Ausgabe 3 EUR 5,–
E S I S T G U T.
UND Heft für Alternativen, Widersprüche und Konkretes
ICH BIN DER REST VOM APFEL Dieses Heft wurde auf vollkommen biologisch abbaubarem Apfelpapier gedruckt. Es wird aus Apfelresten hergestellt, die bei der industriellen Verarbeitung von Äpfeln anfallen. Der zellulosehaltige Trester wird getrocknet, zermahlen und zusammen mit chlorfrei gebleichter Zellulose zu Papier weiterverarbeitet. So wird aus industriellem Abfall, der normalerweise verbrannt oder entsorgt wird, ein neuer Rohstoff gewonnen. Produziert wird Cartamela von frumat in Bozen, Südtirol. Finden wir gut!
E S I S T G U T. Die Geier krächzen es schon aus ihren Nestern: Zeit für Optimismus – eine Aufforderung zum Galgenhumor? Wir fordern das Gute heraus, betrachten und betasten es. Wir wollen wissen, was das Gute ist, wie es aussieht und was es mit uns macht. Woher kommt es, lässt es mit sich reden und wohin fährt es heuer auf Urlaub? Was ist wirklich erstrebenswert, jenseits von Lifestyle-Reportagen und verordnetem Konsum? Alles war gut. Alles ist schlecht. Alles war schlecht und jetzt ist alles besser? Was hat bleibenden Wert, auch durch die Lebensphasen und sich verändernden Zeiten hindurch? Wofür brennen wir? Wofür leben wir? Gute Geschichten, funktionierende Projekte, kreative Phantombilder, anregende Abhandlungen, grandiose Ideen, Visionen und Utopien – lasst alles raus, stachelt an und seid unausstehlich positiv.
Man kann doch das Negative nicht ein fach ignorieren! Ich würde ja gerne et was schreiben, aber ich bin einfach kein positiver Mensch. Aber man muss doch das Positive IMMER in Relation zum Negativen betrachten. Mit diesem Thema tue ich mich ehrlich gesagt schon wahnsinnig schwer, was soll man denn dazu sagen? – so lauteten die Stand ardeinleitungen zu vielen, vielen Ge sprächen, die wir nach der Veröffentlichung unserer Ausschreibung führten. Gut. Aber es gab sie dann doch, vereinzelt, die unbeirrbaren Optimisten und Optimistinnen sowie jene, die diesen ungewohnten Weg zumindest ausprobieren wollten. Denn in den letzten Tagen der Ausschreibung flatterten dann plötzlich so viele Beiträge ein, dass die Auswahl wirklich eine Herausforderung war. Und wir ließen sie zu, die Ambivalenzen um den Begriff des Guten, das Hinterfragen dieses Konstrukts, die KontextualSo unsere Ausschreibung. Noch nie isierung und die Abkehr davon. (Wohat ein Thema so große Kontroversen bei wir für dystopische Szenerien und Diskussionen heraufbeschworen. doch eher eine zukünftige Ausgabe Es ist gut – ganz einfach: Hier, heute freihalten werden.) und auf diese paar Seiten begrenzt reden wir einfach mal darüber, was gut Die Beiträge dieser Ausgabe helfen ist, darüber, was funktioniert, und dabei, diesen ideellen Zwiespalt bes auch darüber, was so allerhand Posi- ser zu verstehen. Sie zeigen uns aber tives passiert – sich selbst in eine auch Lebensentwürfe, Projekte und kurze Klammer setzen und einfach Geschichten, die motivieren und damal die vielen negativen, grübleri von zeugen, dass viele Menschen akschen Weltuntergangsgedanken für tiv und kreativ daran arbeiten, ihre eine Heftlänge draußen lassen. So der Ideen und Visionen umzusetzen und Plan – er ist grandios gescheitert! mitzuteilen.
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Und jetzt richten wir uns ein wenig auf, klopfen uns zuversichtlich gegenseitig auf die Schultern und sagen, ganz ohne Zweifel, ohne Zurückru dern und mit Gewissheit: Es ist gut geworden – das UND*. Eine ganz wunderbare Ausgabe, die alle Gefühle zulässt, die dieses Thema eben mit sich bringt. Danke an alle leidenschaftlichen, wankelmütigen und tentativen Optimisten und Optimistinnen, die uns in dieser Ausgabe an ihren Zugangsweisen zum Guten teilhaben lassen. Danke, dass ihr ein so vielschichtiges Porträt des Guten erstellt habt, das am Ende Widersprüchlichkeiten zulässt, Fragen aus hält und das Gegenüber respektiert. Das ist gut. Eure Christina und Julia
*UND – Heft für Alternativen, Widersprüche und Konkretes
IM SAFT
Beitragende dieser Ausgabe
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Optimismus. Inschrift. walter // kino // innsbruck
Die Reise. Fotografie und Text Patricia hat Architektur in Innsbruck studiert // ist ein gebürtiges Salzburger Landei // lebt und arbeitet als freie Architektin // hat festgestellt, dass Fotografie und Reisen ihre großen Leidenschaften sind // verbindet nun Beruf und Fotografie
ANONYM Mutter Milch. Fotografie
C‘est si bon. Essay Anna ist Studentin und heimliche Philosophin aus Südtirol // ist nach einiger Zeit im großstädtischen Wien in Innsbruck gelandet // liebt es, alles zu hinterfragen // stöbert gern bei einer guten Schallplatte in einem Stapel Zeitungen, um herauszufinden, was in der Welt so passiert, wenn sie nicht gerade auf dem Fahrrad in den Bergen unterwegs ist oder am Klavier sitzt // träumt von einem Erasmus-Jahr in Frankreich
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Bernhard hat nach skeptischem Hin und Her erkannt, dass Prosa sein Empfinden besser beschreibt als ein schwulstiger Text // träumt vom guten Leben und arbeitet hart dafür // glaubt an das Analoge im Menschen // Buchbinder. Taschner. Typ. // sanders.at
Die Kunst- und Architekturschule bilding ist eine einzigartige Einrichtung in Innsbruck, in der Kinder und Jugendliche von 4 bis 19 Jahren dabei unterstützt werden, ihre kreativen Interessen, Fähigkeiten und Talente zu entdecken und weiterzuentwickeln // hat folgendes Leitbild: Kunst und Kultur öffnen Welten. Welten voller Farben, Formen und alternativer Einsichten. Denn Kinder und Jugendliche brauchen kreative Experimentierfelder, um gereifte Persönlichkeiten werden zu können // bilding.at
WALTER GROSCHUP
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PATRICK HUEMER UND CLEMENS MAASS Wie wir leben wollen. Projektvorstellung Patrick und Clemens organisieren seit 2016 gemeinsam mit anderen die monatliche Diskussionsveranstaltung Wie wir leben wollen // wollen Handlungsspielräume aufzeigen und soziale Praktiken auf den Prüfstand stellen // treffen eine bunte Themenauswahl von der psychologischen Sinnforschung über nachhaltigen Konsum von Nahrungsmitteln und Medien bis hin zu Fragen nach dem sozialgestalterischen Potenzial von Kunst in der Gegenwartsgesellschaft // wiewirlebenwollen@derspielraum.com
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MARION SCHÖPF UND SUSANNAH HAAS Optopolis. Szenische Utopie
Marion ist Ärztin und absolviert derzeit ihren Bachelor in Philosophie // interessiert sich für Literatur, Musik, Philosophy of Mind und Anästhesie Susannah ist Pädagogin, Komparatistin und Marions Philosophiekollegin // interessiert sich für Film, Wald und Wiesen, Literatur, Ontologie und Journalismus // sie sind Teil von Salon Ludwig §123 - einem philosophischen Kollektiv, das von Studierenden des Instituts für Christliche Philosophie gegründet wurde
PATRICIA BACHMAYER
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BERNHARD SANDERS Wäre gut gut. Gedanken Das Handwerk. Projektvorstellung
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MANUEL SCHWAIGER Synonymisierung des Guten.
Annäherung Manuel ist germanistikgeprüfter Ü30er // studiert die Medien und quatscht bei Freirad darüber // philosophiert meistens im Stillen und vermisst dabei seinen Gabelstapler
ANNA WOLF
BILDING. KUNST- UND ARCHITEKTURSCHULE Bei Bilding felt das U. Skulptur
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IRENE G. CHANA UND BETTINA WENZEL Ausschnitt aus dem Fanzine „Subtil“. Illustration und Text Familia. Illustration
Irene wurde mit einem Bleistift hinterm Ohr geboren // lebt und fährt ihr Fahrrad in Berlin, aber eigentlich liegt ihr Studio irgendwo in den Wolken // hat Bildende Kunst an der Universität von Salamanca studiert // hat ihr eigenes Atelier gegründet enblanco studio, das sich auf Grafik Design und Illustrationen im Kunst- und Kulturbereich spezialisiert // publiziert gemeinsam mit Bettina selbst kleine Hefte, gefüllt mit Text und Illustrationen // konzipiert und leitet auch Workshops für Kinder // enblanco-studio.de Bettina schreibt Texte, mal zum Vergnügen und mal für Geld // schreibt oft einen Text für ein Bild oder über ein Bild
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ANNEMARIE REGENSBURGER Und. Gedicht Annemarie lebt in Imst // ist gelernte Köchin, verheiratet und hat drei erwachsene Kinder // arbeitet als Literatin, Erwachsenenbildnerin, Hausfrau // hat sich aus einer sprachlosen Kindheit die Sprache erkämpft, den Blick geschärft auf Missstände gerichtet, auf mögliche Antworten, die das Leben schreibt
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MARIA MUSTER Ich bei mir. Gedicht Maria heißt wirklich so // ist 25 // liebt Postkarten und Frühstück // muss sich oft über sich selbst wundern und schreibt hauptsächlich Gedichte
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MAXIMILAN SHUSTER 047. Gedicht Maximilan hat mit 9–10 Jahren exzessiv Querflöte gespielt und seitdem für nichts mehr eine solche Begeisterung gefühlt // liebt Pferde und Seile // ist in Innsbruck zur Zeit als Botschafter eines Staatenbundes, der nicht bekannt ist
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BERTRAM SCHRETTL Potz Blitz. Nacherzählung
Bertram hat eigentlich beim DU-Magazin eingereicht, ist aber aus Versehen hier gelandet // wuchs in einem verschlafenen 400-Seelen-Dorf auf, nämlich in Musau // absolvierte die HTL für Wirtschaftsingenieurwesen und danach ein Komparatistik-Studium // war und ist lebensbegleitend als Steinrestaurator tätig // Intermezzi als Redakteur für regionale Wochen zeitungen und die Online-Ausgaben von VICE Alps und VICE Austria // tritt unregelmäßig als Künstler in Erscheinung
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ÁGNES CZINGULSZKI Kulungile. Kurzgeschichte
Ágnes ist in Buchstaben am meisten zuhause, will sie trinken, will sie schreiben, will ihnen winken, will sie weinen, will sie schätzen, will sie lachen // will sie aber vor allem lesen: egal ob auf einem Duschgel, auf einem verlorenen Zettel oder im Aufzug – alles erzählt eine Geschichte und mit solchen Geschichten arbeitet sie
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TOBIAS LUDESCHER Isolation Camp. Projektvorstellung Tobias entführt gerne kreative Menschen auf Almen und Hütten // probiert Isolation, Gemeinschaft, Arbeit und Entspannung im Exil zu vereinen // hat herausgefunden, dass das ziemlich gut funktioniert // isolationcamp.com
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ROMANA KURZ
Palermo Sicily (2017), Rosny sous Bois (2016). Zeichnung und Fotografie Live Forever Installation is it good // nobody knows // nobody cares // thank you very much // Peter // peterpiek.com, Leipzig
Später. Kurzgeschichte Romana ist in Stams aufgewachsen und schon im Kindergarten konnte sie es kaum erwarten, endlich schreiben zu lernen // schreibt vor allem Kurzgeschichten und sammelt Ideen für ihren ersten Roman // findet es spannend, Geschichten und Gefühle des Alltags zu beschreiben und zu erkennen, dass nicht immer alles so ist, wie es auf den ersten Blick scheint
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PETER PIEK
SABINE GROSCHUP full of wonder world. Fotografien Sabine lebt und arbeitet in Wien und Berlin // ist Lassnig-Schülerin // arbeitet als bildende Künstlerin gattungsüber greifend und ist mit Malerei, Videokunst, Installationen, Mixed Media und Fotografie international präsent // ist fiktionale Erzählerin, aber auch Lyrikerin // Fotografien © Sabine Groschup / Bildrecht, Wien 2017 // sabinegroschup.at
PAUL KLUMPNER Stadt und gut? Good City gone M.a.a.d.? Essay
Paul interssiert sich für: Stadt und Zusammenleben, temporäre Bespielung von Brachen und Leerstand, (Sub-) Kultur und Migration // arbeitet für und bei Verein Brache, Komm Ent Hall - Soziale Stadtteilentwicklung Untere Lend in Hall und beim MCI
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PATRICK BONATO „Au monde des Toubabs“. Comic Patrick lebte mit seiner Freundin in Luzern, bis ihre Wohnung dort abgerissen wurde // seither leben sie im Senegal, in Südamerika und bald in den Vereinigten Staaten // kommen aber wahrscheinlich wieder zurück in die Alpen, da „isses ja doch am schönsten“ // Patrick war während seiner Artist Residency in St. Louis du Senegal auch ein „Toubab“, so wie alle Weißen // verwechselte auch schon mal eine feurige Chili mit einem harmlosen Minipaprika // ähnlich intensive Erfahrungen kann man in Comicform auf seinem Blog nachlesen: patrickbonato.tumblr.com // patrickbonato.com
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DHARA MEYER Findings. Projektvorstellung Dhara arbeitet bei Tirol 2050 energie autonom und studiert freie Kunst in Münster // begeistert sich für nachhaltige Projekte // illustriert und organisiert // hat einen fabelhaften 6-jährigen Sohn
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DAVID SCHREYER Stadt. Fotografie Architekturbild und Freie Arbeiten // schreyerdavid.com
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MARCELL SCHRITTWIESER Zu viel des Guten. Zwischen Theorie
und Überlegung Marcell besitzt keinen Lebenslauf und kein ganzes Auto // wechselt gerne Worte und widerlegt sich dabei am liebsten selbst // hat einen immer stärker werdenden Hang zur Muße und seine Jobaussichten schweben in der Luft // denkt gerne über sein sich ständig wandelndes Konsumverhalten nach // hat jetzt eine Konstante im Leben gefunden: den Mut, uns trotz Schultraumata vollzutexten
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YVONNE NEYER Ich möchte ein Eis. Illustration
Yvonne ist Illustratorin und erneut Architekturstudentin // ist Mitbegründerin der Kunstförderplattform I•WANA // ist immer auf der Suche nach dem Guten – Menschen, Essen, Projekten, Sinn, Architektur und, und, und // wäre gerne öfter schwarz-weiss, endet jedoch meist in kunterbuntem Farbgetümmel
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SOFYA TATARINOVA Levitation. Fotografie Sofya wurde in Moskau geboren // lebt und arbeitet momentan in Innsbruck // beschäftigt sich seit 10 Jahren mit konzeptioneller Fotografie // hat schon in Russland, Südafrika, den USA, Österreich, Deutschland, England und Frankreich ausgestellt // sofiatatarinova.ru Die Fotoserie Levitation wurde 2012 in einem Randbezirk in der Nähe von Moskau aufgenommen. Sie zeigt junge Erwachsene, die sich zu einem Verein zusammengeschlossen haben und sich für die Rechte von Homosexuellen einsetzen. „Als Künstlerin wollte ich die Situation dieser kleinen Gruppe darstellen und gleichzeitig die Erinnerung an eine vergessene Kindheit wecken und eine neue mögliche Realität erzeugen. Wir Erwachsene haben verlernt, auf Bäume zu klettern und dort über die regenbogenfarbige Zukunft zu fantasieren.“
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MAURICE MUNISCH KUMAR Innsbrucks subcutanes Gedächtnis.
Projektvorstellung Maurice stellt uns das Innsbrucker Subkulturarchiv genauer vor // ist Kultur- und Sozialarbeiter // ist momentan in folgende Projekte involviert: Kulturkollektiv Contrapunkt, Subkulturarchiv und Schulsozialarbeit Tirol //subkulturarchiv.at
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CHRISTINA UND JOHANNA MÖLK Zusammen ist Gut. Ein fotografisches Tagebuch
Christina und Johanna haben nicht immer zusammen, aber immer in Gemeinschaft gelebt // finden, es bekommt ihnen gut, weil‘s Spaß und Sinn macht
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KLAUS SCHENNACH Euer gut will ich nicht. Annäherung
Klaus ist weiß, männlich, heterosexuell, Mitteleuropäer und Angehöriger der Mittelschicht // ist der stolze Verfasser seines eigenen, ambivalenten Lebensentwurfs
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ANDREA SCHULZ UND CHRISTOPH ENGELHARD Gehaltserhöhung. Plakat Andrea Schulz plus Christoph Engelhard ist gleich Förm // Förm gestaltet // Förm illustriert // Förm experimentiert // Förm gibt es nicht nur in Berlin, sondern auch im Internet: Foerm.net Das Poster war 2013 beim Plakatfestival Mut zur Wut unter den besten 30. Das Festival ist eine Plattform engagierter Kreativer, die ihre Wut über Missstände mit mutigen, plakativen Botschaften formulieren – teilweise trotz Zensur in ihren Heimatländern. 30 prämierte Poster werden im öffentlichen Raum plakatiert und sorgen genau dort für Diskussionen und Aufsehen, wo politische Veränderungen meist ihren Anfang nehmen: auf der Straße. Die Ausstellung der Plakate macht die Straße zur Bühne, zu einer gigantischen Galerie. Eine Art inhaltliche Rückeroberung der Städte, die ansonsten mit ihren schönsten und prominentesten Orten zu simplen Werbeträgern zu verkommen drohen. Zu finden unter: mutzurwut.com
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Es ist gut, d.h., es reicht! Essay Markus hat die maximal mögliche Verschulungsdauer in Österreich genossen // versucht sich trotzdem als freischaffender Wissenschaftler und sozialer Ingenieur
Spielraum FabLab. Projektvorstellung Heinrich betreibt gemeinsam mit Stefan Strappler, Alexander Schuierer und Oliver von Malm das FabLab in Innsbruck, einen gemeinnützigen Verein // gemeinsam führen sie ihr Fablab als offene, demokratische High-Tech- Werkstatt // wollen Privatpersonen industrielle Produktionsverfahren für Einzelstücke zugänglich machen // bieten außerdem auch vielfältige Workshops an // fablab.spielraumfueralle.at
A future under construction. Projektvorstellung Jakob wurde auch schon von Tobias in die Isolation entführt // ist vorüber gehend pensionierter Zirkusdirektor // Lieblingshobbys: Tanzen und Spazierengehen // Lieblingsbuch: Momo // Lieblingstier: Orang-Utan // Lieblingssendung: Es war einmal das Leben // Lieblingslied: El Guincho – Bombay // instagram.com/jakobjuwee
MARKUS PENZ
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LUKAS GOLLER The Battle of the Brenner. Acryl auf vergilbtem Papier Lukas ist halb Tiroler, halb Italiener (Staatsbürger) // halb Architekt, halb Künstler // halb Illustrator, halb Rick and Morty // halb Trailer-Park-Boy // halb Punk // halb Metal // halb Geist // halb Lukas Goller // lukasgoller.com
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CLAUDIA SACHER UND LUZIA DIERINGER I like – I do! Projektvorstellung
Claudia sorgt für Ordnung im feld Verein und für Action // mag Excel-Tabellen und dunkle Schokolade // ist studierte Landschaftsplanerin und Parttime-Sennerin // hält es ruhig sitzend in Innsbruck nur schwer aus // sagt nun auch schon potatoes statt Erdäpfel und salüü statt hallo Luzia stiftet (nicht immer nur kreatives) Chaos im feld Verein und hält bei Laune // mag Grafisches und guten Kaffee // ist studierte Architektin und ParttimeKöchin // hält die Seen-Losigkeit in Innsbruck nur schwer aus // weiß nun auch schon was Bowal sind und fragt nach wiafü zwüfi // feld-verein.at
HEINRICH PAN
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ANNA HULTSCH Alles ist gut. Geschichte und Collage Anna ist zwischen jung und alt // lebt in Innsbruck // schreibt gerne ihre chronisch wirren Gedanken auf // hat Sportwissenschaft und Philosophie studiert – Körper oder Kopf ? // will sich nicht entscheiden und glaubt, dass beide vereint sind // ist Teil eines wachsenden Kollektivs mit offenen Grenzen: GET OUT THERE collective
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ELISABETH KOFLER Die Mama-WG. Erfahrungsbericht
Elisabeth erzählt die herausfordernde Geschichte ihrer Trennung und warum schlussendlich doch noch alles gut geworden ist // will andere Alleinerzieher*innen motivieren // lebt gemeinsam mit Lena, Quirin (6) und Lorenz (4) in einer WG
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HANNAH STOBBE Rosarot. Kurzgeschichte Hannah ist aus Berlin // lebt, schreibt und studiert für ein paar Monate Theologie am Mittelmeer // hat eine Schwäche für Lakritzschnecken und Rapperinterviews // beschäftigt sich viel mit dem Nahostkonflikt // erzählt ihre Geschichten aus Beirut auf zedernwald.blogspot.com
JAKOB WINKLER UND JANINE BEX
Janine arbeitet bei Tirol 2050 energieautonom // ist aber derzeit in Babypause // hat Jakob besucht, berichtet euch darüber und macht auch sonst allerhand
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OLIVER OTTITSCH ohne Titel. Comic Oliver ist Karikaturist und Cartoonist aus Graz // findet, dass es eigentlich keinen positiven guten Witz gibt // glaubt, dass es eigentlich immer um das Scheitern und die Erbärmlichkeit einer selbstzentrierten Spezies geht // oliverottitsch.com
KERNGEHÄUSE Mitwirkende dieser Ausgabe
CHRISTINA MÖLK . Redaktion, Grafik und Layout Christina ist das halbe hUND // hat ein unglaubliches Verständnis für jedes Lebensproblem // bevorzugt skurrile Gestalten // verliebt sich regelmäßig in einreichende Künstler // will immer wieder mal in eine große Stadt ziehen // werkelt gern in analogen Welten // ist eifersüchtig, wenn wer in eine Gruppen-Supervision gehen darf // Kopfkino find ich gut.
JOHANNA MÖLK . Grafik und Layout Hanna ist groß und stark // fragt immer nach dem Warum // schaut meistens ganz genau hin // hat kein Verständnis für Unverständnis // hat einen Lenni // hält sich gern im herabschauenden Hund auf und sucht oft das Weite im Grünen // genießt die kalte Dusche zum Aufwachen // hat eine Vorliebe für Roh-Veganes und extrem gesunde Smoothies // Achselhaare naturbelassen find ich gut.
LUKAS Lektor HACKSTEINER . Lektorat Lukas ist eine kompromisslose Fehlerspürnase // Grammatikfetischist // Kunst- und Gossipliebhaber // GeiwiTausendsassa // Spezialist für Gretchenfragen // Was findest du gut? 1 Sache? Schweindln. Genauer gesagt: Schweinis.
JULIA SCHERZER . Redaktion Julia war immer schon das halbe hUND // oder: Julia macht keine halben Sachen, außer dem UND // streicht alles weg, was austauschbar ist // lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und bricht jede Spannung mit einem Scherz // kann Fehler zugeben und Dinge stehen lassen // schreibt gern und mit viel schwarzem Humor // liebt Gags und Galgenhumor // lässt sich unheimlich gern ablenken und muss sich deshalb manchmal zwangsisolieren // verliert regelmäßig den Überblick // Was findest du gut? Lange Strandspaziergänge und Weltfrieden. Oder doch: dreckige Herrenwitze?
SIMONE HÖLLBACHER . Grafik und Layout Mone liebt Rohnen // wird ihren 30. Geburtstag irgendwann feiern // hat eine Schwäche für Lampen, Stühle und Geschirr // mag Muster und Wiederholungen // schaut GZSZ und liest dabei die Kommentare auf twitter zum #GZSZ // wenn sie nicht in Innsbruck wohnen würde, würde sie sich ganz anders anziehen // Grafikdesign bei fraumone.com // Was findest du gut? Orte ohne Berge
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ASOLCIJA MAMARIL . Finanzen und Sponsoring Soli bringt mittags von ihrer Freundin liebevoll vorbereite Lunchpakete mit // ist ein bisschen süchtig nach Bio-Limo // bezirzt locker und ruhig unsere Sponsoren und setzt ihnen ein UND ins Ohr // bittet nicht um Geld, sondern macht in Wahrheit das Angebot, gemeinsam ein Projekt zu realisieren, um den Inns bruckerinnen und Innsbruckern auch ein UND ins Ohr zu setzen // könnte sich aber auch eine Karriere als Handwerkerin vorstellen // Es ist gut, dass sich meistens alles fügt. Wenn nicht, dann ist‘s auch ok.
LUKAS GOLLER . Illustration und Beratung Lukas ist Illustrator und Designer aus Südtirol // hat früh mit dem Skateboarden angefangen und bereiste später die Welt als Snowboard-Profi // lernte dabei, dass die Angst vor dem Fallen jeden Lernprozess verhindert // hat sich das Designer-Handwerk autodidaktisch angeeignet // interessiert sich in seiner künstlerischen Arbeit für die verschachtelte Anordnung von Informationen, die erst bei genauerer Betrachtung sichtbar werden // Den Lernprozess durch das Fallen find ich gut.
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WALTER GROSCHUP, Optimismus
WIE WIR LEBEN WOLLEN „Die Frage nach dem guten Leben ist die erste Frage“, sagt H. und lässt seinen Blick bedeutungsschwer durch die Runden wandern. Ich blicke auf den kleinen roten Wecker, der mich ansonsten an fünf Tagen der Woche heimtückisch und ohne Gnade aus dem heiligsten aller Orte vertreibt, mich allerdings einmal im Monat in den Spielraum für alle begleitet und dort zu meinem treuesten Verbündeten avanciert. „Wir müssen das gute Leben vom glücklichen trennen, dürfen es nicht vermengen. Das glückliche Leben ist ein Leben im Gerundivum, glücklich ist man nicht, man muss es werden – irgendwann, mithilfe von Low-Carbs-Diät, einem Abo im Fitnesscenter und natürlich einem Posten in der PR-Abteilung. Das gute Leben obliegt uns, wir müssen uns lediglich der Handlungsspielräume bemächtigen“, sagt U. Sie sitzt aufrecht, als wäre an ihrem Scheitel ein unsichtbarer Faden befestigt, der ihre Bilder: Wirbelsäule zur maximalen Ausdeh- Momentaufnahmen nung zwingt. K. hat die Beine über- der letzten Diskussischlagen und hat sich in seinem Sesonsveranstaltung (März 2017) von sel zurückgelehnt, das zerzauste Haar Alena Klinger hängt ihm in die Stirn. „Ich will noch eine ganze Menge Leben“, sagt er.
Notizen zur gleichnamigen Veranstaltungsreihe im Spielraum für alle
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Die Frage nach dem guten Leben ist etwas aus der Mode gekommen, so wie Antikriegslieder, Beat-Literatur, Freundschaftsbänder oder humanistische Bildungsideale. Im Allgemeinen wollten wir ihre Berechtigung vielleicht gar nicht in Zweifel ziehen und uns im Grunde, ließe es der leidige Alltagsstress zu, sogar etwas näher damit auseinandersetzen. Tatsächlich jedoch hält uns allerlei davon ab, mehr damit zu verbinden als oberflächliches Interesse oder ein prinzipielles Zugeständnis, dass schon irgendwie etwas dran sein möge. Es gehört zu den weniger ruhmreichen Klischees des modernen Menschen, dass er sich derartigem Sinnieren nur unter Alkoholeinfluss mittleren Grades stellt. Wenn sonst nichts mehr geht, die Zunge aber gelöst und der Verstand noch nicht dazu übergegangen ist, Gesichter im Schattenspiel der Raumdecke zu erblicken oder gänzlich den Dienst zu versagen. Eine Hundertschaft guter Gründe stellt sich dagegen ganz unversehens ein, weshalb diese praktisch unentscheidbaren Fragen im nüchternen Zustand am besten zu meiden seien und das Attribut
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PATRICK HUEMER UND CLEMENS MAASS, Projektvorstellung
„philosophisch“ nur pejorativ gebraucht wirklich an seinem Platz sei. Verständlicherweise wird dabei allzu leicht übersehen, dass dem Thema nicht recht zu entkommen ist. Statistische Auswertung: Wir konnten im Rahmen unserer Erhebung einen bemerkenswerten Zusammenhang zwischen einem Anstieg der Lebenszufriedenheit und der Partizipation an der monatlichen Diskussionsveranstaltung Wie wir leben wollen aufdecken. In unserem Sample (n = 2) betrug der Korrelationskoeffizient 1, das Ergebnis ist statistisch nicht signifikant. Man mag sich der rationalen Erörterung entziehen wollen, praktisch müssen wir auf die eine oder andere Weise handeln. Bewusst oder unbewusst, explizit oder implizit haben wir also stets schon darüber entschieden, was wir als der Realisierung wert erachten. Es liegt wohl in gewisser Weise in unserer Natur: Da wir menschlichen Mängelwesen dazu gezwungen sind, uns verstehend in der Welt zu orientieren, und nicht wie Grünzeug darin aufgehen können, Flüssigkeiten aus dem Boden zu saugen, stehen wir in einem Wechselbezug zu dieser Welt, der eine gewisse Autonomie miteinschließt. Es ist folglich an uns, zu entscheiden, worauf wir unser Denken richten, um unsere Bedürfnisse ideal zu befriedigen. Aber ist es dann wirklich so verkehrt, Einblick in diese Bedürfnisse selbst erlangen zu wollen, weil sich ihre Stillung dann effizienter bewerkstelligen ließe, also ab und an ernsthaft darüber nachzudenken, was wir so treiben und stillschweigend als sinnvoll, oder eben gut, voraussetzen? Und stecken wir damit nicht schon Hals über Kopf im Schlamassel?
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Immer am letzten Sonntag des Monats im Spielraum für alle und in gekürzter Fassung auf Freirad.
Im Spielraum für Alle, der von Wilten aus sein Möglichstes tut, das kulturelle Angebot Innsbrucks zu erweitern, findet seit letztem Jahr die monatliche Diskussionsveranstaltung Wie wir leben wollen statt. Was sie will? Handlungsspielräume aufzeigen, soziale Praktiken auf den Prüfstand stellen, vor allem aber, nun … nach den Fragen fragen. Die Themenauswahl ist dabei bunt wie das Publikum und reichte in der Vergangenheit von der psychologischen Sinnforschung über nachhaltigen Konsum von Nahrungsmitteln und Medien bis hin zu Fragen nach dem sozialgestalteri schen Potenzial von Kunst in der Gegenwartsgesellschaft. Alles unter dem Motto „freier Eintritt, keine Vorkenntnisse erforderlich, kritisches Denken erwünscht“. Immer am letzten Sonntag des Monats im Spiel raum für alle und in gekürzter Fassung auf Freirad.
Eine szenische Utopie in drei Akten
OPTOPOL IS I. AKT
Im Optimierungszentrum Optopolis SSW. 1
Die Währung in Optopolis. Tausend Bon entsprechen einem Optimum. 1 Liter Milch ... 2 Bon 1 Ehepartner ... 10 000 Optimum 1 Kind ... 5000 Optimum 1 ästhetischer Genuss ... 200 Bon 1 sozial-interaktive Beziehung ... 1000 Optimum
Ahelaid — Wie geht es dir? Skye — Ganz optimal, und dir? Ahelaid — Um korrekt zu sein, nicht ganz optimal. Sie unterbrechen das Gespräch für ein 30-minütiges audiosuggestives Optimierungsprogramm. Skye — Und? Optimaler? Ahelaid — Um ehrlich zu sein, ich habe das Gefühl ... Skye — (sichtlich nervös ob dieser ungewöhnlichen Wortwahl) Du meinst, dein emotionales System ist desintegriert? Ahelaid — Hör zu, Skye. Obwohl ich mir unsere sozial-interaktive Beziehung mit vielen Bon1 erkauft habe, glaube ich, dass uns mehr verbindet als nur der Optimierungsvertrag. Ich glaube, wir sind so etwas wie Freunde. Skye schluckt eilig seine Anti-Agitationsmedikation. Ahelaid — Geh mit mir zu Agathos! Skye — Agathos ist doch nur eine nützliche Fiktion. Ahelaid — Nein, nicht nur! Ich habe ihn gesehen, und seine Anhänger. Es gibt sie wirklich!
10 MARION SCHÖPF UND SUSANNAH HAAS, szenische Utopie
II. AKT Bei den Agathen. Ein schäbiger Ort – vielleicht eine ehemalige U-Bahn-Station – voller bunter Menschen. Skye und Ahelaid nähern sich vorsichtig der Szene. Agathos erblickt sie sogleich, breitet seine Arme aus und ruft sie zu sich. 2
Der kontrafaktische Konditional wurde neben Begriffen wie Gefühl, gut, schön, wahrhaftig usw. in Optopolis per Dekret im Rahmen der Optimierungsreform der Sprache eliminiert.
Agathos — Freunde! Neue Freunde! Kommt, kommt! Ahelaid tritt näher, während Skye zurückbleibt. Agathos — Was ist mit deinem Freund? Ahelaid — Er kennt nichts anderes als Optopolis. Darum bin ich mit ihm hier. Mir liegt etwas an ihm, Agathos. Für ihn bin ich nur eine soziale Interaktion, mit vielen tausend Bon erkauft. Agathos — Oh, dann ist er noch ein Narr des Optimums. Und wie steht es mit dir, Ahelaid? Ahelaid — Ich habe das Optimum so satt! Agathos — Ein Übel ist der Zwang. Doch was zwingt uns, unter Zwang zu leben? Ahelaid — Ich möchte meine Optimierungsmaschinen und meine Bon zurücklassen und hier leben. Agathos — Und deine Familie? Ahelaid — Meine Familie? Meine FAMILIE? Meine Frau ist gekauft. Meine Frau hat mich gekauft. Meine Kinder sind gekauft. Mein Goldfisch ist gekauft. Meine Eltern haben mich gekauft. Selbst meine Affären habe ich gekauft! Ich will nicht mehr zurück. Agathos — Wohlan! Die Wahrheit einer Absicht ist die Tat! Und jetzt hol deinen Freund her! Skye tritt näher. Skye — Optimalen Tag dir!
Agathos — Optimal? Das ist ja gar nicht nötig! Skye — Etwas anderes kenne ich nicht. Hier gibt es augenscheinlich nicht viel zu optimieren. Aber sag mir, wovon lebt ihr? Agathos — Ich kann es dir nicht sagen, aber ich will es dir zeigen. Gioia, bring mir Bücher! Rilke! Ginsberg! Camus! Goethe! Dylan! Stein! Tolstoi! Bukowski! Brecht! Gioia bringt einen Stapel zerlesener Bücher herbei. Agathos — Vielen Dank, mein Kind. Skye — (verschluckt sich an seiner Anti-Agitationsmedikation) Hiervon lebt ihr? Von bedrucktem Papier? Agathos: Und wovon lebst du, Skye? Skye — (zögert) Es geht im Leben darum, ein perfektes Spiegelbild zu generieren! Agathos — Der Spiegel zeigt dir, wer du bist, aber die Bücher zeigen dir, wer du sein könntest.2 Skye — Aber Bücher sind nicht echt! Was darin steht, ist nicht echt! Ahelaid — Was echt ist, ist ihre Wirkung! Wenn du ein Gedicht von Gims ... von Ginsberg liest, dann fühlst du etwas, das du nie vorher gefühlt hast. Fragen werden beantwortet, von denen du nicht einmal ahntest, dass du sie hast! Agathos — Schön gesagt, Ahelaid! Skye — Aber das passiert doch nur in deinem Kopf ! Und ich möchte auch gar nichts Neues fühlen, ich bin zufrieden!
Agathos — Nun, wir hier sind nicht zufrieden. Wir sind kein bisschen zufrieden, deshalb brauchen wir die Bücher! Wir möchten glücklich sein. Aber wenn du etwas möchtest, das nicht nur im Kopf passiert: Legt auf, Kinder! Musik! Beats! Electronica! House! Wir haben einen Gast, der sich hier noch nicht recht zu Hause fühlt! Und vergesst nicht die Discokugel ... Skye — Ihr seid ja psychisch dezentriert! Jeder weiß doch, dass glücklich und zufrieden Synonyme sind. Das lernt ja jedes Kind im Frühoptimierungsprogramm! Agathos — Das sagt man, ja. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es nicht stimmt. Ich bin jeden Tag unzufrieden mit der Welt und mir selbst, weil ich ja aus den Geschichten weiß, dass wir so viel besser sein könnten. Das Glück muss ich dann jeden Tag von Neuem suchen. Skye — Aber ... dann habt ihr ja gar nichts! Nicht einmal die eigene Optimierung! Agathos — Wir haben wirklich nicht sehr viel ... Aber wenn die Sicherheit vor den Menschen sich auch bis zu einem gewissen Grade durch Macht stützen und durch Reichtum befestigen lässt, echter ist doch die, welche das Leben in der Stille und die Zurückge zogenheit von der Masse verleihen. Was wir haben, ist gut. Es genügt. Skye — Was für ein Nonsens! Wenn das, was gut ist, genügen würde, bräuchte es ja keine Optimierung.
Wieso sollte es sie sonst geben, wenn sie nicht notwendig wäre? Agathos — Notwendig ist sie nur, weil die Selbstzweifel der Menschheit die Wirtschaft am Laufen halten. Wenn man nicht immer an sich selbst zweifelt, ist das eine solche Rebellion, dass man eigentlich nicht weiter in Optopolis leben kann. Verstehst du? Ahelaid — Aber Agathos, woher weiß ich denn, dass ich gut genug bin, um hin und wieder glücklich zu sein? Agathos — Ich glaube, du siehst es an den anderen Menschen. An Gioia hier, zum Beispiel. Früher hieß sie Alcatraz und war staatliche Optimierungsprüferin. Dann wollte sie sich selbst nicht mehr optimieren und damit wurde sie zur Fremden. Also hat sie Optopolis verlassen. Und jetzt schau, welche Freude es ist, mit ihr zusammen zu sein! Gioia kommt, stellt sich zwischen Skye und Ahelaid und legt ihre Arme um sie.
III. AKT Auf dem Weg nach Downtown Optopolis. In der Translokationskapsel Linie TLP 6.43. 3 3
Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus.
Ahelaid — Und? Skye — Es war so ... so ... Ahelaid — Sag schon! Wie fühlst du dich jetzt? Skye — Ich glaube, mir fehlen die Worte dafür. Ich hab die Worte einfach nicht. Ahelaid — Doch! Denk nach! Du hast die Worte, du hast die Gefühle, du hast das Wissen! Skye — Dann würde ich sagen ... Es war gut! Ja, gut! Ahelaid und Skye in ausgelassener Umarmung. Im Umfeld bestürzte Blicke. Anti-Agitationspillen werden einge nommen. Der Optimierungslevel wird im digitalen Taschenspiegel kontrolliert. Skye — Aber wie sollen wir jetzt weitermachen? Jetzt kann ich bestimmt nicht mehr zufrieden sein! Ahelaid — Der Preis, den du für das Glück zahlst, ist Zufriedenheit – und nicht das Bon. Skye — Aber wie können wir jetzt weitermachen? Ahelaid — Wir machen weiter, indem wir weitermachen. Und wir nehmen immer neue Freunde mit.
Unser Dank gilt — Ludwig Wittgenstein, Epikur, Jean-Paul Sartre, Georg Wilhelm, Friedrich Hegel, Aristoteles, Platon, Hannah Arendt, David Chalmers, Boethius, David Lewis, Allen Ginsberg, Benjamin Clementine und vielen mehr, die uns täglich unzufrieden, aber glücklich machen.
Die Reise Das, was bleibt, ist ein Fragment. Die Details, sie verschwimmen. Strukturen von Zeit und Ort lösen sich auf wie Staub. Das, was bleibt, ist die Erinnerung, ein Fragment, ein Gefühl.
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PATRICIA BACHMAYER, Serie Route 66 (Arizona)
MUTTER MILCH
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ANONYM, Fotografie
wär es kalt wäre Wärme gut wär es heiß wäre Kälte gut
WÄRE GUT GUT
hätt ich Hunger wäre Essen gut hätt ich Durst wäre Trinken gut hätt ich keine Aussicht auf einen Arbeitsplatz wäre eine Aussicht auf einen Arbeitsplatz gut hätt ich Arbeit aber zu wenig Geld wäre eine gutbezahlte Arbeit Held hätt ich Stress wäre Entspannung gut wär mir langweilig wäre Unterhaltung gut wär ich verschnupft wäre eine freie Nase gut wär ich todkrank wäre krank gut wär ich unterfordert wäre überfordert gut wär ich überfordert wäre unterfordert gut hätt ich zu wenig Bewegung wäre Bewegung gut hätt ich nichts wäre ein wenig schon gut hätt ich zu viel wäre wenig gut wär ich feig wäre mutig gut wär ich leichtsinnig wäre Schwere gut hätt ich ein Problem wäre eine Lösung gut hätt ich kein Problem wäre gut wäre gut gut wäre gut gut
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BERNHARD SANDERS, Gedanken
DAS HANDWERK als analoge Therapie gegen die digitale Erkrankung
Seit 10 Jahren zeige ich Interessierten, wie sie sich das, was sie bei uns bestellen könnten, selber machen können. Handwerkliche Arbeit. Ich gebe Buchbinder*innenworkshops. Vor 20 Jahren haben Meister ihr Wissen noch gehütet, um keine Konkurrenz zu züchten. Eines wurde dabei aber nicht berücksichtigt: Die Umwegrentabilität und der Mehrwert sind enorm. ¶ Die Kursteilnehmer*innen sind die besten Gesprächspartner*innen, sie sind motiviert und interpretieren das „ewige Lied der Arbeit“ neu. Arbeit, die nämlich grundsätzlich Spaß macht, vorausgesetzt, man hat nicht zu viel davon, man kann damit Geld verdienen und/oder sie macht Freude – zum Beispiel deswegen, weil der Beruf ein schöner ist. ¶ Dieser Kurs ist jedes Jahr ausgebucht und ein Dutzend Teilnehmer*innen tauchen ab zwischen Papierkartonleinenpappe, uralten Maschinen, Geräten, Techniken und einem Liter Kaffee oder heißem Wasser, weil das die Chinesinnen und Chinesen auch so machen, heißes Wasser trinken. Das ist gesund für den Körper, den Geist und die Leber. Das Bier gibt‘s nachher. ¶ Früher hätte ich geglaubt, mein Beruf sei nicht interessant genug für Nichtbuchbinder*innen. Bis mehr und mehr – irgendwer in unsere Bude kam und versprach, dass der nächste Beruf, den er oder sie lernen würde, Buchbinder*in sei. Ich unterstelle denen, dass sie ja gar nicht wissen, was der*die Buchbinder*in so macht, und keine Ahnung haben, wie schwer es eigentlich ist, mit Handwerk Geld zu verdienen. ¶ Nun, es ist ja auch völlig egal! Diese Schwärmer*innen meinten und meinen ganz was andres: Es riecht gut, das Auge erkennt echte Dinge, man sieht, hier ist alles handgemacht oder zumindest „made by tools“ – echtes Werkzeug, echte Maschinen und Geräte, die Atmosphäre schmeckt nach gutem Leben und, und, und. ¶ Aber warum ist „das Echte“ so besonders? Ich glaub, weil es nicht mehr selbstverständlich ist, so, wie es nicht mehr selbstverständlich ist, nach einem Arbeitstag seine gemachte Arbeit betrachten zu können. Wem seine Arbeit zu abstrakt, zu unfassbar, zu maßlos erscheint, den tröstet das Handwerk. Das Handwerk ist greifbar. Im Handwerk spürt man die Grenzen des Materials und des eigenen Könnens. ¶ Wenn der Auftrag geschrieben, das Material ausgewählt und bereitgestellt und der Computer zur Seite geschoben ist und du vor dem nächsten Kundinnen-/Kundenbesuch oder dem drohenden nächsten Telefonanruf mit der tatsächlichen, eigentlichen Arbeit loslegst – dann ist Friede. Und den Frieden wollen alle haben. Ich auch. Und ich bin dabei, diesen Frieden dingfest zu machen, ihn einzufangen, zu extrahieren, zu destillieren, zu nixpasteurisieren, und ich bin schwer dafür, dass es diesen Frieden auf Krankenkasse gibt, dass die Leute mit der E-Card bei der „analogen Therapie“ einchecken dürfen und wir gemeinsam das Telefon ausstecken. Ich ruf euch an, wenn ich so weit bin. ; ) ¶ Bernhard Sanders Buchbinder, Analoger Therapeut
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BERNHARD SANDERS, Projektvorstellung – Fotografien: Edgar H.J. Mall
SYNONYMISIERUNG des Guten
Ein Blick in den Duden hat es gezeigt: Für das Gute gibt es viele Synonyme. Und einige davon werden in Szene gesetzt.
„Und es fragte ihn ein Oberster und sprach: Guter Lehrer, was muss ich getan haben, um ewiges Leben zu erben? Jesus aber sprach zu ihm: Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als nur einer, Gott.“ So steht es im Lukasevangelium in der Bibel. Demnach könnten wir in der Diskussion darüber, was gut ist, einen großen Teil der Welt weglassen. Nämlich alle Menschen. Doch soll in diesem Heft tatsächlich eine Diskussion auf Grundlage einer Religion geschehen? Wohl eher nicht. Lassen wir die Religion also brav beiseite. Schließlich sollen alle unbehelligt das glauben, was sie wollen. Das Gute könnte natürlich auch beschrieben werden, indem aufgezählt würde, was es nicht ist. Dies müsste anhand des Gegenteils geschehen. So würde hier ein Text über das Schlechte entstehen. Doch auch das soll den Leserinnen und Lesern nicht zugemutet werden. Schlechtes findet sich schon in den Nachrichten zur Genüge. Was also tun, damit dieser Text gut wird und nach Beendigung der Lektüre ein gutes Gefühl hinterlässt? Als Liebhaber der deutschen Sprache habe ich mich dazu entschieden, einen Blick in das Synonymwörterbuch der Duden-Redaktion zu werfen. Dort finden sich zahlreiche Vorschläge, welches Wort sich als Ersatz für gut verwenden lässt. So picke ich mir nachfolgend die meiner Ansicht nach schönsten heraus und zeige mit jeweils einem Satz, was in dieser Welt gut sein kann. Klingt schwierig, könnte aber vielleicht gut werden.
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MANUEL SCHWAIGER, Annäherung
A
F
G
H
W
W
V
R
F
F
A
F
usgezeichnet kann jeder einzelne Tag sein, der mit Leben, Liebe, Freundlichkeit, Respekt, Hilfsbereitschaft, Lächeln und Positivismus vollgepackt ist und dadurch unsere Mitmenschen und letztlich uns selbst erbaut.
ervorragend ist der Anblick unserer lieben Nordkette, wenn sie noch vor dem Trubel und Lärm in der Stadt ganz langsam und zart von der Sonne beschienen, bemalt und erwärmt wird.
leißig sind wir bei unserem Tagwerk im Büro, in der Schule, auf der Baustelle oder sonst wo und schlafen nachts friedlich mit dem Wissen ein, dass wir unseren Beitrag für die Gesellschaft geleistet haben.
illkommen heißen dürfen wir die vielen Flüchtenden aus Gebieten, die das Gute schon viel zu lang nicht mehr in sich tragen, und ihnen in Brüder- und Schwesterlichkeit ein neues Zuhause schaffen, das ihre Augen wieder strahlen lässt.
ütig dürfen wir zu dem armen Bettler und der armen Bettlerin am Straßenrand in einer tief winterlichen Nacht sein, wenn wir ihnen mit einem lächerlichen Euro ein warmes Getränk schenken.
ertvoll ist unser kurzes Dasein, in dem wir von unzähligen Menschen lernen dürfen, Sonnenauf- und Untergänge erblicken, das Sternenzelt uns spätnachts atemlos macht, die Welt uns Heimat gibt und wir unsere Verrücktheiten täglich feiern dürfen.
eichlich beschenkt sind wir orzüglich klingen Musik und estlich kann es sein, ein Buch Gesang, während man beim leicht alle hier, die wir die Texte, Zeichnun- aufzuschlagen, einzutauchen in fremfüßigen Tanz mit dem*der Partner*in gen und Fotografien in diesem Heft de Welten, Gedichte von Goethe und genießen dürfen. nahezu über das Parkett schwebt. Schiller zu lesen und mit Helden gegen Fabelwesen zu kämpfen.
risch riecht das Gras nach einem sommerlichen Regenguss, wenn die Sonne wieder hervorkommt und sich ihr Licht in den winzig kleinen Tropfen tausendfach bricht.
G
ngenehm ist es, am Inn vor der Universität im Sommer mit hunderten anderen Menschen bei Bier und Wein das Leben in all seinen Facetten zu feiern, während unsere Seele immer leichter wird und unser Geist sich öffnet und bereit für alles ist, was da noch kommen mag.
enießbar in höchstem Maße sind die Geschenke dieser Welt, die wir am Samstag auf dem Marktstand von den Gemüse-, Obst-, Fisch- und lücklich stimmt die GemeinFleischhändlerinnen und Fleischhändlern kaufen und meditativ auf schaft mit Freundinnen und Freunden, die uns wie Schwestern oder dem Herd zubereiten. Brüder sind, mit uns durch Dick und Dünn, Höhen und Tiefen, schöne und schlechte Zeiten gehen und uns trotz unserer Fehler unendlich lieben.
G
eierlich war es, diesen Text zu schreiben, nachdenklich hat es gestimmt, gut gefallen hat er euch hoffentlich und ganz zum Schluss wünsche ich euch noch dies Eine: Macht es gut!
C’EST SI BON Was ist es, das Gute? Und wie kann man es erreichen? Ein philosophischer Frühlingsspaziergang entlang den Fragen zum „Guten Leben“.
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ANNA WOLF, Essay – illustriert von Thomas Medicus
Der Frühling eignet sich wunderbar dazu, philosophische Spa ziergänge zu machen: Zwischen weißblühenden Hecken wan delnd, einen Hauch Blütenduft in der Nase, frische Frühlings musik im Ohr und überall ein laues Lüftchen, das den Geist belebt – alles lädt nur so dazu ein, die Gedanken für eine Weile fern von alltäglichen Dingen schweifen zu lassen. Dabei kann es sein, dass langsam und leise Fragen auftauchen, die in der Hektik des Tages gewöhnlich vertagt oder nicht zu Ende ge dacht werden. Etwas abseits der Stadt hängt man erst viel leicht noch gestern Erledigtem nach, bis man alsbald zu überle gen beginnt … C’est un jour comme un autre. Du stehst auf, schlürfst den letzten Tropfen Tee, hüpfst aus der Dusche und ab in die U-Bahn/Straßenbahn/den Bus oder sportlich aufs Rad. Du betrittst ein altes Gebäude. Du hörst interessiert zu. Du schreibst. Und schreibst. Ein Blick auf die Uhr. Dann aus dem Fenster. Du versuchst, aufmerksam zu bleiben. Du checkst deine Mails. Du wartest auf das Mittagessen. Es schmeckt. Du führst Mittagstischgespräche. Über Politik und das Wochenendwetter. Zurück im selben Gebäude. Du liest. Du träumst von Sommertagen. Du konzentrierst dich wieder. Auf dem Heimweg triffst du per Zufall Be kannte. Du tauschst Smalltalk aus und lachst. Daheim wartet – die Wäsche. In der Küche Reste vom Tag davor. Du freust dich über eine Postkarte. Du hörst Jazz. Surfst ein wenig in globalen Sphären. Und ärgerst dich beiläufig über die Welt (und die langsame Internetverbindung). Bei geschlossenen Jalousien stellst du den Wecker. Du fällst müde ins 1,40-Bett. Und dann, wenn die Zweifel kommen, sagst du dir: Es ist gut.
Was ist gut? Das Leben? Dein Leben, so, wie es ist? Die Welt? Der Augenblick? Dein aktueller biochemischer Gemütszustand? Und was bedeutet gut? Besser als vorher? Besser als jemand anderes? Besser als schlecht? Nach wessen Urteil?
gehen. Um die Kondition zu verbessern, das Aussehen zu optimieren. Und da bei immer durchzuhalten, damit es einem später besser geht. Im Leben. Finanziell wie glückstechnisch. Das Phänomen der Selbstoptimierung – ist es die zwingende Konsequenz aus der Kombination von Leistungsdenken und Individualismus der gegenwärtigen Gesellschaft? Wonach sehnen sich so viele, wenn sie nach dem perfekten Lifestyle streben? Wie gelangt man tatsächlich zu dem Augenblick, in dem man sagen kann: „Es ist gut“? Die Faust-Kenner*innen unter den Leser*innen werden nun sagen: „Nichts Neues“. Schon Goethe schickte doch seinen tapferen Faust auf diese Suche nach dem Zustand der vollkommenen Glückseligkeit, dem Augenblick, in dem er sagen würde: „Verweile doch! du bist so schön!“ Der Rest der Geschichte ist allseits bekannt. Ein bleibender Gedanke aus jenen Weimarer Zeiten auf der Suche nach dem „guten Leben“ kann aber sein: Das gute Leben bedeutet „Tätigsein“. Bei allem Respekt – dies lässt einen breiten Interpretationsspielraum zu:
Kommt es darauf an, sein Leben rastlos in jeder Sekunde in den vollsten Zügen auszukosten? So zu leben, als wäre jeder Tag der letzte? Ohne Atempause so viel wie möglich in unserer Lebensspanne zu erreichen? Auf dem Spaziergang im Grünen hält man gern einen Mo ment inne, blickt hinab in den vorbeigleitenden Fluss und hin auf in die sachten Wattewolken. Die Sonne kitzelt im Gesicht. In der Ferne kommen einem ein paar Hundespaziergänger entgegen.
Wenn es darum geht, das eigene Leben so aktiv und bewusst wie möglich zu gestalten, wie sehr ist man selbst dessen fähig? Manchmal scheint es so, als würde man sich abrackern, während einem das Glück schamlos ins Gesicht spuckt. Jede*r kennt diese Tage, an denen eines nach dem anderen danebengeht. Oder man an all die Menschen Ein Selbstoptimierungswahn scheint immer mehr unser denkt, denen schon seit ihrer Geburt so viele GrundvorTun anzutreiben. Der Drang, die eigene Arbeit einen Tick aussetzungen für ein gutes Leben fehlen. All jene am vielbesser als die anderen zu erledigen. Eine bessere Prüfungs- besagten Rande der Gesellschaft. Klingt es nicht zynisch note als die anderen zu schreiben. Um später bessere Berufs in ihren Ohren, wenn man sagt, es komme nur darauf an, chancen zu haben. Abends doch noch ins Fitnessstudio zu sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, sein Glück zu
machen, „tätig“ zu sein? Das Leben scheint nicht nur von unseren Neigungen und Zielsetzungen, sondern auch von äußeren Umständen geprägt zu sein. Es kann aber gefährlich sein, äußere Umstände oder sonstige Platzhalter dafür verantwortlich zu machen, wo wir gerade stehen, wie wir uns fühlen, was wir tun oder uns nicht zu tun trauen. Das wäre zu einfach. Denn wo ich heute stehe, ist doch das Resultat dessen, was ich einmal entschieden habe – oder nicht? Es mag nicht leicht sein, die Verantwortung der eigenen Existenz allein zu tragen. Da wäre es viel bequemer, die Schuld auf jemand anderen zu schieben. Auf das Schicksal. Auf unsere Eltern. Auf die bekannten äußeren Umstände. Oder auf Gott. – „Doch Entscheidungen kann man dir nicht abnehmen“, singt die Band Irie Révoltés in einem ihrer Songs.
Optionen, die wir im Laufe der Zeit haben, abwägen: Es zählt, dass eine Tat folgt. Oder für alle Nietzsche aner*innen: das Leben zu bejahen! „Die Schlüsselmomente des Lebens sind nicht jene, in denen man im Lehnstuhl sitzt und über den Tod und all das Durcheinander da draußen sinniert. Es sind jene, in denen man im Schlamassel sitzt und verzweifelt nach einem Ausweg sucht!“ 1 Die Flusspromenade mündet nun in einen Waldweg. Die Stadt liegt hinten im frühlingsgetränkten Dunst. Es kommen weniger Menschen des Weges. Wäre es Zeit, umzukehren? Aus dem Nichts bietet sich eine Bank an, um noch einen Moment zu verweilen.
Zu viel Hinterfragen zermürbt auf die Dauer. Und droht, die Entscheidung zu lähmen. Bei aller Reflexion: Ist es Einer der Hunde beschnüffelt neugierig den Wegesrand. Welche nicht überlebensnotwendig, hin und wieder ein paar DinMixtur an Gerüchen er wohl vernehmen mag? Ein Zusam ge aus dem Bauch heraus zu tun? Oder sich nach langem, menspiel von unzähligen Geschichten. Ein Stück weiter steht rationalem Überlegen für etwas auszusprechen, auch wenn ein Apfelbaum. Die ersten Knospen machen sich schon bereit! die Folgen zu einem Teil ungewiss sein mögen? Meist Leben sprießt aus allen Ecken … reicht nur ein wenig Überwindung aus. Man sollte sich trauen. Mutig eine Wahl treffen. Das Leben in bunten Wir können die gnadenlose Wahrheit akzeptieren, wir sei- Farben malen. Auch wenn ein Pinselstrich daneben gehen en beim Schmieden unseres Glücks völlig auf uns allein könnte. (Sartre lässt grüßen.) Anstatt abzuwarten und Tee gestellt – wir können diese Bürde aber auch als unendliche zu trinken, sollten wir doch mal genauer hinhören, wie das Freiheit betrachten. Leben nach uns schreit.
Zugegeben, in der heutigen Welt der Multioptionalität wird der Gedanke der absoluten Entscheidungsfreiheit den Einzelnen nicht gerade beruhigen.
Nach einigen Stunden der Einsamkeit drängt es auch den Phi losophen wieder nach menschlicher Nähe. Mit Blick Richtung Stadt klingt der Frühlingsspaziergang allmählich aus. Zurück im Treiben der Straßen bleibt davon eine farbenprächtige Er innerung an die kurzweilige Flucht in die Natur. Und viel leicht ein paar philosophische Erkenntnisse …
Jede Wahl, diesen oder jenen Weg einzuschlagen, mag zugleich stets als Ausschluss eines anderen erscheinen. Und man fragt sich: „Wäre ich glücklicher, hätte ich anders entschieden?“ Auf der Suche nach Anhaltspunkten, wonach sie ihre Entscheidungen ausrichten können, befinden viele das Geländer, welches religiöse Glaubensdogmen anbieten, für nicht mehr geeignet. Kann man nun auf seine Intuition vertrauen? „Gehe dem nach, was dich aufblühen lässt!“, flüstert eine Stimme. Die andere: „Denk an deine Zukunft. Bleib rational.“ Was am Ende aber entschieden wird – darauf kommt es an. Wir mögen noch so lange die möglichen
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Zitat aus der Zeitschrift Hohe Luft 1/2016
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BILDING, Skulptur
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IRENE G. CHANA, Illustration – BETTINA WENZEL, Text – Ausschnitt aus dem Fanzine Subtil
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IRENE G. CHANA, Illustration
Und Und wenn wirklich alles gut wäre wirklich alles gut
Ich bei mir
wenn es wirklich so
Ich bei mir und mein Bett wird zum Boot. Die Rollläden ganz unten und doch werfen die Lichter der Autos unten Figuren an die Wand. Mal machen sich meine Augen zu, mal liebeln sie mit den fremden Lichtern in meinem Zimmer. Und es ist gut. Ich bei mir und die Musik vibriert in meinem Ohr. Auf meinem Bett-Boot bin ich weg von euch allen – ich bin nur für mich allein bei mir. Und es ist gut. Da, wo vor einem Monat noch jemand war, liegt jetzt meine Hand. Neben mir. Auf mir. An mir liegt es, dass es jetzt gut ist. Ihr könnt damit einfach nicht mithalten, habt ihr gesagt und seid gegangen damals. Und wie gut das ist. Denn ohne euch bin ich viel mehr bei mir.
wäre nichts mehr zu tun dass es wird alles gut? ANNEMARIE REGENSBURGER
047 an die Wand gepinnte oder am Boden zertretene Samstage Stiefelabdrücke von der Orientierungslosigkeit && den unaufhörlichen Blicken aus dem Fenster & au fden Boden nicht so sichere Zeiten entlang der weißenL. && G. lange ratlose blicke i d eigenen körper eigenen ausgetrockneten körper j morgen die haferflocken vom boden aufsammeln j morgen so hilflos am boden zappeln in tannennadeln
MARIA MUSTER
Tage gewidmet so gewidment MAXIMILAN SHUSTER
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Gedichte
POTZ BLITZ Was kann einen Menschen, der zweimal vom Blitz getroffen wurde und überlebte, brechen? Ich hatte vor Kurzem die seltene Gelegenheit, beim zurückgezogen lebenden Künstler und pensionierten Kunstpädagogen Rolf Aschenbrenner, dem ebendieses Schicksal zuteilwurde, nachzufragen. „Vielleicht der Sturz von einer 800 Meter hohen Klippe?!“, lautete die ebenso präzise wie nicht ganz ernst gemeinte, aber auch plumpe Antwort des Neoexpressionisten auf meine zugegebenermaßen infantile Frage. Der heute 74-jährige Rolf Aschenbrenner ließ mich einen sehr persönlichen Einblick in sein skurriles wie auch tragikomisches Leben nehmen. Neben seiner Familie und der Leidenschaft für Kunst, im Speziellen die Malerei, prägten zahlreiche bewegende wie gleichwohl absurde Schicksalsschläge sein Leben. Physische und mentale Stärke waren auf seinem bisherigen Lebensweg nicht bloße Worthülsen, sondern unbedingte Tugenden. Denn der Neoexpressionist besiegte zwei Krebserkrankungen, überstand eine schwere Pilzvergiftung, trotzte zwei Blitzeinschlägen und pflegte mehrere unmittelbare Familienangehörige bis zu deren Tod. Seine Geschichte berührt nicht nur, sondern zeigt dem Pessimisten und Fatalisten in mir auf, dass es sich lohnt, zu kämpfen – ganz egal, ob um das bloße Überleben oder darum, das persönliche Glück zu finden.
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BERTRAM SCHRETTL, Nacherzählung
Rolf Aschenbrenner
Ich lernte ihn bei seiner letzten Vernissage in einem Möbelhaus in Reutte kennen. Ich sollte für eine lokale Wochenzeitung einen Bericht verfassen. Im Zuge meiner Vorrecherche konnte ich nur sehr wenig in Erfahrung bringen. Ich wusste danach lediglich, dass Aschenbrenner 25 Jahre als Kunstpädagoge am Bundesrealgymnasium Reutte tätig war und dass die Schließung des Möbelhauses als Anlass für die Ausstellung diente. Zusätzlich fand ich ihn auf einem Foto abgebildet. Ich sah einen etwas verlebten Mann mittleren Alters mit grauen, schulterlangen Haaren und fahler Haut. Ich erwartete mir nicht viel hinsichtlich der künstlerischen Qualität seiner Arbeiten. Die fehlende digitale Präsenz Aschenbrenners und die unpassenden Räumlichkeiten für eine Ausstellung waren mir Grund genug, voreingenommen zu sein. Aquarelle, die Silhouetten unterschiedlicher Gipfel der Alpen vor pastellfarbenen Sonnenuntergängen und rustikale, urige Bergbauernhöfe umgeben von winterlicher und/oder sommerlicher Landschaft darstellten, schwebten mir vor und ließen mir übel werden.
selbst ein langjähriger Sammler und Verehrer der Werke Aschenbrenners sei, die wohl der Pflege seines Egos geschuldet waren, gab er etliche Anekdoten aus dem Leben des Künstlers zum Besten. Erst konnte ich nicht glauben, was da gesagt wurde: „[...] kam als Siebenmonatskind während des Zweiten Weltkriegs zur Welt [...], Milchunverträglichkeit […], wurde zweimal vom Blitz getroffen […].“ Als ich den Ausstellungsraum verließ, um eine Zigarette zu rauchen, folgte der Künstler ziemlich bald nach, um es mir gleichzutun. Wir rauchten und tranken Bier, während wir über alles Mögliche schwadronierten. Die vorbereiteten Fragen blieben ungenutzt. Die geballten Informationen zum Leben dieses Mannes beschäftigten mich noch lange Zeit später. An diesem – seinem – Abend wollte ich ihm einerseits nicht noch mehr Unbehagen bereiten und hatte andererseits zugegebenermaßen auch keinen Kopf mehr für professionelle journalistische Arbeit. Vielleicht mit ein Grund, weshalb ich ihn dann unter anderem auch fragte, was einen Mann wie ihn überhaupt das Leben kosten könnte.
Ein halbes Jahr später, ich hatte meinen Job bei dieser unsäglichen Zeitung längst aufgegeben, fixierten wir schließlich einen Termin in seinem Wohnhaus, denn ich hatte mir bei der Vernissage fest vorgenommen, über diesen Menschen ausführlicher zu berichten. Seit unserem letzten Treffen war es in seinem Leben nicht ruhiger geworden, denn seine Tochter war nach langjähriger Schwungvolle, dynamische, neoexpressionistische und ab- Krankheit verstorben. Sie hatte sich in einem Krankenstrakte Körper in unterschiedlichen Farben tummelten haus mit einem multiresistenten Pilz infiziert, der ihr sich auf großformatigen Leinwänden. Die Bildtitel traten komplettes Immunsystem ausgeschaltet hatte. Zuletzt in Dialog mit den Werken. Die Arbeiten waren an- lebte sie, zwecks Pflege, bei ihm, weshalb alles etwas spruchsvoll – schlicht professionell. Trotz des Bildes, das chaotisch gewesen sei. „Verzeihen Sie also bitte die Unich von seinem Äußeren noch im Kopf hatte, konnte ich ordnung“, entschuldigte er sich etwas beschämt, als er den Maler unter den zahlreichen Besucher*innen einfach mich vom Eingang in die Küche geleitete. nicht finden. Schließlich glaubte und dann wusste ich, dass es jener Herr war, der gerade mit dem Bürgermeister Überall standen Kisten, stapelten der Marktgemeinde sprach. Sein Haar war schneeweiß und offensichtlich zu einem klassischen Männerhaar- sich Dokumente und hingen schnitt gestutzt und frisiert worden. Geschätzt hatte er Kleidungsstücke. Staub und mehr als 70 Lenze auf dem Buckel, wirkte aber irgendwie nervös und angespannt wie ein Schüler vor seiner ersten Nikotin lagen wie ein dünner Prüfung – ihm war jedenfalls unbehaglich. Vor der Laudaseidener Teppich über dem Chaos, tio, die der Bürgermeister bewerkstelligen sollte, hatte ich nur wenige Minuten Zeit, um mich etwas mit dem das einen liebenswerten und Geehrten bekannt zu machen. Er sicherte mir zu, im Angleichzeitig etwas unbeholfenen schluss ein paar Fragen zu beantworten, trotzdem ärgerte ich mich erst etwas darüber, dass ich nicht all meine Eindruck auf mich machte. Belange sofort mit ihm würde besprechen können. Bald wurde mir aber klar, dass ich mich bei einem Interview Die Küche des in die Jahre gekommenen Hauses war etohne das Wissen aus der informativen Lobrede des Ge- was übertemperiert, wie es in Küchen von alten Leuten oft meindeoberhauptes sehr wahrscheinlich blamiert hätte. der Fall ist. „Der einzige beheizte Raum im Haus!“, wie er Neben zahlreichen Erwähnungen der Tatsache, dass er mir, in Hausschuhen, Jogginghose und T-Shirt gekleidet,
Als ich dann die Bilder sah, schämte ich mich etwas für diese Arroganz, denn meine Vorurteile stellten sich als Irrtum heraus.
erklärte. In der Küche stach mir sofort die jungfräuliche Leinwand inmitten des Raumes ins Auge. Er malte also nach wie vor. Ich erkundigte mich über sein derzeitiges Schaffen. Er antwortete bedächtig, dass er derzeit noch kein spezielles Thema im Sinn habe.
Ob er je daran gedacht hätte, den Pinsel an den Nagel zu hängen, wollte ich auch wissen, worauf er trocken meinte: „Von so einem Nagel habe ich noch nie gehört!“
I
nmitten der Kriegswirren des Zweiten Weltkriegs wurde ich 1942 in Prag als Siebenmonatskind mit einem Gewicht von lediglich 920 Gramm und einer Milchunverträglichkeit geboren. Mein Dasein begann bereits mit einem ersten Kampf ums Überleben. Dem beherzten Einsatz der zuständigen Krankenschwester, die mich in Eigeninitiative mit Karotten- und Kartoffelsaft aufgepäppelt hatte, war es zu verdanken, dass ich überhaupt am Leben bleiben durfte. Die Ärzte hatten mich bereits abgeschrieben, was zu jener Zeit, angesichts meiner physischen Verfassung, keine Besonderheit, sondern vielmehr die Regel war.
Mit acht Jahren schrammte ich zum zweiten Mal knapp am Tod vorbei. Von Hunger geplagt aß ich einen giftigen Knollenblätterpilz, dessen Verzehr in 90 % der Fälle tödlich endet, wie ich mittlerweile weiß. Ich hatte ihn selbst im Wald gepflückt und gegessen, im Glauben, dass alle Pilze genießbar seien. Dieses Erlebnis war ausschlaggebend für mein nach wie vor anhaltendes Interesse an Mykologie (Pilzkunde). Mittlerweile zähle ich, zumindest bezirksweit, zu den Fachleuten auf diesem Gebiet – selbst Ärztinnen und Ärzte des Krankenhauses Reutte suchen immer wieder meine Expertise.
Nach etwa einer Stunde begannen wir mit der eigentlichen Arbeit. Meine ausgearbeiteten Fragen dienten letztlich nur zur Orientierung. Vieles, was ich wissen wollte, ergab sich aus dem Gespräch. Als ich mich nach den essentiellsten Momenten seines Lebens erkundigte, reichte er mir ein dünnes Portfolio, das uns fortan zusätzlich behilflich war, seine Erörterungen auch chronologisch einzuordnen. Der nun folgende Text ist eine Nacherzählung unseres Gesprächs. Erwähnenswert ist, dass er zu keinem Zeitpunkt seine Gelassenheit und seinen Humor verloren Meine Pflichtschulzeit war der reinste Horror. Ich war hat. sehr verträumt und dazu noch Linkshänder, was damals absolut inakzeptabel war, und so wurde ich gezwungen, mit der rechten Hand zu schreiben. Die Umerziehung vereinnahmte mich kognitiv dermaßen, dass ich mich kaum auf den eigentlichen Stoffinhalt konzentrieren konnte. Zwischenzeitlich stand tatsächlich im Raum, mich auf eine Sonderschule zu schicken. Aber der Mensch ist anpassungsfähig und so konnte ich diese Maßnahme doch noch abwenden. Letztlich schloss ich die Pflichtschule recht zufriedenstellend ab.
Als ich zwölf Jahre alt war, starb erst meine Mutter und nur wenige Monate später erkrankte ich an einer schweren Lungenentzündung. Im Krankenhaus wurde ich aufgrund meines Zustands zum ersten Mal im „Totenkammerl“ (Anm. Raum, in dem sterbende Patientinnen und Patienten ihre letzten Stunden verbrachten), abgestellt. Aber wie durch ein Wunder besserte sich mein Zustand und ich konnte wenige Tage später das Krankenhaus verlassen. Ich hatte seit jeher einen enormen Überlebenswillen. Mein Vater heiratete bald nach dem Tod meiner Mutter eine andere Frau, eine ehemalige Hochadlige, die zwar wenig finanzielle, dafür aber umso mehr erzieherische Mittel und Verhaltensweisen ihrer Ahnen mitbrachte. So musste ich sie in der dritten Person ansprechen: „Jawohl, Frau Mutter – wünschen Sie noch etwas?“ Sie war kalt und stets distanziert. In weiterer Folge besiegte ich zweimal den Krebs.
Als ich mit 17 Jahren mit der Diagnose Leukämie konfrontiert wurde, war mir gar nicht klar, was das zu bedeuten hatte. Dann brauchte ich etwas Zeit, um den Schrecken zu verdauen. Ich war verzweifelt. Aber dann schwor ich mir, den Tod nicht einfach so hinzunehmen. Also überlegte ich, was ich vom Leben noch wollte. Schnell war mir klar, dass die Krankheit schon deshalb nicht bei mir bleiben konnte, weil ich Künstler werden wollte – kreativ tätig sein und mich in meinem Geschaffenen wiederfinden. Ich kämpfte mental gegen die Krankheit an. Acht Tage verbrachte ich letztlich doch – schon wieder – im „Totenkammerl“ der Klinik Linz. Die Chance auf eine Heilung war um 1960 gleich null.
Damals durfte ich einen Blick in die andere Welt hinüberwerfen – ins Jenseits. Das hatte was Gutes, denn ich erlebte den Tod keinesfalls als etwas Negatives. Plötzlich besserte sich mein Zustand abermals auf wundersame Weise und der Krebs verschwand völlig. Wieder genesen war für mich klar, dass das Leben zu kurz ist, um es mit Tätigkeiten zu vergeuden, die es nicht wert sind. Erst schloss ich trotzdem meine Lehre zum Kaufmann ab. Meinen Traum, Künstler zu werden, lehnte meine Familie nämlich strikt ab. „Kunst ist ein brotloses Gewerbe und Künstler sind Abschaum!“, argumentierten sie und sie ganz besonders. Nichtsdestotrotz bin ich in einer Nachtund-Nebel-Aktion nach Linz geflüchtet, um mich in die dortige Kunstschule einzuschreiben. 20 Jahre alt und mittellos, so verließ ich mein Elternhaus. Während meiner zehnjährigen Künstlerausbildung musste ich insgesamt fünf Jahre in einem Obdachlosenheim Quartier beziehen. Für eine noblere Unterkunft reichte das Geld nicht. Gelegentlich kaute ich Papier, um meinen knurrenden Magen zu beruhigen. Ansonsten hatte ich über Wochen nicht mehr als eine Handvoll Reis am Tag. Jene Zeit war zwar kein Spaziergang in der Sonne, aber nicht jeder Bereich meines Lebens war von Entbehrungen gezeichnet, denn ich lernte unter anderem während dieser Zeit meine große Liebe Helga kennen, mit der ich 49 Jahre verheiratet sein und insgesamt drei Kinder zeugen sollte. Nach meinem erfolgten Abschluss mit ausgezeichnetem Erfolg an der Kunstschule erhielt ich eine Anstellung als Kunstpädagoge am Bundesrealgymnasium in Reutte in Tirol. Mein Leben hatte geregelte Bahnen angenommen und auch das Verhältnis zu meinen Eltern verbesserte sich wieder. Ich hatte mittlerweile meine eigene Familie und einen guten Job. Bis, nun ja, bis ich zum ersten Mal von einem Blitz
getroffen wurde. Es traf mich, als ich mit meiner Familie im Wald Pilze sammelte – ja, schon wieder Pilze. Plötzlich durchfuhr mich ein unbeschreiblicher Schmerz, wie ich ihn noch nie gespürt hatte, danach erinnere ich mich an nichts mehr. Meine Familie und ich hatten vorher keinerlei Anzeichen für ein Gewitter bemerkt.
Nichts hatte dieses Unglück angekündigt, weder Regen noch ein Blitz oder vernehmbarer Donner. Ich wurde plötzlich niedergestreckt. MeineKleidung zerfiel in Sekundenbruchteilen zu Asche. Meine Haut war übersäht von schweren Verbrennungen und meine inneren Organe waren ebenfalls angekokelt. Einige Jahre später überlebte ich noch einen zweiten Blitzschlag. Dieser ereignete sich am Kirchplatz von Reutte. Wieder hatte ich zuvor kein Anzeichen für ein Gewitter bemerkt. Zurück blieb beim ersten Einschlag nur mein zu einem Metallklumpen geschmolzenes Taschenmesser und das andere Mal meine Armbanduhr, die sich ebenfalls infolge der enormen Energie, also Hitze, wie Eis in der Frühlingssonne verflüssigt und dann wieder verfestigt hatte. Anfangs war es mir jeweils vier Monate nicht möglich, zu gehen. Aber mein Körper regenerierte sich letztlich vollkommen. Erst heilte meine Haut – die inneren Organe folgten diesem Heilungsprozess nach. Einzig ein paar Narben zeugen noch heute vom enormen Glück, das ich bei diesen Unglücken hatte. Ich bin überzeugt, dass neben den rasch alarmierten Rettungskräften abermals meine mentalen Kräfte, um nicht zu sagen Selbstheilungskräfte, einen erheblichen Anteil daran hatten, dass sich mein Körper gleich zweimal nach derartigen Torturen vollständig rehabilitierte. Ich wollte weiterleben! Ein selbstbestimmtes Leben führen! Und ich fühlte, dass ich das schaffen konnte. Resignation kam nicht in Frage. Schließlich hatte ich Familie und viele schöpferische Vorhaben noch nicht in die Tat umgesetzt. Eine wahre Hiobsbotschaft war dann jedoch die Diagnose meine Gattin betreffend vor wenigen Jahren. Als bei mir zum zweiten Mal Krebs festgestellt wurde, hatte sie mehrere Schlaganfälle erlitten, die eine schwere Demenz hervorriefen und sie zum 24-Stunden-Pflegefall machten. Trotz der Behandlungen gegen den Krebs, die ich über mich ergehen ließ,
wollte ich für meine Frau da sein und sie pflegen. Über fünf Jahre bis zu ihrem Tod vor etwas mehr als drei Jahren tat ich es auch. Für die Kunst blieb mir während dieses Zeitraums weder die notwendige Kraft noch die Zeit, denn ich konnte nie länger als zwei Stunden, ganz egal, ob bei Tag oder Nacht, von ihrer Seite weichen. Als meine Frau verstorben war 2013 – Gott hab sie selig – fand ich dann Zeit, eine Serie neuer Bilder zu schaffen. Wenig später verschlechterte sich jedoch der gesundheitliche Zustand meiner Tochter dramatisch. Ihr letztes Lebensjahr pflegte ich sie hier bei mir im Haus, bis sie vergangenen September mit nur 37 kg Körpergewicht auch verstarb.
Trotz alledem bin ich der Überzeugung, dass Schicksalsschläge, und mögen sie auch noch so aufreibend sein, etwas Positives innehaben. Und an dieses positive Moment habe ich mich stets gehalten. Man kann daraus lernen und Erkenntnisse für das weitere Leben mitnehmen. Ich empfinde sie nicht als Strafen, sondern als Prüfungen, die einen zum Nachdenken bringen und den Geist erweitern können. Jammern und Selbstmitleid führen zu nichts. Diese Prüfungen des Lebens muss man wie Herausforderungen annehmen. Erstens, weil man ihnen nicht ausweichen und zweitens, weil man Erkenntnisse gewinnen kann, die man sonst niemals erfahren hätte. So generiert man Lebenserfahrung. Auch der Tod wird durch einen realistisch-rationalen Zugang ertragbarer und darüber hinaus, was er per definitionem immer schon war und wahrscheinlich auch bleiben wird, unausweichlich und wie die Geburt eine Bedingung des Daseins. Mir war und ist es besonders wichtig, den Menschen etwas zu geben. Ob sie nachdenken, rätseln, interpretieren, lachen, staunen oder schimpfen, ist einerlei. In meinen Werken behandle ich daher die vielen Facetten des menschlichen Daseins, also ihre Emotionen, Ängste, Handlungen, Ekstase, Freude, Liebe, Bewusstsein, Unbewusstsein, Triebhaftigkeit, Impulsivität, Moral, aber auch Indifferenz und die damit zusammenhängenden Interaktionen, Konflikte, Freundschaften, Sexualität usw. Nicht zuletzt aufgrund meiner zahlreichen Herausforderungen wollte ich immer noch tiefer in diese Materie, den Menschen, eindringen – den Menschen begreifen. Um Erkenntnisse zu gewinnen, meditiere ich seit meiner frühesten Kindheit gerne und viel. Als Kind fehlten mir noch die Begrifflichkeiten, um zu benennen, was ich tat,
aber es war mir Zeit meines Lebens ein Bedürfnis, kognitive Leere zu schaffen. Durch die Leere versucht mein Unterbewusstsein das entstandene Vakuum wieder zu füllen. Zwischenmenschliche wie auch persönliche Sachverhalte und Emotionen verlieren ihre scheinbar unüberwindbare Komplexität, werden allzu nachvollziehbar. Und so kann ich sie eindringlich und pointiert darstellen. Das in einem Erkenntissprozess Gewonnene in Form und Farbe zu abstrahieren und für andere zugänglich zu machen, ist mein Antrieb. Jungen angehenden Kunstschaffenden empfehle ich, sich frei zu entfalten, ihren eigenen Stil, ihre persönliche Wahrheit, ihre Persönlichkeit und ihr Glück somit zu finden. In der heutigen Gesellschaft ist das auch ohne Repressalien fürchten zu müssen möglich. Deshalb habe ich meine Schüler*innen auch nie gefordert, sondern stets versucht, sie zu fördern, sprich auf dem Weg zu ihrer Sprache und Ausdrucksweise zu begleiten. Zu mir finden und zu wissen, was ich will, in meinem Fall eben Künstler zu sein und diese Leidenschaft an meine Schüler*innen weiterzugeben, ließen mich immer wieder aufrappeln, egal, wie hart ich zu Boden geschleudert wurde, im wörtlichen und sprichwörtlichen Sinn.
Andere finden nicht in der Kunst, sondern in der Botanik, der Musik, Technik oder etwas komplett anderem ihr persönliches Steckenpferd, das sie stützt und durchs Leben trägt. Geld ist dabei sekundär – es muss reichen, um man selbst zu sein.
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PETER PIEK, Palermo Sicily (2017) – Rosny sous Bois (2016)
Live Forever is a permanent installation made of floating colored wooden sticks. Located in the catalan Pyrenees the installation shows a 20 minute walk.
This is the end. And the end is the beginning.
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PETER PIEK, Installation
KULUNGILE So hat er sich das nicht vorgestellt. In einem Glasaufzug, in einem gestreiften Hemd, ungewaschen, unter seinen Füßen Damen und Herren, die ihn und seinen Über lebenskampf in eleganten, teuren Anzügen und Röcken ignorieren. Das 5-Sterne-Hotel in Bagdad hat vier solche Aufzüge. Er denkt an die anderen. Ob andere in den Glasaufzügen jetzt auch ihre Hemdknöpfe öffnen. Und auch an ihre Mütter denken. Und auch an den Tod. In so lächerlicher Art und Weise wie er. Dass niemand kommt, um ihn zu befreien, beunruhigt ihn. Es herrscht unter seinen Füßen ein stetes Kommen und Gehen, als ob er hier mit seinem kurzen Atem gar nicht existieren würde. Es schockiert ihn, dass das Leben auch ohne ihn weitergeht. Der Lichtstreifen, der bisher nur die eine Ecke des Aufzuges beleuchtet hat, dehnt sich aus. Nur um ihn zu ärgern, läuft das gelbe Licht wie aus einem umgekippten Farbtopf heraus und füllt den Boden. Er schnappt nach Luft und kann es nicht glauben, dass er nach all seinen gefährlichen Einsätzen möglicherweise in einem Glasaufzug ersticken wird. Und dass das so schnell geht. Wieso kommen sie nicht, um ihn zu retten? Er sitzt irgendwo zwischen dem siebten und dem achten Stockwerk fest und denkt sich Gedanken, die er im Normalzustand nie zugelassen h������������������ ä����������������� tte. Die verdammten Araber, sie haben eine Menge Geld, aber eine funktionierende Rettungskette kriegen sie nicht auf die Reihe. Rettungskette, denkt er noch einmal, weil ihm auffällt, dass das ein hässliches Wort ist. Und nicht nur auf die Araber ist er jetzt wütend, sondern auch auf die deutsche Sprache, die keine schöneren Wörter hat.
als Kugel auf die Welt gekommen ist, nie ganz entfaltet hätte. Aber er ist ein kluger Mensch und die Leute mögen ihn, weil er lustig ist und sein Lustigsein auch gerne mit anderen teilt. Er kann die ganze Nacht erzählen und bis in den Morgen lachen. Innen ist er aber schon so abgehärtet, dass er nicht einmal mehr Alpträume hat. Bei der Arbeit schaltet er sich einfach aus und wird zur Maschine. Er spricht mit Menschen auf Minenfeldern, in Lehmhütten, in Armenvierteln, er versteht sie sogar, speichert das Gesagte aber nicht mehr in seinen Gedanken ab. Früher war das anders. Die Geschichten, die Schicksale gingen ihm so nahe, er wollte verrückt werden. Er spürte die Angst, er spürte den Schmerz, er spürte die Hoffnung. Dann musste er sich einen Schutzmechanismus erfinden, damit ihm nicht der ganze Schmerz die Seele zerfetzte und die ganze Angst die Knochen brach und die ganze Hoffnung das Herz schmolz. Was er gewählt hatte, fand er einfach und effektiv, aber er wusste nicht, dass ihm das einmal alles zusammen zum Verhängnis werden könnte. Was er glaubte, nicht gespeichert zu haben, stellte sich in einem festgesteckten Glasaufzug als ein unangenehmer und unerwarteter Gast in seinem Kopf heraus, der jetzt sein gewohntes, gemütliches Zuhause belagerte und durcheinanderbrachte.
Der Gast ist betrunken, kotzt in die Ecken, schreit, wütet, schl�������������������������������������������������������� ä������������������������������������������������������� ft ein, zerschmettert Teller, wandelt im Schlaf. So einen Gast wolle er nicht haben, denkt er sich, während er schon das Hemd ausgezogen hat und auch die Hose aufzuknöpfen beginnt. Er kauert in der einen Ecke, in die das Licht noch nicht vorgedrungen ist. Die Notfalltaste funktioniert nicht. Es ist ihm unerkl���������������������������� ä��������������������������� rlich, wie so etwas passieren kann. In einem 5-Sterne-Hotel. Zumindest meldet sich niemand, als er den Knopf drückt. Jetzt drückt er nicht mehr. Jemandem muss es doch auffallen, dass der Aufzug nicht funktioniert. Er ist ja aus Glas. Die Hitze macht ihn schläfrig, er hat Kopfschmerzen, dieser Gast hämmert von innen an seinen Schädel. Die Mutter ist da, mit ihren blonden Haaren, sie beugt sich über ihn, küsst ihm die Stirn. Er hat Fieber, er ist fünf Jahre alt, ein kaltes Michael, Mike, ist Kriegsreporter. Er ist nicht sehr gutaus- Fieber, er spürt, wie warm die Lippen der Mutter sind. Sie sehend – seine Ohren, seine Schultern, seine ganze Gestalt brennen auf der Stirn. Eine Sekunde lang, wie Feuer, dann sieht zusammengequetscht aus. Als ob er sich, nachdem er wird es noch kälter als zuvor. Tag und Nacht ist die Mutter
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ÁGNES CZINGULSZKI, Kurzgeschichte
neben ihm und tauscht die kleinen Frottierhandtücher auf seiner Stirn. Auch die Beine hat sie ihm eingewickelt. Alles ist furchtbar kalt, aber die Mutter hält seine Hand und ist jedes Mal da, wenn er die Augen schließt, und sie ist auch da, wenn er die Augen wieder ö������������������� �������������������� ffnet. Dann verwandelt sie sich langsam. Ihre Haut wird braun, brauner und brauner und er ist plötzlich ein schwarzer kleiner Junge in den Armen einer schwarzen Frau. Es ist die schwarze Frau aus dieser Lehmhütte in Südafrika oder Tansania – er wei������������������������������������������������������ ß ���������������������������������������������������� es nicht mehr –, die schwarze Frau mit ihrer Kopfbedeckung, das Dorf mit der großen Epidemie, ohne Wasser, ohne Essen. Alles kommt zusammen. Hungernot, Krankheiten und Bürgerkrieg. Die Menschen sind Fliegen und sterben. Es wird nicht mehr geweint, sondern nur noch gemurmelt. Die Tränen sind zu Ende, keiner hat mehr Flüssigkeit im Körper, nur noch dieses tiefe Murmeln. Das hat er in seinen Artikel geschrieben: „Die Tränen waren schon zu Ende.“ Sein meistgelesener Artikel … Preise, Geld, Anerkennung hat er gekriegt.
Ihre Haare, die sie unter einem Tuch trägt, wippen mit und Mike will nicht mehr auf den Jungen schauen, der eine kaputte Hose anhat und sich nicht bewegt. Er bemerkt, dass der Junge tot ist. Die Erkenntnis in dem Augenblick trifft ihn im Magen. „Kulungile, kulungile, kulungile“, murmelt die Frau mit ihrem wippenden Tuch am Kopf und dem k������������������������������������� ü������������������������������������ nstlich bewegten Jungen. Eine Marionette. Es ist gut, es ist gut, es ist gut. Es hört sich gar nicht lustig an. Nicht wie Pete, der Sprachlehrer, der schnalzt und klickt und f���������������������������������������� ü��������������������������������������� r den sich diese komische Art des Sprechens normal anf������������������������������������� ü������������������������������������ hlte. Er musste ü������������������� �������������������� ben, denn beim Klicken verzog sich sein Gesicht zur Grimasse. Irgendwann verzog sich das Gesicht nicht mehr. Es war ganz normal, inmitten eines Wortes zu schnalzen oder zu klicken. Eine Sprache wie jede andere. Wie Deutsch, wie Englisch, mit der Möglichkeit auf eine schöne Welt, auf ein einfaches Leben. Nicht mit sterbenden Kindern und hungernden Müttern, die ihre Tränen schon längst vergossen haben und nur noch murmeln können und auch nicht genug Kraft haben, ihre toten Kinder vor den Fliegen zu sch��� ü�� tBevor er nach S������������������������������������������ ü����������������������������������������� dafrika – oder war es doch Tansania – ge- zen. Warum denke ich an diese Frau? fahren war, hatte er einen Sprachkurs gemacht; isiXhosa nannte man die Sprache. Man musste mit der Zunge Mike spürt seine Finger nicht mehr, er spürt, dass alles zu schnalzen, oben, unten, auf der Seite, gegen die Zähne. Es einem Klumpen in ihm zusammengewachsen ist. Nicht war lustig. Die lustige Sprache in dieser murmelnden Welt. einzelne Finger, nicht einzelne Zehen, sondern ein trieSie lachten viel mit dem Lehrer. Der Mann, der isiXhosa fender Luftballon. Er schließt seine Augen und will sie unterrichtet hatte, war nicht schwarz. Aber wenn man die nicht mehr öffnen. Das Licht fällt auf seine Beine und Augen schloss, hätte niemand sagen können, dass er so ein deckt ihn zu. Im Glasaufzug werde ich sterben, kulungile, wei������������������������������������������������������� ßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßßß er, d������������������������������������������������� ü������������������������������������������������ nner Mann ist. Faszinierend, lacht er, faszinie- kulungile, kulungile. Er spürt, wie schön dieses Wort ist, rend. Nie h������������������������������������������������� ä������������������������������������������������ tte er sich damals gedacht, dass sich diese lus- dass er sich viel wohler darin fühlt, wie in Rettungskette. tige Sprache in etwas anderes verwandeln könnte. Dass Dann fällt er mit geschlossenen Augen in Ohnmacht und aus isiXhosa mal so eine ernste Sprache würde. Dass sich bekommt nicht mehr mit, wie der Aufzug langsam einen das ganze Lachen und die ersten schönen Erlebnisse in Ruck macht und ihn in den Schatten führt. Depression, Angst und Trauer verwandeln könnten. In diese Frau in der Lehmhütte mit dem kleinen Jungen. Die Augen des kleinen Jungen sind halbgeöffnet. Er kennt das von seinen Neffen. Die schlafen so, mit den undichten Augenlidern. Erst beim zweiten Blick fällt ihm auf, dass der Junge sehr schlapp ist. Seine Arme hängen an den Knien der Mutter vorbei auf den Boden und seine Augen und sein Mund sind von Fliegen belagert. Die Frau murmelt und wiegt sich vor und zurück mit dem Kind im Arm.
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SABINE GROSCHUP, full of wonder world
Die digitale Entwicklung und ihr Einfluss auf unser tägliches Leben schreitet mit der rasanten Geschwindigkeit voran, die so typisch für unsere Zeit ist. Auch in der Kunst bietet digitale Technologie vielfältige Möglichkeiten, wodurch jedoch analoge, handwerkliche Ansätze immer weiter in den Hintergrund rücken. Während das Interesse am sozialen Umfeld und die Wahrnehmung unserer unmittelbaren Umwelt zurückgehen, bietet sich uns eine ganze Welt voller Informationen, Inspirationen, Unterhaltung und Kommunikationswegen. Und das in einer Vielfalt und Geschwindigkeit, die noch vor 20 Jahren undenkbar gewesen ist. Unsere Welt ist beschleunigt und überregional, voller Input und Ablenkung. Selten findet man die Zeit, sich mit sich selbst und der eigenen Umwelt zu beschäftigen.
Im kreativen Umfeld der Pirate Movie Production entstand vor vielen Jahren der Gedanke eines Ortes, der frei von der Stoppuhr des Alltags und dem Lärm der Städte ist, um sich wieder auf die Natur und den uns eigenen Rhythmus zu besinnen und diese Atmosphäre zum kreativen Schaffen zu nutzen. Im Sommer 2010 wurde dieser Gedanke zur Wirklichkeit, indem Tobias Ludescher (damaliger Art Director der Pirates) das erste Isolation Camp organisierte.
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Befreundete Künstler*innen und Musiker*innen trafen sich auf einer abgeschiedenen Hütte im Rheintal, Vorarlberg. Das Ziel war, sich von einer High-Speed-Gesellschaft zu entschlacken, den direkten Kontakt zwischen Kunstschaffenden zu ermöglichen, um gemeinsame Werke zu erschaffen. Es gab keine bindende Zielsetzung, denn so konnte direkt auf die Umgebung reagiert werden. Auch regionale sowie zwischenmenschliche Einflüsse waren ein fester Bestandteil des Camps. Wie von selbst wurden die unmittelbare Umwelt um die Hütte, die Landschaft und das Wetter in den kreativen Prozess miteinbezogen. Abends wurde gemeinsam gekocht und gegessen, alle Aufgaben des Alltags wurden in der Gruppe erledigt und man stand nie allein vor einem Berg schmutzigen Geschirrs. Durch den freien, respektvollen Umgang mit den Arbeiten und der Persönlichkeit des Gegenübers entstand auf natürliche Art ein soziales Zusammenleben, in dem alles geteilt wurde.
TOBIAS LUDESCHER, Projektvorstellung
Fotos: Anna Zora, 2014
ISOLATION CAMP
Illustration rechts: Francois Ferst feat Paul Riedmueller feat Galileo Sironi, 2015
Illustration links: Nana Mandl feat Sarah Sternat, 2015
Das Ziel ist, sich von einer High-SpeedGesellschaft zu entschlacken, den direkten Kontakt zwischen Kunstschaffenden zu ermöglichen, um gemeinsame Werke zu erschaffen.
Das Isolation Camp ist bis heute ein Ort der Begegnung. Jedes Mal aufs Neue treffen Illustratorinnen und Illustratoren, Musiker*innen, Maler*innen, Fotografinnen und Fotografen, Filmemacher*innen, Köchinnen und Köche, Tontechniker*innen sowie Kalligrafinnen und Kalligrafen aufeinander. Sie teilen ihre Erfahrungen und Techniken und tauschen ihre Werke untereinander aus. Dieses Aufeinandertreffen ermöglicht nicht nur aufregende Ansätze, sondern auch die Gelegenheit, Neues zu lernen, um sich selbst und die eigene Arbeit weiterzuentwickeln. So trifft Comic auf Kalligrafie, Illustrationskunst auf Malerei und die Regenbogenforelle aus dem Teich hinter dem Haus auf die geschulten Hände eines Sushi-Kochs aus dem Umland. Regionales wird neu interpretiert.
Das Isolation Camp existiert aus dem essentiellen Grund, offene und talentierte Menschen zusammenzubringen. Meist entstehen dann gute Gemeinschaftswerke, wenn die Chemie a.k.a. der Humor zwischen den jeweiligen Kunstschaffenden passt. Am wichtigsten ist die Grundstimmung im Camp, die bestenfalls anregend und entspannend zugleich wirkt. So fühlt sich das Camp entschlackend und irgendwie nach Urlaub an, obwohl man produktiver als im Alltag ist.
www.isolationcamp.com
Nana Mandl feat Paul Riedmueller feat Simon Goritschnig, 2015
SPÄTER Wieder eine dieser Panikattacken. Ausgelöst vom Gedanken daran, dass sie nie jemanden finden wird, der sein Leben gemeinsam mit ihr verbringt. Oder zumindest eine kurze Zeit. Ihre Mutter hat es immer prophezeit. „Margarethe, Liebes“, nur ihre Mutter nannte sie beim richtigen Namen, alle anderen nannten sie Maggie, „du wirst nie jemanden finden, wenn du nicht endlich deinen Kopf aus den Büchern nimmst und rein in die Realität schaust!“ Wenn die Realität nur nicht so furchtbar furchterregend wäre. Schlussendlich siegte die Neugier. Ihr erster Besuch in der Stadtbibliothek mochte anderen nicht besonders aufregend erscheinen. Für Maggie grenzte es fast an ein Wunder. Die Erkundung der Realität wollte sie in der Nähe von Büchern beginnen. Bi bliotheken und Büchereien hatte sie noch nie verstanden. Warum sollte sie Bücher ausleihen und zurückgeben? Viel lieber stellte sie sie nach dem Lesen ins eigene Regal. Dort erinnerten sie sie immer wieder an all die Abenteuer, die sie mit ihnen erlebt hatte. Obwohl sie nie eines der Bücher ein zweites Mal las, denn in dieser Zeit könnte sie eine neue Geschichte verpassen, gaben ihr Bücher ein gutes Gefühl. Der Blick auf ein vertrautes Cover ließ sie in vertrauten Erinnerungen schwelgen. Alles war gut, solange sie nur ihre Bücher hatte. Obwohl nichts gut scheint, wenn man keine Freunde hat und auch sonst niemanden wirklich kennt. „Gewinnen Sie eine Traumreise nach Sylt, mit Zwischenstopp in Leipzig bei der Buchmesse!“ Gelb die Schrift, rot der Untergrund, lächerlich die Grafik. Schlechter Umgang mit Photoshop. Und doch zog die Ausschreibung Maggies Aufmerksamkeit auf sich. „Gewinne eh nie etwas.“ Und gerade deshalb füllte sie die Teilnahmekarte aus, warf sie ein und vergaß sie gleich wieder. Die Buchmesse in Leipzig hatte sie schon lange gereizt, aber die Reise? Niemals. Sie verreiste nie. Schon gar nicht ins Ausland. Jemand könnte ihr den Pass stehlen. Ihre Identität wäre dahin. Seit Jahren glaubte sie selbst nur an ihre eigene Existenz, weil sie täglich ihren Pass kontrollierte. Drei Wochen später. Sie wagte wieder einen Besuch in der Stadtbibliothek. Die Gewinner wurden gezogen. Maggie ärgerte sich, dass die Glücksfee nur die männliche Form
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verwendete. Aber vielleicht gewannen wirklich nur Männer. Der Gedanke beruhigte sie. Was machte sie sich überhaupt Sorgen? Sie gewann ja doch nie etwas. Was sollte dann dieses beunruhigende Gefühl? Gab es weibliche Intuition doch? Fast im selben Augenblick wurde ihr Name aufgerufen. Sie hatte gewonnen. Unfassbar. Mit ihr noch Ludmilla. 60 Jahre. Pfarrgemeinderatsobfrau. Und Ander. Der schwule Diskothekbetreiber. Oder war schwul ein politisch unkorrektes Wort? Durfte man nur noch homosexuell verwenden? Maggie machte sich eindeutig zu viele Gedanken über korrekte Formulierungen. Nicht ablenken lassen! Sie wollte nicht mit zur Buchmesse. Und nach Sylt schon gar nicht. Was sie noch mehr hasste als Reisen, waren Menschenmassen. Wie sollte sie diese Reise mit Menschenmassen überstehen? Es gab keinen Ausweg. Denn ihre größte Angst, noch größer als die vor Menschenmassenreisen, war die Angst davor, Menschen mit einem Nein zu enttäuschen. Darum verabredete sie sich auch nie. Was sollte die Ausrede? Sie hatte ja eh niemanden, mit dem sie sich verabreden konnte. Und deshalb saß sie nun in diesem Bus nach Leipzig. Notfalls konnte sie dort immer noch abtauchen und mit dem Zug heimfahren. Laut Google Earth war es eine Fahrt von fünf Stunden und vierzig Minuten bis nach Leipzig. Mit dem Bus würde es bestimmt eine Stunde länger dauern. Dann unzählige Klopausen für Ludmilla. Sie bereitete sich auf sieben bis acht Stunden Fahrt vor. Noch hatte sie nicht einmal sieben Minuten davon hinter sich gebracht. Ander stieg zu. Setzte sich neben sie, obwohl der ganze Bus noch leer war. „Lieber gleich neben ein bekanntes Gesicht setzen, als nachher den Kopf eines schlafenden, schwitzenden Fremden auf den Schultern zu haben.“ „Stimmt!“, antwortete sie einsilbig, packte aber dennoch demonstrativ ihr Buch aus. Noch bevor Ludmilla zustieg, wurde Maggie schlecht. Konnte es sein, dass sie ihre geliebten Bücher beim Busfahren im Stich ließen? Hörbuch hatte sie keines mitgebracht. Sie wusste nicht, dass ihr beim Lesen im Bus schlecht wurde. Sie war nie Bus gefahren. „Mir wird beim Lesen im Bus auch immer schlecht.“ Ander meldete sich zu Wort. Woher wusste er das? „Ich kenne den gequälten Gesichtsausdruck. Meinen Kindern geht es auch immer gleich.“ Konnte er Gedankenlesen? „Du hast Kinder?“, hörte sich Maggie fragen. War selbst überrascht über ihre Frage. „Ja, drei. Zwei Söhne und eine Tochter.“ „Aber …“ Maggie traute sich nicht weiterzufragen. „Später“, sagte Ander mit einem verächtlichen Blick auf Ludmilla, die gerade zustieg. Vielleicht sollte diese Reise doch nicht so schlimm werden.
ROMANA KURZ, Kurzgeschichte
Eröffnung Vogelweide am 25.03.2017 – Foto: Filmstill Vinzenz Mell
Stadt und gut? Good City gone M.a.a.d.? New York, Rio, Tokio und ganz Wien. Nicht nur deutsche One-HitWonder und geschmeidige Austropop-Legenden sind sich in den 80ern einig: Nicht space is the place, sondern die größtmöglichen Gebäude-, Straßen- und besonders Menschenansammlungen hier auf dem Planeten Erde sind die wichtigsten Sehnsuchtsorte überhaupt. Die Popkultur weltweit feiert, besingt, verfilmt und verwurstet ihre Städte, von Chicago und Lagos bis Melbourne. Ohne Stadt kein Pop.
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PAUL KLUMPNER, Essay
Aber nicht nur die prägende zeitgenössische Kultur ist in sich städtisch. Menschen, die sich mit dem Thema beschäftigen, streiten vielleicht darüber, seit wann – neolithische oder doch erst industrielle Revolution –, aber man ist sich einig, dass die Menschheit längst an dem Punkt angekommen ist, an dem sie selbst per definitionem eine flächendeckend urbane Gesellschaft hervorgebracht hat. Das betrifft alles, Kultur, Wirtschaft, Politik. Das Leben. Natürlich, es gibt sie, die Peripherie, die Enden der Welt, und alle kennen es, das Land. Manche – so wie ich – sind sogar dort aufgewachsen. Fakt ist, dass weit mehr als die Hälfte der Menschen weltweit in großen Städten lebt und wiederum ein kleiner Teil von ihnen das ganze Geld hat, die wichtigen Entscheidungen trifft und die Firmen leitet. Und das Land aus Sicht der Stadt? Tirol Werbung.
Auch die Landeshauptstadt hat bei des, einen heiß gelaufenen Immo bilienmarkt und René Benko auf der einen Seite und eine lebendige Subkultur, die Straßen, Plätze und leerstehende Gebäude als Spielwiese versteht und nutzt, auf der anderen.
Überhaupt, die Sache mit den Kohlen und dem Markt. Das neoliberal befreite und weltweit flexibel mit der Gießkanne verteilbare Geld macht aus Stadtvierteln Spekulationsobjekte. Dabei wird natürlich aus manchem Das neoliberal (halb-)öffentlichen Raum your private Eigentumswohnung befreite und oder Shopping-Mall. Und was privat ist, will geschützt sein, deswegen all die Überwachungskameras und Antiweltweit Sandler-Bänke (Designmerkmal: Sitzen ja, Liegen nein). flexibel mit der Und so ähnlich wie mit dem Big Mac, der rund um den Gießkanne Globus gleich schmeckt, verhält es sich auch mit dem verteilbare neuen Shopping-Center im Zentrum. Auf dessen „Plaza“ kann man nicht ohne Weiteres sagen, wo man sich befindet, Geld macht in Singapur oder doch in Innsbruck? Und das, ja das ist dann das Gegenteil von Stadt. Zumindest dann, wenn man sie wie folgt definiert: als das friedliche Aufeinandertreffen maximaler Differenz und Vielfalt auf engem Raum, und das auf Augenhöhe. Stadtluft befreit und in der Stadt ist die Demokratie erfunden worden. Zum Beispiel auf der griechischen Agora. Diese Idee von Stadt braucht vor allem öffentliche Freiräume und Bewohner*innen, die diese selbstbewusst nutzen. Räume, die nicht per Setting von vornherein definieren, was dort genau passieren soll (Kaufen, Arbeiten, Fahren, Parken, Schlafen) und was nicht. Zum Glück für die Stadt gibt es diese Bewohner*innen. Sie treffen sich in Parks, sitzen auf Randsteinen oder skaten über Plätze und Straßen. Und von Occupy bis zur Rechtauf-Stadt-Bewegung politisieren und besetzen sie den öffentlichen Raum und halten so eine letztlich europäische Tradition am Leben. Das ist gut. Auch in Innsbruck.
Ein aktuelles Beispiel für Letzteres ist der Waltherpark in St. Nikolaus mit der Initiative Vogelweide. An wohner*innen haben sich in einem Verein zusammengetan und im Park vor ihren Haustüren einen Pavillon errichtet, der sich immer mehr zu einem wichtigen Treffpunkt mausert. Hier sind alle willkommen, Kinder, Hipster, Sandler*innen, Polizistinnen und Polizisten. Konsumiert werden muss natürlich nicht, Getränke und ab und zu Essen gibt es trotzdem, alles auf Spendenbasis. Abends finden Lesungen und Konzerte statt, tagsüber schauen Eltern abwechselnd und gemeinsam nach ihren Kindern, ein paar Typen spielen Fußball, gegenüber entsteht eine Verschenk-Box mit an geschlossenem Schachtreff.
aus StadtvierGefördert wird die Vogelweide von teln Spekulati- der Stadt Innsbruck, in diesem Jahr onsobjekte. zum ersten Mal über das Programm
stadt_potenziale. Aber ohne das Engagement der Beteiligten würde natürlich gar nichts gehen. Für diesen Sommer hat sich die Gruppe einiges vorgenommen. Neben dem üblichen Programm rund um dem Pavillon wird in Kooperation mit dem Institut für Geographie Innsbruck das Projekt Birdlab-Mapping Waltherpark Realities umgesetzt. Interdisziplinäre Stadtforschung und kulturelle Praxis vermischen sich dabei im Rahmen öffentlicher Diskussionsrunden, quali tativer Feldforschung und sozialräum licher Kartierungen. Der Waltherpark als Lebenswelt und Raumlabor. Im besten Sinn Stadt. Die alten Griechen würd‘s freuen.
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PATRICK BONATO, Episode des Comics „Au monde des Toubabs“ (In der Welt der Toubabs)
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Ganz Gallien ist wie hypnotisiert vom Bling-Bling der Wegwerfgesellschaft... Ganz Gallien? Nein! Ein von unbeugsamen Sachensuchenden bespieltes Milieu hört nicht auf, dem Konsumzwang Widerstand zu leisten. Das Projekt findings.at lebt vom Gold auf der Straße. Es erzählt Geschichten des Findens und rückt den Wert von Fundstücken ins Bewusstsein.
Ich laufe mit meiner Freundin Miri über den kleinen Spielplatz in Berlin Wedding, Oudenarderstraße. Die angerostete Schaukel steht neben einem halb vertrockneten Kastanienbaum, der Sand ist schon länger nicht mehr ausgewechselt worden. Mein Blick geht suchend von einem Fleck zum anderen. Zwischen Büschen und Hauswand werde ich endlich fündig: eine alte Wasserpistole, die sogar noch funktioniert! „Sachensucher“ – so heißt unser Lieblingsspiel.
Prada Lederhandschuhe Münster. Es ist kalt und nass und ich muss mit dem Fahrrad zwischen Ostviertel und Kunstakademie hin und her fahren. Ich habe wenig Geld für den Rest des Monats und brauche Handschuhe. Ich schaue in den Verschenk-Kasten im Flur der HausWG, in der ich übernachten kann, und finde genau, was ich brauche – Handschuhe, wasserfest, in meiner Größe und sogar von Prada. Sie leisten mir ein Jahr lang gute Dienste und ich finde sie schick. Personal Profit: 40 Recherchierter Neukaufpreis: 104 Kunstpreis: 427 Kurzinfo: Was: Prada Lederhandschuhe, dunkellila Gewinn: dringend benötigte Handschuhe zum Fahrradfahren in finanziell brenzliger Lage, Erleichterung und Freude Wo: Merschkamp 6, Münster
Die Liebe zum Finden und Suchen beginnt, als ich vielleicht vier Jahre alt bin und in Berlin den unendlichen Materialfundus einer Großstadt entdecke. Einzelne Schuhe, kleine gelbe Plastikkügelchen und Münzen, manchmal Murmeln oder ein Regenschirm, einmal sogar ein 20-DM-Schein, das sind die Fundstücke meiner Kindheit. Gefundenes ist oft viel schöner als Gekauftes, ist ein Glücksfall und riecht nach Abenteuer. Diese Liebe setzt sich fort in der Hingabe für in den Straßen gefundene Lampenschirme, Bilderrahmen, Holzregale und der Verschönerung von alten Kleiderbügeln, die ich in einem Karton mit der Aufschrift „zu verschenken“ entdecke. Es ist eine gute Mischung aus monetärem Anreiz und Empfindsamkeit für das Detail des Materials, des wurmstichigen Holzes oder altmodischen Blümchenstoffes, die mich auch zu einer begeisterten jugendlichen Sachensucherin werden lassen. Der Begriff des ‚Personal Profit‘ beschreibt den Wert, den ein Fundstück für die findende Person hat. Die Aussage über den Personal Profit eines Fundstückes mag vorerst beliebig und unprofessionell anmuten. Doch sind die Methodik und die Wortwahl nicht aus der Luft gegriffen, sondern basieren auf einer gründlichen Aus einandersetzung mit wirtschaftswissenschaftlichen Methoden und Inhalten.
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DHARA MEYER, Projektvorstellung
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Münster ist in diesem Sinne meine Traumstadt. Als wir dort ankamen, hatten wir zwei Koffer und eine leere 80qm-Neubauwohnung. Ich war schwanger und es fehlten sowohl Geld als auch Gemütlichkeit. Schon wenige Tage oder Wochen später jedoch waren wir eingerichtet mit allem, was unser junges Herz begehrte: Vollholzmöbeln, einem geschwungenen Metallbett inkl. Matratze, einer Hängematte, jeder Menge Topfpflanzen und einem Sofa für den Balkon. Als dann auf einem der monatlich in abwechselnden Stadtteilen stattfindenden Sperrmülltage wie bestellt die gusseiserne Pfanne vor uns lag, die wir uns gerade erst gewünscht hatten, waren wir wie bezaubert.
Büchlein: Du schaffst das! Meine erste Prüfung in Österreichischem Wirtschaftsrecht steht mir bevor und ich habe gut gelernt, trotzdem bin ich aufgeregt. Ich gehe in dem großen Unigebäude, das aussieht wie aus den 70ern, auf die Suche nach einer Toilette. Die Treppen hinunterlaufend, denke ich bewusst mein Mantra aus Abitagen: „Du schaffst es, du schaffst es, ich schaffe es, ich schaffe es!“ Beim Händeabtrocknen fällt mir ein Büchlein auf, das in einem Plastiktütchen auf dem Trockner stehend an der Wand lehnt – „Toi, toi, toi, du schaffst es!“, steht darauf in großen Buchstaben geschrieben. „Viel Glück und Erfolg!“ Ich öffne es und mir kommen ein Lesezeichen aus Holz mit einem kleinen geschnitzten Elefanten darauf und ein Zettel entgegen: „Für den Finder dieses Buches: Du schaffst es!“ Die Rechtsprüfung habe ich mit einer Eins bestanden und natürlich meinen Nachbarn abschreiben lassen. Personal Profit: 200 Neukaufpreis: 4,95 Kunstpreis: 193 Kurzinfo: Was: Büchlein: „Du schaffst das!“ Gewinn: Gefühl der Verbundenheit mit dem Leben. Motivation für die unmittelbar bevorstehende Rechtsprüfung. Wo: Damentoilette, Uni Innsbruck, GEIWITurm, auf dem Papierhandtuchspender
Zuallererst möchte ich darauf eingehen, was genau der Begriff ‚Personal Profit‘ beinhaltet. Dies wird auf zwei Ebenen geschehen, da im Falle eines Fund stückes zwei Begriffe der klassischen Mikroökonomie im von mir gewählten Begriff ‚Personal Profit‘ aufeinander treffen: zum einen der Begriff des ‚Reservationspreises‘ (willingness to pay), zum anderen die ‚Konsumentenrente‘ (consumer surplus). 2015 habe ich angefangen, meine Fundstücke in eine Excel-Tabelle einzutragen und ihnen verschiedene Werte zuzuordnen: Wann, wo und unter welchen Umständen wurden sie gefunden? Was wäre der Neukaufpreis für ein solches Produkt gewesen und wie viel würde es kosten, wenn es Kunst wäre?1 And – last, but not least – the personal profit: Wie viel ist mir dieses Fundstück unter genau den gegebenen Umständen wert? ‚Reservationspreis‘ ist ein Begriff aus der Mikroökonomie und „entspricht der maximalen Preisbereitschaft eines Nachfragers für eine Leistung bzw. dem akzeptierten Minimalpreis des Anbieters.“ 2 Auf die Betrachtung von Fundstücken übertragen kann man diese maximale Zahlungsbereitschaft (‚willingness to pay‘) als den maximalen Preis verstehen, den ein*e Nachfrager*in, also der*die Findende bereit gewesen wäre, für das Fundstück in der vorgefundenen Qualität, Quantität und zu dem entsprechenden Zeitpunkt zu zahlen.3
Der Preis von Kunst ist ein persönlicher, abstrakter und emotionaler Wert. Auf dem internationalen Kunstmarkt werden Summen mehr oder weniger willkürlich gehandelt, das teuerste Gemälde war bislang das Werk Les femmes d’Alger von Picasso mit knapp 180 Mio US Dollar. findings berechnet den Kunstpreis durch den Algorithmus einer Website: Unter www.blitzrechner.de/kunstwerk/ wird aus den Maßen, dem Künstler-Faktor und ein paar anderen Infos berechnet, was das Fundstück kosten würde, wäre es Kunst. 2 Springer Gabler Verlag (Herausgeber), Gabler Wirtschaftslexikon, Stichwort: Reservationspreis, Quelle: www.wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/17939/ reservations-preis-v8.html (Stand: 09.03.2017). 3 Adler, Jost: Möglichkeiten der Messung von Zahlungsbereitschaften der Nachfrager. Duisburger Arbeitspapiere zum Marketing Nr. 7, Duisburg 2003, S. 3. 1
Aus der Liste, die seitdem entstanden ist, lassen sich Geschichten herauslesen, die mein Leben geschrieben hat. Es lassen sich Momente rekapitulieren, die ein Stückchen Zufall greifbar machen. Und es lässt sich nachvollziehen, dass ich Dinge im Neukaufwert von 2291,91 Euro gefunden habe. Mein subjektiver, emotionaler Wert (Personal Profit) lag sogar weit darüber, nämlich bei 5011,50 Euro. Mein Kontostand bei der GLS Bank beträgt dagegen heute genau 190,96 Euro. Somit stellt der Reservationspreis einen wirtschaftswissenschaftlichen Versuch dar, den individuellen Nutzen einer Person an einem Gegenstand in einem Preis zu quantifizieren. Dieser Versuch der Quantifizierung des Nutzens ist ein Kern der ökonomischen Theorie sowie des wirtschaftlichen Handelns und eines der zentralen ökonomischen Konstrukte. Darauf basiert auch der Begriff ‚Konsumentenrente’ von Marshall (1890, 4 S. 175) : „The excess of the price which he would be willing to pay rather than go Blaue Jacke without it, over that which he actually does pay is the economic measure of this Ich laufe nach einem langen Tag im Mo- surplus pleasure.” Es handelt sich um eine Betrachtung des Vorteils, der einem Kon tel, wo wir ganz viel Müll rumliegen hatten sumenten entsteht, wenn er ein Gut zu einem günstigeren Preis als seinem Reser und alle am Aufräumen waren, in Wilten am Südring rum und da ist Sperrmüll, es vationspreis erhält. Im Falle eines Fundstückes entspricht der Gleichgewichtspreis liegt lauter Müll rum, ein alter Schreibtisch, als Schnittpunkt der Angebots- und Nachfragekurve, den der Konsument aufgrund Restholzplatten. Auch ganz viel dreckiges der Marktverhältnisse tatsächlich zahlen muss, genau einem Preis von null. Dies Gewand. Auf einmal hab ich die blaue Jacke führt dazu, dass die Konsumentenrente genau dem individuellen Reservationspreis da rauslugen gesehen und ich hab mal genau entspricht. diese Art von Jacke gehabt, Jahre davor, und
es war meine absolute Lieblingsjacke, aber ich hab sie in Berlin in der U-Bahn verloren. Und ich hab mir damals gedacht: „Scheiße, die war so billig, ich hätt mir zwei davon kaufen sollen.“ Dann hab ich diese Jacke gesehen und sie war noch besser, noch schöner und noch cooler. Seitdem ist es meine Lieblingsjacke und immer wenn‘s Wetter passt, hab ich sie an!
Da die ‚Konsumentenrente‘ 5 begrifflich auch als ‚consumer surplus‘ übersetzt wird, ergibt sich hier aus der direkten Übersetzung des Begriffs ‚surplus‘ als „Über schuss, Gewinn” 6 die Begrifflichkeit eines individuellen Konsumentengewinns, den ich mit dem Begriff ‚Personal Profit’ zu fassen versuche.
Personal Profit: 140 Recherchierter Neukaufpreis: 49,90 Kunstpreis: 1010 Kurzinfo: Was: Blaue Jacke Gewinn: verlorene Lieblingsjacke ersetzt, Freude über Qualität im Sperrmüll Wo: Südring, Innsbruck
Die wichtigsten ökonomischen Beiträge Alfred Marshalls (1842–1924) finden sich in seinem einflussreichen Lehrbuch Principles of Economics, das 1890 erschien. 5 Es gibt am Konzept der Konsumentenrente berechtigte Kritik, allerdings wird sie trotzdem in der Lehre behandelt und gehört zum Wissenskanon der Wirtschaftswissenschaften. “Die Konsumentenrente ist jedoch ein nicht unproblematischer Wohlfahrtsmaßstab. (…) Trotz dieser theoretischen Unzulänglichkeiten spielt das Konzept der Konsumentenrente auch heute noch eine wichtige Rolle in der angewandten Wohlfahrtsökonomie, da die so verursachten Messfehler praktisch kaum relevant sind (Willig 1976).” In: Söllner, Fritz: Die Geschichte des ökonomischen Denkens 4. Auflage, Berlin/Heidelberg 2014, S. 49–50. 6 Website Wissen.de, Link: www.wissen.de/fremdwort/surplus (Stand: 09.03.2017). 4
Während in Städten wie Münster der Sperrmüll einmal monatlich in jedem Stadtteil abgeholt wird, ist das Finden der spannenden Haufen herrenloser Dinge in Innsbruck deutlich schwieriger. Die von den Liegenschaftsbe sitzerinnen und -besitzern bzw. deren beauftragten Hausverwaltungen bestellten Sperrmüll-Abholtermine wer den von der IKB bewusst nicht veröffentlicht. Die Facebookseite Sperrmüll in Innsbruck bietet eine Plattform, um spontan Infos zu posten. Auf Facebook bieten sich noch andere Möglichkeiten: In der Gruppe Inns bruck verschenkt mit 43.739 Mitgliedern werden jeden Tag mehrere Artikel aller Art umsonst abgegeben, während man bei Alles gratis Tirol mit 11.500 Mitgliedern auch die Möglichkeit hat, per Facebook-Eintrag nach etwas Bestimmtem zu suchen.
GiveBox bietet eine alte Telefonzelle Platz, um nicht mehr Benötigtes abzugeben und gratis mitzunehmen, was man gebrauchen kann. Außerdem sind in der Schenkschachtel auch Schachspiele zum Ausleihen Verortet hat sich die Idee des Weiter- und Spielen im Park zu finden, gegebens von noch brauchbaren Dingen meinsam Schach gespielt wird jeden schon vor 10 Jahren im antikapitalis- Montag von 15 bis 19 Uhr. tischen Projekt Kostnix Laden in der Höttinger Gasse 11. Im April dieses Die Schenkschachtel ist Teil eines Jahres wurde in Kooperation mit dem vom Land Tirol im Rahmen von Kostnix ein weiterer Ort des Ver- TKIopen 2017 geförderten Projektes, schenkens im Waltherpark eröffnet: in dem die Infrastruktur zum Verdie Schenkschachtel. Angelehnt an das schenken weiter ausgebaut wird. international verbreitete Modell der Gleichzeitig soll eine Sammlung von Geschichten über das Finden und eine Wertschätzung für Fundstücke auf breiter Basis entstehen.
Jede*r ist eingeladen, mitzumachen und seine*ihre Fundstücke online zu posten – samt kleiner Notiz zur Story, den Maßen und dem Personal Profit. So wird online eine Art FundstückeGästebuch geführt. Vielleicht entdeckst du die ungeliebte Tasse bei jemand anderem als neues Lieblingsstück. Vielleicht findet jemand genau im richtigen Moment einen Bilderrahmen für das Geburtstagsgeschenk. Vielleicht bist du zur richtigen Zeit am richtigen Ort und die Ledertasche, die du dir schon lange wünschst, liegt vor dir.
Mach mit und teile, was du verschenken kannst. Nimm, was du gebrauchen kannst – sharing is caring. Infos zu finden unter www.findings.at oder facebook: schenkschachtel
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DAVID SCHREYER, Auszug aus der freien Arbeit ‚STADT‘
ZU VIEL DES GUTEN
Wie zu viel des Guten und ein gut gemeintes Wirtschaftssystem an der sozialen Ordnung sowie der eigenen Selbstakzeptanz rütteln.
A
ls pubertierender Jugendlicher beschäftigte ich mich oft mit dem Gedanken, ob ich denn gut sei. Besonders mein männliches Wesen machte mir hier zu schaffen, da die meisten Nachrichten über Ver gewaltigungen, Morde, Kriege, Ausbeutungsverhältnisse u. v. m. bis heute zum Großteil auf die Kappe des männlichen Geschlechts gehen. Besonders die Fragen: „Kann man(n) von Geburt an böse sein? Sind es Handlungen an sich, die gut bzw. böse sind? Oder liegt es doch am System, das uns zu guten oder schlechten Menschen macht?“ geisterten mir damals durch den Kopf.
Heute weiß ich, dass das Gute „nur“ eine Vorstellung ist, die weder in den Genen, einem System oder irgendwelchen Handlungen begraben liegt. Vielmehr handelt es sich beim Guten um sozial konstruierte Urteile, die vorgeben, wie etwas zu sein hat. Ganz nach dem Motto „Gut ist nicht, gut wird gemacht“ sind es immer wir Menschen, die festlegen, was als gut bzw. als böse gilt. In früheren Gesellschaften wurde diese Unterscheidung maßgeblich durch die damals existierenden Weltreligionen mitbestimmt. Heute im Zeitalter der Individualisierung hat sich dieses Bild grundlegend verändert. Immer mehr Menschen wenden sich von den großen Religionen ab. Das Vakuum, das dabei entsteht, wird eifrig von Ersatzreligionen wie Hedonismus, Veganismus, Mode, Reisen, Erfolg, Nachhaltigkeit usw. gefüllt. Da nun jede dieser Ersatzreligionen eine eigene moralische Vorstellung von Gut und Böse in sich trägt (die weit voneinander abweichen können), bieten sie immer auch potentielle
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Reibungsflächen. Das Gute des einen stößt beim Gegenüber meist auf Ablehnung bis hin zu destruktivem Zorn. Trägt nun eine Person hedonistische und enthaltsame Züge zugleich in sich, kann sich ihr Zorn natürlich auch gegen sie selbst richten. Den Betroffenen ist es in so einer Situation unmöglich, die Würde des anderen bzw. des eigenen widersprüchlichen Selbst anzuerkennen. Mit steigender Komplexität tritt dem Guten neben der Vervielfältigung von Moralvorstellungen aber noch ein weiteres Problem entgegen. Mit der Komplexitätszunahme können Handlungsfolgen, d.h. die Auswirkung von dem, was man tut bzw. jemand anderem antut, im gesellschaftlichen Miteinander immer schlechter nachvollzogen und gespürt werden. Mit anderen Worten: Es wird einem unmöglich, zu überprüfen, ob eine Handlung Gutes oder Schlechtes bewirkt. Adam Smith, ein einflussreicher Moralphilosoph des 18. Jahrhunderts, machte sich hierzu viele Gedanken und kam zu einer folgenschweren These: Er nahm an, wenn alle Menschen im Bereich der Wirtschaft ihren Eigeninteressen folgten, werde wie durch eine „unsichtbare Hand“ ein gesellschaftlicher Mehrwert entstehen, sprich Gutes. Diese und ähnliche Gedanken leuchteten vielen einflussreichen Menschen ein und bereiteten so einer neuen Wirtschaftsordnung – dem heutigen Kapitalismus – den Weg. Entgegen der ursprünglichen Annahme entpuppte sich dieses System aber nicht als eierlegende Wollmilchsau. Vielmehr entstand stattdessen ein rücksichtsloser Raubtierkapitalismus, der sich vor allem durch Ausbeutung und Unterdrückung am Leben erhält. Nun könnte man meinen, heutige Ökonominnen und Ökonomen wüssten es besser. Weit gefehlt, denn trotz dieser verheerenden Entwicklungen nehmen immer noch viele von ihnen an, dass eigennütziges Wirtschaften einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen bewirkt. Doch nun soll dies nicht mehr eine „unsichtbare Hand“, sondern der „Trickle-DownEffekt“ leisten. Folgt man der Logik dieses theoretischen
MARCELL SCHRITTWIESER, Diskurs
Konstrukts, wird ein großer Teil der Gewinne der oberen Schichten durch deren Konsum und Investitionen zu den weniger privilegierten Schichten durchsickern. Leider entfaltet sich diese gleichmäßige Verteilung der kapitalistischen Früchte – ganz gleich wie der prognostizierte Mehrwert von Smith – meist nur innerhalb der Köpfe gläubiger Ökonominnen und Ökonomen. Das „Gute“ hingegen pervertiert zu überhöhten Gehältern und Boni, die nur die Handvoll Menschen erreichen, die am eifrigsten am Ausbeutungsprozess beteiligt sind.
moralisch korrekt zu konsumieren, gilt für viele als ein Ablasshandel, den sich nur die Reichen leisten können. Andere wiederum mögen meinen, dass diese Form des Konsums nur unter enormem Zeitaufwand und durch Verzicht auf Lebensqualität möglich ist. Auch mögen einem Einwände wie der, dass man doch nicht überall Komplexität reduzieren könne, in den Sinn kommen. Auch mich begleiten diese Zweifel und zum Teil mögen sie berechtigt sein. Trotzdem bin ich der festen Überzeugung, dass jede*r Einzelne durch kleine Änderungen im Konsumverhalten viel Gutes bewirken kann. In Fällen z. B., Was aber tun? Oberflächliche Systemkritik zu üben, ist wo sich komplexe Konsumstrukturen nicht vermeiden lasleicht – ein System grundlegend zu verändern, ist eine sen (oder ich nicht darauf verzichten will), vertraue ich ganz andere Sache. Denn je komplexer unser Wirtschafts- vermehrt auf die Fähigkeiten anderer. So verlasse ich mich system wird, desto schwieriger wird es, dieses so zu verste- bei Kleidungsangelegenheiten auf das Urteil meiner hen, dass man gezielt den Hebel ansetzen kann. Als Freundin, da diese sich im Gegensatz zu mir kritischer mit Konsument*in weiß man z. B. nicht, woher die Rohstoffe diesem Konsumzweig auseinandergesetzt hat. Da ich für Kleidung, Smartphones usw. kommen, geschweige natürlich nicht in allen Konsumangelegenheiten so eine denn unter welchen oft entwürdigenden Bedingungen sie Informationsquelle heranziehen kann, vertraue ich auch gewonnen und verarbeitet werden. auf Angebote von Organisationen wie z. B. der Clean-Clo thes-Kampagne. Auf deren Website kann man sich über die Produktionsbedingungen unterschiedlichster Kleidungs Komplexität hindert uns aber, hersteller*innen informieren.
in einen Zustand des Mitfühlens zu gelangen. In einen Zustand also, in dem wir die Menschen erfassen können, die von den ausbeuterischen Produktionsprozessen am schlimmsten betroffen sind.
Natürlich ist mir bewusst, dass diese Organisationen und meine Informantinnen und Informanten nicht das Allheilmittel gegen ein undurchsichtiges Wirtschaftssystem sind. Vielmehr stellen sie lediglich ein Hilfsmittel dar, um unmoralische Konsumgüter leichter erkennen zu können. Was es neben diesen Hilfsmitteln braucht, ist in erster Linie ein moralischer Wandel hin zu einer Welt, die die Fähigkeit besitzt, komplexe Strukturen mit Moral zu beseelen. Einer Welt, wo Menschen aus einem Gefühl Um an dieser Stelle nun nicht in einen lethargieähnlichen heraus menschenunwürdige Strukturen zu erkennen und Zustand zu verfallen, möchte ich zeigen, wie ich dieser vermeiden beginnen. Problematik begegne. Mein persönlicher Lösungsansatz darf aber keinesfalls als ausgereift oder universell anwend- Wer jetzt daran zweifelt, dass eine solche moralische Entbar missverstanden werden. Vielmehr stellt er nur einen wicklung möglich ist, der sei daran erinnert, mit welch von vielen möglichen Versuchen dar, der dabei helfen soll, moralischer Ignoranz und physischer Härte wir noch vor etwas weniger am Übel unserer Zeit mitzuproduzieren. gar nicht allzu langer Zeit gegen Sklaven und selbst unsere Damit mir das nun gelingen kann, habe ich beschlossen, Kindern vorgegangen sind. Der Mensch besitzt also die Komplexität in vielen meiner Konsumbereiche so gut wie Fähigkeit, seine moralischen Überzeugungen massiv möglich zu vermeiden. Ich konsumiere also weniger von umzuwälzen. Damit dies zum Guten und nicht zum den Dingen, von denen ich nicht weiß, unter welchen Schlechten geschieht, bedarf es Wachsamkeit und Mut zur Umständen sie produziert werden und welche ökologi- Beteiligung. schen und sozialen Folgen ihr Gebrauch hat. Nun mag diese Herangehensweise dem einen oder der anderen relativ naiv oder sogar überheblich erscheinen. Denn
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YVONNE NEYER, Illustration
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SOFYA TATARINOVA, Levitation
Innsbrucks subcutanes Gedächtnis Über das Ergründen, Durchforschen und Archivieren der Innsbrucker Alternativ-, Sub- und Gegenkultur-Szene von 1955 bis 2000.
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MAURICE KUMAR, Projektvorstellung
E
in Gespenst geht in Innsbruck um. Das Gespenst des Subkulturarchivs. Denn in Innsbruck wird fleißig gesammelt und archiviert. Seit 2014 rufen wir vom Innsbrucker Subkulturarchiv unter dem Projektnamen Archive-IT1 zur Sammlung und Archivierung des Wissens von lokalen alternativen Szenen auf. Wir verstehen uns als Rechercheprojekt zur Alternativ-, Sub- und Gegenkultur Innsbrucks von 1955 bis 2000. Unser Interesse sind jene Orte, Zeitungen, Vereine, Initiativen und Musiker*innen, die die Innsbrucker Zustände nicht einfach so hinnehmen, sondern diese aktiv ändern wollten, um eine Alternative zur alltäglichen Realität zu schaffen. Jene Realitäten, die ein anderes Innsbruck ermöglichten, das fernab von Volks- und Hochkultur jene Nischen darstellt, die unter den Begriffen Sub- und Gegenkultur zusammengefasst werden und diametral oder alternativ zur hegemonialen Kultur stehen – gesellschaftskritisch bzw. verändernd oder zumindest den engen Horizont in der Provinzhauptstadt der Alpen kurzweilig größer erscheinen lassend, als es sonst der Blick Richtung Nordkette ermöglicht.
Vorweg: Beim Archiv handelt sich um keinen physischen Ort. Der imaginierte Ort des Archivs lässt Bilder von dunklen Räumen mit engen Gängen und zahlreichen Ordnern entstehen. Nein, dass Archiv wird eine Homepage, die als kollektives Gedächtnis von verschiedenen Szenen – vorerst ausgehend von der Musik – funktionieren soll. Daher wird gesucht, gesammelt, sprich nach Spuren vergangener Subkultur geforscht. Geleitet werden wir einerseits von Zufall und andererseits von fein säuberlichen Recherchen, auch wenn der Zufall eine größere Rolle als die gezielte Suche nach archivarischen Schätzen da draußen spielt. Doch was ist dieses Draußen? Als das Draußen verstehen wir die Welt außerhalb des Archivs, wo wir aber kein Wissen darüber besitzen, wie viel Material im Außen existiert. Daher kann das Innen des Archivs nie als vollständig betrachtet werden. Darin liegt das wesentliche Merkmal aller Archive, egal ob virtuell oder physisch:
„Und zwar »[setze] jede Organisation [...] die primäre to pologische Struktur eines absoluten Außen und eines absoluten Innen voraus [...], aus denen sich relative, vermittelnde Äu ßerlichkeiten und Innerlichkeiten ergeben: der ganze Raum des Innen steht topologisch in Kontakt mit dem Raum des Außen.“ 2 Ohne ein Außen – das unentdeckte Material – gäbe es kein Innen. Deshalb ist das Archiv im Gegensatz zu einem Lager – aus dem man nach Belieben schöpft – stets ein Mangel. Doch diesen Mangel wollen wir reduzieren, indem wir wie ein trockener Schwamm die Feuchtgebiete der vergangenen und noch nicht ausgetrockneten Subkultur aufsaugen. Damit werden wir das Gesammelte einer breiten und interessierten Öffentlichkeit zugänglich machen, damit das gesammelte Wissen ausgewählter Innsbrucker Gruppen und Szenen einen gemeinsamen Ort findet: „Archive-IT ist ein offenes Projekt und versteht sich nicht als eine elitäre Gruppe. Das heißt, interessierte Menschen, die mitmachen wollen, können sich gern bei uns melden. Wenn jemand das Gefühl hat, wichtige Perspektiven fehlten, etwas sei nicht richtig dargestellt, er oder sie wisse es einfach besser, dann kann man uns gern kontaktieren, um das zu ändern.“3 In diesem Auszug aus der Homepage der Betreiber des Innsbrucker Archivs machen wir unser Anliegen deutlich. Unser Ziel ist es, ein offenes Projekt zu betreiben, um verschiedene Menschen partizipieren zu lassen, um gemeinsam ein kollektives Gedächtnis zu installieren und Geschichte(n) festzuhalten. Wir, die Betreiber des Projekts – Albrecht Dornauer, Elmar Schaber und Maurice Kumar –, laden alle Interessierten zum Mitmachen ein: „Menschen, die Materialien besitzen, können sich ebenfalls gern bei uns melden. Falls ihr also Informationen, Flyer, Pla kate, Platten, Kassetten, Magnetbänder, Fotos, Zeitungsarti kel oder sonstiges Material besitzt bzw. Personen kennt oder glaubt, selbst einen wertvollen Beitrag leisten zu können, würden wir uns freuen, wenn ihr euch bei uns meldet und Leerstellen in dem Archiv füllt.“4 Gesammelt wird vorerst alles, was relevant erscheint, solange es in den (vorerst) thematisch definierten Zeitraum passt und andere Geschichte(n) der Stadt Innsbruck aufzeigt – jene, die sonst im Verborgenen bleiben.
Archive-IT ist der Projekttitel, unter dem das Innsbrucker Subkulturarchiv läuft. Parallel dazu existiert der Name Innsbrucker Subkulturarchiv, woraus sich gleichzeitig der Domainname ergibt: www.subkulturarchiv.at. 2 Deleuze, Gilles: Topologie: Andere Denken, Frankfurt am Main 1986, 167. 3 Subkulturarchiv: www.subkulturarchiv.at (Stand: 25.10.2016). 4 Ebd. 1
www.subkulturarchiv.at
ZUSAMMEN IST GUT Wohngemeinschaft von Johanna (33) und Lennard (1), Christina (35) und Marcell (34), Selina (34) und Florian (34) und Jaron (0,6).
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JOHANNA UND CHRISTINA MÖLK, Ein fotografisches Tagebuch
EUER GUT WILL ICH NICHT Gute Musik (Irgendwo muss man ja anfangen.) In der Online-Versand-Plattform bekam das neue Album von Radiohead Abb. 1 Links im Bild: das gute Pferd. 4,5 Sterne – 47 Kundenbewertungen. Zweifellos ein gutes Album, eines der besten des Jahres vielleicht, das spiegelt sich in der Wertung auch wider. (...) Ich fühle mich bestätigt: „Die Leute haben Recht! Ein gutes Bewertungs Das eigentliche gut system.“ Mit dem gut verhält es sich vielleicht Dann reitet mich ein Teufel und ich ähnlich wie mit Wahrheit: Jemandem, suche in derselben Plattform nach der sein gut als das Eigentliche hochHansi Hinterseer. Das Album „Heut‘ hält, ist in jedem Fall zu misstrauen. ist dein Tag“ erhält 4,5 Sterne – 44 In jedem Fall hat er oder sie Unrecht. Kundenbewertungen. Wie kann das So schön sein oder ihr gut auch aussesein? Sind die Alben gleich gut? Ich hen mag, so sehr es uns auch schmeikenn das Album nicht, aber gut ist cheln und uns bestätigen mag. das sicher nicht. Ich denke, das kann man objektiv behaupten. „Die meinen (...) halt, dass das gut ist.“ Was ist gut? Kann ich diesen Menschen ihr Urteilsvermögen absprechen und mein Gutes Auto, guter Ausblick, gutes gut als das eigentlich wahre gut über Design, gute Ernährung, gute Kleidas ihre stellen? dung, guter Haarschnitt, gute Figur, guter Job, gute Aufstiegschancen, gute Die Versuchung ist groß: „Ach, diese Musik, gute Gesellschaft, gute EinKleingeister mit ihrem kleinen Ge stellung, gute Noten, gutes Gewissen, schmack.“ guter Stuhlgang, gute Herangehensweise, guter Schlaf, gute Beziehung, Welch Arroganz! gute Tat, gute Destination …
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KLAUS SCHENNACH, Annäherung
Heute ist das gut. Das gut von gestern ist heute maximal mittelmäßig. Vintage-gut im besten Falle. Da heißt es schnell sein. Immer dranbleiben! (...) Kultur-Gut Bis vor kurzem umgab einen Staat noch ein Mäuerchen wie Glas das Aquarium und wir schwammen in unserer kleinen Kultur – der besten aller denkbaren – herum und schauten manchmal mitleidig oder argwöhnisch rüber. Alles war gut und klar und definiert. Hier sind wir und dort die anderen.1
Ereignis, das als „schlecht“ empfunden wird nicht auch gute Folgen haben? Vielleicht sogar bessere als ein „gutes“ Ereignis? (Sind nicht die perfekten Biographien die langwei ligsten?) So wäre dann manches schlechte Ereignis (seinem Wesen nach) eigentlich gut. Wenn man das in dem Moment, in dem sich das Schlechte ereignet, nur so sehen könnte – z. B. indem man sich auf die Zehenspitzen stellt: „Ach, da hinten kommt eh gleich wieder das Gute.“
Aber wie ist das mit dem ganz Kaum bemerkt, ist das Glas ge- Schlechten? Ich meine das wirklich schmolzen. Von Weitem sieht‘s im- Dunkel-Schlechte. Verhält es sich damer noch gleich aus (war ja auch mit auch so? Darf man das überhaupt durchsichtig) – und jetzt vermischt so denken? sich, was so penibel getrennt wurde, verbindet sich, stöß sich ab, reagiert. Ungefähr so: Ein mächtiger, weitsichManchmal kracht es auch.2 tiger Mensch: „Ihr müsst jetzt mal alle sterben, aber daraus resultiert ein Be Jetzt die Frage: Wenn wir nun das wusstsein, das den Menschen in 150 Mäuerchen wieder hochziehen, ent- Jahren das (Zusammen-)Leben erleich mischen sich dann die Flüssigkeiten tert.“ Und wir kleinen Menschen: wieder? Spontan-Entmischung3? Als „Na ok – wenn das so ist, dann passt das Destillat: ein sauberes, eugenisches gut so, dann könnte ich das schon hin gut? nehmen – für die große Sache.“
Vielleicht (vielleicht!) ist das zu ein- (...) fach gedacht. Alles wird gut Vorher war so klar, was gut ist. Und jetzt? Wir wollen das alte gut zurück! Gibt es das wahre gut? Aber gibt es das denn noch? Vielleicht finden wir es ja. Vielleicht liegt es noch irgendwo rum. Dann können wir es uns ins Fenster stellen, wie eine ausgestopfte Katze: „Schau, wie lieb sie schaut.“ (…) Das gute schlecht
Wenn es das wahre gut gibt, kann man es dann auf Twitter posten? Kann ich ihm followen (#therealgut?). Oder ist das zu klein gedacht? Vielleicht braucht es ein ganzes Buch, um das gut zu fassen. Dann können immer alle reinschauen, wenn sie mal vergessen: „Ach ja, so ist das – genau. Gut!“ 4
Oder anders hineingedacht: Wenn jeUnd: Kann das Schlechte auch gut mand ein Foto von mir macht und sein? Ich meine, kann in der Ge- dann ein anderer auf das Foto deutet schichte oder einer Biographie ein und mir sagt: „Du siehst aber gut aus!“
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So war es natürlich nie – aber im beschlagenen Rückspiegel kann‘s schon so rüberkommen.
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Knallgas oder so – das kennt man ja.
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Gibt es hier eine*n Chemiker*in?
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Das hatten wir doch schon (?)
Bin dann ich gemeint? Bin das (noch) Die vielen Gesichter des gut ich? (Oder nur ein Umriss dessen, was einmal von sich behauptete, ich Also wie jetzt: Nichts ist gut? Oder zu sein?) alles? – Gleichberechtigte guts, die nebeneinander schweben und sich Meine Vermutung: Selbst wenn es misstrauische Blicke zuwerfen? Geht mir gelänge, das gut festzumachen, das (auf Dauer)? Irgendwie müssen wäre es dann schon nicht mehr gut wir ja zusammenleben! Die Haut der (nicht mehr als eine Erinnerung, ein Blase ist ja mitunter recht dünn und Schnappschuss). die „Anderen“ sind dann doch nicht so weit weg, wie man sich das oft Wenn jemand behauptet, es ist gut, gerne so zusammendenkt. dann ist es das sicher nicht (mehr). Vielleicht ist aber auch das, was wir Es wird gut. Das klingt ein bisschen (in unseren hellen Momenten) als unkonkret. Aber vielleicht ist das wirklich gut zu erkennen glauben, nur stimmiger. (Vielleicht sollten wir uns so etwas wie eine Metapher für ein das trauen.) Vielleicht ist das gut nur darunter liegendes gut. Erscheint das gut, wenn es wird (werden darf ). gut in unterschiedlicher Verkleidung? Dringt es in unterschiedlicher Form Und vielleicht fühlt sich das nicht im- ans Tageslicht? mer gut an – ist mitunter auch ungemütlich. Gibt es ein grundlegendes gut, das uns verbindet, statt zu trennen? KönDas demokratische gut ist ja bekannt- nen wir es erkennen (erahnen), wenn lich immer im Werden5! wir eine Schicht tiefer graben? Können wir uns darauf berufen? (Können Wenn wir meinen, es zu kennen und wir es anderen zeigen?) festmachen zu können, ist es schon nicht mehr (gut). Es glitscht uns Brauchen wir nicht irgendwie ein gedurch die Finger wie ein Fisch. Das meinsames gut, um nebeneinader ist auch gut so. existieren zu können (ohne uns die Schädel einzuschlagen)? Aber das muss man erst mal aushalten! Und wenn ja: Wo kommt es dann her? Gibt es jemanden, der es uns vor Und dann ist das nur das kleine, loka- die Nase hält oder uns mit sanftem le gut. Das grätzl-gut, könnte man sa- Druck in seine Richtung schiebt?7 gen. Oder erwächst es in uns – oder besser: Da gibt es aber Grätzl, in denen zwischen uns – als ein Bedürfnis? horchen sie den ganzen Tag Hansi Hinterseer! Und das sind noch die, (...) die mir am nächsten sind – auch wenn es zugegeben etwas schwerfällt, Nun gut. mir das einzugestehen. Muss jetzt los. Meine Katze hockt Nur: Deren gut scheint weniger glit- schon seit Wochen regungslos im schig zu sein. Vielleicht haben sie Fenster und starrt in die Ferne. Essen geschafft, es an die Leine zu nehmen. tut sie auch nichts mehr. Ich glaub, Ein wildes Tier wie das gut, das nichts die muss zum Arzt. mehr liebt als seine Freiheit? Vielleicht muss man es ja bändigen?6 (...)
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Eigentlich ja so: „Das demokratische Wir ist immer im Werden.“ geklaut von Jan-Werner Müller Was ist Populismus? Ein Essay.
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Aber dann muss man auch die Kacke wegräumen!
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D.h. uns ja nicht, denn wir sind ja auf der guten Seite – für die anderen wär‘s vielleicht aber gut.
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ANDREA SCHULZ UND CHRISTOPH ENGELHARD, Gehaltserhöhung – Mut zur Wut Plakatfestival
ES IST GUT, Dilemma I Von moralischen Bedenken geplagt, an denen unsere aufgeklärte Informiertheit Schuld trägt, greifen wir gerne mal zum Freiland-Ei und zum Fairtrade-Kaffee. Jedoch wissen wir dabei genau, dass sich damit nicht plötzlich alles zum Guten wendet. Das Dilemma hat aber gar nichts mit der Kaufwahl zu tun, denn diese ist moralisch solide. Aber das ganze Leben ist durchdrungen von Konsumentscheidungen, als Ersatz für echte Handlungsentscheidungen, als Ersatz für Demokratie. Und so ist eine solch ethisch korrekte Wahl an jeder Stelle, zu jedem Zeitpunkt zu treffen, und das – seien wir ehrlich – können wir uns einfach nicht leisten. Und es wird noch schlimmer, denn eine erhöhte Nachfrage nach moralisch integrer Ware kurbelt selbst am Wachstumsmotor, der mit glänzenden ökonomischen Kennziffern und Fortschritts-Indikatoren (und damit bekanntlich unser aller Wohl) verbunden ist. Dem Expansionsprimat folgend, lässt sich diese Wirtschaft auch nicht von so profanen Dingen wie den Grenzen der Erde stören (deshalb musste diese ja eine Kugel sein!). Sie erfasst ständig neue Lebensbereiche auf immer höheren Ebenen: Bildung, Gesundheit, Pflege, Freizeit, Freundschaft. Selbst ein alternativer, umweltfreundlicher, achtsamer Lebensstil kann durch passende Trainings vermarktet werden.
Diese neuen Märkte bringen auch neue Formen der Arbeit mit sich. Wir nennen es die Informationsgesellschaft – die Arbeit basiert auf Wissen und Emotion, ist intellektuell, kreativ und sozial. Sie zeichnet sich durch einen hohen Grad an Autonomie aus, erfordert Kooperation und Kommunikation. Nach den alten, autoritären Mustern der Fabrik lassen sich solche Tätigkeiten nicht effizient organisieren.
D.H., Arbeit 4.0 home-office, free-lancing, co-working, crowd-sourcing. start-up, project-based, sub-contract, desk-shared. lifelong-learning, hiring-on-demand, bring-your-own-device, digital-nomad.
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MARKUS PENZ, Essay
Dilemma II
Transition: Wo es gut ist
Aha, das Management befindet sich also auch in einem Dilemma, die alten Techniken der Herrschaft fruchten nicht mehr. Ganz im Gegenteil machen sie die Werktätigen krank und depressiv, Talente und Potenziale werden eher verschwendet denn genutzt. Die Organisation der Arbeit behindert die Arbeit selbst, wir werken effizienter ohne Chefität. Doch auf der anderen Seite ist die*der freie Arbeitende nicht frei von Ansprüchen. Selbstmarketing und Selbstkontrolle bis hin zur Selbstausbeutung, neue Risiken und Verantwortungen machen uns nicht frei von einem Sicherheits- und Stabilitätsbedürfnis, das nicht mehr ausreichend von den klassischen Strukturen bedient wird.
Wenn die bisherigen Produktions- und Eigentumsverhältnisse nicht mehr geeignet sind, den kollektiv geschaffenen, gewaltigen Reichtum angemessen zu verwalten und zu verteilen oder auch nur nach den geltenden ökonomischen Regeln zu produzieren, müssen neue Strukturen die alten beiseitefegen und diese Aufgabe übernehmen. Für deren Aufbau werden die schon eingeübte Selbstständigkeit und die latent vorhandenen demokratischen Fähigkeiten dringend benötigt. Die Mittel und Muster der neuen gesellschaftlichen Knotenpunkte liegen dabei nicht schon vor; sie müssen in gemeinschaftlicher Praxis selbst erarbeitet werden. Die neuen Strukturen basieren auch auf Konflikten, denn es muss zu einem Bruch mit alten Werten kommen, und dieser Riss darf, wie auch die interne Dissonanz, Aber wenn wir von der Freiheit gekostet haben, uns selbst nicht negiert werden. Kontinuität erlangt die kooperative organisieren und versorgen, autonom produzieren und le- Kultur dann, wenn aus der Revolte neue Lebensformen ben müssen, wozu noch der ganze Überbau von Staat und werden. Kapital? Es wundert nicht, dass der unverhohlen freche Anspruch, flexibel, diszipliniert, disponibel, selbstständig, Die Kooperationen sind im Kern solidarisch und liefern so kreativ zu sein und dabei sämtliche Risiken selbst tragen die ersehnte Sicherheit. Sie sind inklusiv, weil sie von der zu müssen, sich zwischen Praktikumsstellen zu bewegen Vielfalt profitieren wollen. Sie sind subsidiär organisiert, und gleichzeitig höchste Bildungsabschlüsse aufzuweisen, weil es keine störende Hierarchie braucht, wenn etwas auf dass dies zu Frust führt und uns in eine neue Ökonomie unteren Ebenen entschieden werden kann. Sie sind offen flüchten lässt. und teilen ihr Wissen und ihre Talente. Und sie knüpfen untereinander enge Beziehungen und schaffen so ein staEs reicht! Wir haben die Chance, Wirtschaft und soziale biles horizontales Netzwerk. Diese Brutstätten der DemoStrukturen, kurz alle gesellschaftlichen Institutionen, zu- kratie, Labors der gesellschaftlichen Veränderung, sollen rückzuerobern – um sie effizient zu verwalten. Einen Dia- das notwendige soziale Geflecht bilden, um kooperativ log zu starten, der es erlaubt, Bedürfnisse auszudrücken produktiv zu sein. Und sie sind so auch das geeignete und sich dann auf deren Erfüllung zu konzentrieren. Vehikel für die Transition in eine postkapitalistische, postEinen Raum zu schaffen und Barrieren einzureißen, damit fossile Ökonomie. Dorthin, wo es gut ist. die notwendigen Begegnungen möglich sind.
ES REICHT! Initiativen und Kooperationen, die Ähnliches in Tirol versuchen, und Veranstaltungen zum Thema ‚Transition‘ unter www.transition-tirol.net
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LUKAS GOLLER, Acryl auf vergilbtem Papier
I LIKE – I DO! feld – Verein zur Nutzung von Ungenutztem berichten aus den letzten zwei Jahren Aufbauarbeit und sprechen über Motivation, das Gutfinden und das eigene Tun. Seit mehr als zwei Jahren dreht sich unser Alltag mehr oder weniger um den feld Verein. Aus einer gemeinsamen Spinnerei wurde viel engagiertes Tun, ein gemeinnütziger Verein. Wir sind immer noch voller Ideen und Energie und freuen uns, dass wir es bis hierher geschafft haben und noch viel weiter gehen werden. In diesem Beitrag möchten wir ein paar unserer Erfahrungen schildern, die uns nach wie vor verwundern. Dabei geht es nicht (nur) um die Berge an genießbaren Lebensmitteln, die mit Mühe angebaut werden und dann im Müll landen, sondern um menschliche Verhaltens- und Denkweisen, die uns bei unserer Vereins tätigkeit in einem sehr weiten Spektrum entgegentreten und uns oft in Staunen versetzen bzw. uns zu denken geben. Sich mit anderen austauschen und sehen, wie sie es angehen. Voneinander lernen und sich nicht immer alles diktieren lassen. Selbst anpacken und Ideen und Träume verfolgen, ohne gleich aufzugeben. Das alles ist der feld Verein für uns. Mit der Idee des Mal-schauen-wie-weit-wir-Kommens ist er entstanden. Einmal etwas anfangen und auch weiter als bis zur ersten Hürde denken, dranbleiben, sich vernetzen, sich austauschen und nicht alles wissen müssen – das sind unsere Ziele. In unserem Projekt 1.0 beschäftigen wir uns mit der Ausschussware von Lebensmitteln: Wir sammeln sie bei Landwirten und Gärten in und um Innsbruck, verwandeln sie z. B. in Marmeladen, Suppen oder Chutneys und geben sie nach dem Pay-as-you-wish-System
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weiter. Wir betonen immer, dass es in Bezug auf Lebensmittelabfälle schön wäre, irgendwann nichts mehr zu tun zu haben (also arbeitslos zu werden). Das würde bedeuten, dass es nichts mehr wegzuwerfen gäbe. Aber zwischenzeitlich haben wir noch etwas mehr zu bewältigen: Menschen zu motivieren und zusammenzubringen, Fähigkeiten zu entdecken und auszutauschen, etwas vorzuleben, in der Hoffnung, dass es irgendjemanden ebenso motiviert, selbst aktiv zu werden, gemeinsam zu lernen und uns nicht nur gut zu finden. An dieser Stelle sei allen Mitwirkenden und Unterstützenden gedankt, die es uns ermöglicht haben, diese Erfahrungen zu erleben und durch diesen Text mitzuteilen. Ohne viele Zufälle, eine gute Handvoll Leute, die uns zur richtigen Zeit das Richtige gegeben haben, und eine große Portion gegenseitiger Motivation wären wir nicht hier und nicht seit über zwei Jahren aktiv. Wir freuen uns auf weitere zwischenmenschliche und gesellschaftliche Herausforderungen und neue Begegnungen! Ein Daumen-Hoch auf Facebook scheint der aktuelle Weg zu sein, seine Begeisterung für eine Band, ein Event, ein Statement oder ein Projekt auszudrücken. Gefällt mir. Finde ich gut. Mittlerweile können Emotionen auch schon bildlich hinterlassen werden. Heulen, Lieben, Entsetzen … ganz einfach vom Schreibtisch von zu Hause aus. Während ein Cappuccino bestellt wird auch am Handy oder sonstwo. Der feld Verein hat auch seine Facebook-Seite. Nach einigen Diskussionen mit Mitgliedern wurde sie als niederschwelliges Kommunikationsmittel eingestuft und aktiviert. Wir haben uns bei 1000 Likes ordentlich bedankt und freuen uns über alle, die wir mit unserem Projekt virtuell erreichen. Was auch immer das Daumen-Hoch jedes*jeder Einzelnen bedeuten mag. Wir wissen nicht, wie sehr sich die Liker*innen mit den Hintergründen beschäftigt haben. Was wissen die Gut-Finder*innen über uns? (Schade, dass es dafür noch kein Auswertungs-Tool von Facebook gibt.) Der*Die Verteiler*in von blauen Daumen auf dieser virtuellen Plattform ist wie ein*e Tourist*in, der*die durch die Landschaft reist und alles super findet, der*die sich schnell begeistert und Informationen beim Vorbeiziehen aufnimmt.
CLAUDIA SACHER UND LUZIA DIERINGER, Projektvorstellung
Aber was steckt tatsächlich dahinter? Unser Verein hat derzeit 1163 Likes auf Facebook. Im wirklichen Leben bekommen wir ebenfalls viel Zuspruch: „Ich bekomme euren Newsletter und finde es echt super, was ihr macht!“ „Ich lese immer eure Aussendungen und finde die immer so toll geschrieben!“ „Leider schaffe ich es nie zu euren Treffen, aber ich find es echt klasse, wie ihr euch engagiert!“ Der feld Verein zählt 16 offizielle, reale Mitglieder plus drei Personen im Vorstand. Offizielles Mitglied für das laufende Kalenderjahr wird jede*r durch einen symbolischen Jahresbeitrag von 10 Euro. Es ist kein sonderlich großes Hindernis, Mitglied zu werden, dennoch können sich schwer neue Leute dazu überwinden … obwohl sie den Verein super finden. Woran mag das liegen?
Ein Erklärungsversuch:
Angst vor Verpflichtung: Viele Personen haben scheinbar Angst, dass sie für uns etwas erledigen müssen, dass wir sie für diverse Aktionen einteilen. Dabei beruht das ganze Tun auf Freiwilligkeit – falls du nicht mehr weißt, was das heißt: Mach etwas, weil du es gerne machst. Nicht, weil du dafür etwas bekommst oder es machen musst. Einfach so. Aus Freude. Aus Überzeugung. Dabei schwingen auch die gesellschaftlich anerzogenen Werte mit, die ein Hindernis darstellen können. Nein, das Ergebnis muss nicht immer perfekt sein bzw. bei manchen Sachen gibt es auch kein Richtig oder Falsch. Wir wissen oft selber nicht, welcher Weg zu wählen ist, um unsere Vorstellungen umsetzen zu können. Das war für uns ein langer, aber lehrreicher Prozess. Dinge einfach mal anschubsen und schauen, was passiert. Etwas angehen und schauen, wohin es sich entwickelt. Fehler sind ebenso wunderbar, wie an etwas zu scheitern. Hauptsache, wir nehmen uns daraus etwas mit (zum Beispiel: Das machen wir so nicht mehr!).
Zeit: Der Zeitfaktor ist natürlich nicht unwesentlich. Jede*r arbeitet viel und hat wenig Freizeit. Die Leute müssen arbeiten, damit sie Geld haben, um sich Dinge/Dienstleistungen/Lebensmittel zu kaufen, die sie mit Zeit teilweise selber machen könnten – oft in sozialer Interaktion (z. B. Nähen, Reparieren, Gärtnern). Beim Thema ‚Spontaneität‘ gehen die Meinungen bei uns auseinander. Die eine meint, dass Spontansein nicht immer gut ist: Jeder sollte sich einfach mal etwas herauspicken und zumindest eine Zeit lang einen Fokus darauf richten. Sich mit Muße EINER Sache hingeben und darauf konzentrieren, auch wenn es nur eine gewisse Zeitspanne ist. Die Ruhe in der Durchführung und die Entwicklung eines Projektes mit Freude erleben. Die andere geht davon aus, dass durch Entscheidungen für etwas alles andere automatisch ausgeschlossen wird. Auf sein Gefühl hören und den Impulsen, womit man sich beschäftigen möchte, in dem Moment nachgehen. Die Muße dafür ist da, wenn sie da ist, und nicht dann, wenn sie herbeigewünscht wird (vermutlich wurde deshalb auch dieser Beitrag in letzter Minute eingereicht). Beides gilt auch für unsere Mitglieder: Bringt euch ein, wann und wozu ihr Muße habt. Wir freuen uns über einmaliges Sich-Einbringen genauso wie regelmäßige Inputs – solange es gerne gemacht wird.
Hemmungen: Jede*r erinnert sich vermutlich selbst daran, wie komisch es war und oft auch noch ist, allein das erste Mal irgendwo hin zukommen. Sei es eine neue Klasse, eine neue Hobby-Sportgruppe, ein neues Büro etc. Am liebsten wäre es einem, an der Hand genommen und herumgeführt zu werden, um sich einzufinden und die Umgebung beschnuppern zu können. Als feld Verein wollen wir transparent und offen sein – bei Einladungen zu Veranstaltungen wie auch bei internen Treffen, sodass sich jede*r traut, zu kommen. Der monatliche Jour fixe dient zum Beispiel dazu, einfach mal Hallo zu sagen bzw. sich auszutauschen. Wir möchten bei der Gelegenheit unter anderem über aktuelle Aktionen informieren bzw. neue Ideen und Projekte in der Runde besprechen, Meinungen und Reaktionen einholen oder gemütlich zusammensitzen. Also kommt einfach. Wir beißen nicht.
Fragen wie „Wie darf ich euch helfen?“, „Wie macht ihr das alles alleine?“ zeigen uns die Distanz zwischen den Fragenden und dem feld Verein. „Wir“ sehen „uns“ als eine Gruppe von Personen, die gemeinsam ein Ziel verfolgt. Jede*r bringt ihre*seine Potentiale und Talente ein und formt den Prozess mit – wir und IHR zusammen! Manchen von euch ist es vielleicht nicht bewusst, aber wir sehen eure investierte Zeit, euer Engagement, das den feld Verein mitprägt. Wir wünschen uns, dass ihr nicht nur uns – Claudia & Luzia – als den feld Verein seht. Jede*n, die*der diese Fragen stellt, laden wir dazu ein. Das Wichtigste, was wir aus den letzten zweieinhalb Jahren Vereinsleben mitgenommen haben, ist: TUN. Mit Freude. Ohne Anspruch auf Perfektion oder Regelkonformität. Auch das Gemüse, das wir sammeln und verwerten, entspricht nicht den Kriterien, die irgendwann für den Handel und somit für den Kunden geschaffen wurden. Es gefällt vermeintlich niemandem und muss beseitigt werden. Wir finden dieses unförmige Gemüse gut und machen etwas daraus.
Kontakt virtuell: feld-verein@gmx.at, www.feld-verein.at, facebook: feldverein Kontakt real: Jour fixe (derzeit jeden 1. Dienstag im Monat) im Kochlokal bzw. beim Mittagstisch dienstags in Der Bäckerei in Innsbruck oder nach Vereinbarung
SAUERKRAUTSCHOKOTORTE JA, ECHT, MIT SAUERKRAUT!
125 g ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������weiche Butter 250 g ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ Zucker 1 Packung ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ Vanillezucker 3 ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������Eier 1 Prise ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� Salz 110 g ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������Kakaopulver 250 g ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� Mehl 1 Packung ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� Backpulver 250 g �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� kaltes Wasser 200 g �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������Sauerkraut
1 Butter, Zucker, Vanillezucker, Eier, Salz in einer Schüssel schaumig rühren. 2 Nach und nach Kakao, Mehl und Backpulver hineinsieben. Zum Schluss das Wasser hinzufügen. 3 Sauerkraut sehr fein hacken und unterheben 4 Teig in eine befettete Springform (ca. 24 cm Durchmesser) füllen und bei 160 Grad ungefähr 60 Minuten backen 5 Nach dem Erkalten kann man die Torte mit Glasur überziehen.
SPIELRAUM FABLAB Nach einer zweijährigen Aufbauphase öffnete im Jänner 2016 das erste FabLab Tirols seine Türen.
Ein FabLab (engl. für Fabrikationslabor) ist eine offene, demokratische High-Tech-Werkstatt mit dem Ziel, Privatpersonen industrielle Produktionsverfahren für Einzelstücke und Kleinserien zur Verfügung zu stellen.
zu tauschen, da die damit verbundenen Kosten verschwindend gering wurden. Einige Ökonominnen und Ökonomen sprechen von der Entstehung eines neuen Wirtschaftssystems – der Sharing Economy oder der kollaborativen Commons –, das zumindest parallel zum kapitalistischen System wächst und manchmal damit konkurriert, manchmal kooperiert.
Mit Spannung warteten viele, wann dieses Prinzip den Sprung aus der digitalen Welt in die physische schaffen würde. Und da kam die Entstehung der FabLabs genau zur rechten Zeit, denn sie wollten computergesteuerte Produktionsmethoden in offener Kooperation und damit mit immer geringer werdenden Errichtungskosten weiterentwickeln und das Wissen dazu verbreiten. Besonders der 3D-Drucker inspirierte viele Denker zu utopisch anmuDie Idee zu solchen offenen Werkstätten entstand 2002 tenden Zukunftsvisionen – gerade in Anbetracht der exals Kooperation zwischen der Grassroots Invention Group ponentiellen Wachstumskurve, die für technologische und dem Media Lab des Massachusetts Institute of Techno Entwicklungen typisch ist. logy im Rahmen der an Bedeutung gewinnenden OpenSource- und Grassroots-Bewegung. Kurz zuvor hatte ein Das technische bis gesellschaftliche Potential dieser DynaUmbruch in der digitalen Welt seinen Anfang genommen. mik ist ungebrochen, wenn die Entwicklung auch etwas Über Napster hatten Millionen junger Leute begonnen, langsamer voranschreitet, als es manche Prognosen haben Musik zu nahe bei null liegenden Grenzkosten miteinan- hoffen lassen. Wie immer in solchen Fällen wartet das der zu tauschen. Phänomene wie Wikipedia und Youtube Modell darauf, eine kritische Masse Beteiligter zu übersollten in rasantem Tempo folgen. Die existierenden schreiten, um dann seine volle Wirkung unaufhaltbar zu Märkte, die in unserer Marktgesellschaft üblicherweise al- entfalten. FabLabs verstehen sich also als Keimzellen dieles beherrschen – hier also spezifisch der Musikmarkt und ser Entwicklung und wollen den Zugang zu Wissen und die etablierte Medienlandschaft – konnten nur zuschauen, Technologie niederschwellig verfügbar machen. wie diese neuen Entwicklungen alles nachhaltig ändern sollten. Das Internet machte es also möglich, Verschie- Im Spielraum FabLab Innsbruck, einem Teil der Initiative denstes eigeninitiativ zu erstellen und/oder unentgeltlich Spielraum für alle, finden sich auf 135 m² Rapid-Prototyping-Geräte wie 3D-Drucker, Laser-Cutter, CNC-Fräsen oder Vinylcutter, um eine große Anzahl von unterschiedlichen Materialien und Werkstücken bearbeiten zu können. Das FabLab wird als gemeinnütziger Verein geführt und ermöglicht den Mitgliedern die Nutzung professioneller High-Tech-Geräte, die in den meisten Fällen ganz im Sinne der Open-Source-Community selbst gebaut wurden.
Das Programm und Termine findet man unter fablab.spielraumfueralle.at.
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HEINRICH PAN, Projektvorstellung
„Alles wird gut.“,
stand auf dem Sticker, den ich vor ein paar ungezählten Jahren auf einer Feier in die Hand gedrückt bekam. Ich starrte, etwas starr in meiner aufgesetzten Fröhlichkeit, starrte – auf die drei Worte in meiner Hand. Nicht einmal Alkohol rührte mich an in dieser Zeit und doch war ich, ohne zu wissen wie auf dieser Party erschienen und stand nun, gehüllt in lautes Gejohle und fliegenden Schweiß, inmitten der Tanzfläche. Stand still. Eben noch neben den Takt getanzt, mich selbst vergessend, die Augen geschlossen, war ich schlagartig wach. Wurde passiv von Bein zu Bein gewiegt durch fahrige Hände und Arme, lehnte mich schwankend gegen den Strom, mal zur einen, mal in die andere Richtung und blinzelte – nur um zu schauen, ob alles verschwindet. Ein Wimpernschlag, zwei. Fünf Schläge trommelte mein Herz – und immer noch da. „Alles wird gut.“ Alles? – Ist was, ist wer und vor allem wann wird es gut? Ich tastete nach meiner leicht angerissenen linken Hosentasche und wühlte nach einer Antwort. Irgendwann in dieser Nacht trug mich irgendwer nach Hause, legte mich in mein Bett und deckte mich zu. Einer Episode absoluter Wachsamkeit folgt der tiefe traumlose Schlaf. Und als ich am Morgen erwachte, fiel mir der Stift aus der Hosentasche in die Hand und ich schrieb auf den Sticker auf meinem Kalender mit einem wissenden Lächeln, und ich strich wird hindurch und schrieb ist: ALLES IST GUT. Denn der Moment ist das Einzige, was wir haben. Das ist verdammt noch mal unsere Geschichte, und die wird nicht geschrieben, sondern die schreiben wir und die schreiben wir nicht morgen, sondern jetzt. In diesem Moment.
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ANNA HULTSCH, Geschichte und Collage – Fotografie: Jan Eric Euler // GET OUT THERE collective
DIE MAMA-WG Es waren einmal zwei Frauen, beide jung und glücklich. In Beziehungen, die für die Ewigkeit gedacht waren. Doch schreibt das Leben andere Geschichten, als es sich die Akteurinnen und Akteure oft wünschen würden. Denn beide Paare hatten dem Glück bereits eine Seele gegeben, das Leben weitergehen lassen. Die Kinder machten das Kämpfen um erloschene Beziehungen nicht besser, zu sehr hatten sich die großen Lieben in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Und so kam es, wie es kommen musste – die Trennung stand im Raum, die ganze Welt im Wanken, den Boden unter den Füßen weggezogen. Nach schier endlosen Versuchen, großer Trauer und Enttäuschung war dieser Schritt auch plötzlich eine Wohltat. Ein Schritt weg von etwas, was tot und erloschen war – weg vom Warten und Hoffen, dass alles besser würde, in Richtung: „So ist es jetzt – ich mache das Beste daraus, für mich und mein Kind!“
Und da trafen sie sich. Und sie schmiedeten Pläne, sprachen Befürchtungen aus – aber sie wagten es. Den gemeinsamen Schritt – zusammen mit 2 Buben, die sich freuten, nicht mehr allein zu sein. So, wie es für die Mütter schön war, Freud und Leid, Altes wie Neues, Ängste, Hoffnungen und Abende miteinander zu teilen. Sie begannen, das Alltägliche zu besprechen, Dinge beim Namen zu nennen, die ihnen wichtig waren (Stichwörter: Ernährung, Schoggi-Frage, Grenzziehung, Fernsehzeiten und, und, und). Alles mit jemandem, den man nicht kannte, auf den frau jetzt in Zukunft bauen würde, mit dem sie beide noch keinen Alltag gemeinsam verbracht hatten, um diese alltäglichen Kleinigkeiten zu erleben und den anderen einschätzen zu können. Und der Plan ging auf !
Sie lebten gemeinsam, kochten gemeinsam, die Kinder fuhren Ski und Rad zusammen, Geburtstage wurden gefeiert und Nachbarskinder wurden eingeladen.
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ELISABETH KOFLER, Erfahrungsbericht – Fotografien: Magdalena Kätzler
Und in dieser plötzlichen Leichtigkeit fielen schwere Zeiten nicht so ins Gewicht – Krankheit, weil man wie von der Familie gepflegt wurde; der Kampf gegen die Banken und „das System“, das engstirnig nur die Großen vertritt – weil der Zusammenhalt stärker war. Sie durften großen Zuspruch aus der Umgebung erfahren – es gab Advokaten, die ihre Arbeit kostenlos anboten und kämpften, Hilfe und Angebote aus der Nachbar*innenschaft, z. B. zur gemeinsamen Logistik, und ganz von Anfang auch gute Seelen und Gönner*innen, die von dem etwas abgaben, was sie übrig hatten. Und so durften sie lernen, dass es keine Schande war, nachzufragen und um Hilfe zu bitten. Denn sie erfuhren von altbekannten und erstaunten, erfreuten Gesichtern, auch von sozialen Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern so viel unerahnten Zuspruch, dass sie oft gerührt waren. Und sie durften glücklich sein. Wieder als „Familie“ vereint – neumodern nennt es sich „Patchwork“ –, in einer tiefen Verbundenheit und einem Glück, die sie sich nicht zu träumen erhofft hatten. Dieser Artikel soll Mut machen! Ja – es ist schlimm! Schlimm, wenn eine Beziehung zerbricht. Schlimm für beide Partner – noch schlimmer für die Kinder, denen man etwas mehr Glück, Freude und Stabilität als in der eigenen Kindheit hätte bieten wollen. Aber es geht! Glaubt daran, kämpft wie Löwen und Löwinnen, sucht nach einem Weg – und wenn er stimmig ist, versucht es mit unserem. Wir haben uns gefunden und können das Model Mama-WG nur weiterempfehlen! Ihr seid nicht allein – lasst euch nicht allein mit eurem Kind und eurer Zukunft.
Hier die Alleinerziehenden-Plattform: www.alleinerziehende-tirol.net Frühstück für Alleinerziehende im Eltern-Kind-Zentrum IBK: www.ekiz-ibk.at die ÖH Wohnungsbörse: www.oehweb.at/service/wohnungsboerse Eltern-Kind-Zentren: www.eltern-kind-zentren-tirols.at Tauschmärkte www.ekiz-ibk.at und Familienberatung (kostenlose psychische Beratung) das Tiroler Jugendamt: www.tirol.gv.at Gerichtstag am Bezirksgericht: www.justiz.gv.at
ROSAROT Frühling in Tel Aviv
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ereit zur Landung. Unter meinen Füßen tanzt die Sonne über das glitzernde Meer. Wolkenkratzer ragen an der Küstenlinie in den Himmel, Tel Aviv leuchtet. Wenig später rollen wir über die Landebahn. Es wird geklatscht, gejubelt und geschimpft. Ich bin zu Hause. Irgendwie. Bei Wein und langersehnten Wiedersehen über den Dächern der Stadt vergesse ich das Morgen und das Übermorgen. Endlich klopft mein Herz im Takt der Gegenwart. Erst als mich vier Pfoten und eine nasse Schnauze streifen, werden Erinnerungen wach. Rosa begrüßt mich mit einem lauten Bellen. Ein seichter Wind weht durch die Straßen und nimmt der Sonne ihre Kraft. Zwischen Palmen und klapprigen Parkbänken schlürfen wir Kaffee aus Pappbechern. Deine Hand in meiner. Auf unseren Streifzügen von Nord nach Süd leih ich dir meine bunt gefärbte Brille. Vorbei an blühenden Mohnfeldern und unerwarteten Grenzkontrollen zeigt sie dir das Land durch meine Augen. Hinter jeder fremden Ecke scheint sich eine Geschichte zu verstecken, die darauf wartet, erzählt zu werden.
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Sommer am Meer
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ereit zur Übergabe. Gemeinsam nehmen wir die letzten Bilder von den Wänden. Wenig später verschwinden sie zwischen Luftpolsterfolie und Zeitungspapier auf vollgestopften Reisetaschen in deinem Kofferraum. Der Asphalt funkelt im Sonnenlicht, als ich mich von den Straßen meiner Kindheit verabschiede. Zweifel und Zukunftsängste flüstern mir ein letztes Mal zu, bevor der Fahrtwind sie an der nächsten Kreuzung packt und mit sich nimmt. Zweihundert Meilen weiter nördlich begrüßt mich ein milder Sommerregen. Nach langer Parkplatzsuche bist du fündig geworden. Wir sind da. Betreten meine neue Bleibe und blicken in vertraute Gesichter, die uns strahlend willkommen heißen. Aus der dunklen Küche am Ende des Flurs strömt der Duft von frischer Pizza mit Champignons und Brokkoli. Irgendwo in der Ferne ertönt das Signal eines Schiffes. Ich atme durch. Der Küstenwind hat mich an einen sicheren Ort getragen. Nur eine kurze Autofahrt trennt Kiel vom Strand in Kalifornien. Wellenbrecher ragen aus dem Wasser, das wütend Purzelbäume schlägt.
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Du erklimmst die dunklen Steine, und lässt das Ufer hinter dir. Ich male Wörter in den Sand, die bis zur nächsten Flut verweilen. Ein bisschen Strand bleibt an den Zehen kleben und landet ungefragt in deinem Bus. Auf der ausgeklappten Rückbank ist Platz für dich und mich und Spiderman. Der Sommer raschelt durch die Bäume und lockt uns an die frische Luft. Mit Bier, Musik und Kreuzworträtseln versinken wir auf dem Balkon, bis irgendwer nach Eiscreme fragt. Als ich die Tiefkühltruhe öffne, entdecke ich mein rosa Kleid. Seit im Schrank die Motten hausen, verweilt es knittrig im Exil. Hin und wieder schlüpft der Himmel in ein farbloses Gewand. An faden Nieselregentagen wird die Sonne unsichtbar. Auch wir verschwinden in Gedanken und folgen den drei Fragezeichen bis an den Strand von Rocky Beach. Zwischen Ebbe und Flut mal ich den Sommer in Geschichten. Die einen zeichnet meine Phantasie. Die anderen das Leben.
HANNAH STOBBE, Kurzgeschichte – illustriert von Noelia M. Vidal
Herbst in mir
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ereit zu gehen. Vielleicht. Der Widerspruch hält mich gefangen, ich schweb in einer Zwischenwelt. Such die Nähe in der Ferne und finde Stille im Tumult. Leise summt die Sicherheit ein Lied aus der Konserve. Die Platte springt und pfeift beständig die immergleiche Melodie. Ich spiele Fangen mit der Freiheit und renn ihr laufend hinterher. Eile hastig durch die Straßen, bis mir die Jagd den Atem raubt. Ich bleibe stehen. Schließ die Augen und hol Luft. Der Herbst in mir lernt schweigen. Das Laub verändert seine Farben, als wär es ein Chamäleon. Für einen kurzen Augenblick verzaubert mich der Wandel. Ich verweile im Moment. Lausch meiner eigenen Geschichte. Ich habe aufgehört, zu rennen, und mach mich dennoch auf den Weg. Lass meine Gegensätze tanzen und komme endlich bei mir an.
Winter in Beirut
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ereit für einen Perspektivenwechsel. Andere Orte, neue Menschen. Durch einen Spalt im Häusermeer kann ich den Horizont erkennen. In der Ferne leuchten die schneebedeckten Gipfel der Berge. Lautlos werfen sie ihre Schatten über das tintenblaue Wasser. Beirut umhüllt ein dichter Schleier, die Stadt hält ihren Atem an. Der Winter wirbelt durch die Lüfte und inszeniert ein kurzes Bühnenspiel. Wir verlassen die Tribüne, auf der es kalt geworden ist. Zu Hause pfeift der Wasserkocher mit meiner Heizung um die Wette. Endlich verstummt der dumpfe Klang des Regens, der rastlos an die Scheibe klopft. Ich atme auf. Es ist noch Rotwein in der Flasche, die du im Kleiderschrank versteckst. Ein Teil landet in kleinen Gläsern, der Rest auf meiner Hose. Seit dem Beginn der Regenstürme fließt auch der Strom nicht mehr beständig. Der grelle Schein der Neonröhre verschwindet
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im Minutentakt. Mit meinem rosa Feuerzeug lässt du drei Teelichter erleuchten und knipst die Deckenlampe aus. Das Popcorn aus der Mikrowelle riecht fast ein bisschen wie im Kino. Während ferne Zauberwelten über die staubige Mattscheibe flimmern, verwandelst du dein Ausmalbild in einen bunten Papagei. Zwischen Zedern, Wein und Snickers sammeln wir vereint Geschichten. Sind nicht verwandt und doch verbunden. Auf unsrer Reise durch das Land wird Teilen mit dir zur Maxime. Wir lachen zusammen und gewinnen zu zweit. Tagaus, tagein. Bis die Abreise naht und ich ein letztes Mal die Koffer packe. Ein Rückflugticket gibt es nicht. Bereit zur Landung.
A FUTURE UNDER CONSTRUCTION Freitag, später Nachmittag in Innsbruck. Angekommen bei Jakob zu Hause, lasse ich mich mit meinem Babybauch an seinem Schreibtisch nieder. Vor mir seine Zeichnungen von In einer Welt ohne Erdöl. Ein Wimmelbuch für Kinder und alle, die es bleiben wollen.
Feder im Kamin? Wie funktioniert das mit …?! Warum …?!“
Nun kommen auch mir Ideen: „Was wäre, wenn hier noch zwei Menschen etwas tauschen würden?!“ Da zeigt Jakob in die Ecke links unten: Ich entdecke ein kleines Café, wo ein paar Leute T-Shirts gegen Wecker, BohrEin riesiges Blatt mit unzähligen zar- maschinen gegen Halsketten tauten Bleistiftstrichen spannt sich in schen. einem großen Bogen vor mir auf. Meine Augen schweifen umher von Jakob zieht ein weiteres Blatt aus seilinks nach rechts, von oben nach un- ner Mappe zum Vorschein. Die ten. Ich verliere mich in unterirdi- nächste DIN-A2-große, zum Vertieschen Fahrradgaragen, Glashäusern fen einladende Tuschezeichnung liegt voll von reifen Tomaten und Bananen, vor mir. Thema: ‚Status Quo/Rohstoff‘. halbtransparenten Bildschirmen, die Vor mir der Querschnitt eines Hauses durch Büros schweben, Kindern, die mit hunderten fliegenden Schrauben mit Geckohandschuhen Wände und Drähten, Bettgestellen ohne Mahochklettern, Pilzen, die im Keller ge- tratzen, Bilderrahmen ohne Inhalt, erntet werden, Jung und Alt treffen einem Pool ohne Wände, leeren sich – es findet Begegnung statt, es Badezimmerschränken, einer Dusche wird gespielt und diskutiert. ohne Vorhang, halbnackten Menschen, Autos ohne Reifen, durchsichMeine Augen gleiten über verschie- tigen Gehsteigen … denste Formen von Windrädern auf unzähligen Dächern, menschengroße Wieder tauchen unzählige Fragen auf. Kugelbahnen, die im Boden verschwinden, kleine Bäche, die sich Jakob erzählt mir, dass auf dieser Seite zwischen alten Stadthäusern durch- alle Gegenstände und Dinge, in deschlängeln, Omas und Opas, nen Erdöl steckt, unsichtbar dargedie Geschichten vorlesen, Straßen- stellt werden und nur ihren Schatten musikantinnen und -musikanten, werfen. „Wir produzieren heute Tänzer*innen, Skater*innen auf Hän- Spielzeug und Fußbälle, formen gebrücken, Wissenschaftler*innen vor Smartphones und Fernseher, erschafMikroskopen, Künstler*innen vor fen Autoreifen und Schuhsohlen, fabStaffeleien … Alles erscheint so bunt rizieren Badehosen und Winterjacken, und vielfältig. In meinem Kopf tau- kreieren Lippenstifte und Haarshamchen unzählige Fragen auf: „Was ma- poos, schöpfen Spülmittel und Seifen, chen die Fische da am Dach? Warum gestalten Druckfarbe und Lacke, steht da ein durchsichtiger Dinosauri- asphaltieren Straßen und Plätze, düner im Keller? Was macht die riesige gen Vorgärten und Felder. Wir heizen
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rauf, kühlen ab, treiben an oder bremsen runter. Alles auf der Basis dieser organischen Molekülstrukturen … Erdöl, ein so alter und wertvoller Stoff, der auf unserer Erde nicht unerschöpflich vorhanden und auch verantwortlich für viele aktuelle ökologische Probleme ist.“ Meine Augen wandern über verstopfte Autobahnen und verdreckte Meere. Jakob erzählt mir von dem angestrebten Ziel, im Lauf des nächsten Jahres der Öffentlichkeit das Buch für die erste Auflage als Crowdfunding-Projekt zu präsentieren; von Claudia, die auf einem Bauernhof in Slowenien an den Texten schreibt; von Reini, Ludschi und Tijl, die sich inzwischen über Ideen für Marketing, Logistik und Distribution den Kopf zerbrechen; von Markus und Susanne, die jetzt schon nach lokal produziertem Papier und erdölfreier Farbe für den Druck
JAKOB WINKLER UND JANINE BEX, Projektvorstellung
suchen; von seiner Mama, die ihn wöchentlich mit eingescannten Zeitungsartikeln versorgt. Wie von selbst verlieren wir uns in einer Diskussion über Ressourcenmanagement und Cradle-to-Cradle. Wir unterhalten uns über Recycling und Kreisläufe, Molekülstränge und das Periodensystem, über Wasser- und Sauerstoff. Uff. Genau. Frische Luft. Für ein paar Minuten setze ich mich auf den Balkon, lasse das Gesehene Revue passieren:
Jakob Winkler zeichnet gerade an einem Wimmelbuch für Kinder mit dem Titel In einer Welt ohne Erdöl – Janine Bex hat ihn besucht und gibt einen Einblick in dieses liebevolle Projekt. Für alle, die neugierig geworden sind: Jakob stellt hin und wieder einen Blick auf seinen Zeichentisch online, unter www.instagram.com/jakobjuwee
Die Bilder von Jakob zeigen also nicht nur Möglichkeiten auf – nein, sie eröffnen Fragen, sie erweitern den Horizont und regen an, sich neue Gedanken zu machen. Gedanken, die aber – wenn wir unsere Energie (Geld, Zeit, Wissen ...) darauf verwenden – viel verändern können. Denn diesen Entdecker*innengeist benötigen wir, um die Herausforderungen unserer Gegenwart und vor allem der Zukunft optimistisch anzugehen. Ich rufe mir Jakobs Vision vor Augen, erinnere mich daran, wie er freudig davon schwärmt, dass heute schon unzählige Einzelpersonen und Gruppen auf dem gesamten Planeten an Konzepten für eine enkel*innen taugliche Zukunft arbeiten – Wissen schaft ler*innen und Ingenieur*innen, Bürgerinitiativen und TransitionTowns, Think-Tanks und HUBs, Generationenhäuser und Zwischennutzungen, Stadtwährungen und Zeitbanken, Revitalisierungen und Permakulturen, Lohas und Lovos, Bildings und Spinnereien, Weiß- und Spielräume, Vogelweiden und Bäckereien … – und muss nun auch lächeln. Danke, Jakob. Bleib dran. Deine Janine
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OLIVER OTTITSCH, Comics
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FÜR CHARAKTERKÖPFE UND PROTOTYPEN
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werkstaette-wattens.at Die Werkstätte Wattens ist ein Unternehmens- und Kreativzentrum für Gründer, Startups sowie produzierende und dienstleistende Unternehmen in unterschiedlichen Entwicklungsphasen. Dabei ist uns ein Fokus auf Technologie, Innovation, regionale Wertschöpfung und nachhaltiges Wachstum wichtig. Neben Werkstätten und Produktionsbereichen bieten wir auch einen Co-Working Space, Team Offices sowie ein Fablab zur individuellen Nutzung an.
In unserem Center for Rapid Innovation (CRI) stehen auf über 300qm fünf modernst ausgestattete Labs zur Verfügung: 3D-Drucker, 3D-Scanner, CNC Fräsen, CO2-Laser Cutter, 6-Achs Roboter, Materialdrucker und ein eigener Werkstattbereich inklusive. Werkstätte Wattens – eine Initiative der Destination Wattens Regionalentwicklung GmbH Weisstraße 9, 6112 Wattens, Austria +43 (0)5224 55486-1 hello@werkstaette-wattens.at www.werkstaette-wattens.at
I•WΔNΔ ist eine Vertriebs-
und Förderplattform, die Kreative aus Österreich vorstellt und ihnen die Möglichkeit gibt, ihre Werke als Prints über einen Onlineshop zum Verkauf anzubieten // dieses Projekt soll Kunst und kreatives Schaffen fair und ohne Umwege fördern // von jedem verkauften Print geht ein fairer Anteil direkt an die kreativen Köpfe // I•WΔNΔ bietet außerdem Kunst zum Ausleihen an // i-wana.net
GARDEROBE
Die ist ein 2ndHand-Shop und Atelier // kombiniert werden schöne Stücke aus zweiter Hand mit selbstgenähten Unikaten // jedes Teil ist ein Einzelstück // der Fokus liegt auf Qualität und Zeitlosigkeit der Mode // Individualität mischt sich mit Aktualität // zu finden in der Höttingergasse 26, Innsbruck // Facebook: Garderobe
TIROLER REINE
HERR FRIEDRICH – TYROLEAN GIN Herr Friedrich und Herr Mathias möchten gerne Lebensmittelmüll vermeiden und brennen ihren Tiroler Gin aus Brot von gestern // aus 1000 kg Brot werden in der Therese Mölk Bäckerei 400 Flaschen Gin gemacht // außerdem kommen noch Gewürze und viel Wacholder dazu // Gaumen und Umwelt sind gleichermaßen begeistert // und auch Queen Mum wäre davon gewiss entzückt gewesen // erhältlich in allen MPREIS- und T&G-Märkten // therese-moelk.at
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Diese feinen Seifen riechen nach Birke, Himmelschlüssel, Heu und Alpenspeik und werden in Innsbruck in der Seifenfabrik Walde hergestellt // die Blätter und Blüten der Tiroler Himmelschlüssel, die in die Seifen eingerührt werden, stammen aus Mary‘s Bio-Kräutergarten in Afling // das Heu kommt von Tiroler Wiesen // jedes Stück ist zu 100 Prozent biologisch abbaubar // alle 10 Sorten können beschnuppert werden bei Therese Fiegls Tiroler Edles, Seilergasse 13 oder Walde Seifen, Innstraße 23, beide in Innsbruck // tirolerreine.at
GÜRTELWERKSTATT SANDERS Bernhard Sanders stellt handgefertigte Einzelstücke und Kleinserien her // made in Wilten // die Gürtel sind aus vorwiegend vegetabil gegerbtem Rindsleder aus europäischen Gerbereien // individuelle Logo- oder Namensprägung möglich // angreif-, riech- und probierbar jeden Freitag Nachmittag von 13:00 bis 17:00 Uhr oder nach Vereinbarung // Neurauthgasse 8 ⁄ Feldstraße 5 in Innsbruck // booksandbelts.at // sanders.at
YOU MAWO stelllt maßgefertigte Brillen her, die im 3D-Drucker gedruckt werden // die Brillen werden mithilfe von zwölf veränderbaren Parametern individuell an dein Gesicht angepasst // werden komplett in Deutschland hergestellt // passen auf kleine, große und lustige Nasen // einscannen und beraten lassen kannst du dich bei Wolf Meisteroptik, Leopoldstraße 26, Innsbruck // wolf-optik.at
TIROLER KRAFT BIO-BIER Tirols erstes Bio-Bier // mit Bio-Gerste aus Silz, Aldrans, Sistrans und Rotholz // gebraut nach dem Reinheitsgebot von Starkenberger in Tarrenz im Tiroler Oberland // unfiltriert und unpasteurisiert // dass es ein Zwickel wird, hat sich aber erst während des Brauprozesses herausgestellt // die Tiroler Gerste hat Braumeister Christian ganz schön gefordert // herausgekommen ist dann aber ein richtig gutes Bier // erhältlich in allen MPREIS-Märkten // biovomberg.at
Finden wir gut. 83
Kosmetik, Spirituosen und Schokoladen aus eigener Produktion, Wellnessgutscheine und andere einzigartige Geschenkideen! Mo bis Fr von 08:00 bis 12:00 Uhr SalzstraĂ&#x;e 1 - Zirl www.starkenberger.at
Finden uns gut.
OpenAirKinO im Zeughaus Fr 28.7. bis So 3.9.
20er
Ein Projekt auf Gegenseitigkeit Die Tiroler Straßenzeitung
IMPRESSUM Herausgeber*in Verein Die Bäckerei – Kulturbackstube (ZVR 159775057) Dreiheiligenstraße 21a, 6020 Innsbruck undheft@diebaeckerei.at www.diebaeckerei.at Redaktion Christina Mölk, Julia Scherzer Layout und Gestaltung Simone Höllbacher, Christina Mölk, Johanna Mölk Gestaltung Inserate und Logos Lukas Goller (Bio vom Berg, Starkenberger, Swarovski, Wolf Meisteroptik), Noelia M. Vidal (Brand Logic, Filmlicht, WK-Tirol) Coverbild Klaus Schennach Lektorat Markus Helge Debertolo, Lukas Hacksteiner Sponsorenbetreuung Asolcija Mamaril
Hinweis Für eingesandtes Bild- und Textmaterial wird keine Haftung übernommen. Für die Inhalte sind die jeweiligen Verfasser*innen selbst verantwortlich. Die Redaktion versucht, unterschiedlichen Meinungen Raum zu geben, auch wenn diese nicht in jedem Fall der ihren entsprechen. Dankeschön Christoph Grud, Johanna Huter, Julia Mölk, Stefan Österreicher, Gudrun Pechtl, Patrick Redolfi, Marcell Schrittwieser Druck Grasl Druck & Neue Medien GmbH Auflage 700 Stück Erscheinungsjahr 2017
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Das UND* will Raum geben. Raum für u nterschiedliche Perspektiven und Herangehensweisen. Und sie alle dürfen gleichwertig nebeneinander existieren – das wäre unser Wunsch, nicht nur für dieses Heft. Das UND will Menschen zusammenbringen, zum Austausch anregen und zum Mitmachen motivieren, egal, ob jemand professionell textet, zwischenzeitlich kreativ arbeitet oder einfach ein großartiges Projekt vorstellen will, das gerade zum Thema passt. Redaktion, Kommunikation, Layout, Lektorat und das jeweilige Thema werden von uns zur Verfügung gestellt. Alles, was dazwischenpasst, kommt von euch. Wir sind interessiert an allem, was nachdenkt, abweicht, alterniert und sich beschäftigt. Du möchtest mitmachen? Wir freuen uns über Beiträge, Kritik und Unterstützung. Für jede Ausgabe suchen wir Menschen, die illustrieren, redigieren, schreiben, mitdenken, durchhängen und mit uns die Welt neu erfinden. Melde dich bei unserem Newsletter an und wir halten dich auf dem Laufenden: www.diebaeckerei.at/das-und-heft/und-newsletter.html Natürlich freuen wir uns auch über Post und Feedback: undheft@diebaeckerei.at *Heft für Alternativen, Widersprüche und Konkretes
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