber in der größten Verzweiflung. Weil gar nichts klappt. Man fragt sich: „All die Proben – wohin haben sie geführt? Was ist daraus geworden?“ Der Tiefpunkt ist sehr tief. Erst der absolute Schluss zeigt einem, dass man es doch zu Recht versucht hat. Dann hat man es mit lauter glücklichen Leuten zu tun, die einen umarmen oder einem die Hand drücken und überhaupt keine Ahnung haben von dieser tiefsten Verzweiflung, von dieser

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In welche Phasen lässt sich Ihre Arbeit unterteilen? Fresis: Ich erlebe sehr konkrete Phasen. Es beginnt mit dem Gefühl, in einer stark bevölkerten Stadt zu leben. Da ist das Opernrepertoire: Alles ist interessant, aber nichts passt. Es ist äußerst schwierig, für die konkreten Personen das richtige Stück zu finden. Danach kommt eine Phase der Euphorie: Wir haben das Stück! Und wir haben eine Besetzung! Und dann holt man sich eine blutige Nase, weil andere anders darüber denken. Die Nase blutet, aber man verblutet nicht daran. Die Idee findet man trotzdem. Erstaunlich ist, dass wir uns nach Monaten der eigenständigen Konzeption treffen und feststellen, dass wir Ideen auf genau dieselbe Weise umsetzen möchten. Wir haben einen sehr gemeinsamen Blick, ohne Absprache.

Was ist die Besonderheit bei der Arbeit mit Studierenden? Fresis: Die Arbeit mit Studierenden ist ganz anders als auf einer professionellen Theaterbühne. Die Kreativität wird anders kanalisiert. Und die Ansprüche sind anders, aber nicht im Sinne von niedriger oder höher. Es geht nicht allein darum, ein fertiges Konzept oder ein Stück umzusetzen, sondern darum, den jungen Leuten zu zeigen, wie man ein Stück umsetzen kann und dabei mehrere Möglichkeiten ausprobiert. Wir gehen viel mehr ins Unbekannte als wenn wir auf der beruflichen Bühne arbeiten. Hilbrich: Das Prozesshafte ist extrem wichtig. Wir vermitteln eine Arbeitsweise. Wenn es uns glückt, dass die Studierenden am Ende ihres Studiums Ideen haben, wie sie in diesem Beruf arbeiten können, und Vorstellungen entwickelt haben, eine Haltung dazu, wie sie sich zukünftig verhalten wollen als selber tätige eigenständige Künstler, dann ist viel erreicht. Wenn bei unserem Opernprojekt außerdem ein schönes Ergebnis herauskommt, ist das super. Fresis: Leider ist es draußen, im Beruf, oft so, dass die Stücke mit Zwang hingebogen werden, bis sie passen. Aber das ist nicht das,


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was wir hier betreiben wollen, sondern umgekehrt: Wir wollen einen Weg, eine Odyssee machen. Wann und wie entscheiden Sie, Ideen zu verwerfen? Hilbrich: Wenn etwas nicht funktioniert, muss man es verwerfen. Da gibt es keine bestimmten Zeitpunkte. Immer wieder muss man vermitteln, wie trügerisch eine erste Idee sein kann. Diesen Lernprozess müssen wir alle mit jeder Produktion wieder durchlaufen: Dass der erste Gedanke, die erste Euphorie, nicht genug Atem hat, um bis zum Ziel zu kommen. Dass man noch weiter denken muss. Das ist natürlich beim Findungsprozess für Bühne und Kostüme besonders gemein, weil die Ausstatter als erstes fertig werden müssen. Der Dirigent kann noch während der Aufführung ein anderes Tempo nehmen. Der Regisseur kann auch kurz vor der Generalprobe das Licht verändern oder eine ganze Szene rausschmeißen. Fresis: Odysseus wollte von dem Ort, wo er den Krieg geführt hat, nach Hause fahren. Und wie verlief sein Weg? Er hat nichts davon geplant. Jede Lösung, die er für die jeweilige Station gefunden hat, hat mit einem konkreten Problem zu einem bestimmten Zeitpunkt zu tun. Sie ist jetzt richtig, früher oder später mag sie falsch sein. Wenn ich in einer Produktion am Ende dort ankäme, wo ich es am Anfang erwartet hätte, dann wäre ich sehr enttäuscht. Das Ziel ist da, damit die Reise beginnt. Doch es verändert sich ständig. Nur so bleibt die Kunst lebendig. Der Rest ist Konservatorium. Konservieren.

dass wir ihnen eine gewisse Anzahl an Jahren und Erfahrungen voraus sind. Wenn man in der Endphase denkt, „Ich habe gar nichts anzubieten! Es ist alles leer!“, wissen wir: Nein, da ist ganz viel. Du hast zwei, drei Monate geprobt. Es ist ganz viel da. Du spürst es nur selbst nicht mehr. Du weißt gar nicht, dass du da eine Menge machst, was für die Zuschauen ein spannendes Erlebnis sein kann. 13 … www.udk-berlin.de

Gibt es den Moment „Jetzt bin ich reif für die Premiere“? Fresis: Ich kenne zwei solcher Situationen. Erstens: Ich kann nicht mehr proben. Es muss jetzt auf die Bühne. Man hat das Gefühl einer Reifung – „ich bin reif für die Premiere“. Und dann gibt es natürlich den Moment, wenn die Vorstellung zu Ende ist. Eigentlich bin ich erst dann reif für die Premiere. Danach. Während der Premiere weiß ich gar nichts. Man spürt nur eine Leere, die darauf abzielt, eine erhöhte Aufmerksamkeit für den Moment zu erzeugen. Hilbrich: Auf die Premiere arbeiten wir ja hin. Der ganze Prozess läuft darauf zu, sodass ich mich durchaus aufgeregt, aber auch sehr neugierig, nach diesem Moment sehne, in dem das, was wir machen, endlich in Kommunikation mit dem Zuschauerraum tritt. Darum macht man’s ja. Um einen Widerhall zu erreichen. Und natürlich ist man nicht immer mit allem ganz fertig, aber im Reinen kann man in der Regel schon sein. Unser Vorteil gegenüber den Studierenden ist,

Professor Errico Fresis ist Dekan und Leiter des Studiengangs Gesang/Musiktheater. Frank Hilbrich ist Professor für szenischen Unterricht. Das Gespräch führte Sarah Murrenhoff, freie Autorin, u. a. für den Tagesspiegel. Erschienen in journal 2.


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JOHN VON DÜFFEL ÜBER SCHREIBEN

Interessant ist die Frage, warum die Versuchung so groß ist. Die Anfälligkeit des Schreibens für Wundergeschichten und Martyrien hat nicht nur damit zu tun, dass alles Autobiographische mindestens so erfunden ist wie ein Roman. Es liegt auch daran, dass die Schreiberei eine nahezu ressourcenlose Kunst ist. Man braucht fast nichts. Früher hätte man gesagt, es reichen Stift und Papier. Heute reicht irgendein Laptop oder PC. Ansonsten sind, anders als für eine Theaterproduktion, einen Film, ein Gemälde, eine Plastik oder ein Konzert, weder materielle noch personelle Ressourcen nötig. Es gibt auch keine räumlichen oder zeitlich-organisatorischen Bedingungen, die notwendig wären. Dieses

„Wie schreiben Sie?“ – Wenn diese Frage gestellt wird, geht es meist um Einblicke in die geheime Schreibtisch-Zauberei: Wie kommt man auf seine Ideen? Einfälle? Formulierungen? Wie wird aus einer Zeitungsmeldung, einer Party-Anekdote oder einem Alltagsereignis eine Geschichte? Mit einem Wort: Wie funktioniert Phantasie?

14 … Standortkarte auf der letzten Seite

Über das Schreiben zu schreiben, sollte für einen Schriftsteller eigentlich kein Problem sein. Und wenn wie in meinem Fall die Lehre im Studiengang Szenisches Schreiben der UdK Berlin hinzukommt, müssten die Sätze eigentlich nur so sprudeln. Doch über das Schreiben wurde viel geschrieben, und das meiste davon hat mit Lehre wenig bis gar nichts zu tun, sondern eher mit Legendenbildung. Die vielen Mythen, Mystifizierungen und Selbststilisierungen sind meist genauso fiktional wie die Texte, deren Entstehung sie angeblich beschreiben. Wie aber übers Schreiben schreiben, ohne sich selbst zur Figur zu machen und die eigene Arbeit zu einer weiteren Geschichte?

vermeintliche Nichts, aus dem heraus beim Schreiben etwas entsteht, ist an sich schon ein Mythos. Die sprichwörtliche „Schöpfung aus dem Nichts“ scheint so etwas zu sein wie die alchemistische Kernformel von Kreativität – und das Schreiben dementsprechend der Ausfluss dieser Kreativ-Alchemie: Erleuchtung und Besessenheit, Genie und Schwarzkunst, göttliche und teuflische Inspiration.

Im Reden darüber bewegt man sich immer an der Schwelle zwischen rationalem und magischem Denken, zwischen Werkstattbericht und Aberglaube, Hand- und Hexenwerk. Ein gewisser Okkultismus gehört dazu, bis hinein in die Schreibrituale des Alltags. Irgendwann werden die Spleens und Schreibzutaten zu persönlichen Markenzeichen wie Schillers Äpfel in der Schreibtischschublade, an denen er zwischenzeitlich immer wieder roch und „eine Nase nahm“. Wer dem Okkultismus des Schreibens abschwört und seine Arbeit so nüchtern wie möglich darzustellen versucht, der enttäuscht. Denn der Mythos des Schreibens wird nicht nur von den Autorinnen und Autoren selber genährt, sondern auch vom Publikum erwartet. Tief verwurzelt ist die Sehnsucht danach, dass es unter allen Mühen dieser


als sein Autor. Doch so sehr es stimmt, dass die Kunstproduktion den Bereich des Planbaren überschreitet, so falsch wäre es zu glauben, man könne sich umgekehrt hinsetzen und auf Eingebungen warten. Zwar müssen einem die Ideen keineswegs am Schreibtisch kommen, doch ihnen geht immer eine Fragestellung voraus – bewusst oder unbewusst. Diese Arbeit des Fragens, Suchens und Versuchens ist eine Bedingung für die Idee, keine hinreichende, aber eine notwendige.

Wahr daran ist, selbst in der trockensten akademischen Betrachtungsweise, dass dem Schreiben wie allen anderen künstlerischen Prozessen ein Moment von Unverfügbarkeit zu eigen ist. Auch bei größtem Aufwand an Zeit, Konzentration und Disziplin gibt es für diese Art der Arbeit keine Erfolgs- oder Ergebnisgarantie. Anders ausgedrückt: Selbst wenn man alles Menschenmögliche, alles in seiner Macht Stehende tut, ist nicht gesagt, dass es zu einem Werk führt. Etwas muss hinzukommen, sich einstellen, entstehen, das sich unserer Kontrolle und Könnerschaft entzieht. Künstlerische Arbeit findet immer an der Grenze des Machbaren statt, und sie gelingt nur, wenn sie diese Grenze auch überschreitet. Dieses Gelingen aber steht uns nicht zu Gebote. Um es mit einem Bild zu sagen: Man kann sich künstlerisch auf die Reise begeben, aber das letzte Stück Weg muss einem geschenkt werden. Kreativität – könnte man sagen – ist die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu überraschen. In diesem Moment und Momentum des Unvorhergesehenen besteht die Lücke, die der Teufel ließ: das Faszinosum des Magischen, Metaphysischen, durch das ein Text größer wird

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Welt eine Arbeit geben möge, die schriftstellerische, die nicht wirklich Arbeit ist, die sich nicht einmal wie Arbeit anfühlt, sondern wie höhere Gewalt: Eingebungen, ekstatische Zustände und Eruptionen, in denen „es“ schreibt und nicht „ich“. An diese Magie wollen alle glauben, Schreibende wie Lesende. Sie ist – weit mehr als das Rationale – Teil des Kultischen in der „Kultur“.

Insofern beginnt die Arbeit des Schreibens nicht mit dem Einfall, sondern mit der Frage davor. Ich persönlich halte es dabei mit dem Satz: „Not macht erfinderisch“ und suche die Not oder Notwendigkeit, die mich beim Schreiben hoffentlich erfinderisch macht. Es geht darum – und das ist die eigentliche Kunst –, sich die richtigen Aufgaben zu stellen. Jedesmal, wenn ich mir das selber wieder klar mache, muss ich an einen Kommilitonen aus Studientagen denken, dessen erster Roman damit beginnen sollte, dass ein Kind auf einer blühenden Wiese mit einem Ball spielt. Leider kam er über die Beschreibung dieser Wiese nicht hinaus. Damals konnte ich ihm nicht weiterhelfen. Heute würde ich ihm sagen: Du stellst dir die falsche Aufgabe. Wenn du nach Wochen keine Lösung hast für ein Problem, verändere das Problem, und zwar so, dass es dich produktiv macht und du deine Möglichkeiten entfalten kannst. Und wenn du einen sehr guten Tag hast, dann bringe dich in eine Not, die dich über dich hinauswachsen lässt. John von Düffel ist Autor, Dramaturg am Deutschen Theater in Berlin und Professor für Szenisches Schreiben. Erschienen in journal 2.


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INGEBORG HARMS DAS VERGESSEN VERGESSEN Kein Zweig der Kultur hat so hemmungslos das Vergessen zelebriert wie die Mode. Wenn sie einen Trend ausmusterte, ließ man die Lieblingsstücke von gestern eilig in der Versenkung verschwinden. Von dieser Lizenz für das Neue ist nur noch wenig zu spüren. Auf den Laufstegen geht es zu wie im Karneval. Statt Avantgarde und neuer Linie herrscht dort seit 20 Jahren das quirlige Durcheinander eines Theaterfundus. Hauptgrund dafür ist die digitale Revolution, die das Vergangene in gigantischen Archiven hortet und für alle Welt griffbereit hält. Modisch hat dieser faktische Historismus einen Erdrutsch

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verursacht. Namhafte Marken wie Prada, Helmut Lang oder Adidas führen auf Wunsch ihrer Kunden „Icons”, „Originals” und „Re-editions” getaufte Klassikerlinien ein oder bringen, wie Kenzo und Versace, ganze „Memento”-Kollektionen mit Kopien früherer Jahre auf den Laufsteg. Zunächst hatte die Mode den Internet-Gründerjahren durch entfesselte Nostalgiephantasmen zu entprechen versucht. Wie das Netz bot sie alle Epochen zugleich an, bis sie über dem Retro-Potpourri jede Kontur verlor. Der geordnete Rückzug auf prädigitale Stilpositionen, den man zur Zeit beobachten kann, ist eine Konsequenz der Informationsbulimie, die aus dem hemmungslosen Mix der Stile und Epochen resultierte. Nichts wurde von der Mode in den letzten Jahrzehnten so vernachlässigt wie ihre Trendkompetenz. Um die Jahrtausendwende war das ästhetisch Neue die geringste Sorge der Marken. Statt in hochsensible


Appropriation-Künstler, Fashion-Hacker und Recycler aus dem Boden. Sie dachten nicht daran, ihre Monatsgehälter in Luxusmode zu investieren, und aktivierten stattdessen die Cut & Paste-Funktion, um sich aus Netzarchiven, Blogger-Favoriten und Modekampagnen ihre Do-it-Yourself-Versionen zu basteln. Die Indie-Fashion plünderte Vintageläden und Stoffrestehalden, nähte großmütterliche Rüschen an die Jeans der Tante und bestickte die Elvis-Lederjacke des Papas mit Cartoons aus dem Kinderzimmer der kleinen Schwester.

Designgenies zu investieren, setzte sie auf Marketing-Strategien und die Goldminen des Globalismus. Legendäre Häuser wurden aufgekauft, die Eigner freundlich hinauskomplimentiert und die Produktion vervielfacht. Kein CEO, der auf sich hielt, wollte die Goldgräberzeit verpassen, die den klingenden Namen von Mailand und Paris eine unerschöpfliche neue Kundschaft in Asien und der ehemaligen Sowjetunion zuführte. Dort wütete ein Heißhunger auf den verpassten Luxus des letzten Jahrhunderts. Doch weil die Preise sich nicht zuletzt im Zuge der Euro-Einführung salopp verdoppelt hatten, verlagerte man das Hauptaugenmerk von der Laufstegmode aufs Accessoiregeschäft. Für die Portemonnaies der asiatischen Konsumentenkreise, die sich ins Luxuriöse erst hineintasten mussten, brachte man dekorativ beladene It-Bags und Schuhe auf den Markt, die auf ungeübte Augen elegant wirkten. Dank des prangenden Markenlogos wurde die Nippesschlacht ökonomisch zum Megaerfolg.

Teils zeitgleich, teils in Reaktion auf den DIY-Furor machte Normcore von sich reden, ein Trend, der jedes Anzeichen von Konsumfreudigkeit demonstrativ vermied. Die entsprechende Bevorzugung von schlichter Freizeitkleidung in gedeckten Farben war nach den stilistischen Exzessen der Nullerjahre ein deutliches Zeichen für die Sehnsucht nach Normalität. Das heutige Straßenbild bezeugt den sensationellen Erfolg dieses Trends. Es sieht so aus, als habe sich Mode im Sinne einer Kollektivneurose fürs erste aus der Öffentlichkeit verabschiedet.

Mit der Neuausrichtung der Mode auf den lukrativen Globalismus zog Misstrauen in die traditionellen Käuferkreise ein. Die Stammkundschaft, die auf den Kick saisonaler Kollektionen gespannt war, stellte ernüchtert fest, dass sie nicht länger zum Kreis der Zielpersonen zählte. Nicht nur der Abschied der Mode von der Kategorie des Neuen war ein schwerer Schlag, auch die Schnitte der heißgelaufenen Nostalgiemaschinerie orientierten sich nicht mehr an westlichen Körpern. Designerkollektionen mutierten zur Bühnengarderobe für sensationelle Runway-Shows, deren Echo den Absatz von Düften und Taschen sichern sollte. Dieser Strategie war es gerade recht, wenn die Mode untragbar, bizarr und absurd war. Je mehr „Talking pieces”, desto besser. Das weiterhin vorhandene Bedürfnis nach Kleidung, die ihre Träger im Beruf und im Privatleben attraktiv machte und souverän erscheinen ließ, stieß bei einer Modeindustrie, die vollauf mit ihrer Expansion beschäftigt war, auf weitgehende Gleichgültigkeit.

Die Modeindustrie musste eine Entscheidung treffen: Sollte sie sich weiter auf die kopfstarken Konsumenten aus dem Orient konzentrieren oder lieber auf den anschwellenden Unmut der Umweltaktivisten und Menschenrechtler hören, die der Mode Nachhaltigkeit und Transparenz nahelegten? Ehe es sich die Marken versahen, sprossen

In seiner ersten Kollektion bediente er sich extensiv bei der Modernität 20 Jahre alter Helmut Lang-Entwürfe. Auch Luke Meier bekennt sich zum minimalistischen Erbe Jil Sanders. Es sieht so aus, als würde die Fusion großer Modenamen mit den Gurus der Streetwear-Kultur ein Wurmloch ergeben, aus dem die Zukunftsvisionen der 1990er Jahre heil hervortauchen. Der Orkan im Archiv hat sich gelegt. Und was in der Stille zurückbleibt, ist die Avantgarde der Mode, ihr Stand, bevor Globalisierung und Internet sie von ihrem Weg abbrachten. 17 … www.udk-berlin.de

An diesem kritischen Punkt ihres Versagens wurde die Mode mit ganz neuen Herausforderungen konfrontiert. Zum einen verbarrikadierte sich die kultivierte Kundschaft hinter exklusiven Marken wie Loro Piana und Hermès, die den Prinzipien von Qualität und Seriosität die Treue hielten. Und da Eliten nach Georg Simmels Dripping-down-Theorie verlässlicher Zukunftsindex für die Wirtschaft sind, löste ihre Abkehr von den vormals trendbestimmenden Designhäusern ein hastiges Zurückrudern aus. Als weiterer Zukunftsindex der Mode gilt die Jugend. Und die machte den Industriekapitänen mit einem völlig neuen Werteregister zu schaffen. Sie agierte nicht nur unter dem Einfluss von Naomi Kleins Kultbuch „No Logo!”, das die unfeinen Produktionsund Marketing-Praktiken großer Marken auseinandernahm, auch Global Warming und die Börsenkrise von 2008 machte in nachwachsenden Generationen eine konsumaverse Haltung attraktiv.

Und doch gibt es eine neue Form modischer Avantgarde. Sie beruht auf der richtigen Haltung oder „attitude” und wird von jungen Marken mit Street Credibility produziert, die keinen Wert auf exklusive Materialien, komplexe modehistorische Referenzen oder Couture-Elemente legen. Stattdessen verstehen sie sich auf Ironie und eine Form von Subversion, die legendäre Modehäuser „ehrt”, indem sie ihre Insignien appropriert. Das New Yorker Supreme-Label rühmt sich seines Skater-Ursprungs, die in Mailand situierte Marke Off-white ist durch ihren schwarzen Designer Virgil Abloh auratisiert, der als Art Director für den Rapper-Star Kanye West begonnen hat. Für beider Mode, die sich nur durch Details von der Normcore-Klaviatur unterscheidet, wird ein stolzer Preis gezahlt. Das brachte die Traditionshäuser auf die Idee, an der neuen Wertpyramide zu partizipieren. Sie warben die Lichtgestalten der Streetwear einfach ab. Supreme-Designer Luke Meier steht heute mit seiner Frau Lucie an der Spitze von Jil Sander, Virgil Abloh feierte diesen Sommer als Designer der Herrenmode bei Louis Vuitton Premiere.

Ingeborg Harms ist Professorin für Designtheorie am Institut für experimentelles Bekleidungs- und Textildesign. Erschienen in journal 3. Meisterschülerpreis 2018: Nils Benedikt Fischer, „Garten“, 2014. „Der in Paraffin konservierte Garten meiner Kindheit, dessen vierundsechszig Bestandteile von einem Uhrenmotor für Augenblicke sichtbar gemacht werden.“


Abendlied Das Tagewerk ist abgetan, Gib, Vater, deinen Segen! Nun dürfen wir der Ruhe nahn; Wir taten nach Vermögen. Die holde Nacht umhüllt die Welt, Und Stille herrscht in Dorf und Feld.

alternativer Wirklichkeiten zu tun hatten, sodass junge Künstlerinnen und Künstler wie Felix Mendelssohn-Bartholdy von vornherein eine „virtual reality“ vorfanden, mit der sie zu arbeiten hatten. Mendelssohns frühe Liederzyklen Op. 8 und Op. 9 (1827–1830) gelten gemeinhin als eher unauffällige Gelegenheitskompositionen. Ungereimtheiten in der Komposition lassen jedoch Hintergründe erahnen, die weit über das Private des Mendelssohn‘schen Gartenhauses in der Leipziger Straße hinausgehen und viel über die Berliner Kulturpolitik in den Jahren nach der Universitätsgründung verraten.

Wenn du getreu vollendet hast, Wozu dich Gott bestellte, Behaglich fühlst du dann die Rast Vom Tun in Hitz und Kälte. Am Himmel glänzt der Abendstern Und zeigt noch beß‘re Rast von fern.

Geheimbotschaften Das kurze, choralhafte Abendlied Op. 8, 9 ist so ein Hybrid: Unter dem Pseudonym „Voss“ des Textdichters verbirgt sich Johann Gustav Droysen, der zwischen 1827 und 1830 Hauslehrer bei Mendelssohn war. Die Freundschaft zwischen den beiden fast gleichaltrigen jungen Männern war offenbar schwärmerisch-dioskurenhaft und von Geheimcodes geprägt. Es ist nicht auszuschließen, dass sie sich das Pseudonym teilten. Auch die Anspielung auf den berühmten Homer-Übersetzer Johann Heinrich Voß ist Programm. Mit diesem Brückenschlag zum antiken Heldenepos ist es aber nicht getan: Vor allem Mendelssohns Vertonung baut eine noch wesentlich detailliertere Gedächtnis-Kulisse auf. Wie improvisiert scheinen die tonal vollkommen unpassende Kadenz nach F bei „Vermögen“ und die ruckartigen Modulationen nach as und g bei „Nacht“ und „Welt“ zu sein, sie sind es aber nicht. Zieht man die auf diese Weise harmonisch eingefärbten Töne es – f– es – as – g – f – es zu einer melodischen Kontur zusammen, ergibt sich die Anfangszeile des auch damals schon berühmtesten deutschen Abendlieds, nämlich Matthias Claudius‘ und Johann Abraham Peter Schulz‘ „Der Mond ist aufgegangen“. Die bekannte Melodie steuert wie ein geheimer Cantus firmus das musikalische Geschehen und gibt dem Lied einen überpersönlichen Gedächtnishorizont.

ARIANE JESSULAT NICHT-ORT. ÜBER MUSIKALISCHES ERINNERN Unter virtueller Architektur versteht man heute innovative Techniken des computergestützten Entwerfens sowie die Entwicklungen von digitalen Realitäten. Man denkt vermutlich weniger an BiedermeierMusik oder an das Berlin der Schinkel-Zeit. Dabei lassen sich Zusammenhänge nicht nur oberflächlich herstellen: Gerade die Konzepte des Entwerfens, die konstruktiven Elemente des Erfindens weisen erstaunliche Parallelen auf.

In der Musik der Neuzeit haben sich diese Strategien erhalten: Anstelle der virtuellen Gebäude treten bekannte, „gut geschnittene“ Musikstücke, die memoriert werden und als latente Struktur der Fantasie des neuen Stückes Spannung geben, eine Art Gegenentwurf zu den traditionellen Kompositionsregeln. Aus dem Überblenden der älteren, memorierten Stücke mit dem neuen Entwurf entsteht auch in der Musik eine virtuelle Zeit-Architektur, in der Nähe und Ferne, Beschleunigungen, und räumliche Konsonanzen und Dissonanzen durchlebt werden können. Die Schinkel-Zeit mit ihren historisierenden Projektionen – in die auch die Gründungszeit der Berliner Singakademie, eine der Vorgängerinstitutionen der UdK Berlin, fällt – war reich an verschiedensten Konzepten von Gedächtnis-Architektur, die viel weniger mit dem schlichten Fakt des Erinnerns als mit dem Entwerfen

18 … Standortkarte auf der letzten Seite

Virtuelle Architektur ist das Medium der seit der Antike bekannten Ars Memoriae, der Technik, das Gedächtnis professionell zu trainieren: Durch die innere Vorstellung bekannter, gut geschnittener Gebäude können Fakten, Gegenstände, Geschichten strukturiert und plastisch in diesen imaginierten Gebäuden aufbewahrt werden.

Kulturpolitische Erinnerung Homer, Voß, Claudius, Schulz, das berühmteste Lied der Berliner Liedertafel – man fragt sich, welche Haltung hinter diesem kulturellen Feuerwerk steht, ob es vielleicht nur der Versuch ist, angesichts eines überwältigenden Erbes eine persönliche Spur zu setzen. Mendelssohn und Droysen scheinen allerdings die Leitlinien der Interpretation ebenso zu steuern wie die Komposition selbst: Es ist Droysens geschichtswissenschaftliches Konzept des Historismus, das noch in die aktuelle musikwissenschaftliche Forschung hineinwirkt. Mit „Der Mond ist aufgegangen“ wird nicht irgendein Lied zitiert, sondern das Paradigma des Volkstons, das mit dem „Schein des Bekannten“ erfolgreich die Rolle eines „echten“ Volkslieds eingenommen hat. Schließlich ist es Mendelssohns Musik, die immer wieder als Beispiel für den musikalischen Historismus herhält und die auch 1825 zur Grundsteinlegung des Konzerthauses der Berliner Singakademie gespielt wurde. Vergegenwärtigt man sich allein die historischen Spielorte, nämlich das Haus der Mendelssohns mit Garten in der Leipziger Straße, das neue Haus der Singakademie am Festungsgraben, das neue Schauspielhaus am Gendarmenmarkt und schließlich die ebenfalls noch


neue Berliner Universität Unter den Linden und die Dreifaltigkeitskirche in der Nähe der heutigen Taubenstraße mit Friedrich Schleiermacher als protestantisch-hermeneutischem Übervater, dann wirkt allein diese Stadtmitte um 1827 aus heutiger Sicht wie eine Theaterbühne.

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Für Mendelssohn und Droysen, die diese Erinnerungsorte äußerst aktiv bespielten, war es künstlerische, gesellschaftliche und politische Realität und dabei nicht annähernd so verspielt, wie es die ebenso wahrhaftige wie inszenierte Freundschaft oder die hübsche Oberfläche des „Abendliedes“ glauben lassen. Treibende Kraft hinter kulturpolitischen Großprojekten wie der Wiederaufführung der Matthäus-passion war Mendelssohn, und er verstand dies als seine Arbeit wie auch Droysen seine Arbeit als Altphilologe und Historiker keinesfalls als rein pädagogisch, sondern vor allem politisch verstand. Dass beider Mission nur bis zu einem gewissen Grade erfolgreich sein würde – Droysen scheiterte in der Realpolitik des 1848er Parlaments wie auch Mendelssohn als „Verwirklicher“ der kirchenmusikalischen Visionen von Friedrich Wilhelm IV. eher Handlangerdienste zu tun hatte – war 1827 nicht vorherzusehen. Anschluss an die Meilensteine einer wiederbeschworenen Kultur in Berlins Mitte hieß auch diejenigen Standards zu setzen, an denen beide gemessen werden wollten.

Möglicherweise steht diese Polyphonie musikalischer Zeit für das, was Mendelssohn und Droysen tatsächlich mit ihren Projektionen ausblenden wollten: Eine Beschleunigung von Zeitverläufen – seien sie politisch, theologisch oder industriell – die sie nicht kontrollieren konnten. Dass Projektion als künstlerische Vision Orte und Zeiten und diejenigen, die sie besuchen, in Bewegung setzt, kann als Zeichen kultureller Heimatlosigkeit und Identitätssuche im Preußen des frühen 19. Jahrhunderts gelesen werden, zeigt aber ebenso, dass der moderne „Nicht-Ort“ in Mendelssohns Horizont angelegt und dass seine Vision des Biedermeier keineswegs behaglich war. Dr. Ariane Jeßulat ist Professorin für Musiktheorie am Institut für Musikwissenschaft, Musiktheorie, Komposition und Musikübertragung. Erschienen in journal 3.

19 … www.udk-berlin.de

Erinnern als Projektion Dem „Abendlied“ tun die erinnerten Vorbilder zunächst nicht gut. Auf die im Text beschworene Stille reagiert die Musik mit dem Informationsüberfluss einer lärmigen Hauptverkehrsstraße. Können die historischen Bezüge der Musik überhaupt etwas geben, das nicht als Sekundäres abfällt? Droysens Gedicht weist eine kleine Unregelmäßigkeit auf: Fährt die erste Strophe ohne jede Wiederholung ein ganzes Panoptikum romantischer Andachtsbilder auf, wiederholt sich in der zweiten Strophe das Wort „Rast“ – und gerade dieses zweite „Rast“ am Ende des Liedes ist es auch, in dem die Gesangsmelodie und der erinnerte Cantus firmus zusammenfallen. Nach einem immens beschleunigten Zoom finden sich Erinnerung und Lied in einem beruhigenden Jetzt-Punkt, der mit dem Wort „Rast“ gerade nicht dem protestantischen Arbeitsethos entspricht.

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Als der französische Architekt Philibert de l‘Orme im Jahre 1567 sein Buch „Le Premier Tome de l‘Architecture“ verfasste, schwebte ihm Großes vor: der sich herausbildenden Architektenzunft neuartige geometrische Konstruktionsmethoden zu vermitteln und so über vornehmlich technische Methoden die räumlichen und baukünstlerischen Ideale der Renaissance weiterzuentwickeln. Mithilfe von Zirkel, Schmiege, Richtscheit und Lot sollte der kunstvolle Steinschnitt handwerkliche Übersetzung erfahren. Avancierte Zeichnungssysteme in Verbindung mit einer elaborierten Bautechnik sollten so das Repertoire bestehender Arbeitsweisen bereichern. Geometrische Operationen der Projektion von Punkten, Geraden und Kreisbögen, die bis dato weitestgehend der perspektivischen bildgebenden Darstellung von Architektur vorbehalten waren, wurden nun als form- und raumgebendes Instrument angewendet. Dem so gebildeten Architekten und Baumeister sollten sich neuartige entwerferische und baukon­ struktive Wirkungsbereiche erschließen.

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Diese neuen Geometriesysteme konnten bei der architektonischen Übersetzung von geistigen und künstlerischen Ideen hilfreich sein, sollten diese aber nicht ersetzen. De l‘Orme formuliert diesen utilitaristischen Gebrauch der Wissenschaften für seine hedonistisch-künstlerische Sichtweise so: “Ich gestehe freimütig ein, dass das Studium und die Forschung der Physik und Geometrie für mich nur dann von Belang waren, insofern es für das Wissen und die Ursachen eines guten und angenehmen Lebens, der Gesundheit … und der künstlerischen Arbeit relevant war.“

NORBERT PALZ DIE GEGENWÄRTIGKEIT DER GESCHICHTE – ODER DER GUTE ARCHITEKT

20 … Standortkarte auf der letzten Seite

De l‘Ormes Zugriff, Naturwissenschaften in ein weit gespanntes Projekt künstlerischer Erkenntnis und künstlerischen Schaffens einzubinden, hat bis heute Gültigkeit – und spiegelt sich in den immer verhandelten Beziehungen zwischen Künsten und Wissenschaften. Diese Diskurse vergegenwärtigen uns auch immer wieder den historischen Architekten in seiner Suche nach Erkenntnis und künstlerischer Freiheit. Diese Geisteshaltung erklärt auch die ungewöhnliche Darstellung des „guten Architekten“ auf einer der letzten Buchseiten des „Premier Tome“, des ersten Bands seines Werkes. Dort sehen wir den Architekten mit einem Schüler während einer Unterweisung. Seine Kleidung ist die eines humanistischen Gelehrten, seine Kopfbedeckung, ein ­Birett, ist Attribut eines religiösen Würdenträgers. Beides ist bis heute in der Figur des Architekten vereint: ein Gelehrter und ein sozio-­politisches Wesen. Auf dem Bild sehen wir eine architektonische Montage: Im Hintergrund eine antike Ruine, davor ein Kirchenbau und im Vordergrund ein Palast des 16. Jahrhunderts, der auf die Gegenwart De l‘Ormes verweist. Links wuchert die Natur mit hohen Bäumen und üppigen


Weinreben; ein Füllhorn und ein kleines Bächlein vervollständigen das bacchantische Idyll.

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Dem genauen Betrachter entgehen nicht die außergewöhnlichen Details: Der Architekt hat ein drittes Auge, vier Hände und geflügelte Füße. Wir könnten nun der Lesung des Historikers Hanno-Walter Kruft folgen und diese eigentümliche physiologisch-anatomische Ausstattung als ikonographischen Verweis auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lesen oder sie auch einfach wörtlich nehmen, als erweitertes menschliches Sensorium zur Erfassung der Welt. Es ist wohl nicht vermessen anzunehmen, dass Philibert de l‘Orme seinen im Buch vermittelten Methoden und Erkenntnissen die Fähigkeit zuschrieb, den Lesern diesen erweiterten menschlichen Erfahrungsraum aufzuschließen, um ihn dann einer zukünftigen Baukunst anheim geben zu können. De l‘Ormes Bildaussage im heutigen Sinne zu paraphrasieren, hieße den technologischen Wandel als gestalterisches Instrument der erweiterten persönlichen Erkenntnis der Welt über die Zeiten hinweg zu begreifen. In einer eigentümlichen Parallelität zu de l‘Ormes Bild des Architekten lassen sich für uns auf verschiedenen Ebenen Beziehungen zu zeitgenössischen künstlerischen Positionen knüpfen, die damit einem rein epochalen Geschichtsverständnis entgegenstehen. So sehen wir eine fast wörtliche, mechanische Übersetzung von de l‘Ormes Zeichnung in „Third Hand“ (1980), einer Arbeit des australischen Medienkünstlers STELARC. Die von de l‘Orme gezeichnete Dopplung der Hände wird von STELARC als expandierte motorisch-taktile Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine imaginiert. STELARC begreift hier die Prothese nicht als Kompensation eines körperlichen Defizits, sondern als „Symptom des Exzesses“, befeuert durch Technologie.

Die Beziehung von Erkenntnis und gestalterischer Arbeit gestaltet sich gegenwärtig kompliziert. Der technologische Wandel führt dazu, dass in immer schnellerem Tempo Mensch und Technologie sich vernetzen und zu gleichberechtigten Akteuren werden. Der menschlichen steht nun im Alltag eine künstliche Intelligenz zur Seite, die uns zunehmend Unbehagen einflößt. Auch schreitet die positivistische Vermessung unseres Lebens und unserer Beziehungen voran, initiiert von uns selbst oder von anderen menschlichen oder nichtmenschlichen Akteuren. Eine dystopische Liste solcher technologisch bedingter Veränderungen ließe sich beliebig erweitern und würde uns wohl bald in Hoffnungslosigkeit zurücklassen.

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De l‘Ormes Stich fasst in bildlicher Form die immer noch geltenden Verheißungen wissenschaftlicher Erkenntnis für künstlerisches und gestalterischen Wirken zusammen. Es sind die Schaffung neuer Ausdrucksmöglichkeiten in Form, Raum, Komposition und Material, die Vermittlung von Bildung über Generationen hinweg und eine Hilfe bei der Suche nach einer sinnvollen Beziehung von Mensch und Umwelt.

Der Blick in die Vergangenheit kann uns helfen, eine andere zukunftsgerichtete Sichtweise einzunehmen und öffnet eine Perspektive, die optimistischer, entspannter und aufgeschlossener das Neue betrachtet. So liefert ein Blick in die Historie schnell die grundlegende Erkenntnis des technologischen und wissenschaftlichen Wandels als immer wiederkehrendes zeitliches und kulturelles Phänomen. Er zeigt aber auch vielfältige Möglichkeiten der Interaktion mit der Welt, die immer wieder neue Formen künstlerischen Schaffens hervorbringt. De l‘Ormes Sichtweise eines lustvollen Verhältnisses zwischen Wissenschaften, Technologie und den Künsten bleibt heute und auch in Zukunft relevant. Norbert Palz ist Professor für digitales und experimentelles Entwerfen und Präsident der UdK Berlin. Erschienen in journal 3.


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Kurz nach der vorletzten Jahrhundertwende, 1902, wurde ein Neubaukomplex für die beiden künstlerischen Hochschulen, die es damals gab, die Königliche akademische Hochschule für die bildenden Künste und diejenige für Musik in Charlottenburg fertiggestellt und eingeweiht. Beginnend mit einem Architekten-Wettbewerb, waren die Gebäude seit 1896 geplant worden. Im Zuge der Realisierung wurde der Standort von der heutigen Jebensstraße an die Fasanenstraße, Ecke Hardenbergstraße, verlegt. Die Hochschulen bekamen innerhalb der gesamten Anlage ein eigenes Gesicht – das der Hochschule für Musik war vor allem der Konzertsaal. Die Architekten Kayser & von Großheim stellten der neobarocken Fassade der Kunsthochschule einen Kuppelbau im Stil der Neorenaissance für die Musikhochschule zur Seite. Aufgrund von Bombenschäden im Zweiten Weltkrieg wurde der Saal abgerissen und machte einem Neubau Platz: dem von Paul Baumgarten entworfenen, 1954 eingeweihten modernen Konzertsaal – er ist heute seinerseits alt geworden, musste renoviert werden und steht unter Denkmalschutz.

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Wenn man sich in die Vergangenheit versetzt und das Fotos mit einer Gesamtansicht genau studiert, erkennt man im Vergleich mit der heutigen baulichen Situation die Bruchstellen, die in der Gegenwart auf das Früher verweisen. Der neue Konzertsaal reißt die beiden Unterrichtsgebäude der Hochschule in gewisser Weise auseinander; den ehemals homogenen Gebäudekomplex mit seinen historistischen Stil-Zitaten gibt es nicht mehr. Man erkennt die Lücken und Ungleichmäßigkeiten in der einst symmetrischen Anlage: Der Prometheus-Brunnen im Westen hatte früher ein Pendant an der östlichen Seite; dort stand ein Orpheus-Brunnen, dessen Reste vor einigen Jahren in einem Park im Wedding entdeckt wurden – offenbar abtransportiert mit Kriegsschutt. Und der neue Saal steht auf dem Fundament des alten, ragt aber ein wenig über dieses hinaus.

DIETMAR SCHENK DER KONZERTSAAL VOR DEM KONZERTSAAL Es ist schwer, eine Vergangenheit im gemeinschaftlichen Gedächtnis festzuhalten, zu der es in der Gegenwart nicht wenigstens einen Ort oder einen Namen gibt, an den sich die Erinnerung heften kann. Eine wichtige sichtbare Spur im öffentlichen Raum ist stets ein altes Gebäude – wie schlecht oder gut auch immer es erhalten ist.

Nun kann man viel erzählen, was sich im alten Konzertsaal im Laufe der Jahrzehnte ereignete: dass 1913 ein von Adolf von Hildebrand geschaffenes Denkmal zu Ehren des 1907 verstorbenen

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In der Fasanenstraße 1B in Charlottenburg nutzt die Fakultät Musik der UdK Berlin einen noch aus der Kaiserzeit stammenden Zweckbau. Dass dort die Berliner Hochschule für Musik ansässig war, steht oberhalb des Portals noch zu lesen. Doch schaut man in der Regel nicht so hoch, wenn man das Gebäude betritt. In der Kontinuität einer Raumnutzung, die mehr als ein Jahrhundert umgreift, wird dort weiterhin musiziert, unterrichtet und gelernt. Manches hat sich geändert: Wo früher die Sammlung älterer Musikinstrumente, das heutige Musikinstrumenten-Museum Berlin, und dann die Orchesterschule untergebracht waren, befindet sich heute der Kammermusiksaal; im Eingangsbereich steht an Stelle einer Statue von Johann Sebastian Bach die Bronzeskulptur des Hochschulgründers Joseph Joachim, die Bibliothek ist ausgezogen – ansonsten ist aber vieles geblieben, wie es war. Das „alte“ Unterrichtsgebäude ist noch da, nicht aber der ‚alte‘ Konzertsaal. Von ihm gibt es nur Abbildungen, die Verwirrung stiften können: Das Gebäude, das da zu sehen ist, lässt sich im heutigen Berlin nicht identifizieren; wer sich auskennt, fragt sich aber, wo es stehen könnte. Wenn – wie in diesem Artikel – ein Foto abgebildet wird, muss die dick gedruckte Erläuterung hinzugefügt werden, dass es sich um einen Saal handelt, der nicht mehr existiert.


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1902

Hochschulgründers Joseph Joachim im Foyer aufgestellt wurde, gestiftet unter starker Beteiligung des Bankhauses Mendelssohn, und dass es die Nationalsozialisten dann klammheimlich abbauten; dass dort 1928 eine Rundfunkversuchsstelle eröffnet wurde; dass Siegfried Ochs in den 1920er Jahren den zum Hochschulchor verwandelten Philharmonischen Chor leitete und dass 1931 Franz Schreker Schönbergs Gurre-Lieder dirigierte; dass dort jährlich Konzerte „auf Anordnung des Herrn Ministers“ stattfanden, die von zahlreichen Mitgliedern des preußischen Abgeordnetenhauses und höheren Beamten aus den Ministerien besucht wurden. Der „Herr Minister“ leitete in der Kaiserzeit das Preußische Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, in der Zeit der Weimarer Republik das Preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung – die der Hochschule vorgesetzte Behörde. Außerdem besteht die Möglichkeit, im Universitätsarchiv noch vieles Weitere zu erfahren, was über die Highlights hinausgeht. Die Konzertprogramme können so gut wie vollständig durchgesehen werden, und man kann inspizieren, auf welcher Art von Papier sie gedruckt waren. Das Gebäude wurde, wie die geschäftlichen Unterlagen

nachweisen, vielfältig genutzt. Die schriftlichen Dokumente haben – ein glücklicher Zufall – den Zweiten Weltkrieg überstanden.

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Der „alte“ Konzertsaal ist ein Wahrzeichen, das es nicht mehr gibt, aber es existiert auch die ‚alte‘ Hochschule für Musik nicht mehr, für die es steht. Es ist Neues an ihre Stelle getreten. Vor einem Vierteljahrhundert wurden die Akten dieser Hochschule – mehr als 5.000 an der Zahl – aus der „Registratur“ im Unterrichtsgebäude in die Obhut des Archivs genommen und verzeichnet. Die ‚alte‘ Zeit war Geschichte geworden. Da war es eine bemerkenswerte Erfahrung, dass im Gespräch mit nordamerikanischen Gästen, eingebettet in die englische Sprache, die Formulierung „the Hochschule“ für die „alte“ Berliner Musikhochschule auftauchte; in diesen Worten schien es eine Selbstverständlichkeit zu sein, sie zu kennen, während sie in Berlin allmählich in Vergessenheit geriet. Diese Worte kamen aus der Erfahrung des NS-bedingten Exils, in der die Zeit in der Erinnerung stehen geblieben war. Dr. Dietmar Schenk ist Leiter des Archivs der UdK Berlin. Erschienen in journal 3.


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Gregory Cumins: Ich wurde gebeten, über Material zu schreiben, und ich lade dich nun zu einem Gespräch darüber ein, da du meine Arbeit seit über einem Jahrzehnt verfolgst und unterstützt. Jill Silverman: Bei meinem ersten Besuch in deinem Studio in Paris haben wir darüber gesprochen, dass du für deine Serie „Facebook“ (2007/8) lange auf der Website des US-Verteidigungsministeriums nach Fotos recherchiert hast, um zu sehen, wie das Leben von Zivilisten im Irak dargestellt und interpretiert wird. Diese Fotos wurden dann zum primären Material dieser Arbeit. Wie aus Nachrichtenfotografie Propagandafotografie wird und wie sich das in deiner Arbeit noch einmal transformiert, fand ich sehr interessant. Die Materialität des Internets springt vom Computermonitor in das Atelier des Künstlers.

ENTRÉE EN MATIÈRE GREGORY CUMINS UND JILL SILVERMAN VAN COENEGRACHTS IM GESPRÄCH

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Cumins: Bei Facebook, Twitter, Instagram etc. scrollen unsere Augen über eine Menge Bilder und vermeiden jede körperliche, emotionale oder intellektuelle Tiefe. Nun stellt sich auch die Frage, wo diese Bilder landen. Instagram hat den „White Cube“ in atemberaubender Geschwindigkeit übernommen, und ich denke, das verändert auch die Art und Weise, wie wir Bilder betrachten, die keine Körperlichkeit haben. Welche Zukunft haben wohl Materialien in dieser zweidimensionalen Welt? Silverman: Das Internet verändert den Dialog zwischen Zuschauer und Kunstobjekt dramatisch. Das ist das große Thema im Moment. Die Erfahrung eines Kunstwerks, das ist echte Matière. Ein Kunstwerk hat ein Innenleben. Wie Walter Benjamin sagt, es hat eine Aura. Was wir auf Instagram sehen, sind Miniaturansichten, Reproduktionen von einem Kunstobjekt, das in Zeit und Raum existiert. Computer und Smartphone stellen dieses Kunstobjekt komprimiert und in reduzuierter Größe dar. Der Wert des Objekts, seine gesamte innere Energie wird ausgeweidet. Seine Aura wird aufgesaugt. Was du siehst, ist also ein Abbild und eben nicht die Arbeit. Du hast keine der Verbindungen, die Betrachter und Kunstwerk in Beziehung setzen. Der Künstler erschafft ja mit seiner Energie und seinem Intellekt ein einzigartiges Kunstwerk aus dem Nichts. Das ist ein Prozess, der durch die Materialität und durch das Material bestimmt wird. Das Material ist eine physische Substanz, die Materialität ist ein Zustand des Seins. Den hat jedes Kunstwerk, das in Zeit und Raum existiert. Deshalb fühlen wir uns von Kunst angezogen. Wir sind gezwungen, sie uns anzusehen. Wir sind gezwungen, vor dem Kunstwerk zu stehen und zu verweilen. Das Problem mit Instagram ist, dass es alles auf das gleiche Format reduziert, alles sieht dekorativ und uniform aus. Wie aber löst Material eine Idee in deinem Kopf aus? Cumins: Ich muss allein sein in meinem Studio, meinen Kopf frei machen. Den Informationsfluss – visuell, intellektuell oder emotional – unterbrechen. Alle diese aufgestauten und angesammelten Informationen können sich dann langsam zu einem Bild oder einer Idee zusammensetzen. Ich versuche immer, mir eine Serie vorzustellen und auch, wie diese Serie später mit uns als Betrachter und mit einem


Raum interagieren wird. Das gibt mir die Klarheit darüber, was ich tun will, und die Idee. Ich suche dann nach Bildern, die zu dieser Idee passen. Und hier beginnt die Arbeit langsam zu entstehen. Die Idee verschiebt sich immer entsprechend der Bilder, die ich finde. Unabhängig davon, welches Material, welche Farbe ich verwende, auf welchem Material ich male, und was ich noch benutze, um die Arbeit zu erschaffen oder auch zu bedecken, und wo und wie diese Arbeit gezeigt wird. Jedes Element eines Bildes ist eine Vokabel, ein Wort, dann fügst du ein anderes hinzu und noch eins und du bildest einen Satz. Das Material hat auch seine eigene Sprache. Es ist ein ständiger Dialog mit dem Material. Und so mache ich die meiste Zeit etwas ganz anderes als das, was ich ursprünglich vorhatte. In gewisser Weise ist es das Gleiche mit unserer Unterhaltung, die wir jetzt führen. Wir wussten, das Thema ist „Material“, und bereiteten ein paar Fragen vor. Wir hatten eine allgemeine Vorstellung davon, wie der Artikel ausfallen sollte. Aber der Artikel wird durch das Material geprägt, das uns beiden zur Verfügung steht, dann durch seine Bearbeitung und schließlich durch seine Veröffentlichung. Es ist unmöglich, vorher zu wissen, wie es ausgehen wird.

Ich dachte auch an den Film „La Haine“ von Mathieu Kassovitz (1995). Darin erzählt die Hauptfigur die Geschichte von einem Mann, der aus dem Fenster eines Gebäudes fällt, und während er fällt, sagt er sich immer wieder: „Pour l‘instant tout va bien. Pour l‘instant tout va bien.“ („Im Moment ist alles in Ordnung. Im Moment ist alles in Ordnung.“) Ich staune über unsere Fähigkeit, Bilder im Kopf einzufrieren. Sie schaffen eine eigene emotionale und psychologische Zeitleiste, einen Raum, in dem wir das Gefühl haben, dass wir alles unter Kontrolle haben und uns von der Realität entfernen können. Das wollte ich zeigen. Silverman: Es gibt diese frühe Serie von Robert Longo, „Men in the Cities“, mit der er in den 1970er Jahren berühmt geworden ist. Männer und Frauen in schicken Anzügen winden sich auf weißem Hintergrund. Dort arbeitet er mit schwarzem und weißem Grafit, Pastell und Holzkohle und erzeugt etwas ähnlich Bemerkenswertes: Du schaust sie an und weißt nicht, ob es sich um Malerei oder Fotografie, um Leinen oder Papier handelt. Ganz ähnlich weckt deine Arbeit Neugierde auf das Material, das du verwendest. Und ich mag dieses Polypropylen sehr, das da oben drauf liegt.

Silverman: Ich habe vor einem Jahr deine Einzelausstellung „Upside Down“ in Paris gesehen. Ich erinnere mich sehr genau an ein blaues Bild mit einer fallenden Figur, der Körper schwebt durch die Luft. Neben dem Bild hingen zwei Zeichnungen mit derselben Figur. Interessant war zum einen, wie du wie ein Bildhauer einen skulpturalen Raum in deinem Gemälde schaffst und füllst. Zum anderen die Spannung zwischen dem dreidimensionalen Raum des Bildes, der Zeichnungen und dem physischen Raum, in dem wir als Betrachter stehen. Das erzeugte ein schwindelerregendes Gefühl, als würde ich selbst fallen.

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Cumins: Genau diesen Schwindel zu erzeugen, war mein Ziel. So wie die Figur auf dem Bild, wollte ich den Betrachter im Raum schweben lassen, ihm das Gleichgewicht entziehen, unfähig zu erfassen, was er sieht und wo er sich befindet. Das Gemälde ist mit Polypropylen bedeckt, das einen halben Zentimeter dick ist. Dieser Abstand erzeugt eine Unschärfe. Je mehr man sich dem Bild nähert, desto weniger kann man darauf erkennen. Ich wollte, dass der Betrachter wieder zurücktritt und ihn dann dazu zwingen, sich den Zeichnungen daneben zu nähern. Diese sind sehr detailliert, aber im Gegensatz zum Gemälde, ohne Farbe. Um sich ein besseres Bild machen zu können, muss der Betrachter seine Augen ständig zwischen Gemälde und Zeichnungen hin und herbewegen. Ich wollte, dass er weder weiß, wo er im Raum stehen soll, noch wo er hinsehen soll. Er soll seine Orientierungspunkte verlieren. Aber auch sein Zeitempfinden. Meine Zeichnungen sehen aus der Ferne aus wie schwarz-weiße Fotokopien, erst aus der Nähe und beim genauen Betrachten erkennt man, wie fein gearbeitet sie sind. Das verlangsamt das Zeitgefühl. Als ich diese Serie begann, dachte ich an „The Falling Man“, das schreckliche Bild eines vermeintlich gleichmütigen Mannes, der 2001 aus einem der oberen Stockwerke des World Trade Center springt. Natürlich wird er nicht so gleichmütig gewesen sein, wie er scheint.

Cumins: Ja, ich benutze es noch immer. Zuerst zog mich seine Textur an, die sich wiederholenden vertikalen Linien. Und erst vor ein paar Monaten wurde mir klar, warum ich es für „The Falling Man“ benutzt habe. Es erinnert an die Zwillingstürme im Hintergrund. Ich hatte die Zwillingstürme vor die fallende Figur gestellt! Wenn wir den fallenden Mann betrachten, sehen wir das Bild durch den Angriff. Das ist etwas, was ich gezeigt hatte, ohne es überhaupt zu erkennen. Das Gleiche geschah, als ich die Zeichnungen der irakischen Kinder mit Tissue-Papier abdeckte. Erst danach wurde mir klar, dass ich damit versuchte, sowohl diese Bilder zum Schweigen zu bringen als auch sie zu schützen. Das sind nur Anekdoten, aber es zeigt, dass wir eine Art Bildsprache entwickeln, ein visuelles Vokabular, das ständig von dem, was wir sehen, genährt wird. Und dieses Vokabular kann von überall herkommen, von etwas, das wir lesen, das wir in einem Museum, in einer Galerie, in einem Baumarkt, auf der Straße sehen, von überall. Deshalb bestehe ich in meinem Unterricht darauf, dass die Studierenden neugierig bleiben und mit Materialien spielen. Ich bitte sie, regelmäßig innezuhalten und sich anzusehen, was sie gemacht haben. Ich ermutige sie, sich von ihrer Arbeit zu distanzieren und in ihr nach Qualitäten zu suchen, um daran zu wachsen. Viele sind dann wie gelähmt, weil sie ihrem Instinkt nicht vertrauen. Künstlerische Arbeit ist eine ständige Balance zwischen Intention und Intuition. Intuition ist nur eine weitere Form der Intelligenz. Es sind nur unsere Köpfe, die schneller arbeiten als wir. Gregory Cumins ist Maler und Professor der Bildenden Kunst für Grundschullehramtstudierende am Institut für Kunst. Jill Silverman van Coenegrachts ist Kuratorin und Galeristin in London und Paris. Erschienen in journal 4.


Ein vielfarbiger Chor also? Ja, dessen Klang sich alle zwei Jahre verändert, weil andere Kinder dazukommen. Wir halten den Klangraum so offen wie möglich.

KAI-UWE JIRKA DIE STIMME ALS MATERIAL GESPRÄCH MIT HARTMUT REGITZ

Wie nehmen Sie darauf Einfluss? Wir haben sehr viele, sehr verschiedene Stimmbildner. Stimmbildnerinnen, müsste man eher sagen. Jede arbeitet gemäß ihrer eigenen Ausbildung. Aber wir haben ein Team zusammengestellt, bei dem immer das Kind im Mittelpunkt steht.

„Material Stimme“: Ist das nicht ein Widerspruch in sich? Handelt es sich bei der Stimme letztlich nicht um etwas Immaterielles? Ja und nein. Vom „schönen Material“ ist manchmal in den Aufnahmeprüfungen meiner Gesangskollegen die Rede. Und eine Aussage wie „Daraus kann man etwas machen“ leitet sich meiner Meinung nach aus einem Kunst-Leistung-Kontext her – als ob die Stimme einem rohen Stein vergleichbar wäre, den man irgendwie gestalten und behauen könnte.

Sie arbeiten die Individualität der Stimme heraus? Wenn man immer in der Gruppe singt, weiß man manchmal nicht mehr, wie die eigene Stimme klingt und fragt sich: Wer singt da eigentlich? Was natürlich ein schöner Effekt sein kann, dieses Verschmelzen des Klangs. Es geht darum, zugleich selber eine individuelle Stimme zu haben, diese Stimme aber auch in eine Gemeinschaft einbringen zu können. Deshalb hat jeder Junge alle zwei Wochen 20 Minuten lang eine Einzelstimmbildung, damit er die eigene Stimme bewusst wahrnimmt und in Zusammenarbeit mit dem Pädagogen ihren Umfang, ihre Stimmkraft, ihre technischen Möglichkeiten erweitern kann. Bei den Jungs passiert zwischen dem zehnten und dreizehnten Lebensjahr ja sehr viel in der Entwicklung, was das Körperliche betrifft. Sobald der Junge zu wachsen beginnt, wächst auch sein Lungenvolumen, das heißt er kann von einer Woche zur anderen lauter singen, ein Prozess, den man sorgsam begleiten muss.

So einfach ist es nicht. Nein. Ich finde auch, dass der Begriff in der Pädagogik nicht passt. Wir sprechen weniger vom Material, weil dabei ein großer Teil der Gesamtpersönlichkeit nicht berücksichtigt wird. Wir wollen in der Kinder- und Jugendarbeit ja nicht nur eine Stimme ausbilden. Uns geht es letztlich darum, den Körper als ein Ganzes erfahrbar zu machen, Resonanzräume zu erschließen und sich intensiv mit dem auseinanderzusetzen, was man singt. Die Stimme ist dabei erst einmal nur ein Werkzeug, das ich für verschiedene Sachen einsetzen kann.

Wächst die Stimme besser, wenn sie ausgebildet wird, oder wächst sie sowieso? Beides. Die Stimme verändert sich durch das Wachstum des Körpers. Sie bekommt eine andere Farbe. Einen anderen Umfang.

Wann genau spricht man denn von Stimmmaterial? Das ist unterschiedlich. Bei uns findet sich gelegentlich der Begriff, wenn die organischen Voraussetzungen bezeichnet werden, die Stimmlippen, der gesamte Apparat. Einfach, wenn man merkt, dass eine Stimme frei schwingt und wie von selbst eine ganz natürliche Klangkraft hinzukommt oder eine bestimmte Farbe, die eine Stimme leuchten lässt.

Wie halten Sie es beim Staats- und Domchor, der als Knabenchor der Universität der Künste Berlin angeschlossen ist? Natürlich achten wir zunächst auf einen gemeinsamen Klang, aber wir wollen gleichzeitig individuellen Klangfarben Raum geben. Eine Stimme haben, heißt nicht nur, ein Stück singen zu können, das heißt auch, eine Haltung zu entwickeln: „Ich habe eine Stimme.“

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Auch eine Größe? Ja. Eine Mischung aus Leuchtkraft und Größe. Chöre, die sich vermarkten, müssen schon ihrer Erkennbarkeit wegen auf ein bestimmtes Erscheinungsbild achten. Das ist bei uns anders. Wünscht sich ein Chorleiter einen homogenen, geschlossenen Klang, stellt sich natürlich die Frage, wie man mit Individualisten umgeht, deren Stimme ein besonderes Klangtimbre hat. Integriere ich sie ins Kollektiv, d. h. beschneide ich sie – oder lasse ich zu, dass einige individuelle Stimmen dieses Klangideal verändern?

Beim Tanz beispielsweise prägt die Ausbildung den Körper erkennbar. Ist das beim Singen ähnlich? Das ist bei der Stimme nicht ganz so. Oft sind es verborgene Fähigkeiten, die mit der Stimme wachsen. Man lernt Dinge über das Zusammenspiel von Atem, Atem geben, Stimme aktivieren – und eine bestimmte Emotionalität. Erfahrungen über Resonanzräume, Koloraturtechniken usw. bleiben einem über den Stimmwechsel hinaus erhalten. Bleiben wir beim Stimmbruch, weil er nicht zuletzt das Materielle einer Stimme erkennbar macht. Das Wort Stimmbruch vermeiden wir, weil nicht wirklich etwas bricht. Wir reden eher von einem extremen Wechsel der Stimmlagen. Wenn die Jungs um einen Zentimeter wachsen, können die Stimmlippen ganz anders schwingen, und das ergibt dann diesen extremen Lagenwechsel. Sie sagen Stimmwechsel? Die Stimme wechselt einfach ihre Lage, und das ganz unterschiedlich. Wir haben Stimmen, die langsam eine Oktave tiefer gleiten. Wir hatten aber auch Jungs, die ihre Knabenstimmen fast gänzlich erhalten


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konnten, obwohl darunter die Männerstimme weiterwuchs. Auf jeden Fall handelt es sich dabei um einen einschneidenden Prozess. Schließlich erleben die Jungs in frühen Jahren zum ersten Mal eine Form von Endlichkeit: Irgendetwas geht nicht mehr. Wir haben deshalb die Gruppe „Voces in spe“ gegründet, um dieses Schockerlebnis richtig verarbeiten zu können und sie auf ihre künftige Stimme vorzubereiten. Unserer Philosophie nach verlangt die Stimme danach erst mal nach einer Pause vom leistungsmäßig betriebenen Singen.

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Trotzdem arbeiten Sie weiter an der Stimme. Beim Stimmbruch handelt es sich ja nicht um eine Form von Materialermüdung. Es handelt sich um eine Veränderung, der man heutzutage durchaus Positives abzugewinnen weiß. Vorausgesetzt, man lässt die Jungs entdecken, was eigentlich mit ihnen passiert, wie das Michael A. Krois einmal im Rahmen eines musikpädagogischen Projektseminars an der UdK Berlin gelungen ist. Er komponierte für diese „Zwischenzeit“ kleine Stücke und machte den Jungs bewusst, welche Klänge sie nur während dieser organischen Veränderung produzieren können: Multiphonic-Klänge, wie wir das bei den Holzbläsern nennen, Spaltklänge. Eine Komposition, „(Um)brüche“ genannt, wurde 2010/11 während einer Andacht aufgeführt. Auf YouTube findet sich dazu eine kleine Dokumentation. Zurück zum „Material Singen“. Ist Singen am Ende doch Körperarbeit, wenngleich eine künstlerische? In einem hohen Maße. Erst der selbstbewusst eingesetzte Körper ermöglicht einen besonderen Klang. Wer gelernt hat, gut zu artikulieren, klar zu sprechen, Resonanzräume zu nutzen und seine körperlichen Möglichkeiten gezielt einzusetzen, dem wird es keine Mühe bereiten, vor der Schulklasse ein Referat zu halten. Der Körper ist das Material. Aber nicht alles ist Materie. Es gibt auch noch die geistige, die geistliche Dimension. Unsere Jungs haben eine klare Vorstellung davon, was beispielsweise die Bilder in einer Bach-Kantate bedeuten. Und wenn sie etwas nicht aus der Anschauung kennen, dann fragen sie nach und wollen es auch denken können. Beim Chorsingen mischen sich Material, Körperarbeit und geistige Auseinandersetzung auf eine besondere Weise. Man sondert nicht einfach Töne ab, sondern versieht sie mit Sinn und Geist. Und wenn eine Aufführung gelingt, dann hat jeder Einzelne mit seiner Individualität Teil an einem sehr fragilen Gesamtkunstwerk.

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IM RA

Kai-Uwe Jirka ist Professor für Chor/Chorleitung am Institut für Kirchenmusik und Geschäftsführender Direktor des Staatsund Domchors. Hartmut Regitz ist Musikkritiker und Autor und zählt zu den wichtigsten Tanzjournalisten in Europa. Erschienen in journal 4.


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Ruhe/der haltenden Körperspannung. Die Stille, das Aushalten ist dabei die wichtigste Lücke. Hallo Ana, ein kurzer Gedanke zu Rhythmus. Im Tanz, ähnlich wie in der Musik oder beim Film, wird mir als Zuschauer ein Tempo, eine Dauer vorgegeben. Es wird vorgegeben, wie die Zeit eingeteilt ist, um die Choreografie wahrzunehmen. Im Englischen sagt man „time-based“, weil in diesen Arbeiten die Zeitlichkeit vorgegeben ist. Im Gegensatz dazu muss ich bei der Betrachtung von nicht zeitbasierten Kunstwerken meine eigene Zeitlichkeit und den eigenen Rhythmus finden. Wenn ich mich zum Beispiel um eine Skulptur bewege. Sie schlägt mir zwar einen Rhythmus vor, aber ich habe mehr Entscheidungsspielraum, wie ich ihn aufnehme und wieviel Zeit ich mir nehme, wo ich verweile, oder wann ich einen bestimmten Teil des Werks mehrmals visuell abtaste. Hier scheint also mein Auge „mitzutanzen“, um Deinen Gedanken über Godards Filme aufzugreifen. Hallo Nik, hier ist ein Text von Kurt Schwitters, der mir kürzlich in die Hände geraten ist: „Was Kunst ist, wissen Sie ebensogut wie ich, es ist nichts weiter als Rhythmus. Wenn das aber wahr ist, so beschwer ich mich nicht mit Imitation oder mit Seele, sondern gebe schlicht und einfach Rhythmus mit jedem beliebigen Material, Straßenbahnfahrscheinen, Ölfarbe, Holzklötze, ja da staunen Sie Bauklötze, oder mit dem Wort in der Dichtung, dem Ton in der Musik, oder wie Sie wollen. Darum sehen Sie sich nicht das Material an, denn das ist unwesentlich. Suchen Sie nicht versteckt irgendeine Imitation von Natur, fragen Sie nicht nach Seelenstimmungen, sondern suchen Sie trotz des ungewöhnlichen Materials, den Rhythmus in Form und Farbe zu erkennen. […] Dafür ist es die Essenz aller Kunst, das heißt, jedes Kunstwerk aller Zeiten musste diese primäre Forderung erfüllen, Rhythmus zu sein, sonst war es nicht Kunst.“ Der Text hat Humor. Das mag ich. Rhythmus ist in Schwitters Arbeiten allgegenwärtig. Er lässt die Augen und die Ohren tanzen. Das ist wohl der Grund, warum er mich interessiert und mich beschäftigt, und auch wegen meines Backgrounds in Typografie und Flamenco. Denn der Flamenco lebt vom Rhythmus, er wird von ihm diktiert. So auch die Typografie. Was beide haben, ist das Spiel mit dem Rhythmus – Köper/ Buchstabe, Raum/Fläche, Klang/Inhalt.

DER KÖRPER ALS LESBARES MATERIAL. EINE KORRESPONDENZ ZWISCHEN ANA LESSING MENJIBAR UND NIK HAFFNER

Hallo Nik, zu Godard fällt mir sein Buch „Liebe Arbeit Kino. Rette sich wer kann (Das Leben)“ ein. Dort schreibt er z. B.: „Ich glaube gerade dieses Zwischen ist das, was existiert.“ Oder: „Ich möchte Verlangsamung machen, um das, was man gewöhnlich nicht sieht, zu filmen.“ Der Umgang mit Rhythmuswechsel und Geschwindigkeit ist ein sehr interessanter Bestandteil von Godards Blick auf Körper. Wie er Blickwinkel und Szenen in ihrer Dauer ausreizt und dann plötzlich mit einer schnellen Kamerafahrt kontrastiert. Auch die Kamera scheint zu tanzen. Genau diese Form der Dramaturgie ist etwas, was mich beim Flamenco besonders interessiert: das Spannungsverhältnis von schnellem Rhythmus/Gesang und der Stille, von schnellen Bewegungen und der

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Hallo Ana, kennst Du Jean-Luc Godards Film „Vivre sa vie“ von 1962? Was mich immer wieder fasziniert, ist Godards Blick auf Körper, der mir sehr genau und ungewöhnlich erscheint. Zu Beginn gibt es eine Dialogszene, bei der eine langsame Kamerafahrt jeweils die Rücken der beiden Sprechenden zeigt. Es kommt einem vor, als ob die Kamera die gesprochenen Worte der beiden wie von ihren Rücken „abliest“.

Hallo Ana, ich war gerade nochmal am Nachdenken, wie ich Zeit als Material sehe und benutze. Zeit ist einer der wichtigsten Aspekte im Tanz. Die Zeit und wie ich sie einteile innerhalb einer Bewegung – das wird im Tanz (anders als die räumliche Form oder Position des Körpers) schnell übersehen und oft nur unterbewusst wahrgenommen. Wenn wir tanzen, nehmen wir eine präzise Einteilung von Zeit vor, man könnte auch sagen: Eine Zeitlichkeit wird aus dem Bewegungsmaterial herausgearbeitet („carving out time“, also die Zeit „herausschnitzen“). In einem Probenprozess von mehreren Wochen beobachte ich oft eine enorme Entwicklung. Die getanzte Bewegung bleibt zwar von


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der räumlichen Dimension fast unverändert, aber die Zeitlichkeit der Bewegung verändert sich, wird klarer bis sie letztendlich als präzise artikulierte Bewegungsspur in den Raum eingeschrieben wird. Vielleicht kann ich Dir an einem Beispiel verdeutlichen, was ich meine: Wenn sich ein Fluss eine Schlucht in die Felsen meißelt und über Jahrtausende einen Canyon formt, dann kann ich den Canyon als eine räumliche Spur, als Skulptur und Abdruck betrachten. Ich kann aber auch den zeitlichen Aspekt dieser Spur berücksichtigen, und wie diese Beziehung zwischen Fluss und Canyon in einer ständigen Bewegung und Transformation ist. So wie der Fluss seine Spur hinterlässt, so hinterlässt jede Körperbewegung eine Spur, die sich als physische Spur manifestiert, aber auch als eine Zeitspur in den Raum einschreibt, die ich nur im Moment der Bewegungsausführung sehe. Wie ich diese Bewegungsspur zeitlich einschreibe, ob ich sie schnell oder langsam ausführe, ob ich sie abrupt oder weich beende – ich treffe eine Vielzahl von Entscheidungen, die weit darüber hinausgehen, von wo nach wo sich die getanzte Bewegung räumlich einschreibt. Wie ist das im Flamenco?

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Hallo Nik, das Spiel der rhythmischen Veränderung produziert Bewegungsmaterial und funktioniert im Dialog zwischen den verschiedenen im Flamenco agierenden „Elementen“. Zeit, und somit auch die zeitliche Einteilung einer Bewegung, wird in den verschiedenen „Palos“ (musikalische Formen) durch den entsprechenden Takt bestimmt, und jeder Palo hat einen anderen Takt. Dieser beeinflusst die Geschwindigkeit und die Wirkung einer Bewegung. Findet eine Tempoveränderung statt, wird z. B. der Takt verlangsamt oder durch Gitarre, Gesang oder Palmeros angezogen, wird die Bewegung in einer anderen zeitlichen Einteilung ausgeführt. Der Klang bestimmt also das Bewegungsmaterial. Interessant ist, dass dieser Prozess auch andersherum stattfindet. Der Tanz übernimmt die Führung des Taktes und verändert den Klang. D. h. die zeitliche Einteilung einer Bewegung verursacht eine rhythmische Veränderung.

Hallo Nik, kennst Du den Dokumentarfilm „John Berger oder Die Kunst des Sehens“ von Cordelia Dvorák (2016)? Dort gibt es eine schöne Szene

zwischen Berger und seiner Tochter. Sie reden spielerisch und assoziativ, werfen sich Fragen und Gedanken über Gemälde von Gustave Courbet zu. Diese Szene hat mich sehr berührt, weil sie mich an meine Kindheit erinnert. Mit meinem Vater zusammen (Bildender Künstler) habe ich stundenlang im Ping-Pong-Verfahren Bilder gemalt, und wir haben uns über unsere Assoziationen unterhalten. Anbei schicke ich Dir ein Bild von damals. Wenn ich jetzt die Wege der Farben und den Schwung des Pinsels auf der Leinwand betrachte, muss ich an Tanz denken. Und dann sehne ich mich nach diesem unbeschwerten kindlichen, künstlerischen Zugang. 29 … www.udk-berlin.de

Hallo Ana, ein solches Ping-Pong-Verfahren erinnert mich an das Ausgangsmaterial zum Stück „kannst du mich umdrehen“, das mit der Choreografin Christina Ciupke entstanden ist. Begonnen haben wir den Probenprozess mit einem ca. 2 x 2 Meter großen Feld, das wir am Boden des Studios markiert haben. Dann begann einer von uns, eine Minute lang allein in diesem Feld zu improvisieren. Danach gab es einen Wechsel: Die zweite Person betrat das Feld, um auf das gerade beobachtete Material tänzerisch zu reagieren. Nach sechs bis acht Wiederholungen dieser Ping-Pong-Runden war Material entstanden, an dem wir dann zusammen weitergearbeitet haben. Das Set-up zu Beginn unserer Proben hatte etwas Leichtes. Und es war ein Spiel, ein wortloser Dialog, über den wir viel unerwartetes Material entdeckt haben.

Ana Lessing Menjibar ist Künstlerin, Performerin und Tänzerin. Sie studierte Visuelle Kommunikation bei Prof. Fons Hickmann und Solo Dance Authorship am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz. Professor Nik Haffner ist Tänzer, Choreograf und Künstlerischer Direktor des HZT Berlin. Die Korrespondenz wurde für das journal 4. angeregt.


konventionellen Rahmens. Malerei und Bildhauerei sind Disziplinen in der Bildenden Kunst. Ist Performance auch eine Disziplin? Oder eher ein „Anders-umgehen-mit“, ein Mindset? In der Bildenden Kunst wird aus dem Bild heraus gedacht. Bei der Performance ist das Bild als solches eigentlich weniger von Bedeutung. Man kann eine Performance als Bild sehen, aber in erster Linie ist sie eine Handlung und kein verkäufliches Objekt. Bild zu sein, ist für mich nicht der Sinn der performativen Formate. Historisch gesehen und auch politisch gedacht, ist Performance eine Handlung in der Realität, hier und jetzt, frei von Darstellung, Regeln oder Erzählung, abstrakt und radikal. Heute in unserer globalisierten Welt ist es wichtig, auf das Miteinander zu schauen, welche neuen Momente zwischen Menschen, oder zwischen Menschen, Tieren und Dingen entstehen können, und welche verschiedenen Modelle der Koexistenz es gibt. Die kulturelle Relevanz der Performance besteht auch darin, in diesem Freiraum der Bildenden Kunst mit Solidarität oder Komplizenschaft zu experimentieren. Und vielleicht gemeinsam zu scheitern. Dieses Scheitern, das da immer auch mitgedacht wird, das finde ich toll in der Kunst. In der Lehre ist es auch wichtig. Im Moment des Scheiterns liegt das Handlungspotenzial.

MATHILDE TER HEIJNE UND SABETH BUCHMANN PERFORMANCE ALS MINDSET Sabeth Buchmann: Du bist eine Künstlerin, die mit performativen Formaten arbeitet. Bist du auch Pädagogin? Wie kann man Performance lehren? Mathilde ter Heijne: Lehren heißt für mich, dass ich gezwungen bin, ein Format zu schaffen, in dem die Studierenden etwas Neues entdecken können. Ich habe mit meiner Klasse in Kassel (2011-2018) „die Lehre“ in Bezug zu performativen, künstlerischen Praxen entdeckt. Wir hatten dort viele Gäste und Projekte mit sehr unterschiedlichen performativen Formaten. Meine Lehre hier an der UdK Berlin habe ich mit dem genauen Anschauen der Begrifflichkeiten begonnen. Es war interessant, dass einigen der Studierenden der Unterschied zwischen „Performing Arts“ und „Performance Art“ gar nicht klar war. Wir entwickelten gemeinsam Aktionen und haben Workshops gemacht, um zu lernen, wie man miteinander kommuniziert. Die Frage, ob ich ­Pädagogin bin, kann ich nicht wirklich beantworten. Es sind zwei verschiedene Dinge: jemanden belehren oder lehren. Belehrt habe ich nie.

Buchmann: In der Bildenden Kunst zu sagen, ein Werk wäre gescheitert oder ein Werk würde sein eigenes Scheitern mit einbeziehen oder thematisieren, ist schon eine Provokation. Gleichzeitig ist es auch ein Avantgarde-Thema. Scheitern in Relation zu einer Konvention. Dieses Scheitern ist die Avantgarde. Die Virtuosität ist die Kulturindustrie. ter Heijne: Malerei ist ein konventionelles Medium mit einer langen Tradition, darauf kann man sich ganz automatisch beziehen. Auch da kann etwas Unkonventionelles passieren, etwas schiefgehen. Das ist meistens der Moment, wo das eigene kontrollierende Selbst nicht aufgepasst hat und das beobachtende Selbst sagt: „Eigentlich nicht schlecht, vielleicht kann ich das nutzen.“ Und da­raus kann sich etwas Neues entwickeln.

Buchmann: Vielleicht geht es nicht ums Belehren, sondern um Interaktion und um die Herstellung eines Ortes, eines Rahmens, in dem eine kollektive Handlung stattfinden kann. Du initiierst mit einem Kollektiv diesen Prozess und damit auch sehr persönlich-psychologische, emotionale Prozesse. Das ist Performance. Oder es ist das Erproben von Performance – da kann jeder einzelne Moment das Verhalten des gesamten Kollektivs verändern und etwas erzeugen, das niemand eine Sekunde vorher gedacht oder vermutet hat. Und im Blick zu haben, was solche performativen Momente bei den Studierenden hervorbringen können. 30 … Standortkarte auf der letzten Seite

ter Heijne: Ja, zu verstehen, was diese ephemeren Momente zwischen den Beteiligten einer Performance auslösen können, ist wichtig. Die Komplexität, die geteilten Emotionen, die Dinge, die wir nicht benennen können, die irgendwie passieren. In einer Performance geht es zunächst um eine Handlung, um eine Aktion. Der Kontext ist wichtig. Aber zentral in einem performativen Kunstwerk ist der Prozess. Es geht um „das Werden“ von Kunst und nicht darum, Kunst als ­etwas Fertiges, als ein Objekt zu begreifen. Auch muss man flexibel mit den konventionellen Mitteln umgehen. Wie bei einer Theaterprobe: Da ist man zunächst frei von einer bestimmten Rolle, auch die Bühne ist noch nicht festgelegt, ist nur implizit da. Man probiert erst einmal miteinander. Da liegt die Kraft der Performance – außerhalb des

Buchmann: Was ist dein „Handwerkszeug“, dein Material? Den Körper als Material zu nutzen, ihn einem Prozess auszusetzen, ist etwas sehr Riskantes. Arbeitest du mit Körpertechniken? ter Heijne: Mein Material sehe ich als das „Da-zwischen“. Das, was sich zum Beispiel zwischen den Menschen, Pflanzen, Tieren, Dingen, Orten und Zeiten befindet. Mein „Handwerk“ ist, diese sich in einer sinnvollen neuen Konstellation materialisieren zu lassen. Die konventionellen Körpertechniken aus Tanz, Schauspielerei und Gesang beherrsche ich nicht wirklich, für meine eigenen Performances habe ich mir manchmal einiges angeeignet. Aber es geht mir nicht um die Formbarkeit des Körpers. Es geht mir eher um Ansätze, die in feministischen Theorien formuliert wurden. Um Denken außerhalb dualistischer Kategorien wie Gut und Böse, Mann und Frau, Schwarz und Weiß. Die Grauzonen dazwischen, das Chaotische, die verhandelbaren Beziehungen, das interessiert mich – also die Dekonstruktion und Sprengung der konventionellen Denk-, Macht-, und Einordnungsstrukturen und die


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Buchmann: Du vermittelst also nicht spezifische Skills wie zum Beispiel die Grundierung einer Leinwand. Die Konzeptkunst, auf die du dich beziehst, ist eher postdisziplinär: Ein Medium, ein Genre, ein Material wird gemäß der Idee ausgewählt. Es geht nicht darum, das Material in seinen Bedingungen zu erforschen, der Prozess ist umgekehrt. Das ist der Grund, warum die Performancekunst in der Bildenden Kunst verortet ist. Nicht, weil sie zum „Bild“ zurück will, sondern weil sie dort ihr Vokabular findet und daraus Praxisformen hervorbringt. Dabei

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neue Zusammenstellung der einzelnen Elemente. Manchmal können diese auch in der direkten Körpererfahrung liegen.

gibt es durchaus auch Schwellen. Performance suggeriert oft: „Ich will etwas machen, also kann ich das auch.“ Als gäbe es beim Interdisziplinären einen schwellenlosen Raum. Das glaube ich eben nicht. Es geht um Limitierungen und darum, diese Limitierungen, also die Rahmen anzuerkennen. Das gehört in die Praxis und eben auch in die Lehre. Mathilde ter Heijne ist Professorin für Zeitbezogene Medien und Performance am Institut für Kunst. Sabeth Buchmann ist Professorin für Kunstgeschichte der Moderne und Nachmoderne an der Universität Wien. Das Gespräch wurde für das journal 5. angeregt.


wie für kleine, zarte Personen funktioniert. Aber das Marketing-Team sagte, dass ihre Stühle mit dem Argument verkauft werden, für jede Person, für jeden Bedarf eine bestimmte Einstellung zu haben. Wenn die Firma auf einmal mit einem Produkt auf den Markt geht, das für alle ohne jede Einstellung funktioniert, widerspricht das all den anderen Produkten. Ich habe versucht, zu argumentieren: „Stellen Sie sich vor, die Konkurrenz hätte das, was würden Sie denn dann sagen?“ Die Firma hat dann versucht, mit einem ergonomischen Gutachten zu beweisen, dass dieser Stuhl gar nicht funktionieren kann. Es gab auch noch andere Bedenken, wie die Frage der Haftung, was in Amerika ein noch viel größeres Thema ist als hier: Was passiert, wenn etwas nicht funktioniert? Das hat mich gelehrt: Wenn man wirklich etwas Innovatives macht, ist man für eine ganze Weile erst einmal ziemlich allein. Das Wichtigste ist dann der Mut, für die Idee zu kämpfen. Der Stuhl ist heute ein „no-brainer“, jeder will ihn haben. Aber das war anfangs überhaupt nicht klar. Die Industrie hat inzwischen die Komplexität der Sitzmaschine verkauft und damit auch die Kompetenz der Hersteller manifestiert.

BURKHARD SCHMITZ DESIGN UND CONSTRAINTS Beim Besuch im Studio des Produktdesigners sprachen wir über den künstlerischen Prozess, die Lehre und Rahmenbedingungen. Ästhetik und Usability Für mich ist Design eng verbunden mit der Nutzung von Objekten. Die Objekte sind nicht Mittel zum Zweck, es geht mir darum, eine interessante Nutzung zu entwickeln. Das ist eine recht exotische Haltung und entspricht nicht dem Mainstream – Design ist da das „new New“. Auch liegt die Ästhetik eines Objekts nicht ausschließlich im Objekt selbst, sondern das ästhetische Moment ist die Nutzung des Objekts. Das ist etwas anderes als Usability. Bei Usability geht es darum, etwas weniger schlimm machen, Schmerzen zu lindern. Ich hingegen will Gutes tun – etwas gestalten, was wirklich Spaß macht. Als Produkt­ designer liegen wir in der Arbeitsweise nah bei den Architekten. Ich bewundere sehr, dass der Architekt immer den Ingenieur dabei hat. Der Designer hingegen nicht, da gibt es oft die Vorstellung, dass die Technik einen vom wirklich Wichtigen und Schönen abhält. Dass Kreativität durch Wissen gehemmt werde. Aber Sachzwänge zu ignorieren, ist kein Weg zur Kreativität.

Vielen Auftraggebern ist das gar nicht bewusst, und sie geben nicht unbedingt einen Rahmen vor. Für unsere amerikanischen Klienten zum Beispiel ist es problematisch, wenn man etwas vorstellt, was die Konkurrenz nicht hat, weil sie vermuten, dass es vielleicht auch einen Grund dafür gibt. Wenn du etwas präsentierst, das noch niemand vor dir gemacht hat, wird man also misstrauisch. Nehmen wir unseren self-adjusting Stuhl. Das erste Mal haben wir ihn vor über 20 Jahren vorgestellt, einen Stuhl, der für große schwere Menschen genauso

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Constraints Charles Eames hat einmal gesagt: „Design is mainly about con­ straints“. Das heißt, dass man mit den constraints wie Budget, Herstellungstechnik usw. fertig werden muss und innerhalb dieses Rahmens etwas entwickelt, sodass dann derjenige, der das geschaffene Objekt erwirbt oder auch nur anschaut, gar nicht erst auf die Idee kommt, dass in erster Linie constraints umgangen wurden. Deshalb glaube ich, dass die Einschränkungen bzw. constraints – und das ist nicht derselbe Begriff – der Rahmen sind, in dem du agierst. Gäbe es diesen Rahmen nicht, wäre die Aufgabe, mit unbegrenzten Ressourcen etwas ganz Tolles zu machen. Wo wäre denn da die Leistung? Das hat auch nichts mit künstlerischer Freiheit zu tun. Man ignoriert einfach die Rahmenbedingungen. Das heißt, es ist nicht der Rahmen, in dem man agiert, sondern mit dem man agiert. Weil er eben keine Einschränkung oder Beschränkung ist, sondern weil er etwas ist, das dir vorgegeben wird, und deine Aufgabe ist es nun, damit umzugehen. In gewisser Weise ist es die Spielwiese, die für dich umrissen wird.

Entwerfen Die gesamte Designerausbildung, wie auch der Großteil der künstlerischen Ausbildung, zumindest im visuellen Bereich, geht nur durch „learning by doing“. Zu uns in die Entwurfsklasse kommen nur diejenigen, die auch zu uns wollen. Die einzige Schwierigkeit ist manchmal die, dass die Studierenden schon eine sehr feste Vorstellung von etwas haben, in die unsere Arbeit gar nicht mehr hineinpasst. Und dann kann man nur sagen: „Lassen wir’s.“ Früher wollte ich alle missionieren. Das ist heute nicht mehr so. Ein Grund, weshalb ich gerne lehre, ist, dass ich gerne etwas lerne. Die besten Studierenden sind die, von denen ich mindestens genauso viel gelernt habe wie sie von mir. Ich will keine Kopien oder Klone herstellen. Experimentieren Es gibt diesen schönen Essay von Heinrich von Kleist „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“. So ist es im Design auch, eigentlich in jeder Form von Kunst. Das allmähliche Verfertigen von Design beim Designen. Man muss sich darauf einlassen, nicht nur auf die constraints, sondern auch auf den offenen Prozess. Da darf man nicht sagen: „Mein ursprünglicher Entwurf war anders.“ Was ich vermitteln möchte, ist die Freude über die neu erworbene Erkenntnis. Nicht enttäuscht sein, wenn das, was man will, nicht klappt, oder das, was man vermutet hat, nicht passiert. Sondern genau das Gegenteil. Ich vergleiche das immer mit den Naturwissenschaften: Das, was wir Designer als Modelle bauen, ist wie ein Experiment. Es kann so oder auch anders ausgehen. Und ich rate dazu, nicht zu glauben, dass man nur ein Modell baut, und dann ist das Objekt fertig. Man sollte möglichst viele Modelle bauen und das Design über das allmähliche Verfertigen von Modellen entwickeln. Denn alles, was einem am Modell passiert, wird in irgendeiner Form auch mit den wirklichen Dingen passieren. Und das muss man erst einmal verstehen. „Das hat nicht geklappt, weil das Modell nicht gut war“, ist eine mögliche Erklärung,


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aber meistens lässt das, was im Modell nicht funktioniert hat, Rückschlüsse zu auf das fertige Objekt, auf das eigene Vorhaben. Das ist vielleicht der große Unterschied zwischen dem Designer und dem Architekten. In der Architektur gehen Bauen und Ausprobieren nicht zusammen. Dafür ist keine Zeit und kein Geld da. Das Ausprobieren aber ist einer der Vorteile beim Design, zumal das Ziel ein Nutzungserlebnis ist. Und das Sich-Austauschen. Ich habe das noch anders gelernt: Erst hat man die Analyse gemacht, dann hat man ein erstes Modell gebaut, mit einem Hersteller geredet und dann hat man auch schon das richtige Modell gebaut.

Der nächste Ausflug kann kommen!

Heute bauen wir hunderte Modelle. Das Modell im Sinne von Experiment. In der Schule hat der Physiklehrer uns erklärt, dass jedes Experiment eine Frage an die Natur ist. Und in gewisser Weise ist jedes Modell, das wir bauen, eine Frage. Man muss sich nur bewusst sein, welche Frage man stellt. Und man muss offen sein, die Antwort zu akzeptieren. Das hat viel mit Selbstvergewisserung zu tun und damit, dass man sich selbst und die eigenen Erfahrungen im Experiment, in dem man sich gerade bewegt, ernst nimmt. Das sind offene Fragen. Es geht also auch darum, die Studierenden für ihre eigene Wahrnehmung zu sensibilisieren und diese ernst zu nehmen.

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Design und Kunst Unsere Hochschule heißt Universität „der Künste“ – es ist ein Plural. Die vier Fakultäten, die wir haben, sind vier Künste. Und innerhalb der Gestaltung gibt es eben die Architektur, das Design, die Grafik. Wenn man von Design als Gegensatz zur Kunst spricht, dann meint man meistens die Bildende Kunst, weil es die benachbarte Kunst ist, wobei das eine antiquierte Sicht ist. Was sie alle aber verbindet, ist: Künstler und Designer werden auf die Frage „Was für Hobbys haben Sie denn?“ keine Antwort haben, weil sie eine solche Frage nicht verstehen. Man macht weder Kunst noch Design als „Beruf“. Design ist ein Teil meiner Persönlichkeit, ein Teil von mir. Und wird nicht weniger dadurch, dass meine Designs von Menschen benutzt werden, ganz im Gegenteil. Meine Mutter sagt, du Armer, du musst immer so viel arbeiten. Ich sage dann, nein, ich muss nicht arbeiten, das macht mir Spaß. Mein Vater ging immer zum Dienst. Wie der Name schon sagt, man dient irgend jemandem. Ich diene niemandem, außer mir selbst. Ich gehe einfach hemmungslos meinen Interessen nach. Und Schönheit kann ja letztendlich nur die Suche sein. Man ist verliebt in die Suche. Und nicht in das Finden. Das Finden ist nur der Grund, den man vorgibt. Andernfalls wäre Schönheit Stillstand. Oder, wie mein Lehrer, der Bildhauer Günter Ohlwein sagte: „Wenn ich den Stein der Weisen fände, würde ich ihn wegwerfen.“ Burkhard Schmitz ist Professor für Entwerfen von interaktiven Systemen am Institut für Zeitbasierte Medien und Mitgründer des Design-Studios 7.5. Erschienen in journal 5.


Experiments war zwar angetan, hielt es aber nicht für sonderlich zukunftsträchtig. Es gibt einen relativ klar nachvollziehbaren Weg von diesem Projekt zu Google. Am Ende haben wir aber leider das Patent und den harten Rechtsstreit verloren.

JOACHIM SAUTER UNBEHAGEN ALS INNOVATIONSGENERATOR

Dennoch: Die Entwicklung von „TerraVision“ basiert auf einem damals ungewöhnlichen interdisziplinären Austausch. Das heißt, Innovation durch unkonventionelles Denken. Damals war interdisziplinäres Arbeiten nicht besonders verbreitet. Wir wollten uns auch sehr bewusst unterscheiden vom multidisziplinären Arbeiten, bei dem der eine aus der einen, der andere aus der anderen Disziplin kommt und man aus seiner jeweiligen Disziplin heraus etwas zusammen macht. Interdisziplinarität hieß für uns, dass jeder konsequent seine Disziplin verlässt und man gemeinsam ein neues Feld, eine neue Disziplin entdeckt und entwickelt. Aus dieser Art des gemeinsamen Arbeitens von Gestaltern, Wissenschaftlern, Künstlern und Hackern haben sich dann die neuen Disziplinen der Mediengestaltung und die der digitalen Kunst etabliert.

Sie sind Medienkünstler und Gestalter und haben sich sehr früh in ihrer Laufbahn für digitale Technologien interessiert und damit experimentiert, wie man sie für Inhalte, Formen und Erzählungen benutzen kann. Aus diesem Interesse entstand 1988 zusammen mit anderen Künstlern, Designern, Wissenschaftlern, Hackern und Technikern Ihr Studio ART+COM. Ihre Arbeiten sind preisgekrönt und werden international ausgestellt. Wie finden Sie Ihre Themen? Es sind zwei Wege. Der eine ist, es gibt schon ein vorgegebenes Thema. In diesem Fall versuche ich, einen ungewöhnlichen Blickwinkel und einen neuen Zugang zu finden und die Aufgabe neu zu definieren. Der andere Weg ist der des Selbstauftrags, und der hängt meist damit zusammen, dass ich über etwas frustriert bin oder mich ärgere. Ärger ist ein großer Motivator für eine Themenfindung. Ein Beispiel aus den frühen 1990er Jahren ist „Der Zerseher“. Ich habe mich damals geärgert, dass die Künstler einfach den Pinsel mit der Maus ausgetauscht, aber essenziell dasselbe gemacht haben, nämlich mit der Maus zu malen, und dass das dann als Computerkunst deklariert wurde. Das digitale Medium wurde also nur als Werkzeug verstanden und nicht als ein neues Medium mit eigenen Qualitäten: die Möglichkeit, interaktiv Inhalte zu vermitteln, sie zu vernetzen und computativ zu gestalten. „Der Zerseher“ propagiert provokativ die Idee der Interaktion im Kunstkontext. Es ist ein Wandbild, eine gerahmte Rückprojektion in einem Museum. Wenn man es betrachtet, verändert man es mit seinem Blick sehr präzise dort, wo man hinsieht. Das heißt, durch das bloße Betrachten interagiere ich mit dem Gemälde und verändere es permanent. Es ist nie dasselbe Bild, und es ändert sich interaktiv durch seine Rezeption. Das sind die beiden Wege meiner Themenfindung: der Selbstauftrag durch Unbehagen und die Neudefinition einer fremdbeauftragten Aufgabe. Daraus kann dann oft Innovation entstehen.

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„TerraVision“ von 1994 war so ein Fremdauftrag von der Deutschen Telekom, bei dem etwas völlig Neues entstanden ist: die Grundidee von Google Earth, mehr als zehn Jahre vor Google Earth. Ja, damals hat die Telekom in Berlin ihr neues Glasfasernetz mit einer seinerzeit unglaublich großen Bandbreite installiert. Das Internet, das heute hauptsächlich Bandbreite benötigt, war noch nicht präsent, deshalb war es damals auch unklar, wozu man sie einsetzen konnte. Das klassische Geschäft der Telekom war ja, Telefonanrufer miteinander zu verbinden. Wir haben uns gesagt, lasst uns ein Programm entwickeln, das die ganze Welt anhand von Satellitenbildern und Höhendaten darstellt, auf denen die Nutzer in Echtzeit navigieren und über das Netz kollaborativ Daten mit einbringen können. Das Ergebnis ist die Grundlage von Google Earth und Google Maps, die heute zu den am meisten genutzten Applikationen zählen. Der Auftraggeber dieses

Wie haben Sie die Anfangszeit des neuen Mediums erlebt? Mit dem Aufkommen des PCs in den frühen 1980er Jahren hat sich in unseren künstlerisch-gestalterischen Disziplinen ein Paradigmenwechsel vollzogen. Vor der Verbreitung der PCs konnten wir nur auf institutionellen Rechnern arbeiten und das auch nur sehr eingeschränkt. Als dann mehr oder weniger plötzlich die Rechner auf unseren Arbeitstischen standen, haben wir diese digitale Technologie zuerst extensiv als Werkzeug genutzt, das Bildbearbeiten, Modellieren, Animieren und Komponieren effizienter machte. Irgendwann wurde uns aber bewusst, dass diese Technologie das Potenzial zu einem Medium hat mit seinen vorher erwähnten Qualitäten. Da diese erforscht werden wollten, haben wir dann 1988 unser interdisziplinäres Studio gegründet. Mit dem Aufkommen der ersten Browser Anfang der 1990er Jahre zeichnete es sich immer mehr ab, dass die digitale Technologie in Form des Internets nach dem Buchdruck und den Funkmedien Radio und Fernsehen zum dritten Massenmedium der Neuzeit wird. Geben Sie das Sich-Ärgern weiter an die Studierenden? Als Generator und Triebkraft? Ärgern sich die Studierenden über etwas? Ja und ja. Momentan gibt es wieder einmal einen Virtual-Reality-Hype, der so voraussehbar ins Leere gehen wird wie das 3D-Fernsehen vor einigen Jahren. Der richtige Weg wäre es, wie wir es jetzt auch im neugegründeten Berlin Open Lab an der UdK versuchen, sich nicht auf die Technologie der Immersion mit VR-Brillen zu fokussieren, sondern sich mit dem Thema der Immersion im Allgemeinen oder in anderen Ausprägungen wie der Augmentierung virtueller Inhalte mit der Realität auseinanderzusetzen. Das fließt auch in die Lehre ein. Vor ein paar Semestern haben wir die Aufgabe „VR revisited“ ausgegeben und mit den Studierenden Alternativen entwickelt. Auch hier war wieder Unbehagen die Motivation, sich eines Themas anzunehmen. Ihre Arbeiten sind sehr intuitiv und poetisch. Sie machen Technik menschlich. Es sind meistens sehr klare Ideen, die eigentlich auf der


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Hand liegen, die aber vorher niemand gesehen hat. Man hat verloren, wenn der Betrachter zuerst fragt, „Wie ist es gemacht?“ Die technische Faszination darf nie im Vordergrund stehen. „The medium is not the message, but the message can be meaningfully conveyed with new media“: Es geht darum, Informationen zu vermitteln und Erlebnisse zu schaffen, nicht Technologien zu propagieren. In meinen Arbeiten gibt es einen sehr klar dienenden Einsatz von Technologie. Diese bleibt natürlich im Hintergrund, kann aber extrem komplex sein. Je einfacher es im front-end ist, desto komplexer ist es oft im back-end.

Auch wenn in Ihren Arbeiten Energie als Thema nicht im Vordergrund steht, sind sie doch sehr intensiv und kraftvoll. Wie vermitteln Sie diese kreative Kraft an Ihre Studierenden? Wir bilden jetzt die Millenials aus. Die sind digital aufgewachsen, haben eine hohe technische Kompetenz und meist schon mehr gestalterisch-künstlerische Vorbildung als Studierende in den 1990er und Nuller Jahren. Haltung steht nicht immer an erster Stelle. Energie im Zusammenhang mit Lehre bedeutet für mich zu vermitteln, wie wichtig es ist, permanent Energie aufzubringen, um sich immer wieder neu zu erfinden, sich hinterfragen zu lernen, die Bereitschaft aufzubringen, Risiken einzugehen, Fehlschläge als Erfahrung und nicht als Fehler zu sehen und daraus Haltung und Persönlichkeit zu entwickeln. Das alles ist viel wichtiger als technische Kompetenz zu perfektionieren. Auf der anderen Seite zwingt mich wiederum die Lehre, präzise mit dem zu sein, was ich selber mache und mich immer wieder zu hinterfragen, wie und warum ich etwas tue. Wenn ich mir diese Fragen nicht stelle und beantworten kann, dann kann ich auch die Fragen der Studierenden nicht beantworten. Das verhindert, dass mich der persönliche Erfolg faul werden lässt, und somit profitiere ich von der Lehre mindestens genau soviel wie die Studierenden. Zudem löst der Erfolg der Studierenden bei mir viel mehr Befriedigung aus als der eigene. Joachim Sauter ist Professor für Entwerfen mit digitalen Medien am Institut für zeitbasierte Medien. Erschienen in journal 6.

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Und die Kunstwerke? Veraltern sie mit der Technologie? Im Grunde steht und fällt auch hier alles mit der Idee. Wenn die Idee gut ist, hat sie Bestand … Genau. Es geht um die Idee und die dafür adäquate Umsetzung. Über die Zeit trennt sich sehr schnell die Spreu vom Weizen. Arbeiten, die eine konzeptionelle oder formal-ästhetische Stärke haben, überleben auch und altern gut. Das Problem ist nur, dass oftmals die Technologie später nicht mehr existiert, um die Arbeiten auszustellen. Viele meiner Arbeiten und viele Arbeiten meiner Studierenden sind heute deshalb nicht mehr ausstellbar und existieren nur noch als Video­ dokumentation. Es sei denn, man entwickelt alles noch einmal neu, mit neuer Hard- und Software. Hier stellt sich dann die Frage, ob solch eine ­ Arbeit dann noch als Original angesehen werden kann. Über diese Problematik zerbricht sich die Kunstwissenschaft schon seit längerem den Kopf.


Proben- und Aufführungen bei der Herausbildung einer spezifischen Energie des Theaters?

BARBARA GRONAU ENERGIEN DES THEATERS

Verausgabung aufführen Auffallend ist, dass in den szenischen Künsten der Gegenwart energetische Prozesse in den Mittelpunkt der künstlerischen Praxis rücken. Dies zeigt sich im Umgang der Darstellerinnen und Darsteller mit ihrem Körper, der zum Test- und Experimentierfeld von Energien wird. Und es zeigt sich auch in der Suche nach neuen Wirkungen auf das Publikum durch lange Zeitdauern, kollektive Belastungen oder das Herstellen intensiver Zustände. Dabei entsteht eine interessante historische Verschiebung: Während die Avantgarden an der Schwelle zum 20. Jahrhundert im Energetischen oftmals Utopien der Dynamik, Effizienz und Übersteigerung suchten, zeigen zeitgenössische Künste ein starkes Interesse an den Störungen, Dekonstruktionen oder Auflösungen von Formen durch das Energetische.

Der Begriff des „Energetischen“ taucht in den Darstellenden Künsten seit über einhundert Jahren in verschiedenen Konstellationen auf und hat sich in den letzten Jahrzehnten verstärkt und ausdifferenziert. So empfiehlt etwa der japanische Schauspieler, Regisseur und Autor Yoshi Oida Übungen zur Entwicklung „menschlicher Energie“, glaubt der Regisseur Peter Brook an verbindende „energies“ zwischen Darstellern und Publikum und spricht Volksbühnendarsteller Bernhard Schütz von der „Energie des Raumes“, der er sich als Schauspieler zu stellen habe. Joseph Beuys errichtet einen „energy plan for the western man“ und die Performancekünstlerin Marina Abramovic behauptet in einem Interview 2012 gar „Energie ist das Ziel meiner Kunst“. Mit dem Begriff der Energie werden die immateriellen und medialen Bedingungen künstlerischer Darstellung als auch deren Effekte zu fassen versucht. Doch was ist damit eigentlich gemeint?

Körperpraxis als Körperwissen Aus der Perspektive der Künste rückt vor allem das Energetische als implizites oder auch körperliches Wissen in den Blick. Dieses „Wissen der Künste“ meint ein habitualisiertes und geteiltes Wissen, das durch Training und Übung erworben wird, jedem Körper und Kontext neu angepasst werden muss und oft über kein ausgereiftes Begriffsvokabular verfügt. Dieses Wissen über Energie umfasst die Produktion und Rezeption von Werken oder Aufführungen, es kann nicht gewogen, gezählt oder fotografiert werden und ist doch Teil jeder künstlerischen Darstellung. Für den Tanz, die Darstellenden Künste oder auch die Performance Art stellen sich hier viele Fragen: Welches Wissen über Energie wird durch körperliche Praktiken erzeugt? Welchen Einfluss haben naturwissenschaftliche, technische oder ökonomische Energiediskurse auf zeitgenössische Aufführungen? Und welche Rolle spielen Körper, Materialien, Sound, Architektur oder die Dauer von

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Diese Frage wird zumeist mit einer Reihe von Synonymen beantwortet: Kraft, Masse, Arbeit, Wirksamkeit, Fluidum, Chi, Lebensgeist oder Spannung gelten als Äquivalente des Energiebegriffs. Das ist keineswegs ein Problem „inexakter“ Wissenschaften. Auch die Physik weiß nur, dass Energie etwas ist, das alle Umwandlungsprozesse bedingt. Es liegt vielmehr in der Natur des Phänomens selbst. Energie ist kein Ding, sie ist ein „Fluidum ohne festen Wohnsitz“, wie der Künstler Jochen Gerz einmal treffend sagte, das sich nur in Umwandlungs- und Übertragungsprozessen zeigt. So kommt es, dass wir die bei einer Aufführung, einem Malakt oder einem Gesang beteiligten Energien nur schwer wiegen, messen oder fotografieren können. Und doch reagieren wir – unwillkürlich oder bewusst – auf das jeweilige Energie­ niveau unseres Gegenübers mit Aufmerksamkeit, Spannung, Unwohlsein oder Langeweile. Denn das Energetische gründet in unser aller Erfahrung des Lebendigseins.

Das sichtbare Vor- und Aufführen von Verausgabungen zeigt einen Wechsel in der künstlerischen Ökonomie an. Denn das zeitgenössische Theater hat ein ganzes Arsenal von Gesten entwickelt, in denen der Körper sich durch exzessive Bewegungen sichtbar energetisch verausgabt: langes, ausdauerndes Stehen ohne sich zu rühren, das Halten des Körper im Ungleichgewicht, rhythmisches Stampfen und Schreien, aber auch Rennen, Klettern, Rutschen oder Tanzen bis zur völligen Erschöpfung. Während es im sogenannten bürgerlichen Theater bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als verpönt galt, physische Anstrengung auf der Bühne sichtbar werden zu lassen, scheint es heute darum zu gehen, dem Publikum zu zeigen, dass bei der Darstellung Energie umgewandelt, sprich: dass hier gearbeitet wird. Die Palette solcher Verausgabungsgesten reichte von den kompromisslosen Selbstkasteiungen der Body-Art-Künstler, über die stampfenden Chöre Einar Schleefs bis hin zu den überbordenden Szenarien Christoph Schlingensiefs. Sie umfasst finanzielle, materielle und physische Formen und trägt Züge eines Prozesses, den Georges Bataille einmal als „Schöpfung durch Verlust“ bezeichnet hat. Darin kehrt sich die Logik des sogenannten ökonomischen Menschen um und hält ihr eine Feier des Sich-Verlierens und Verausgabens entgegen. In gewisser Weise trägt jede theatrale Aufführung den Charakter einer „unproduktiven Verausgabung“, denn hier werden Gelder und Materialien, aber auch physische, mentale und lebenszeitliche Ressourcen für ein flüchtiges Ereignis verbraucht. Nicht zuletzt zeigt sich also in der ausgestellten Dialektik von Erzeugen und Verschwinden auch eine Reflexion auf die Ökonomie künstlerischen Arbeitens. Barbara Gronau ist Professorin für Theorie und Geschichte des Theaters und Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs „Das Wissen der Künste“. Erschienen in journal 6.


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Das Environment „Eardweard‘s Ear – Muybridge extented“ von ­Penelope Wehrli transformiert tänzerische Bewegungen in Echtzeit in grafische Notationen, die live von Musikern gespielt werden. Vermittelt durch eine kompositorische Setzung und ein Interface dialogisieren Tänzer und Musiker in einer virtuellen Architektur. Sie agieren auf zwei Spielflächen, füreinander nicht sichtbar. In der mehrstündigen Performance gibt ein Tänzer jeweils den ersten Impuls. Die Bewegungsdaten werden fragmentarisch aufgezeichnet. Die Interpretationen der drei Musiker wenden sich als Antwort

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unmittelbar an die Tänzer, sie evozieren ihre nächsten Bewegungen. Mediale Vorgänge und körperliche Wahrnehmung durchdringen sich in diesem Prozess. Penelope Wehrli war bis 2019 Gastprofessorin im Studiengang Bühnenbild und arbeitet an den Schnittflächen von Raum und Performance, Theater, Film und Medienkunst. Ein Gespräch mit Dr. Henning Fülle, Dramaturg, Kulturforscher und Lehrbeauftragter im Studiengang Bühnenbild ist in journal 6. erschienen.


Dieses Hören ist sehr intensiv, sehr körperlich, der Ton selbst wird zu einem Körper. Man selbst taucht in den Klang. Immersiv und hochemotional. Es ist eine Hör-Augmented Reality. Wie geschieht das? „Die Wirkung auf den unbedarften Hörer ist sehr stark. Das Format bietet viele gestalterische Möglichkeiten. Wir versuchen meist nicht einfach von A nach B zu kopieren und den Hörer dahin zu versetzen, wo das Ereignis eigentlich stattgefunden hat oder so stattgefunden haben könnte. Das wird häufig gemacht, überzeugt mich aber nur dann restlos, wenn dies im Hinblick auf Komposition und Aufführung die eindrucksvollste und adäquateste Gestaltungsart ist.“

THORSTEN WEIGELT RAUMKLANGENERGIE Das Tonstudio 101 ist an den Konzertsaal Hardenbergstraße angeschlossen und Teil der Infrastruktur des Studiengangs Tonmeister. Hier entstehen u. a. die Aufnahmen der Konzerte des Symphonie­ orchesters der UdK Berlin als Teil des Unterrichts. Aber das Studio ist auch ein großes 3D-Ton-Experimentierraum, ausgestattet mit einem komplexen Surround-Sound-System. Das ist der Grund für einen ­Studio-Besuch bei Thorsten Weigelt.

Im 3D-Tonstudio ist man Hör-Architekt, -Bildhauer und -Dramaturg, man erschafft eine hörbare und erlebbare Körperlichkeit der Musik, eine neue Hörarchitektur oder einen Hörraum, der dem Konzerterleben gleichwertig und doch eigenständig ist. „In der Modellierung und Gestaltung werden die Instrumente im Hörraum neu arrangiert, das hat mal dramaturgische, mal psychoakustische Gründe. Die Signale der Orgelmikrofone haben wir in dieser Aufnahme hinten unten platziert, obwohl die Orgel im Dom links auf der Empore steht. Das hat psychoakustische Gründe, um eine noch bessere Umhüllung des Hörers zu erreichen.“

Vor uns – ein riesiges Mischpult, um uns herum zwölf Lautsprecher verschiedener Größen, aufgestellt in unterschiedlichen Höhen. Wir hören den monumentalen Anfang der Bruckner-Sinfonie Nr. 3 im Berliner Dom: „Es geht darum, wie setzt man den Hörer in einen Klang, sodass er ein anderes und intensiveres Musikerlebnis erfährt als mit normalem Stereo- oder 5.1-Ton. Es geht um die Übertragung und Gestaltung eines Musik-Erlebens, um das Drin-Sein in der Musik, Umgeben-Sein von Klang, um mehr als ,einfach nur hören‘. Der Dom hat mit seinem sehr langen Nachhall eine besondere Akustik. Wenn man dort als Konzertbesucher einen entfernten Platz hat, kann es passieren, dass man wunderbar im Raumklang ist, viele Details der Musik aber gar nicht wahrnehmen kann. Hier im Studio mit 3D-Klang kann man das gut ausbalancieren, sodass man im Raum wirklich drin ist und trotzdem einen hervorragend transparenten und gut durchhörbaren Klang des Orchesters erreicht.“

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Wie macht man das? Ein weiterer Ausschnitt führt uns tiefer hinein in den Hörraum: Noam Sheriff, „Akeda“. „Es ist der Schluss des Werks, ein längerer Abschnitt, wo wir im Studio viel verändert haben. Im Konzert stand das Orchester in normaler Aufstellung vorn, in der Mischung haben wir einiges verändert. Die Percussionsinstrumente zum Beispiel haben wir aufgeteilt und um den Hörer herum platziert. Das sorgt für eine sehr gute Durchhörbarkeit und Klarheit und nimmt den Hörer hinein in das Orchester. Ganz anders als beim Bruckner geht hier die Manipulation viel weiter und greift direkt in die Platzierung der Instrumente ein, der ,natürliche‘ Klang wird hier verlassen. Für den Dialog von Harfe und Solo-Posaune haben wir die Harfe vorne links nah und groß und die Posaune – in der spannungsreichsten Position – weit entfernt hinten rechts positioniert. So etwas muss nicht immer funktionieren, es muss einen musikalischen Grund dafür geben. 3D-Sound zielt, wie überhaupt alle Musikaufnahmen, auf ein eigenständiges Musikerlebnis, ohne optische Information, ohne dass man ein Konzert zusammen mit 2000 weiteren Personen erlebt. Ganz am Ende des Stücks flüstert das Orchester ,pacem‘, das liegt in dieser Mischung in der oberen Ebene, auch das Piccolo-Solo schwebt im Raum, sehr weit entfernt und undefinierbar. Das hat eine ungeheure Wirkung.“

Modelliert man erst im Studio? „Das Modellieren beginnt schon vor der Aufnahme mit der Aufstellung der Mikrofone. Für die Platzierung muss man im Blick haben, was man am Ende will, und wie man dahin kommt, und wie man sich Möglichkeiten eröffnet für Ideen, die oft erst in der Mischung entstehen. Das ist ein Lernprozess, den man zuerst für Stereo, dann für 5.1 und jetzt für 3D durchläuft. Und viel experimentieren. Inzwischen gibt es natürlich viele wissenschaftliche Untersuchungen darüber, wie das dreidimensionale Hören in mehrkanaliger Wiedergabe funktioniert. Diese sind sehr hilfreich, dennoch muss man sie in der Praxis immer validieren und prüfen, inwiefern die Ergebnisse dann wirklich für Gestaltung und Umsetzung relevant sind.“ Der Mensch ist vielmehr daran gewöhnt, auf optische Reize zu reagieren, als sich auf das Hören zu konzentrieren. Steuert man nicht auch sehr viel über das Visuelle? „Sich nur auf das Hören zu konzentrieren und ihm zu vertrauen, ist immer wieder ein ganz schwieriger Punkt. Wie oft passiert es auch uns Tonmeistern, wir drehen an einem Knopf des Mischpults, stellen etwas ein – und schon klingt es viel besser, nur dass das Modul leider ausgeschaltet war. Man stellt sich etwas vor, hat eine klare Erwartung und übersetzt diese dann in das, was man hört. Man sieht etwas und meint, man hört es auch. An der TU Berlin gibt es viele Untersuchungen, die sich mit virtueller Akustik beschäftigen. Darüber, wie weit das optische vom akustischen Erlebnis trennbar ist, und es noch immer funktioniert, und ab wann es nicht mehr funktioniert. Was akzeptiert man und was nicht? Viel hängt vom Erfahrungsschatz des Hörers ab, welche Hörerfahrung er hat, wie soll ein bestimmter Raum ,klingen‘.“ Im Studio haben wir genau diese Erfahrung gemacht – akustisch waren wir im Dom, optisch und physisch im Studio, in einem kleinen Zimmer in der


Fasanenstraße. „Das ist das Erstaunliche an diesem Format. In einem kleinen Raum einen großen zu kreieren, das geht. Was aber nicht geht, ist: in einem großen Raum einen überzeugenden kleinen zu erschaffen. Das ist viel schwieriger. Die Dimensionen passen nicht, die Entfernungen der Akteure und der Instrumente werden zu groß.“

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Wie verbreitet ist 3D-Sound? „Es gibt inzwischen viele Veröffentlichungen auf Blu-Ray, vor allem von kleineren Labels, die großen trauen sich da bisher kaum heran. Es ist ein Nischenmarkt. Die Klassik ist eh schon ein Nischenbereich. Und mit 3D-Sound befinden wir uns zur Zeit in der Nische der Nische der Nische. Allerdings wird 3D-Sound in anderen Bereichen wie Show- und Konzertbeschallungen immer wichtiger, und aus dieser Richtung sind dann auch wesentliche Impulse in die eigentliche Musikproduktion nicht auszuschließen. Zudem ist zu erwarten, dass die einfache Verbreitung über das Internet zukünftig für eine größere Durchsetzung dieser Formate, möglicherweise über die Binauralisierung, sorgen wird.“ Sound spielt in erlebnisgenerierenden immersiven VR- und AR-Applikationen eine sehr entscheidende Rolle – er ist ein Spielpartner. Auch in Computerspielen mit komplexen visuellen und akustischen Landschaften. Die wiederum haben eine Massenverbreitung. „Im Gaming-Bereich geht es genau darum, den Spieler in die Umgebung möglichst eindrücklich hineinzunehmen. Um das zu programmieren, gibt es mittlerweile Mischumgebungen, die in die virtuelle Umgebung hineingesetzt werden. Als Tonmeister hat man dort ein Mischpult und alle technischen Werkzeuge innerhalb der virtuellen Umgebung, die man braucht, um optische und akustische Objekte zu bewegen und zu verändern. Also Augmented Reality in der Virtual Reality. Wie relevant und nutzbar diese Ansätze für die Musikproduktion werden, lässt sich schwer sagen.“ Eine sehr reale erweiterte Wirklichkeit haben wir aber in diesem 3D Ton-Studio erlebt: die Metamorphose der musikalischen Kraft eines Konzertes über eine sehr komplexe Technologie in ein neues und außergewöhnliches Hörerlebnis.

Das Denkfenster „Das Auge ist unser Denkfenster. Es betrachtet als emotio­naler Kommunikationsträger und als Verbindung mit der Außenwelt. Aus Respekt vor der Kunst und aus Neugierde auf das Unbekannte treffen wir uns beim UdK-Rundgang …“ Plakatentwurf von Suorui Zhao für den Wettbewerb zum Rundgangmotiv 2019 in der Klasse von Prof. Uwe Vock, Design für Wirtschaft und Werbung, betreut von Gosia Warrink

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Thorsten Weigelt ist Professor im Studiengang Tonmeister. Er arbeitet für verschiedene Labels und Rundfunkanstalten und unterrichtet und produziert bei der Fundación Musical Simón Bolívar Venezuela in Caracas. Erschienen in journal 6.

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KARSTEN KONRAD TRANSFORMATIONEN UND TORNOS Die Tür des riesigen kühlen Ateliers von Karsten Konrad ist leicht angelehnt, es ist ein stiller Sommernachmittag in Kreuzberg. Auf dem hellen Betonboden winden sich Messingplastiken, ein polychromer Turm-Wald schiebt sich in die Mitte des Raums, verbogene Chrombeine von Freischwingern warten darauf, in ihr neues Sein geholt zu werden. Konrad ist abstrakter Bildhauer. Sein Material sind Gegenstände, die niemand mehr braucht. Er sucht und bewahrt die Trümmer des Konsums vor dem Verschwinden, zerlegt sie, transformiert

sie und gibt ihnen ein neues Leben in seinen Skulpturen – eine Metamorphose abgestoßener Alltagsgegenstände in ein künstlerisches ­„after life“. 40 … Standortkarte auf der letzten Seite

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Was ist die Idee? Was waren deine ersten Arbeiten? „Eine Mischung aus ökonomisch und ökologisch, ich wollte Material verwenden, das es schon gibt. Seit ich sieben war, hat mich meine Mutter zu Flohmärkten mitgenommen. Ich habe das Entdecken geliebt, die Überraschung, das Sich-treiben-lassen, zugleich zu selektieren und Qualität zu erkennen gelernt und meinen Blick für Design geschärft. Dinge finden, die man in keinem Laden kaufen kann, die man sich nicht ausdenken kann, die an sich schon Kunstobjekte sind in gewisser Weise, ,outsider art‘. Später als Student an der HdK (bei ­David Evison) habe ich zunächst mit Metall und Schrott gearbeitet – damals Ende der 1980er war die Endphase der Auto-Chromstangen, eine große Zeit von interessanten Materialien.“


Karsten Konrads Arbeiten sind von müheloser ästhetischer Eleganz. Die Qualen des Materials während der Transformation – das Sägen, Bohren, Verbiegen, Schweißen, die physische Gewalt – sind nicht einmal spürbar. Und sie sind paradox in ihrer dynamischen Ruhe: Die Form ist eingefroren mitten in einer Bewegung, die jeden Moment in jede Richtung weitergehen und sich weiter verwandeln kann. Diese subtile Dynamik funktioniert auf mehreren Ebenen: Es ist ein spielerischer Dialog der Objekte miteinander, ihrer Ästhetik und ihres Zeitgeschmacks, mit dem Betrachter, der mit dem zweiten oder dritten Blick dazu verführt wird, die Elemente zu identifizieren, ein Dialog mit dem Raum und schließlich mit den distanziert-ironischen Titeln.

Man muss es dann kontrastieren mit einem anderen. Aber es geht nicht um reine Geometrie. Die Arbeiten sind eine Archäologie von Nachkriegsformen und sehr mit der Jetzt-Zeit verbunden. Die Konsumwelt hier reinzuholen – z. B. aussortierte Möbel aus den 1970ern – und das, was man findet, direkt als Material zu verwenden und seine Geschichte durchscheinen zu lassen. Das interessiert mich.“ Mit seinen Skulpturen analysiert Konrad unsere Realität, die sozialen Träume, die in den ausgedienten Waren, Möbeln und Maschinen eingeschrieben sind und verlagert sie so in unsere eigene Gegenwart. Und das Material dafür liegt buchstäblich auf der Straße. Man muss es nur sehen. Und man sieht auch nur bestimmte Dinge zu bestimmten Zeiten. Oder man holt sich genau das, was einen im aktuellen Moment beschäftigt. „Ja, und was noch dazu kommt, ist mein Interesse für Architektur, Urbanismus und Design. Auto-Design, Interior-Design. Hier wird es auch soziologisch interessant: Wie richtet man seine Wohnung ein, wer ist man, was will man sein, was will man zeigen. Ich verwende auch ,schlechte‘ Materialien, beschichtete Spanplatten zum Beispiel oder gebrauchte Ikea-Möbel. Ikea ist ein total hegemoniales Material, mit wenig Geschichte, es ist überall, ob in New York oder hier oder in China. Auch das in eine Skulptur zu transformieren reizt mich.“

Wie fängst du an, ist das Material zuerst da oder die Idee? Wie triffst du ästhetische Entscheidungen? „Das Material ist zuerst da, und die Grundidee ist, eine abstrakte Skulptur zu bauen – also geometrische Formen plus die Geschichte der Objekte mit ihrer Patina. Die Farben verändere ich nie. Das Entscheidende ist, wie schaffe ich es, Dinge, die in einem bestimmten Kontext waren, so zusammenzuführen, dass daraus ein neues Stück entsteht, das seine Berechtigung als Kunstobjekt in unseren Leben hat. Wenn ich monochrom arbeite, also nur mit einer Sorte Material, etwa Messing oder Chrom, kann ich mehr in der Form wagen. Benutze ich farbige Materialien, dann muss sowohl Form als auch Farbe in der Komposition stimmen. Der Anfang ist das Schwerste. Da muss es zwischen den ersten zwei oder drei Elementen ,funken‘. Sie müssen zueinander passen. Nicht offensichtlich, aber innerhalb meiner eigenen, eher intuitiven Klassifikation. Dann suche ich mir ein drittes Material, das die beiden miteinander verbindet. Einige entwickeln sich nicht weiter, sie bleiben liegen und irgendwann entdecke ich sie vielleicht neu. Fängt man aber einmal an, ergeben sich die nächsten Schritte von allein und im Dialog mit dem Material. Es ist also ein Spiel ohne Regeln – viel probieren. Ich habe zwar ein diffuses Bild vor Augen am Anfang, aber wenn ich vorher genau wüsste, wie es aussehen soll, würde mich das langweilen.“

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Die eigentliche Schatzkammer des Bildhauers breitet sich aus im enormen Souterrain – es ist seine Materialsammlung. Sie ist exzessiv und schon selbst eine Kunstinstallation: Instrumente aller Größen, Maschinen aller Art und jeden Alters, Sägen, Verformer, Holz, Schrauben, Rohre, Möbel, Waren … Dinge. Ein durchorganisiertes Materialparadies. Nach oben, ins Erdgeschoss kommt nur das, was für die aktuelle Arbeit gebraucht wird. Und dort sehen wir sie, die Objekte mit ihrer Geschichte in ihrer besten Gegenwart. Ihre Identität ist in den Skulpturen allerdings nie vordergründig. Wie relevant ist der ursprüngliche Kontext der Dinge, ist das zusätzliches Material? „Es geht um die affektive Qualität. Je stärker sie ist, desto schwieriger wird es. Zum Beispiel Spiegel, Schaufensterpuppen. Sie alle sind aufgeladen mit Bedeutung. Und das ist heikel. Es gibt in meinen Arbeiten den Widerspruch, dass ich immer Körper meine, sie aber nicht zeigen will. Vor allem, weil ich zu den großen Meistern wie Bernini oder Rodin nichts mehr hinzufügen kann. Mir geht es um abstrakte Formen, um Relationen. Ich arbeite mit Material, das man zum Teil erkennt.

Die jüngsten Arbeiten sind Konrads „Tornos“, die Türme. Wir haben hier plötzlich eine Vertikale und – Symmetrie. Die Tornos (griechisch für gedrechselt) sind wie Totems, phallisch, atavistisch. Betrachtet man sie länger, fangen sie an zu rotieren, werden zu Pirouetten im Raum. In der Menge, als Wald sind sie wie eine Naturgewalt. Was hat dich hier beschäftigt? „Die Türme bringen mein Prinzip auf den Punkt: Runde Formen in eine Skulptur zu integrieren ist schwierig. Wenn ich aber nur mit runden Objekten arbeite, gibt es plötzlich andere Regeln innerhalb der (großen) Form. Ich bohre Löcher in die Böden, setze die Türme auf einem Metallstab zusammen. So kann ich schnell etwas austauschen, bis es stimmig ist. Bei dieser Technik kann ich mehr mit Bedeutungen spielen und bin schnell bei der Form und bei ästhetischen Entscheidungen, bei Ergebnissen. Das stillt eher meine Ungeduld. Für die Türme bekomme ich gerade auch das größte Feedback. Die Einzelteile sind viel offenbarer. Wie Bohrkerne. Mit Zeitschichten.“ Also maximale Flexibilität mit und in der Form? Oder: Nichts bleibt, nichts ist abgeschlossen? „Material und Raum, das ist es im Grunde. Und Schönheit mit Patina. Dafür möchte ich auch meine Studierenden sensibilisieren. Schönheit, die sich auf das Wesentliche konzentriert. Wabi-Sabi heißt das im Zen-Buddhismus. Das ultimativ romantische Material ist für mich Strandgut am Meer. Das Äquivalent hier in Berlin ist, durch die Straßen zu laufen und Dinge zu finden. Oder beim Lieblingsschrottplatz oder beim Lieblingströdler zu schauen, was an den ,Strand des Lebens‘ gespült worden ist.“ Karsten Konrad ist Professor für Bildhauerei. Ein Studiobesuch von Marina Dafova. Erschienen in journal 7.


besondere Nähe zur Kunst, bei der es immer auch um ein Befragen und Hinterfragen des eigenen Selbst- und Weltverhältnisses geht. Bildung wie auch künstlerische Tätigkeit sind an Erfahrungen gebunden, die weniger gesicherte Ergebnisse nach sich ziehen als vielmehr bedeuten, etwas durchzumachen (vgl. Bernhard Waldenfels). Das an Erfahrungen gebundene Lernen, das sowohl im Rahmen von Bildungsprozessen als auch in künstlerischen Prozessen initiiert werden kann, versucht dabei weder der Welt verlässliche und vorhersehbare Züge abzugewinnen noch ist das an Erfahrungen gebundene Lernen als Besitz jederzeit verfügbar und abrufbar. Vielmehr kann im Kontext von Bildung wie von Kunst ein Lernen stattfinden, das versucht, „der Welt nahe zu kommen“, sich die „Welt unter die Haut gehen zu lassen“ (Horst Rumpf) und damit eine Haltung zu erreichen, die es dem Subjekt ermöglicht, sich auf die sinnliche Dichte von Rätselhaftem, Widerständigem und Fremdem, das die Welt auch ausmacht, einlassen zu können (vgl. Horst Rumpf).

KIRSTEN WINDERLICH DIE KRAFT DER IMAGINATION. LERNEN VON KUNST Wenn die Kunst zur Wirkung kommen soll, sollte sich die Kunst vor der Pädagogik in Acht nehmen, sich vor ihr hüten. Häufig ist Kunst im Hinblick auf Schule, Bildung und Erziehung mit einer spezifischen Erwartungshaltung verknüpft: Kunst soll Kinder und Jugendliche fördern, Kunst soll lebenslanges Lernen unterstützen, den inter- und transkulturellen Austausch fördern, zur Inklusion beitragen, Kunst soll entlasten und entspannen, ermöglichen, einen Lebenssinn zu finden … Die Liste könnte fortgeführt werden. Was allen aufgezählten Erwartungen gemeinsam ist, ist ihr Zielcharakter, ihr Ausblick auf einen konkreten Nutzen.

Diese Haltung dem Lernen gegenüber liegt in einem Kunstverständnis begründet, das Kunst nicht nur als Vermögen oder als Können begreift. Vielmehr zeichnet sich Kunst auch durch eine Kraft aus, die im Spiel wirkt, eine Kraft, die erfinderisch und dabei ohne Zweck ist und dadurch ihrer Hervorbringung immer voraus ist (Christoph Menke).

Um einen Lernbegriff zu schärfen, der Kunst jenseits ihres Nutzens produktiv macht, sollen im Folgenden die Dimensionen von Kunst fokussiert werden, die sich durch Freiheit von Zweck und Nutzen auszeichnen und gerade darüber eine Nähe zur Bildung herstellen. In einem ersten Schritt folgt nun eine Klärung und Positionierung zwischen den Begriffen Pädagogik und Bildung, im Anschluss wird dann die unterschätzte Nähe zwischen Kunst und Bildung aufgezeigt.

Anders als Erziehung kann Bildung als Möglichkeit einer grundlegenden Veränderung und Transformation des Selbst- und Weltbezugs beschrieben werden. Bildung ist damit nicht nur als Aufnahme, Aneignung und Verarbeitung von Wissen oder Umsetzung von extern gesetzten Zielen zu verstehen, sondern vielmehr als eine Möglichkeit, diesen Rahmen im Zuge neuer Wahrnehmungs- und Sichtweisen zu öffnen und zu erweitern und entsprechend als ein „Andersdenken oder Anderswerden zu begreifen“ (Hans-Christoph Koller). In diesem Sinne kann Bildung auch als eine experimentelle Form der Welterschließung betrachtet werden (vgl. Sönke Ahrens). Sie zeigt so eine

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Erziehung – Bildung Der Begriff Pädagogik bezeichnet eine wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Theorie und Praxis von Bildung und Erziehung auseinandersetzt. Häufig ist dabei eine Dominanz des Begriffes Erziehung zu beobachten, einem Begriff, der als Einflussnahme auf Entwicklung und Verhalten von Heranwachsenden durch Erwachsene definiert werden kann. Die Einflussnahme ist dabei als intentionale Tätigkeit zu verstehen, die von Normen abgeleitet wird, auf Ziele ausgerichtet ist und sich spezifischer Methoden und Mittel bedient. Im Unterschied zur Bildung wird dieser Rahmen von außen gesetzt, d. h. nicht primär und ausschließlich durch das lernende Subjekt selbst.

Lernen durch Kunst Was ist das für ein Lernen – in, an, mit und durch Kunst? Was für ein Lernen von Kunst? Und was bedeutet dieses Lernen für Studierende der künstlerischen Lehramtsstudiengänge? Für Studierende, zu deren Studienalltag es gehört, sich in einem ständigen Spagat zwischen Pädagogik und Kunst zu üben, bei gleichzeitigem Wissen, dass dieser nie in Vollendung erfahren und gelebt werden kann? In, an, mit und durch Kunst kann ein Lernen angestoßen werden, auf dessen Verlauf Künstler und Pädagogen nur bedingt Einfluss haben. Es ist ein Lernen, dessen Potenzial gerade darin liegt und das auf einem „Curriculum des Unwägbaren“ fußt (Johannes Bilstein). Um Kindern und Jugendlichen in der Schule umfassende Gelegenheiten für ein derartiges Lernen zu bieten, ist es also absolut notwendig, dass angehende Lehrer­ innen und Lehrer nicht nur um dieses spezifische Lernen wissen und es schätzen, sondern sich im Studium dafür qualifizieren. Die grundlegende Frage für mich ist: Wie komme ich mit meiner Kunst und mit meiner künstlerischen Erfahrung in Kontakt mit dem Anderen, mit den Kindern und Jugendlichen, mit den Menschen, mit denen ich im weitesten Sinne arbeite? Wie komme ich also in einen Austausch? Wie kann ich dem Anderen einen Raum geben, sich künstlerisch auszuprobieren und künstlerische Erfahrungen zu sammeln, ohne dass ich die Kunst aufgebe und mich von der Rolle der Pädagogin, die ich gleichzeitig habe, dominieren lasse? Ich denke, dass eine wahrnehmend-forschende Haltung der Schlüssel dafür ist. Also die Prozesse, die man angestoßen hat, wahrzunehmen und das Wahrgenommene dabei reflexiv zu durchdringen. Diese Haltung ist in der Schule, wo es primär um Aufgabenstellungen geht,


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deren Bearbeitung und Ergebnis auf vorab festgelegte Ziele hin überprüft werden, eher ungewöhnlich. Eine wahrnehmend-forschende Haltung kann den Lehrenden einen Zugriff auf das Noch-nicht-Antizipierte, das Noch-nicht-Gewusste oder das Unerwartete ermöglichen. Das tut sie nicht nur auf kognitive, sondern auch auf körperlich-sinnliche und szenisch-situative Weise. Letztlich bricht eine forschende Haltung mit der „Illusion des unmittelbaren Verstehens“ (Bourdieu/Wacquant) – was sie wiederum in die Nähe zur Kunst rückt. Die radikale Fremdheit der Kunst In diesem Sinne schlage ich vor, von Kunst und ihrem ästhetischen Bildungspotenzial zu lernen. Das bedeutet auch, auf die radikale Fremdheit der Kunst zu bestehen, „… der Kunst ihre Ferne, ihre Widerstandskraft, ihre aus Erstaunlichem und Erschreckendem gemischte Zugkraft zu erhalten“ (vgl. Bernhard Waldenfels). Unser Blick sollte genau so auch auf das künstlerische Arbeiten von Kindern gerichtet werden. Auch hier gilt es, auf die postulierte Fremdheit zu bestehen und sich das eigene Staunen nicht durch vorschnelle Einordnung und Bewertung nehmen zu lassen. Die Initiierung wie auch die Begleitung künstlerischer Prozesse von Kindern und Jugendlichen erfordern demnach eine Fähigkeit, die in den kompetenzorientieren Rahmenplänen verloren gegangen ist, weil sie nicht messbar ist. Das ist eine Fähigkeit, für die Lehrer der künstlerischen Fächer jedoch Experten sind: die Fähigkeit zur Imagination. „Diese Einbildungskraft entführt uns nicht in eine andere Welt, sondern lässt die Welt als andere erscheinen.“ Voraussetzung dafür ist, „sich von den Dingen durchdringen zu lassen … sie zu Bildern werden lassen, wann sie es wollen“ (Bernhard Waldenfels).

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Das ästhetische Bildungspotential von Kunst zur Wirkung zu bringen heißt demnach, von der Kunst zu lernen, von ihrer Fähigkeit zur Imagination, zur Einbildungskraft. Das gilt für die Schule genauso wie für die Hochschule, also für das Studium. Eine Qualifizierung für die künstlerischen Lehrämter setzt voraus, dass Schule wie auch Hochschule für die angehenden Lehrkräfte als ästhetischer Bildungsraum wahrgenommen und genutzt werden können. Finden Studierende trotz wahrnehmend-forschender Haltung in der Schule wie Hochschule nichts vor, was ihre Imaginationsfähigkeit anregt, bleibt für die Kraft der Kunst kein Raum. Kirsten Winderlich ist Professorin für Ästhetische Bildung in der Kindheit und leitet seit 2012 die grund_schule der künste der UdK Berlin. Diesem Text liegt ein Vortrag zugrunde, den sie beim Symposium „Künste lehren“ an der UdK Berlin im Mai 2019 gehalten hat. Literaturverweise und Original: www.udk-berlin.de/journal Erschienen in journal 7.


Was für Literatur spielt man denn auf dem Hammerklavier? Es ist sicher sinnvoll, Stücke auf den Instrumenten zu spielen, mit denen die Komponisten vertraut waren. Wir wissen zum Beispiel, dass Mozart auch ein Instrument von Anton Walter hatte. Wie flexibel kann man aber sein? Brahms hatte zum Beispiel einen Flügel mit einer für seine Zeit veralteten Wiener Mechanik, aber seine Musik wurde gleichzeitig auch auf viel „moderneren“ Instrumenten gespielt. Natürlich muss der Umfang reichen: Der moderne Flügel hat mehr als sieben Oktaven – also 88 Tasten, unser Hammerklavier aber nur fünf – also 61 Tasten. Rachmaninow, Ravel oder Ligeti kann ich also hierauf nicht spielen. Da fehlen oben und unten ganz viele Tasten. Die Instrumente erzählen uns, was passt und was nicht. Sie erzählen uns sehr viel. Beim Spielen lernt man vom Instrument. Wie kann ich expressiv sein? Wie viel Agogik, wie viel Freiheit braucht eine Linie, damit es schön klingt. Wie gestalte ich die Balancen, wie prägnant sind die Bässe ... das lernt man, das Modellieren. Deswegen ist es so wichtig, mit diesen alten Instrumenten oder ihren Kopien in Berührung zu kommen, auch wenn man die Stücke danach auf einem Steinway oder Bechstein spielt.

LUCAS BLONDEEL DAS HAMMERKLAVIER Gerade ist in der Bundesallee, in der Fakultät Musik, ein neues Instrument angekommen. Lucas Blondeel stellt es uns vor. Was ist ein Hammerklavier? Die Idee ist sehr simpel: ein Tasteninstrument, auf dem man unterschiedliche Dynamiken spielen kann. Bartolomeo Cristofori, Hofinstru­ mentenbauer der Medici in Florenz und Erfinder des Hammerflügels, nennt sein neues Instrument „gravicembalo con piano e forte“, also ein Cembalo, dass leise und laut spielen kann. Daher kommt auch der Name Pianoforte, später Piano, wie Klaviere und Flügel heute noch genannt werden. Beim Cembalo wird die Saite von Federkielen gezupft. Dank der Manuale und Register kann man zwar laut und leise spielen, feinere Abstufungen sind aber nicht möglich, und man kann auch kein Crescendo oder Diminuendo spielen. Die Erfindung von Cristofori ist, dass die Saite mit einem kleinen, von Leder überzogenen Hammer (daher der Name) angeschlagen wird, der sofort wieder herunterfällt. So kann man durch die Bewegung der Finger auf den Tasten die Lautstärke und die Zartheit des Klangs variieren und kontrollieren. Das war um 1700. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat sich der Hammerflügel dann gegen das Cembalo durchgesetzt.

Das neue Instrument sieht sehr schön aus … Es ist von Christoph Kern, einem der weltbesten Bauer von Hammerflügeln. Seine Werkstatt ist in Staufen, in der Nähe von Freiburg. Es handelt sich um einen Nachbau. Das Original ist von Anton Walter, Wien 1795. Es ist das perfekte Instrument für Mozart und Beethoven. Auch Schubert-Lieder klingen darauf wunderbar.

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Es ist also ein Vorläufer des heutigen Konzertflügels. Ist es – was die Technik betrifft – einfacher, auf einem Hammerklavier zu spielen als auf einem Steinway, zum Beispiel? Die meisten modernen Tastenspieler – Pianisten, Cembalisten, Organisten – haben auf einem ganz normalen Klavier angefangen. Die Umstellung ist am Anfang schwierig, weil das Gewicht der Tasten auf dem Hammerflügel viel geringer ist und die Bewegung viel kleiner. Die Tasten sind auch viel kürzer. Ich habe in Konzerten auf beiden gespielt – eine Hälfte auf einem Hammerflügel, eine auf einem modernen Flügel – diese Flexibilität genieße ich enorm. Man kriegt plötzlich ein ganz neues Gefühl für Tastentiefgang. Denn wenn die eine Taste nur ein paar Millimeter heruntergeht und die andere anderthalb Zentimeter, dann empfindet man das im Finger noch einmal ganz anders. Man kann es ganz grob vergleichen mit dem Fahren von unterschiedlichen Autos: In den ersten Minuten muss man sich an das neue Gaspedal gewöhnen.

Wofür hat dann Bach „Das Wohltemperierte Klavier“ geschrieben? Bei Bach geht es vor allem um intellektuelle Arbeit. Er wollte eine Synthese vom Musikwissen seiner Zeit zeigen und gleichzeitig einen Katalog seines musikalischen Könnens. Auf einem Steinway kann man fantastisch Bach spielen. Ein Saxophon-Quartett kann aber auch fantastisch Bach spielen. Ich bin da kein Purist. Das „richtige“ Instrument wäre ein Cembalo oder Clavichord. Aber Bach hat wahrscheinlich auch auf Hammerflügeln gespielt. Am sächsischen Hof gab es schon in den 1730er Jahren eine Hammerflügelsammlung. Bachs Sohn, Carl Philipp Emanuel, der in Berlin bei Friedrich dem Großen Hofkomponist war, hat auf jeden Fall Hammerflügel gespielt. Er ist der wichtigste Vertreter des „Empfindsamen Stils“. Seine Musik ist schlichter, weniger komplex und polyphon als die seines Vaters. Sie ist viel mehr auf Affekte gerichtet, Gefühle spielen eine große Rolle. Es war eine neue Zeit, eine neue Epoche. Und dafür gab es dann auch ein neues Instrument, worauf man, durch die Abstufung von Klängen, wirklich singen und seufzen konnte.

Aus dem Hammerklavier wurde schließlich der moderne Konzertflügel. War das technisches Interesse am Instrument oder gab es auch kompositorische und musikalische Gründe? Es hat auch soziologische Gründe. Das Bürgertum ist im Laufe des 19. Jahrhunderts enorm gewachsen, und das Konzertleben hat sich teils von zu Hause auf die Konzertbühne verlagert. Es gab also einen Bedarf an neuen Instrumenten mit mehr Klangvolumen. Überhaupt war es eine Zeit mit einem unglaublichen Erfindungsgeist. Die Entwicklungen im Klavierbau zwischen etwa 1770 und 1870 waren rasant und die Unterschiede zwischen den Städten (Wien, Paris, London) enorm. Allein in Wien gab es um 1800 weit über hundert Klavierbauer. Auch die Komponisten haben eine ganz große Rolle gespielt. Das sieht man zum Beispiel am Umfang vom Klavier. Haydn, Mozart und anfangs auch Beethoven haben innerhalb der fünf Oktaven komponiert.


Man kann die Entwicklung der Tastatur anhand von Beethoven-Sonaten sehr gut verfolgen: Nach 1803 kommen zwei Töne dazu, dann 1804 noch mal fünf. Er hat, auch wegen seiner angehenden Taubheit, die Klavierbauer animiert, größere und kraftvollere Instrumente zu bauen. Wenn ich eine Beethoven-Sonate spiele, habe ich das Gefühl, dass da jemand nach der Grenze seines Instruments sucht. Genau wie Prokofiew oder Messiaen, die an die Grenzen des modernen Flügels gehen und wirklich alle Töne benutzen. Durch die Standardisierung im Laufe des 20. Jahrhunderts, wo man fast nur noch auf Steinways gespielt hat und alle Klavierbauer im Grunde Steinway-Kopien gebaut haben, ist ein sehr einheitlicher Klang entstanden. Die Unterschiede zwischen einem Bechstein, einem Steinway oder einem Yamaha sind im Vergleich zu der alten Vielfalt gering. Aber der moderne Flügel ist ein fantastisch ausgearbeitetes, technisch ausgereiftes Instrument mit einem wunderschönen Klang – ein exzellentes Chamäleon, worauf man sehr unterschiedliche Musik erzeugen kann.

es auf dem Steinway möglich ist, ist es stilistisch nicht mehr angemessen. Es fehlen Artikulation und Leichtigkeit. Die Lautstärke geht dann in Richtung eines Prokofiew. Also muss ich vorsichtig sein. Dieses Problem gibt es beim Hammerflügel nicht: Ich kann so extrem spielen, wie ich will, leicht und artikuliert oder laut und wild. Melodien lassen sich sehr gesanglich und wenn nötig sentimental gestalten. Der Rahmen wird von dem Instrument diktiert. Für Studenten ist das ganz spannend. Sie bekommen eine Idee davon, wie anders die Instrumente waren, auf denen Haydn, Mozart, Beethoven und ihre Zeitgenossen komponiert haben. Was also hören wir, wenn wir Musik hören? Hören wir das, was der Komponist gehört hat, was damals aufgeführt wurde, was heute aufgeführt wird oder was wir mit unseren Hörerfahrungen erwarten? Hören ist immer eine Reaktion. Wir sind ja andere Menschen, wir können unsere Ohren ja nicht ent-tun von allem, was wir in unserem Leben schon an auditiven Wahrnehmungen gespeichert haben. In diesem Sinne können wir niemals wie ein Mensch aus dem 18. Jahrhundert hören. Wir haben zum Beispiel keine Ahnung, was deren Tempogefühl war. Verlässliche Metronome gab es erst nach 1815. Es gibt einen Dirigenten, der meint, das Leben war viel langsamer damals. Man war zum Beispiel ewig mit der Kutsche unterwegs ... deswegen nimmt er alle Tempi wahnsinnig langsam. Das ist natürlich viel zu pauschal gedacht. Aus Tagebüchern von Adligen weiß man, dass man im Barock sehr viel getanzt hat, etwa ein Drittel der Zeit sogar. Deswegen hatten die Menschen wahrscheinlich eine viel größere Körperlichkeit. Haben sie deshalb vielleicht viel tänzerischer gespielt, als wir es heute wagen? Wer weiß? Die Auseinandersetzung mit solchen Fragen ist das Spannende. Historisch informierte Aufführungen sind oft erst einmal überraschend, weil sie anders klingen als das, was man lange für die Tradition gehalten hat. In diesem Sinne sind sie etwas sehr Modernes, weil sie die Hörgewohnheiten durcheinanderbringen. Es gibt die Ansicht in der Alte-Musik-Szene, dass Stücke nur auf dem „richtigen“ Instrument zu spielen sind. Diese Meinung teile ich nicht. Man soll Musik spielen, worauf man will. Authentizität ist sowieso eine Illusion, weil wir nie wissen werden, wie Mozart gespielt hat oder wie es für die Leute damals geklungen hat. Man kann das richtige Instrument spielen, alle möglichen Traktate gelesen haben, lernen, wie die Technik damals war, in welchen Sälen gespielt wurde … es wird höchstens eine Annäherung bleiben. Aber das Suchen nach dieser Illusion und die Auseinandersetzung mit diesen Quellen bringt wiederum neue und sehr interessante Ideen für die Interpretation hervor, und das macht die Alte Musik, die Historische Aufführungspraxis, zur Gegenwartskunst. Das ist das eigentlich Spannende an der Sache.

Wie ist der Klangunterschied? Beim Hammerflügel sorgen das Holz und die dünneren Saiten dafür, dass der Klang einerseits sehr obertonreich, aber anderseits auch weicher ist, weniger Kraft hat und nicht so lange klingt. Das wird kompensiert durch die viel kleineren Hammerköpfe, die die Saiten anschlagen. Diese sind mit zwei dünnen Schichten Leder bezogen und sorgen für einen sehr sprechenden, klaren Ton. Beim modernen Flügel sind die Hammerköpfe viel dicker und aus Filz. Filz wurde erstmals um 1825 in Frankreich für den Flügel benutzt, das hat den Klang enorm verändert. Spiele ich eine frühe Beethoven-Sonate, dann benutze ich auf einem modernen Flügel nicht nur zwei Drittel der Tasten, sondern auch nur zwei Drittel des Volumens. Denn wenn ich so laut spielen würde, wie

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Der Hammerflügel ist ein sehr elegantes Instrument, mit edlen Materialien, Elfenbein, Ebenholz, Nussbaum, Schellack. Ein Kunstwerk für sich. Er war damals auch innovativ in der Benutzung der Materialien und der Technik. In diesem Instrument ist, bis auf die Saiten, Scharniere und Schrauben, nichts aus Metall. Das ganze Möbel ist aus Holz. Ein moderner Steinway zum Beispiel hat einen gusseisernen Rahmen. Da gibt es ein Vielfaches an Spannung auf den Saiten, die viel dicker sind und damit lauter und länger klingen, aber viel weniger Obertöne haben als die des Hammerflügels. Die Saiten des Hammerflügels sind alle parallel gespannt, auf dem modernen Flügel sind sie gekreuzt. Die Konsequenz ist, dass die Basstöne viel klarer sind. Chris Maene, ein hervorragender Instrumentenbauer in Belgien, hat für Daniel Barenboim eine Art Steinway-Kopie gebaut. Die Saiten des Instruments sind allerdings parallel, und die Holzkonstruktion ist etwas abgewandelt. Also hat er einen neuen modernen Flügel entwickelt mit Features, inspiriert von historischen Instrumenten. Maene hat selbst eine gigantische Sammlung alter Instrumente. Ich finde es ganz spannend, dass man nach etwa 150 Jahren Standardisierung nun vermehrt wieder anfängt, zu suchen, zu experimentieren. Das ist auch ein Wieder-Holen einer Idee.

Lucas Blondeel ist Professor für Klavier. Erschienen in journal 7.


STEFAN NEUNER DER PAGE UND DER FALSCHE SCHATTEN Irgendetwas stimmt da nicht. Das Ehrfurcht gebietende Haupt des ­Bischofs zeigt uns das Gemälde in einer Beleuchtung, deren Quelle der Maler zweifelsohne rechts oben annahm. Die Glanzpunkte sitzen in der rechten Gesichtshälfte, die linke ist abgedunkelt. Ein Schlagschatten fällt linker Hand neben dem kirchlichen Würdenträger auf die Marmorverkleidung der Nische, vor der er seinen Sitz genommen hat. Dennoch aber passen Kopf und Schatten nicht zusammen. Eine Mitra krönt das Haupt. Doch ohne diesen Schmuck zeichnet er sich auf der Wand ab. Wie soll man dies deuten?

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Paolo Veronese, Pala di S. Antonio Abate, um 1570, Öl auf Leinwand, 270 x 180 cm, Mailand, Pinacoteca di Brera

Das Altarbild malte Paolo Veronese um 1570 für die Kirche S. Antonio Abate, die einst zusammen mit einem zugehörigen Benediktinerinnenkloster auf der südlichsten Insel des Archipels von Torcello gestanden hat. Die Leinwand schmückte bis zur Aufhebung des Konvents im Jahre 1810 den Hochaltar des Gotteshauses. Die Würde des Aufstellungsorts scheint sich auch schlecht mit anderen Eigentümlichkeiten des Bildes zu vertragen, die prima vista ins Auge fallen. Da sind zunächst die beiden Knaben, die – einen Kreuzstab haltend, ein liturgisches Buch vorzeigend – das Amt von Messdienern versehen, aber Kleidung angelegt haben, die der weltlichen Mode entstammt. Noch mehr verwundert der Umstand, dass der Vorsitzende dieser „sacra conversazione“, der Titelheilige Antonius Abbas, seine Stirn in Falten gelegt hat und so einen Ausdruck annimmt, den man leicht als Ärger deuten kann. Wer wagte schon im Gebet die Interzession dieses gestrengen Kirchenfürsten zu erflehen? Wer aber würde sich überhaupt ermutigt sehen, Fürsprecher anzurufen, die wie die drei hier Versammelten offenkundig ihre ganze Aufmerksamkeit darauf gerichtet haben, in dem Buch zu lesen, das ihnen vorgehalten wird? Dass der Junge, der unter ihm hervorlugt – nicht ohne kokette Untertöne – ein Auge für die Beschauerinnen des Bildes hat (es waren in erster Instanz Nonnen), macht die Sache nicht besser. Was in aller Welt also ist hier los? Das als „sacra conversazione“ bekannte Modell des Altargemäldes, dem die „Pala di S. Antonio Abate“ zuzurechnen ist, bringt seinem Wesen nach Probleme inhaltlicher Kohärenz mit sich. Was ein Maler auf einem solchen Bild darzustellen hatte, war eine Gruppe heiliger Gestalten, deren Zusammenstellung sich oft aus kontingenten Umständen herleitete. So präsidiert, soweit man urteilen kann, der hl. Antonius Abbas nicht deshalb die Komposition, weil Veroneses Klientinnen diesem Heiligen besonders zugetan gewesen wären. Er erscheint im Fokus der Pala, weil ihm die Klosterkirche der Benediktinerinnen


geweiht war. Diese hatte aber mit diesem Patrozinium schon existiert, bevor ihm ein Konvent angegliedert wurde. Die Nonnen waren im 13. Jahrhundert auf der Flucht vor Kriegshandlungen auf dem Festland in die Lagune gekommen. Ihr angestammtes Haus in Mestre hatten sie dem Schutz des hl. Cyprian von Karthago unterstellt, den sie auf Torcello weiterhin verehrten. Deshalb taucht er auf der rechten Seite des Gemäldes auf. Dem hl. Cornelius wiederum kommt ein Platz links zu, weil die Kirche über eine (im Hochaltar eingeborgene) Knochenreliquie des Märtyrers verfügte.

Nur dem Patrozinium des Gotteshauses und des Hochaltars ist es geschuldet, dass dem hl. Antonius der Ehrenplatz zufällt. Als Papst steht der hl. Cornelius eigentlich über ihm. Doch selbst Bischof Cyprian ist ihm in der Rangfolge der Kirchenämter über. Die Pontifikalien kommen dem Einsiedler und Asketen, der die kirchlichen Institutionen floh, eigentlich gar nicht zu. Dies ist auch angedeutet, da der ägyptische Mönch das prächtige Pluviale nur übergeworfen hat, ohne den einfachen Habit, der darunter sichtbar wird, gegen das Chorhemd getauscht zu haben. Auch der unpassende Schattenwurf ist verräterisch, entkleidet er den hl. Antonius doch wieder einer Pontifikalie, die er sich hier gleichsam nur anmaßt. Und wenn der Papst seine Tiara vor ihm (und gar zu seinen Füßen) ablegen musste, um dem Vorrecht, das der heilige Einsiedler am Ort dieses Altars genießt, Rechnung zu tragen, so ist es sein entblößtes Haupt, zu dem der rätselhafte Schatten im oberen Rang am besten passt. Die Stellung des großen Eremiten im bischöflichen Ornat zu Häupten der hohen Kirchenmänner ist dubios. Veronese lässt es durchsichtig werden, dass Antonius auf dieser Pala in einer Rolle auftritt, die nur der Concetto des Malers ihm zugewiesen hat. Dieser bestand offenbar darin, die „sacra conversazione“ in eine Szene in einem kirchlichen Diesseits umzudeuten und mit einem kleinen anekdotischen Narrativ und viel Witz aufzuwürzen.

Seit Tizians frühen Altarbildern gab es in der venezianischen Malerei ein Modell, das Problem der „sacra conversazione“ mit dramatischen Mitteln zu lösen. Auf der „Pala Gozzi“ (1520) versetzte er die Heilige Jungfrau mit ihrem Kind in eine Glorie über den Häuptern der Beisteher (und des Stifters) und machte ihr Erscheinen zu einem Ereignis, auf das die Figuren darunter mit heftigen Bewegungen und dramatischen Gesten reagieren. Das Altargemälde wird zu seinem Visionsbild. Die Schau einer Himmelsöffnung ist ein Handlungsimpuls, der alle Gestalten ergreift und auf eine Mitte ausrichtet. Veroneses „Pala di S. Antonio Abate“ ist die genaue Umkehrung einer solchen Fassung des Altarbildes. Auch hier ist es eine visuelle Aktivität, der sich die Figuren hingeben: Die drei Heiligen blicken alle in das Buch, das ihnen vorgehalten wird. Doch bindet diese Handlung die Komposition nicht in einem himmlischen Bereich, sondern im Diesseits. Dabei scheint es Schwierigkeiten mit der Lektüre zu geben, jedenfalls aufseiten des hl. Cyprian und des hl. Antonius, die dem Band am fernsten sind. Der eine hebt die Augenbrauen, der andere runzelt die Stirn. In den Gesichtern beider zeichnet sich Gespanntheit, ja ein leiser Unwille ab, ist das betreffende Buch doch in eine ungünstige Position geraten. Veronese legt gleich zwei mögliche Erklärungen dafür nahe. Die Erste ist offenkundig und besteht darin, dass der Knabe, der das Buch vorhalten soll, nicht bei der Sache ist, weil er sich damit beschäftigt, mit dem Publikum des Gemäldes Blicke zu tauschen. Um die andere zu entdecken, müssen wir schärfer hinsehen. Betrachten wir das Buch genauer, entdecken wir, dass eine der beiden aufgeschlagenen Seite nicht plan aufliegt, sondern sich in einer Position befindet, die so aussieht, als würde sie gerade angehoben und gewendet werden. Der hl. Cornelius blättert den beiden anderen Lesern vor oder er liest in dem Band, ohne sich um seine Mitleser zu bekümmern. Dass er gerade eine Seite umschlägt, erklärt jedenfalls, weshalb Cornelius sich etwas nach vorne beugt – gerade so weit, dass es ausreicht, dem Vorsitzenden der Versammlung die Sicht auf die Seiten zu verstellen. Wenn wir einen Anflug von Verärgerung im Antlitz der Hauptgestalt lesen dürfen, dann ist dies wohl die Ursache.

Stefan Neuner ist Professor für Kunstgeschichte, Kunstwissenschaft und Kunsttheorie. Erschienen in journal 8.

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Der hl. Cornelius kommt dem Antonius aber auch noch anderswie in die Quere. Denn auch auf der „Pala di S. Antonio Abate“ existieren – gar nicht so unterschwellig – Rangstreitigkeiten zwischen den Protagonisten. Veronese lässt es augenfällig werden, dass zwischen der Stellung, die die Heiligen in der kirchlichen Hierarchie einnehmen, und jener in der Ordnung der Komposition eine Diskrepanz besteht.

Dieser Witz bewährt sich auch darin, dass die kleine Geschichte, die sich zwischen den Figuren entspinnt, dicht auf die formalen Entscheidungen Veroneses bezogen ist und sie sozusagen kommentiert. Denn in S. Antonio Abate kommt er in einer fast archaisch anmutenden Weise auf das rigide Schema der bilateralen Symmetrie älterer Altarbilder zurück. In der Position des drolligen Pagen gerät die Komposition aber aus dem Gleichgewicht. Zwei Erklärungen liegen nahe: Zum einen kann man sich gut vorstellen, dass beide Knaben im Pagenkostüm in erster Instanz dem Papst Cornelius zu Diensten stehen. Das leichte formale Ungleichgewicht figuriert dann das benannte hierarchische Ungleichgewicht zwischen den Heiligen. Zum anderen kann man sich eben auch vorstellen, dass der scheläugige Buchträger aus einer dem kollektiven Lektürevorgang förderlichen Mittelposition gewichen ist. Eine Neigung zum Kokettieren mag den Jungen verleitet haben, sich aus ihr wegzudrehen. Aber ist es letztlich nicht Veronese selbst, der in diesem Einfall mit der Schaulust seins Publikums liebäugelt?


Skizze

: Danie

l Ott, 2

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Gibt es Schatten in der Musik? Schatten, ist ja ein Begriff aus der bildenden Kunst und wird sofort interessant, wenn man ihn als Metapher und Bild auch auf Töne anwendet. Meine letzte Arbeit war Ende Juni in Altfinstermünz, einem Grenzort, tief unten im Inntal zwischen Engadin und Tirol. Es war eine gemeinsame Arbeit mit dem Regisseur Enrico Stolzenburg, eine Landschaftskomposition, eine „Grenzüberschreitung“. Das Tal dort ist sehr tief und die Sonne kommt nicht überall hin. Daher gibt es im Hochsommer bei Tageslicht zwar verschiedene Helligkeitszustände, aber so gut wie keinen Schatten, und um 17.30 Uhr ist die Sonne weg. Enrico Stolzenburg und ich haben den Lichteinfall im Tal beobachtet und ausgerechnet, wie viel Licht und wie viel Schatten wann und wo vorhanden ist. Davon ausgehend, habe ich komponiert.

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DANIEL OTT ALTFINSTERMÜNZ. IM SCHATTENTAL

War Schatten das Thema? Nicht direkt, das Thema war der Ort: Altfinstermünz. Der Schatten, das „Finstere“ ist schon im Namen angelegt. Lesbar auch als „finstere Münze“, also Schwarzgeld. Hier muss viel geschmuggelt worden sein. Altfinstermünz war bereits im späten Mittelalter eine Zollstation, bis heute verläuft dort die Landesgrenze zwischen Österreich (Tirol) und der Schweiz (Engadin), die Grenze zu Italien (Vinschgau) ist nur einen Steinwurf entfernt. Uns hat diese Grenzsituation interessiert und die Topographie der Inn-Schlucht. Ganz in der Nähe liegt ein weiteres, tief eingeschnittenes Tal, das Bergell, wo vier Monate lang im Winter keine Sonne hinkommt. Dort ist der Bildhauer Alberto Giacometti aufgewachsen, seine langen, dünnen Figuren assoziiere ich immer mit dieser Landschaft. Wie kommt man auf die Idee, an einem solchen Ort zu inszenieren? Der Anlass war ein Musiktheater-Festival zum 500sten Todestag von Kaiser Maximilian: „Die sieben Leben des Maximilian“. Eine von sieben „Volksopern“ für das Land Tirol, mit und für die Menschen, die dort wohnen. Die Burg in Altfinstermünz war Kulisse und Haupt-Protagonistin unserer Klang-Aktion. Bei unserer ersten Begeh­ung von der Tiroler Seite aus waren wir sofort fasziniert von diesem Schattenloch.


Und dann war ich überrascht, dass hinter der verlassenen Brücke die Schweiz beginnt. Als Schweizer kenne ich doch die Schweiz, dachte ich, aber aus dieser Perspektive, von der Rückseite, habe ich sie noch nie gesehen ... Es ist ein düsterer Ort, eine vergessene Gegend, man hat das Gefühl, die Welt ist hier zu Ende, egal von welchem Land aus man auf die Grenze schaut. Auch historisch ist es interessant. Altfinstermünz lag an der Via Claudia Augusta, einem alten römischen Hauptverkehrsweg über die Alpen. Es war damals schon eine Zollstation, da ging es auch um Wegrechte. Zur Zeit Maximilians war die Region Schauplatz von kriegerischen Auseinandersetzungen. An dieser Stelle treffen nicht nur Landesgrenzen aufeinander, sondern auch konfessionelle Grenzen. Die Tiroler Seite ist sehr katholisch, die Engadiner Seite sehr protestantisch. Und es ist eine Sprachgrenze. Der Nauderer Dialekt auf der Habsburger Talseite ist auch für österreichische Ohren ungewohnt. Am Schweizer Ufer wird Valader gesprochen, eine rätoromanische Sprache, verwandt mit dem Rumänischen von weiter fluss­abwärts. Der Titel unserer Klang-Aktion ist auf Valader: „Fin al cunfin“, was auf deutsch soviel heißt wie „hin zur Grenze“ oder „bis zur Grenze“. Die Grenzen selbst sind heute offen.

ja ums Komponieren und nicht um wissenschaftliche Forschung. Und im Idealfall kommen Intuition und Klangforschung an einem Punkt zusammen. Wie sah nun die Inszenierung, die Volksoper aus? Wir haben mit den Menschen aus den Dörfern der drei Länder gearbeitet, mit Blaskapellen und Chören. Die Nachkommen derer, die sich damals bekriegt haben, machen jetzt zusammen Musik. Es gab zwei Aufführungen: Die erste fing in Österreich an und führte über die Burg Altfinstermünz in die Schweiz. Zwei Stunden später dann der umgekehrte Weg. Wir wollten eine Pendelbewegung inszenieren, auch durch verschiedene Lichtsituationen. Und dann gab es einen eher installativen Teil unten, in der Burg, mit sehr leisen instrumentalen Klängen zu Tonaufnahmen vom Inn. Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht, aber jetzt, wo wir darüber sprechen: Ja, natürlich, der finstere Name assoziiert auch düstere Klänge. Die gewalttätige Vergangenheit des Ortes sitzt noch in den Mauern, die Düsternis ist zu spüren. Was haben dann die Zuschauer dann gemacht? Die Zuschauer haben die Komposition im Gehen gehört, und dabei die Pendelbewegung der Musik nachgezeichnet: von Österreich in die Schweiz und zurück. Die beteiligten Musikerinnen und Musiker formierten sich zu einem Maximilianischen Triumphzug, der den Zuschauern entgegenkam, und der sich aus der Nähe auf seiner Rückseite als Totentanz entpuppte. Am Tag der Aufführung waren es 37 Grad, und alle haben den Schatten gesucht. Und den gab‘s nur auf der Engadiner Talseite.

Das ist eine sehr komplexe Situation, geografisch, politisch, kulturell … eine interessante Schnittstelle mitten in Europa. Wie sieht es nun heute am Ende der Welt aus? Der ehemalige Bürgermeister von Nauders – auf der österreichischen Seite – hat die Burg am Inn, also diese Zollstation, vor 20 Jahren wieder aufgebaut. Und er hat sich mit dem Bürgermeister von Tschlin auf der Schweizer Seite, und dem Bürgermeister von Reschen am Reschenpass auf der italienischen Seite verbündet. Alle drei haben jahrelang auch für grenzüberschreitende öffentliche Verkehrsverbindungen gekämpft. Heute gibt es einmal pro Stunde eine Busverbindung aus jedem der drei Länder zur Grenze und wieder zurück. Das Ganze hat also auch eine soziale Dimension, die uns sehr interessiert hat.

Eine Art akustisches Kartografieren und Vermessen des Ortes? Ja, genau. Und das war doppelspurig angelegt. Die eine Spur ist die akustische Forschung: Wie reagieren Klänge, wie reagieren welche Instrumente wo. In erster Linie auf das Hören bezogen, aber auch natürlich auf die Sichtbarkeit, auf das Licht. Wo gibt es Stellen, wo man nur hört, aber nichts sieht. Und die andere Spur ist intuitiv – es geht

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Und wie entsteht eine Landschaftskomposition? Arbeitet man ausschließlich dort? Nein, nicht ganz, aber ich war sehr oft da, zusammen mit Enrico Stolzenburg. Wir haben viele Tonaufnahmen gemacht, Lage-Skizzen gezeichnet, um den Ort zu erforschen. Von Anfang an haben uns Musiker aus Tschlin und Nauders begleitet, meistens mit Trompete oder Posaune und verschiedene Orte akustisch getestet. Relativ rasch haben wir eine Art Echo entdeckt, also eine Reflexion von Tönen. Wir sind eben nicht nur direkt vom Licht ausgegangen, sondern haben auch die Töne zu verschiedenen Tageszeiten ausprobiert und die klanglichen Effekte studiert.

Musik und Komponieren hat für dich nicht nur mit Zeit, sondern sehr viel mit Raum zu tun. Und dort gibt es Licht und Schatten. Das stimmt. Es ist einfach die Frage, von welchem Musikbegriff ich ausgehe. Wenn ich von einem eher traditionellen Musikbegriff ausgehe, besteht Musik aus Klangfarbe, Tempo, Tonhöhe und Lautstärke. Schatten kommen darin eher assoziativ vor, zum Beispiel als „Klangschatten“. Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich der Musikbegriff stark erweitert, zum Beispiel durch das Instrumentale Theater von John Cage, Mauricio Kagel und Dieter Schnebel. Unter dem Stichwort „visible music“ entstand u. a. Musik ausschließlich für die Augen. Das Bewusstsein für den Raum, in welchem die Musik stattfindet, wurde geschärft. Musik erhielt einen Körper. Für mich ist Musik immer eine performative Kunst, hoch theatralisch, selbst wenn sie aus einem Lautsprecher kommt. Ich habe verschiedene Landschafts-Projekte mit Lichtwechsel komponiert, Klang-Aktionen zum Sonnenuntergang oder zum Sonnenaufgang. Zwielicht ist ein großes Thema in der Musik, der Übergang vom Sichtbaren zum Unsichtbaren. Daniel Ott ist Professor für Komposition und Experimentelles Musiktheater und leitet Klangzeitort, Institut für Neue Musik Berlin, ein Laboratorium für musikalische Komposition. Erschienen in journal 8.


Mensch an Veränderungen in seinem Leben angepasst hat, ob durch die Schaffung neuer Objekte oder neuer Strukturen oder durch Adaptieren seines Verhaltens oder das anderer, er war immer ein Designer – meist unwissentlich, intuitiv.

ALICE RAWSTHORN, INEKE HANS DESIGN AS AN AGENT OF CHANGE

Diese Haltung, davon gehen Sie aus, hat die Absicht, Gutes zu schaffen, die Welt zu verbessern. Was ist schlechtes Design? Rawsthorn: Gutes oder schlechtes Design wird gänzlich von den Konsequenzen bestimmt, die es hat. Viele gute Absichten haben allerdings nicht selten sehr schlechte Folgen. Auch gibt es Beispiele für schlechtes Design, das willentlich und absichtlich dafür benutzt wird, uns vor etwas zu beschützen – etwa die grauenvollen Fotos auf Zigarettenschachteln. Ein anderes Beispiel, das brutale Konsequenzen hat, sind die sogenannten anti-homeless spikes, Stahlspitzen, die in vielen Städten auf den Trottoirs vor teuren Gebäuden installiert werden, sodass Obdachlose sich dort nicht niederlassen können.

Design hat ein sich ständig veränderndes amorphes Wesen. In den letzten Jahrzehnten haben sich Designer von eher kommerziellen hin zu sozial, politisch und ökologisch engagierten Gestaltern entwickelt. Alice Rawsthorn hat in ihrer bemerkenswerten Karriere als Designkritikerin und Autorin u. a. für die New York Times das Feld beobachtet und diese Entwicklung enthusiastisch unterstützt. Ihr letztes Buch, wie auch der Vortrag, den wir gerade gehört haben, heißt ­„Design as an Attitude“ – Design als Haltung. Es ist ein energisches und enthu­ siastisches Manifest für Design als einen aktiven Handlungsagenten. Gastgeberin ist Ineke Hans, Initiatorin der „German Design Graduates“-Ausstellung, die Arbeiten aus zwölf Kunsthochschulen im Kunstgewerbemuseum zeigt. Wir sitzen in einem der grau-klirrenden eben­ erdigen Flure des Gebäudes und sprechen weiter über gutes und schlechtes Design, Kunst und Doc Martens.

Wie die Ouvertüre zu einer Oper … Rawsthorn: Genau. Oder wie ein Buchcover. 50 … Standortkarte auf der letzten Seite

Design als Haltung, das ist eine Idee, die von László Moholy-Nagy stammt, Künstler, Gestalter, visionärer Theoretiker, eine der schillerndsten Figuren des frühen 20. Jahrhunderts … Alice Rawsthorn: Moholy-Nagy starb im November 1946, sein „Vision in Motion“ wurde im folgenden Jahr veröffentlicht. Es präsentiert eine eklektische und handlungsaktive Vision von Design, die er im zweiten Kapitel des Buches mit den Worten zusammenfasst: „Design ist kein Beruf, sondern eine Einstellung“. Im Laufe seiner Karriere hat er Design als Disziplin wieder erfunden, es aus der Enge einer „Spezialistentätigkeit“, die es seit der industriellen Revolution eingenommen hatte, befreit und neu definiert als ein improvisierendes Medium, das im Instinkt verwurzelt ist, im Experimentieren und offen für alle sein kann. Dieses Zitat habe ich als Titel meines letzten Buches gewählt, weil ich glaube, dass Moholy-Nagys Konzept von ­Design ein kontinuierlicher Prozess von Experimentieren ist und eine bestimmende Kraft für eine neue Generation von Gestaltern heute sein kann. Für mich ist Design ein komplexes und schwer fassbares Phänomen. Zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kontexten hat es immer etwas anderes bedeutet, so dass es anfällig für Verwirrungen, Missverständnisse und Klischees ist. Doch Design hatte schon immer eine maßgebliche Rolle als ein „agent of change“, der auch auf Veränderungen jeglicher Art reagieren kann – sozial, politisch, wirtschaftlich, wissenschaftlich, technologisch, kulturell, ökologisch –, um sicherzustellen, dass diese Veränderungen sich nicht negativ, sondern positiv auf uns auswirken. Und das tut Design schon seit Jahrhunderten, lange bevor ein Wort dafür gefunden wurde, das es beschreibt. Wann immer sich der

Design ist immer manipulativ. Rawsthorn: Ja, und ob es gutartig oder bösartig ist (benign or ­malign), hängt von der Perspektive ab. Ein Triumph des Designs zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Verkehrszeichen. Es gab einen politischen Konsens darüber, das Verhalten im Straßenverkehr zu regulieren. Akzeptiert man das, ist es eine Form von positiver Kontrolle zum Nutzen der Gesellschaft: Verhindern von Unfällen, Verletzungen, Todesfällen, indem man die Fahrer zu einem moderaten und maßvollen Verhalten hin lenkt. Mein Vater allerdings liebte die deutschen Autobahnen ohne Geschwindigkeitsbegrenzung … Ineke Hans: Design ist per Definition manipulativ. Es lenkt, wie Menschen Gegenstände nutzen und erleben. Rawsthorn: Nehmen wir etwa Filmvorspanne. Große Designer wie Saul Bass sahen ihre Rolle darin, das Erlebnis des Filmschauens zu verstärken, anzureichern, zu erweitern. Die Zuschauer gleich zu Beginn genau in die Stimmung zu bringen, die sie für ebendiesen Film empfänglich macht. In seinen Arbeiten für Alfred Hitchcocks „Vertigo“ oder „Psycho“ wollte Bass, dass der Zuschauer nervös und verunsichert wird, dass er sich fürchtet. Auch das ist eine, in gewisser Weise wohlwollende Art, Design zu benutzen.

Ein Buchcover kann aber auch ein Kunstwerk sein. Was ist Design und was ist Kunst? Rawsthorn: Nun, Design ist Design und Kunst ist Kunst. Design und Kunst sind unglaublich wichtig und nützlich für die Gesellschaft. Beide können auch sehr ähnliche Rollen füllen. Die entscheidende eines Künstlers ist, undurchschaubare, oft beunruhigende Aspekte in unserem Leben zu hinterfragen. Die verborgenen, tiefen, unbewussten, bedrohlichen Phänomene, vor denen wir uns fürchten. Kunst kann natürlich auch ein unfassbar sinnliches Vergnügen sein, voller Schönheit, emotionsstark. Design kann auch all das tun, aber der entscheidende Unterschied


ist, dass Design funktional sein muss. Das ist das Ziel, seine Bestimmung, sein Zweck. Funktionalität kann sehr breit interpretiert werden, aber man muss innerhalb einer „Design-Kultur“ operieren, bestimmte Techniken oder Themen behandeln. Da gibt es Prämissen, die sind nicht verhandelbar. Ein Kunstprojekt hingegen kann funktional sein, aber es hat immer die Option, es nicht zu sein. Hans: Ich stimme absolut zu, bei Design geht es immer um Funktionalität, es geht um das Lösen eines Problems. Das tun zu können, macht schließlich ein Design gut oder schlecht. Die Lösung eines Problems kann rein praktisch sein, muss psychologisch-subjektive Bedürfnisse bedienen und muss attraktiv sein. Design wurde angewandte Kunst genannt, aber es ist mehr als nur das Gestalten von reizvollen Objekten oder ein Statement. Es gibt immer eine Verbindung dazu, wie unsere Gesellschaft funktioniert. Das sind viele Details, viele Schichten, in die man hinein tauchen kann und die ins Spiel kommen: ökonomische, technologische, stoffliche, ästhetische … Sagt der Designer, er ist Künstler, hat er seine Aufgabe nicht verstanden. Das Interessante heute ist, dass wir uns davon entfernen, „Star-Designer“ sein zu wollen. In meiner Lehre sehe ich, dass die jüngere Generation viel offener für Kooperationen ist, und ich denke, dass das für die Lösung der komplexen Probleme unserer heutigen Gesellschaft auch notwendig ist.

Nützliche Anwendungen für noch unverständliche Technologien zu finden war eine der traditionellen Aufgaben von Design. Die Herausforderung heute ist, solche für die neue Welle des technologischen Fortschritts auszumachen, um zu verhindern, dass er großen Schaden anrichtet. Wie das aussehen kann, zeigt sich am Beispiel der aktuellen Paranoia um die Künstliche Intelligenz und an den katastrophalen Folgen von schlecht designten KI-Systemen. Design ist sicher kein Allheilmittel für die neuen Probleme unserer Zeit, von dysfunktionaler Gesundheitsversorgung bis Plastikmüll, aber es kann uns helfen, Lösungen dafür zu finden – intelligent, verantwortungsbewusst und konstruktiv. Eine freundliche Museumsdame löst sich aus dem Schatten und reißt uns sanft aus dem konzentrierten Gespräch heraus: „Es tut uns sehr leid“, sagt sie, „aber wir sind schrecklich deutsch und schließen das Museum in fünf Minuten …“ Auch sie – ein Handlungsagent … Alice Rawsthorn ist Designkritikerin für die New York Times, Autorin und Officer of the Order of the British Empire. Ineke Hans ist Professorin für Design & Social Context am Institut für Produkt- und Prozessgestaltung. Das Gespräch führten Marina Dafova (Übersetzung + Bearbeitung) und Claudia Assmann. Erschienen in journal 8.

Wie politisch ist Design? Rawsthorn: Ich glaube, die Gesellschaft ist politischer geworden und die Designer reflektieren das. Ich bin in den 1970er und 1980er Jahren in England aufgewachsen, in einer sehr radikalen gewalttätigen Zeit in Opposition zu Margaret Thatchers Regierung, Sexismus, Rassismus. Auch die visuelle Ikonografie war damals stark und kühn: schwarz, viel schwarz und Doc Martens. Heute trage ich ein Blumenkleid. Das wäre mir damals nicht passiert, viel zu zahm, konservativ … Schauen wir uns die politische Ikonografie der jüngsten Zeit an, sehen wir zum Beispiel wie clever das Symbol von Extinction Rebellion ist: das X steht für extinction, ist gleichzeitig eine Sanduhr und zwei Dreiecke. Es ist ein Symbol für eine globale, dezentralisierte Bewegung, nicht unähnlich den TED-Konferenzen, aus einem anderen Kontext – ein Brand-Name, der für eine öffentliche Debatte steht. Es ist ein Ausdruck für die Dringlichkeit der ökologischen Krise und ermutigt gleichzeitig zu kollektivem Handeln.

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Ineke Hans, Ihr „Instant desk“ ist so ein Beispiel. Ein mobiler Arbeitstisch für den flexiblen Arbeitsplatz des digitalen Nomaden … Hans: Der „Instant desk“ ist ein schmaler Klapptisch aus Standard-Sperrholz, der für Opendesk entwickelt wurde – eine Open-­ Source-Plattform für Möbel in London. Sie arbeitet mit über 500 lokalen Werkstätten weltweit. Die Werkstätten können den Konstruk­ tionsplan herunterladen und den Tisch lokal produzieren, in genau der Menge, die benötigt wird. Also genau das produzieren, was man will, wie viel man davon will und wo man will. Das ist viel nachhaltiger als Möbel durch die ganze Welt zu verschiffen. Die Idee ist, Produktion im digitalen Zeitalter und in einer sich verändernden, fl ­ exibleren Arbeitswelt neu zu denken.


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rechteckigen Bildschirm, sondern an ein skulpturales Objekt oder an ein Objekt als Teil einer Wandoberfläche im Raum. Insbesondere erforschen wir, wie wir bewegte Faltungen als formverändernde, aber auch als ästhetische Struktur zur Datenvisualisierung nutzen können. Für die Bewegung der Faltungen setzen wir dielektrische Elastomere ein – ein intelligentes Material, das sich unter Spannung verformt und wie ein Muskel eingesetzt werden kann.

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Was sind dielektrische Elastomere? Dauner: Ein dielektrisches Elastomer besteht aus mehreren Materialien: aus einer fast nicht leitenden Elastomerfolie, die von beiden Seiten mit einer leitfähigen, dehnbaren Elektrode beschichtet ist. Wir haben für die Elastomerfolie handelsübliche Acrylfolie verwendet und diese beidseitig mit Graphitpulver als leitendem Material beschichtet. Legt man jetzt auf beide Elektroden Spannung an, ziehen sich die gegenüberliegenden Elektroden an und bauen Druck auf die Elastomerfolie auf. Diese dehnt sich zu den Seiten hin aus. Die Ausdehnung des Materials unter Spannung nutzen wir, indem wir die dielektrischen Elastomere in unterschiedliche, flexible Rahmenstrukturen spannen. Damit können wir dann Bewegungen erzeugen und so künstliche Muskeln gestalten. Das „Smarte“ an dem Material ist, dass es nicht nur Bewegung erzeugen, sondern auch als Sensor für mechanische Verformung eingesetzt werden kann. Kimpel: Formverändernde bewegte Benutzerschnittstellen werden ja schon seit den 1990er Jahren erforscht und als „Tangible User Interfaces“ bezeichnet. Hinter diesen kinetischen Objekten steckt meistens eine sehr komplexe Mechanik, z. B. Motoren oder Pneumatik. Bei „Smart Material Interfaces“ hingegen treten Technik und Mechanik in den Hintergrund. Die Bewegung ist direkt ins Material kodiert und die Interaktion mit dem Objekt wird unmittelbarer und schneller. Das ist das Potenzial.

KORA KIMPEL, JOANNA DAUNER SHAPE CHANGING MATERIALS

„Smart Display for Smart Living“ – heißt es auf der Webseite des Berlin Open Lab, wo Ihr Projekt beheimatet ist. Sie sehen Material als Interface. Was sind intelligente Materialien und welche ist die Schnittstelle? Kora Kimpel: Sogenannte Smart Material Interfaces binden die Interaktion direkt an das Material: Intelligente Werkstoffe reagieren auf ihre Umwelt, wie auf Temperaturveränderung oder Verformung, und können z. B. durch elektrische Spannung aktiv gesteuert werden. So wird das Material selbst zur Schnittstelle von Information und Interaktion. Dieses kann vielfältig kodiert werden, d. h. die Information, wie der intelligente Werkstoff reagieren soll, wird direkt in das Material eingeschrieben oder programmiert. Das ermöglicht eine Echtzeitverarbeitung. „Material als Interface“ ist ein Designforschungsfeld und setzt genau an der Schnittstelle von Interface- und Interaktionsdesign an. Joanna Dauner: In unserem Forschungsprojekt arbeiten wir an einem Display, das durch Formveränderung Daten visualisieren und Informationen anzeigen soll. Wir denken dabei nicht an einen klassischen

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Wie gestaltet man ein smartes und schönes Objekt, das Daten visualisiert, indem es seine Form verändert? Wir treffen Kora Kimpel und ­Joanna Dauner, um mit ihnen über Faltungen und ihr Forschungsprojekt „Smart Material Interfaces“ zu sprechen.

Sie arbeiten dabei mit Faltungen, gefalteten Oberflächen. Warum? Kimpel: Für die Datenvisualisierung suchen wir nach Oberflächen, die Informationen durch Formveränderung und Bewegung transportieren können. Faltungen sind dafür prädestiniert. Eine Fläche kann sich nicht bewegen, wenn sie nicht gefaltet ist. Außer man dehnt Material, aber dann verändert sich die Materialstärke und wird immer dünner. Wenn man eine Fläche verändern will, muss man ihr also Raum geben. Verkleinert oder vergrößert man eine Oberfläche, dann hat diese irgendwo Falten, denn das überschüssige Material muss ja irgendwo hin. Dieses Prinzip finden wir auch in der Natur, wenn wir an Blätter oder Insektenflügel denken. Faltungen sind so etwas wie programmiertes Material, und der Code ist durch das Setzten des Falzes, als Berg- oder Talfalte, definiert und wird durch die entstehenden Schattierungen sichtbar gemacht. Die Bewegung, die das Material zulässt, kann ich vorher genau definieren und bestimmen. Wir sind hier aber noch ganz am Anfang unserer Forschung. Papier, zum Beispiel, ist sehr speziell. Die Laufrichtung der Fasern ist wichtig, wie es geschöpft wurde, wie feucht es ist, was passiert, wenn man es zerknüllt ...


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Formveränderung der Oberfläche darstellen. Was ist noch lesbar, wo kommen wir an die Grenzen der Darstellung im Raum? Kimpel: Unsere Grenze ist jetzt, dass wir händisch falten, die Falten sind also sehr grob. Der nächste Schritt wird sein, Prozesse oder Strukturen dafür zu entwickeln, dass sich das Material von allein falten kann. Falz- oder Knickstellen sollten im Material selbst angelegt sein, ohne dass diese händisch gesetzt werden müssen. Dadurch kann man sich Faltstrukturen auch noch viel kleiner vorstellen, so klein, dass die Faltung an sich nicht mehr wahrnehmbar ist.

Er hat das Material gefragt. Ist das nicht auch ein großes Forschungs­feld? Dauner: Origami und das Falten sind in den letzten 20 Jahren zur Wissenschaft geworden. Mathematiker, Materialwissenschaftler, Gestalter oder auch Philosophen forschen zum Thema. Kimpel: Es ist ein interdisziplinäres Forschungsgebiet und besonders relevant für Gestaltung. Das Material und seine Bewegung bieten eigene gestalterische Parameter wie Dramaturgie, Richtung oder Geschwindigkeit. Gestalter haben einen Erfahrungsschatz, ein Repertoire dafür, und dieses Wissen wird gebraucht, um das Forschungsgebiet weiterzuentwickeln. Das ist kein Thema ausschließlich für Mathematiker.

Was für eine Rolle spielt in dem Prozess der Zufall? Sind Zufälle vorgesehen oder werden sie generiert? Dauner: Existieren Zufälle wirklich? Oder sind sie Gegebenheiten oder Faktoren, die man noch nicht verstanden hat? „Zufälle“ verändern den Gestaltungsprozess manchmal komplett und werfen Konzepte um. Material kann man nicht planen, es ist sehr komplex, auch Umwelt hat einen großen Einfluss auf sein Verhalten. Wir haben uns im Forschungsprojekt z. B. gegen organisches Papier für die Faltungen entschieden und werden mit synthetischem Material arbeiten, um Zufälle möglichst auszuschließen. Kimpel: Zufälle muss man lesen lernen und verarbeiten, und dann bieten sie auch ein großes Potenzial für den Prozess.

Es entsteht ein neues Vokabular … Kimpel: Ja, genau, eine grafische Sprache, die dreidimensional im Raum und mit Bewegung arbeitet. Dauner: Eine wichtige Frage, die wir uns stellen, ist, wie komplex Informationen oder Daten sein können, die wir durch Bewegung oder

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Dauner: Das sind alles spannende Fragen, die für das Falten relevant sind. Das Papierzerknüllen ist keinesfalls zufällig, sondern ist bestimmt durch die Fasern der Papierstruktur. Eine Falttechnik arbeitet mit dem Zerknüllen des Papiers – die Formen, die dabei entstehen, sind sogar reproduzierbar. Damit hat auch Ron Resch experimentiert, Mathematiker und Künstler. Der Amerikaner wurde durch seine 3D-Polyeder bekannt. Als Grundlage für seine Faltmuster untersuchte er Papier, er zerknüllte es oder schob es zusammen, um zu beobachten, wie es sich verhält und in welche Richtung es sich von selbst verformen will.

Kora Kimpel ist Professorin für Grundlagen New Media / Interface & Interaction Design, Joanna Dauner ist dort künstlerische Mitarbeiterin. berlin-open-lab.org/portfolio/smart-displays-for-smart-living Erschienen in journal 8.


Eine Aufführung in New York war anders dimensioniert als vielleicht eine in einer kleineren Stadt Deutschlands, wo man nicht über so große Säle verfügte. Zur Aufgabe eines Dirigenten gehört es, dass ein Werk gut klingt.

HARRY CURTIS DER DIRIGENT ALS GESTALTER EIN GESPRÄCH MIT HARTMUT REGITZ

„Hören“ Sie eigentlich die Musik, wenn Sie einen ersten Blick auf die Noten werfen? Wenn es sich um eine übersichtliche Partitur handelt, etwa um eine Sinfonie von Mozart oder Haydn: Ja, da genügt manchmal ein Blick, um die Melodie und die Harmonien zu hören. Aber um die Feinheiten einer Musik, ihre Details, ihre Besonderheiten zu erfassen, und um die geht es, muss man tiefer lesen. Je mehr man sich der Gegenwart nähert, desto schwieriger wird das Einlesen. Der Abstand zum Notenmaterial ist größer als bei einem Pianisten, für den eine Klaviersonate von Beethoven weniger ein Entwurf ist als für einen Dirigenten. Für den gibt es viele Zwischenschritte; er muss ganz pragmatisch zwischen einer Vielzahl von Entwürfen wählen, damit die Kunst am Ende auch wirkt.

Harry Curtis begann seine musikalische Laufbahn als Chorknabe in der St. George‘s Chapel, Windsor. Dirigieren studierte er u. a. bei Sir Colin Davis an der Royal Academy of Music in London. Über Orchester, Kompositionen und Entwurf sprach er mit dem Musikkritiker ­Hartmut Regitz.

Wie kann man sich diese Arbeit vorstellen? Ich beschäftige mich erst mal mit der Struktur eines Werkes. Handelt es sich beispielsweise um einen Sonatensatz? Wie löst er sich auf? Man geht immer mehr in die Details, singt die Stimmen, versucht herauszufinden, wie das Stück eigentlich klingen sollte. Es gibt bestimmte Parameter zu beachten: Rhythmus, Phrasierung, Balance, Dynamik, Instru­mentation, Artikulation. Letztlich aber geht es darum, die Aussage zu erfassen, die einem Werk zugrunde liegt, seine Rhetorik, kurz: seinen philosophischen, höheren Sinn.

Die Komposition ist das vollendete Kunstwerk. So die gängige Ansicht. Aber das Paradoxe daran ist: Wenn sie zu einem Klangerlebnis werden soll, an dem auch andere teilhaben können, hat sie wieder etwas von einem Entwurf, der erst umgesetzt werden muss. Ich sehe das ebenso. Aber es kommt natürlich auf die Blickrichtung an. Händel wird die Partitur „Soli Deo Gloria“ als ein eigenständiges, vollendetes Werk verstanden haben. Ein dirigierender Komponist, eine dirigierende Komponistin wird hingegen eher dazu tendieren, das eigene Werk als Entwurf zu betrachten als jemand, der ausschließlich komponiert.

Er war Komponist. Als Dirigent seiner eigenen Werke war er sozusagen legitimiert, etwas zu ändern; vielleicht befand sich seine Sechste seinerzeit noch im Zustand eines work in progress. Einem anderen D ­ irigenten würde man vermutlich solche Eigenmächtigkeiten ankreiden. Vielleicht. Aber Mahler war Dirigent genug zu wissen, dass er auf die räumlichen Gegebenheiten auf irgendeine Weise reagieren musste.

Das machen Sie erst mal für sich aus? Ja, ich lese immer wieder die Partitur und spiele am Klavier so viel, wie ich kann. Ich versuche, alle Töne wahrzunehmen und sie so zu verinnerlichen, dass ich auf Anhieb sagen kann, wie etwas klingen soll.

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Hat denn der Komponist beim Komponieren tatsächlich ein ganz bestimmtes Klangbild im Ohr, sozusagen eine Idealvorstellung seiner Musik? Zu der Zeit von Bach, Haydn oder Mozart gab es einen Konsens darüber, wie eine Musik zu klingen hatte, eine ganz bestimmte Praxis, sozusagen einen Stil, der sich allerdings von Land zu Land unterscheiden konnte. Insofern deckte sich ein Entwurf mit dem Ergebnis. Anders zu einer Zeit wie der von Gustav Mahler. Er war Komponist und zugleich der dirigierende Interpret seiner Werke, als der er oft sehr viel in den Proben nachbereitet hat, obwohl seine Partituren bereits extrem ausgearbeitet waren. Bei seiner 6. Sinfonie hat er die inneren Sätze so oft ausgetauscht, dass wir heute nicht mehr mit absoluter Sicherheit wissen, ob das Scherzo zuerst kommt und dann das Andante moderato oder umgekehrt.

Sie kommen in die Probe mit einer Klangvorstellung, man könnte auch sagen: mit einem Entwurf, den Sie sich genau überlegt haben. Nun ist ein Konzert am Ende nicht das Werk eines Einzelnen, vielmehr stehen Sie vor einem Kollektiv unterschiedlicher Musikerinnen und Musiker, das seine eigene Dynamik entwickeln kann. Die Instrumente unterscheiden sich, die Räume, das Publikum. Es gibt viele Unwägbarkeiten. Als Dirigent fühlt man sich manchmal wie ein Butler: Man empfängt die Gäste, öffnet ihnen die Tür, lädt sie ein. Das heißt, man packt sie nicht am Kragen und zwingt sie in irgendeine Richtung, sondern weist ihnen den Weg. Nicht anders die Musiker und Musikerinnen. Sie spielen mit eigener Kraft und Energie. Aber man muss ihnen die richtigen Impulse zum richtigen Zeitpunkt geben. Und man muss vor allem eins: sie inspirieren. Wie laufen denn die Proben ab? Das kommt darauf an, wie gut man sich kennt. Manchmal genügt es, gleich an die Arbeit zu gehen.


Was meinen Sie damit? Das, was beim ersten Mal nicht angekommen ist, muss nochmal geprobt werden. Das können technische Fragen sein, im Zusammenspiel, in der Akzentuierung, in der Dynamik. Das erste Durchspielen dient letztlich dem Kennenlernen. Nach den Korrekturen folgen die Wiederholungen, bis man das erreicht hat, was in einem meiner Verträge mal als „a state of concert-readiness“ bezeichnet wurde.

A young man once said „God, I find it remarkably odd that the old apple tree should continue to be when no one’s about in the quad.“ Reply: „Young man, I find your astonishment odd. I am always about in the quad. So the old apple tree, shall continue to be, as long as observed by yours truly, God.“

Als Konzertreife. Sie unterrichten angehende Dirigenten. Wie können Sie ihnen das Wissen vermitteln, eine bestimmte Klangvorstellung in die Realität umzusetzen? Die Studierenden bei uns haben vielfach Gelegenheit, vor einem Orchester praktische Erfahrungen zu sammeln. Mal von der Kenntnis der Partitur abgesehen, die man voraussetzen darf. Bevor es dazu kommt, muss eine Fülle organisatorischer Fragen bewältigt werden.

Musik in Gottes Ohr. Wie Händel schreiben viele Komponisten ihm zu Ehren: Auch wenn sie sich mal ohne Publikum abspielt, existiert sie doch. Nicht zuletzt wird sie von jenen gehört, die sie hörbar machen. Und doch ist eine Komposition, selbst wenn sie wie bei Benjamin Britten bis auf den letzten Ton ausgetüftelt ist, im Grunde immer nur der Entwurf für eine Aufführung.

Ein Beispiel? Wie soll das Orchester aufgebaut werden? Auch das gehört mit zum Entwurf, den man erst schaffen muss. Gilt die deutsche Aufstellung oder die amerikanische?

Harry Curtis unterrichtet Dirigieren/Orchesterleitung am Institut für künstlerische Ausbildung, am Institut für Kirchenmusik und an der International Conducting Academy der UdK Berlin. Hartmut Regitz ist Musikkritiker und Autor und zählt zu den wichtigsten Tanzjournalisten in Europa. Erschienen in journal 9.

Wird denn die Aufstellung nicht in der Partitur festgeschrieben? Und wenn – der Dirigent muss sich ja nicht daran halten. Von Brahms wissen wir, dass er sich die Geigen immer einander gegenüber vorgestellt hat, das war damals so üblich. Erst Toscanini hat die ersten und zweiten Geigen nebeneinander platziert und damit das Klangbild nachhaltig verändert. Tschaikowski hat im vierten Satz seiner „Pathétique“ die Melodie zwischen den ersten und den zweiten Geigen geteilt: Das hört sich natürlich ganz unterschiedlich an, je nachdem, wie man das Orchester aufstellt. Interessanterweise hat Tschaikowski die Orchesteraufstellung nicht mit einer Fußnote fixiert. Gustav Mahler hätte das getan. Für ihn war die Partitur ein Entwurf, der einer Umsetzung durch das Orchester bedarf. Er hatte eine feine Vorstellung von räumlichen Effekten.

Einen Aspekt haben wir noch nicht angesprochen: das Publikum. Wagner war der Meinung, dass das Kunstwerk im Betrachter immer wieder aufs Neue entstehen müsse. Erst in seiner Wahrnehmung erfüllte es sich. Alles andere wäre lediglich ein Entwurf. Das ist eine sehr tief gehende, geradezu philosophische Frage. Mein Vater hat mir ein Gedicht von Ronald Knox überliefert, in dem sie auf bildhafte, sehr witzige Weise beantwortet wird:

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Nehmen wir ein so populäres Werk wie „The unanswered question“ von Charles Ives … … den Mahler übrigens sehr geschätzt hat. Da ist es von extremer Wichtigkeit, von wo die Trompeten, die vier Flöten, die Streicher erklingen. Eigentlich sollten die Streicher „außerhalb der Bühne“ platziert werden, wie Ives in einem Vorwort anmerkt. Weil sich das schwer bewerkstelligen lässt, wird das selten so gemacht. Man stößt schnell an räumliche Grenzen.


Bedingungen. Diese sind natürlich sehr komplex, ich versuche sie, sagen wir mal, auf drei zu reduzieren: Wir beginnen mit einer Übung, die heißt: Falten, Zusammensetzen, Herausschneiden (folding, assembling, carving). Das sind drei unterschiedliche Wege, Räume zu schaffen. Falten schafft sofort einen Raum. Das Zusammensetzen von geraden Elementen tut es auch, aber auf eine komplett andere Weise. So auch das Herausschneiden eines Raumes aus einem Steinblock. Es ist nicht das, was ein Bildhauer tut. Der Raum wird aus einem massiven Element, Stein oder Beton oder Ziegelstein, herausgenommen. Dreidimensional. Ganz anders ist das Falten, es ist zweidimensional. Das Material hier ist dünn, Stahl etwa, mit dem man Strukturen und damit den Raum erschafft. Und Zusammensetzen schließlich ist eindimensional, da ist eine Säule und ein Balken, man verbindet sie miteinander, und so hat man auch einen Raum. Wir versuchen also, dass die Studenten über diese drei Themen und natürlich über viele Übungen die Verbindung von Material, Raum und Händen verstehen. Also mit den Händen zu denken lernen. Und ich möchte sehr, dass sie, wenn sie an irgendeiner Stelle nicht weiterkommen, eben zwischen ihren Modellen, zwischen Zeichnen und Nachdenken zu diesen simplen Materialübungen zurückgehen.

ENRIQUE SOBEJANO DAS FENSTER UND DER SPIEGEL Der spanische Architekt und sein Studio NietoSobejano ist beispielgebend für eine Architektur, die historische und topographische Kontexte mit einer eleganten und ästhetisch kraftvollen zeitgenössischen Formensprache imaginativ wie mühelos zu kombinieren weiß. Was ist ein Architektur-Entwurf? Entwerfen ist ein schönes deutsches Wort. Es ist sehr dynamisch. Entwurf ist ein perfektes Wort. Das hat zu tun mit werfen. Das englische design ist tatsächlich eher statisch. Oder auch Projektion – da geht man nur bis zu einem bestimmten Punkt. Wenn wir hier Entwerfen unterrichten, versuchen wir, den Prozess zu öffnen. Zu zeigen, dass man, wenn man die erste Linie zieht, man nicht unbedingt weiß, was am Ende herauskommen wird. Das wäre eine sehr große Einschränkung. In Ihrem „journal“ haben Sie ein sehr schönes Thema gehabt, Rahmen. Es gibt eine Metapher von Georg Steiner, dem österreichischen Philosophen und Kulturkritiker, die ich oft verwende, wenn ich mit meinen Studierenden über Entwerfen spreche: das Fenster und der Spiegel. Beide sind Rahmen. Übersetzt in Architektur heißt das, wenn man ein Projekt beginnt, bestimmt man seinen Rahmen als ein Fenster. Das bedeutet, man kann nicht alles fokussieren, was möglich ist. Man muss sich auf einen Teil konzentrieren, eine Landschaft oder eine Stadt zum Beispiel, auf einen bestimmten Ausschnitt der objektiven Welt. Dazu kommt die subjektive Welt – das ist der Spiegel. Das ist der andere Rahmen. Da schaut man hinein, um Fragen zu finden, die wiederum das Projekt füttern.

Immer wieder experimentell also, der Prozess ist nicht linear. Ja, man braucht das Feedback des Materials, es ist wie ein Antrieb, ein Motor, den uns die Möglichkeiten eines Materials geben. Es geht um das Machen.

Was sind die wichtigsten Dinge, die Sie Ihren Studierenden über das Entwerfen weitergeben? Wie beginnen Sie? Nun, mein Lehrstuhl heißt Grundlagen des Entwerfens, das heißt, er ist für die Studenten im ersten Studienjahr. Und das ist auch für mich das Interessanteste, wie beginne ich? Man kann sehr methodisch beginnen, aufbauend. Das ist ein traditionelles und theoretisches Herangehen ans Lehren, linear. Hier versuchen wir, ihnen etwas anderes zu zeigen. Ich ziele auf zwei Dinge: Denken und Handeln, learning by doing. Ich glaube nicht an Architekturprojekte, in denen man zuerst viel analysiert, nachdenkt und diskutiert und schließlich etwas konstruiert. Ich glaube, dass das alles gleichzeitig passieren muss. Der Architekt muss also mit seinen Händen agieren und lernen. Weil bestimmtes Handeln oder Bewegen der Hände auch sehr verbunden ist mit räumlichen

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Das ist ein sehr schönes Bild. Ein Ingenieur, der entwirft, muss sich buchstäblich auf genau das konzentrieren, was er erreichen will. Der Architekt tut es zwar auch, aber er lernt im Prozess.

Was ist ein guter Entwurf? Gibt es das überhaupt, oder liegt der gute Entwurf im Auge des Adressaten? Für mich ist ein guter Entwurf ein Kunstwerk. Es stellt Fragen auf vielen verschiedenen Ebenen. Natürlich muss Architektur, im Unterschied zu den anderen Künsten funktional sein. Aber das ist nur eine Ebene. Gehen wir wieder zurück zur Metapher des Spiegels und des Fensters. Das Fenster ist objektiv, die Realität, Wetter, Klima, Kosten. Der Spiegel, also der Rahmen des eigenen Selbst, stellt symbolische Fragen. Zum Beispiel Gedächtnis. Das Gedächtnis eines Ortes. Wie vermittelt man das? Wichtig ist, dass die Studierenden verstehen, dass das eine sehr wesentliche Frage ist. Und das geschieht im Prozess. Erfahrung kann man nicht unterrichten, weil sie immer anders ist. Wenn ich mich frage, was gut ist – falls wir dieses Wort verwenden wollen –, ich glaube, ich möchte zeigen, dass was gut ist im Leben, immer sehr einfach zu sein scheint. Ein Projekt, das nicht das vermittelt, sondern das Leiden und die Schwierigkeiten, ist meiner Meinung nach nicht gut. Als Architekt hat man eine enorme Verantwortung dafür, wie Menschen leben, wie sie denken, wie sie z. B. Kunst sehen. Und das für eine sehr lange Zeit. Wie kann man so etwas vermitteln? Ja, Architektur beeinflusst das Leben der Menschen sehr viel mehr als man glaubt. Das ist sehr schwer zu vermitteln. Ich kann das nur zeigen, Beispiele zeigen, über Architektur sprechen. Das gehört nicht zu den sehr konkret lehrbaren Elementen von Architektur, wie Maße zum Beispiel. In einer meiner Klassen habe ich eine Vorlesung, die


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Hat denn die Trias von Vitruv – firmitas, utilitas, venustas –, also Festigkeit, Nützlichkeit und Schönheit heute noch immer Gültigkeit? Das alles ist sicher wahr. Was mich interessiert, ist die Frage nach dem symbolischen Gedächtnis. Ein Gebäude kann funktionieren, stabil, nützlich und schön, aber kalt sein und keine Verbindung zum Ort haben, an dem es steht oder zu den Menschen, die es benutzen. Louis Kahn, der amerikanische Architekt, hat – in seiner lakonischen Art – über das Messbare und das Nicht-Messbare in der Architektur gesprochen. Wir können das Messbare lehren, aber wir können die Studenten nur dazu drängen, ihren Ausdruck zu finden, also das Nicht-Messbare. Nur so können sie überleben. Alles andere ist Kon­ struktion. Zu verstehen, was ein Projekt repräsentiert, was es bedeutet und wie es sich fügt in den Ort, an dem es gebaut wird, in die

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heißt: Dimension, Proportion, Maßstab (scale). Dimension ist absolut lernbar, Proportion kann man auch lernen, aber man muss sie immer im kulturellem Kontext sehen und verstehen. Maßstab ist eine sehr architektonische Frage. Was passiert, wenn das schönste Projekt jenseits von jedem Kontext steht – also keine Verbindung zur Landschaft oder zum urbanen Raum hat? Um ein Gefühl dafür bekommen zu können, arbeiten wir sehr viel mit Modellen.

Kultur, in das Gedächtnis der Menschen. Das alles sind Qualitäten der Wahrnehmung und Sensibilität und sie gehen oft verloren. Der Grund, warum ich so gern mit dem ersten Studienjahr arbeite, ist, dass die Studenten noch sehr offen sind. Wenn ich sie dann für den Master wieder treffe, ist die Freiheit manchmal verschwunden, sie sehen zu viele Hemmnisse, Obstruktionen. Die Universität ist der Ort, an dem man lernt zu denken. Selbstständig zu denken. Hier kann man die Limits brechen. In der Arbeitswelt ist es schwieriger, aber auch notwendig. Das gefällt mir hier sehr. Meine Kollegen und ich haben professionelle Karrieren und eigene Studios. Wir versuchen zu zeigen, dass das, was wir in unseren Studios tun, sehr verbunden ist mit dem, was wir unterrichten. In den USA oder in Italien zum Beispiel sind die Schulen rein akademisch, wie ich finde, zu isoliert von der Realität. Eine Schule soll auch utopisch und frei sein. Wir entwerfen Ideen, die nicht unbedingt immer am Ende gebaut werden können. Vielleicht ja, vielleicht nein. Es geht darum, Türen zu öffnen. Enrique Sobejano ist Professor für Grundlagen des Entwerfens. Das Gespräch führten Marina Dafova (Übersetzung aus dem Englischen und Bearbeitung) und Claudia Assmann. Erschienen in journal 9.


darstellen. Um von einem räumlichen Fragment zum anderen zu kommen, braucht es Verbindungen, das sind die Türen. Und um diese Raumfragmente auch übereinander schalten zu können, braucht es Treppen. Klingt alles sehr banal, aber genau das ist unser Werkzeug. Die Studierenden sind meistens sehr überrascht, dass sie nicht mehr in der Hand haben. Aber das macht ja unsere Welt so reich, dass wir das alles miteinander kombinieren können. Dann muss man sie extrem herausfordern und man geht weiter. Wenn es um Verbindungen von Räumen geht, gibt es diagonale Raumbezüge – sowohl in der Ebene als auch in der Schräge: Es gibt Situationen, Zwischenbereiche, die überleiten, von außen nach innen. Dazu kommt das Thema Licht. Licht wird über Übergangsräume nach innen langsam abgemindert. Wir arbeiten mit den Fragmenten, die die Studierenden bringen. Es wird ein Modell gebaut. Wir denken nicht darüber nach, wie wir ihre Beispiele funktional besser machen könnten, das klammere ich vollkommen aus – im ersten Semester kommen alle diesbezüglich mit unglaublichen Vorurteilen daher. Wir reden nur über das Räumliche, wie man eine Situation dazwischenschaltet, die mit Licht eine Stimmung schafft. Oder wie man etwas verdoppelt und eine gute Situation über die Verbindungsmöglichkeiten gestaltet.

FLORIAN RIEGLER ÜBER EINFACHHEIT, ENTHUSIASMUS UND BE-GREIFEN Florian Riegler ist ein Architekt, der das Mehrdeutige liebt. Entwerfen beschreibt er als einen komplexen Prozess, der von „den konzeptionellen Möglichkeiten des Raums und den letztlich nie eindeutig fixierten Spielarten seines Gebrauchs“ ausgeht, und der auf das Wesentliche reduzierte Konzepte hin arbeitet. Seine Architektur schafft „Strukturen, offen und präzise zugleich: Rahmen für den komplexen Fluss der Bilder des Gebrauchs“. Wie lehren Sie Entwerfen? Das ist das zentrale Thema. Ich arbeite mit dem ersten Studienjahr und dann wieder im fünften Jahr später mit den Masterstudenten. Am Anfang ist es wichtig, dass man viel fordert von den Studierenden, ihnen aber auch viel Zeit lässt – zu lernen, zu entdecken und vor allem zu begreifen. Diese Langsamkeit ist wichtig, um sich selbst viele Fragen stellen zu können. Da gehört auch die Unsicherheit dazu. Im Beruf, im Prozess des Entwerfens passiert das immer wieder. Man hat nicht immer die Gewissheit, dass man zu einer relevanten Frage vordringt. Und auch das müssen die Studenten lernen. Das andere ist ja die Architektur selbst, das Räumliche. Auch geht es darum, eine Liebe zu dem zu entwickeln, was man macht. Zu schätzen, was da ist, keine Unterschiede zu machen auf Grundlage der äußeren Erscheinung. Erst einmal ist alles gleich viel wert. Deshalb muss man ihnen das Sehen beibringen, um überhaupt Fragen stellen zu können.

Was ist das Werkzeug des Architekten? Im Endeffekt sind es sehr wenige und sehr einfache Dinge, mit denen wir als Architekten arbeiten. Eine ebene Fläche herzustellen, war ein großes Ereignis für unsere Zivilisation. Und das ist die Voraussetzung für unsere ganze Tätigkeit. So etwas mache ich den Studierenden bewusst. Die ebene Fläche in der Horizontale ist sehr wichtig, der Mensch kann sich am besten darauf bewegen. Dazu kommt die a ­ ufgestellte Ebene – die Wände. Wände kann man durchsichtig machen – dann hat man Fenster usw. Mit diesen Flächen kann ich räumliche Situationen

Das heißt, sie gehen stark von der individuellen Wahrnehmung einer jeden Person aus? Von den Empfindungen. Empfindungen sind der erste Einstieg, den man als Person hat, um sich zu äußern, auszudrücken. Dessen muss man sich auch immer bewusst bleiben.

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Wie machen Sie das? Oft schicke ich die Studierenden am Anfang raus in die Stadt. Sie sollen uns zwei-drei Situationen bringen, die ihnen in Erinnerung geblieben sind, weil sie entweder sehr hässlich oder sehr schön waren, sie irgendwie beeindruckt haben. Sie bereiten dann ihr Thema auf, zeichnen viel, stellen es dar. Und kommen ins Studio und wir diskutieren über jeden Vorschlag, den sie machen, und wählen aus, woran sie weiterarbeiten.

Lernen beim Machen. Die Arbeit am Modell ist sehr wichtig. Sie müssen begreifen. Begreifen kommt ja von greifen, man merkt sich etwas, was man be-griffen hat. Das ist der Schlüssel zum Arbeiten, dass man etwas wiederverwenden kann. Die Studierenden arbeiten in der Gruppe und lernen auch voneinander. Wir diskutieren, machen Vorschläge. Und sie verwenden das alles, was in der Klasse aufgearbeitet wurde. Wir führen es weiter zu kleinen Entwürfen, es sind immer sehr lebensnahe Themen – Wohnsituationen, Arbeitsbereiche.

Der Architekt hat eine enorme Verantwortung. Er schafft Räume, in denen Menschen leben. Er bestimmt durch die Räume, wie Menschen sind und werden, wie sie arbeiten, sich bewegen. Wie sensibilisieren Sie die Studierenden für eine solche Verantwortung? Das ist ein Teil in der Ausbildung, der immer angesprochen wird. Was aber gar nicht so einfach abzuschätzen ist, wie viel man als Architekt vorgibt und wie viel man offen lässt in seiner Arbeit, damit es ein gutes Angebot für die Menschen wird. Wenn man zu viel vorgibt, wird es häufig abgelehnt. Die Menschen vertragen es nicht, so gegängelt zu werden von einem Design. Es muss so unscheinbar sein, dass man es gar nicht merkt. Da gibt es ein einfaches Beispiel: Im Wohnungsbau habe ich die Erfahrung gemacht, dass, wenn ich als Architekt innerhalb einer Wohnung einen Raum inkludiere, der quasi keine Funktion hat – also zu klein ist für ein Schlafzimmer, aber zu groß für eine Kammer – die Leute nicht wissen, was sie mit dem Raum anfangen sollen.


Am Ende wird es eine Schatzkammer innerhalb der Wohnung, weil sich jeder einbringen kann und muss, und irgendwie schaffen es auch alle. Daraus wird die Schaltzentrale des Familienoberhaupts oder das Kind hat sie sich erobert. Keine dieser Kammern ist jemals gleich. Das ist ein simples Angebot. Solche Sachen faszinieren mich, und das versuche ich zu vermitteln. Dass man mit diesen einfachen Dingen, die man zum Arbeiten zur Verfügung hat – und mit ein bisschen Denken –, Situationen schaffen kann, Angebote. Es geht immer ums Angebot.

muss gleichzeitig an die Konstruktion denken und an alle diese Schichten, die notwendig sind, man muss bauphysikalisch und technisch alles abdecken und dabei räumlich immer noch gut bleiben. Und da ist ja noch das Raumprogramm, also die funktionalen Beziehungen herstellen. Wenn das Raumprogramm besagt, es muss eine bestmögliche Beziehung zwischen dem Seminarraum und dem neu geschaffenen Raum bestehen, dann ist das für manche ein unlösbares Problem, manche strampeln sich allein daran ein ganzes Semester lang ab. Das hat mich dazu gebracht, das wegzulassen.

Wie wichtig ist Geschichte? Ich orientiere mich an Raumfragmenten oder versuche zu begreifen, warum etwas wie gebaut ist. An der UdK haben wir sehr viele Studierende aus dem Ausland. Es interessiert mich immer, in was für Häusern sie gelebt haben. So kann man in Geschichte einsteigen. Sehr lebensnah und total spannend. Da ist jemand aus Kirgistan und erzählt, dass das ganze Leben der Familie sich wie auf einer Bühne im Hof abgespielt hat, auf einer erhobenen Fläche mit drei, vier Stufen, damit sie nicht von den Hühnern gestört werden – war ihre Erklärung dafür. Das Haus war eher zum Schlafen da, gelebt haben sie den ganzen Tag draußen, auf dieser erhobenen Bühne. Da ist auch das Essen herausgebracht worden usw. Oder Mexiko, wo ein Mehrfamilienhaus die Küche immer an der Treppe hat, die durch das Haus führt. Die Küche ist offen zur Treppe hin, sodass jemand, der nach Hause kommt, an sämtlichen Küchen vorbeikommt. Und, weil er ein angesehener Mensch ist, bekommt er überall etwas zu essen und bekommt auch alles erzählt, und wenn er‘s in seine Wohnung schafft, ist er schon satt und weiß alles vom ganzen Tag. Ist doch Wahnsinn! Ich versuche, solche Geschichten, soweit es geht, zu integrieren, in das, was wir machen, was wir leben.

Hier ist die Fantasie gefragt ... Es geht immer noch um das Räumliche, das nehme ich sehr wörtlich. Aber da geht‘s nicht mehr so sehr darum, dass etwas aus der eigenen Erinnerung kommt, sondern dass man sich etwas vorstellen kann, eine gute Raumsituation – das kann wirklich jeder. Das ist natürlich verknüpft mit Empfindung, mit Erinnerung, mit Wahrnehmung – wir sprachen darüber, aber es ist schon etwas, was aus dem Kopf kommt. Das unterstützen wir häufig mit Training, dass die Studierenden z. B. in Filmen räumliche Situationen, die da meistens nur angedeutet sind, benennbar machen. Dass sie über die Lichtsituation in einem Filmstill feststellen, wie der Raum ausschauen könnte. Sie gehen von einem Fragment aus und fantasieren weiter, Fragmente kommen dazu. Ein Gebilde soll eine Tiefe bekommen, mehrere Räume. Ein Raum ganz allein kann selten wirklich gut sein. Es kommt auch immer auf das an, was daneben ist. Und wenn nichts daneben ist, dann ist es der Außen­ raum und die Landschaft, die dann eine große Rolle spielen. Außenraum und Landschaft sind auch strukturiert, haben Enge, Weite, irgendeine Besonderheit, auf die man reagiert. Und so beginnen sie, etwas zu machen, Dinge, die ihre ersten Vorstellungen von dieser einen Besonderheit intensivieren, unterstützen, anreichern – sinnvoll machen. Am Ende haben wir dann etwas und sagen oft: „Was könnte das jetzt sein?“ Und Sie werden staunen, die Antworten kommen wie aus der Pistole geschossen. Das find‘ ich toll. Dann testen sie ihren Entwurf, bauen ihn ein bisschen um, dass er auch wirklich funktioniert und Sinn macht und wir haben ein gutes Projekt. Im Arbeitsleben, in der Wirklichkeit kann ich das alles nicht machen. Aber an einer Architekturschule sollte das machbar sein. Und die Studierenden müssen ja auch leidenschaftlich werden. Sie müssen Enthusiasten werden, sie müssen immer Neues sehen wollen. Die ganze Misere, die dann nachher mit dem Beruf zu tun hat, kommt früh genug.

Sehen lernen und verstehen lernen – die Freiheit des Denkens begreifen … … die Freiheit zu begreifen, mit dem, was sie in der Hand haben, gestalten zu können. Auch wenn es wenige Elemente sind, habe ich sehr viel in der Hand, um eine bessere Welt zu gestalten oder ein gutes Angebot zu machen. Das müssen sie lernen und damit verantwortungsvoll und zielorientiert umgehen.

Florian Riegler ist Professor für Entwerfen und Baukonstruktion. Erschienen in journal 9.

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Wie arbeiten Sie mit den Masterstudenten, drei Jahre später? Ich habe begonnen, diese benennbaren räumlichen Fragmente als Thema vorzugeben, „Übergangsraum“ oder „diagonale Raumbeziehung“ beispielsweise. Die Studierenden werden so direkter konfrontiert mit diesen räumlichen Qualitäten, und wir lassen sie explizit danach suchen. Mit diesen Fragmenten beginnen sie dann zu arbeiten. Sie bauen ein Konstrukt, wo die Räume zum Beispiel eine diagonale Beziehung haben. Hinzu kommt alles das, was wir als Architekten zur Verfügung haben, darüber haben wir vorhin gesprochen … und so arbeiten wir dann konkreter weiter an diesen Figuren. Ich bin etwas davon abgekommen, große Projekte in Angriff zu nehmen – ein fixes Raumprogramm also, wie ein Wettbewerb. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Studierende völlig überfordert waren. Denke ich an meine eigene Jugendzeit – ich war es auch. Man


Karte: Dani Spickermann, Alumna 2019, Klasse Illustration Prof. Henning Wagenbreth

Herausgeber Der Präsident der UdK Berlin Prof. Dr. Norbert Palz Konzept + Redaktion Claudia Assmann + Marina Dafova Art Direktion + Gestaltung Marina Dafova Alle Gespräche, wenn nicht anders ausgewiesen, wurden geführt, übersetzt und bearbeitet von der Redaktion. Erscheinungsweise vier Mal im Jahr: April, Juni, Oktober, Dezember Redaktionsschluss journal 10. 20. Juni 2020 Auflage journal 10. 5.000 / regulär 20.000 Anzeigen Runze + Casper, murre@runze-casper.de Druck Ruksaldruck GmbH & Co KG journal extended www.udk-berlin.de/journal

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