UP #690: Bewegung (November 2017)

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UNI:PRESS STUDIERENDENZEITUNG DER ÖSTERREICHISCHEN HOCHSCHÜLERiNNENSCHAFT DER UNIVERSITÄT SALZBURG — #690 November 2017 —


14.12. BlOzinGER 15.12. tHE HElmut BERGERs|JuliAn nAntEs 9. & 10.1. mAsCHEk A R G E k u lt u r | u l r I k E - G S C H W A N D t N E r- S t r A S S E 5 5020 SAlzburG|+43-662-848784|www.ARGEkultuR.At

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IMPRESSUM Medieninhaberin: Hochschülerinnen- und Hochschülerschaft an der Paris Lodron Universität Salzburg (ÖH Salzburg), Kaigasse 28, 5020 Salzburg, www.oeh-salzburg.at, sekretariat@oeh-salzburg.at / Herausgeber: HochschülerInnenschaft / Pressereferentin: Carolina Forstner / Layout: Michael Seifert / Lektorat: Julia Kellner & die Redaktion/ Anzeigen und Vertrieb: Martina Winkler Redaktion (Kontakt: presse@oeh-salzburg.at): Carolina Forstner, Sandra Grübler, Hannah Wahl, Carlos Reinelt, Christoph Würflinger / AutorInnen in dieser Ausgabe: Carolina Forstner, Hannah Wahl, Carlos Reinelt, Michael Seifert, Christof Würflinger, Antonia Fa, Silvia Leitner, Christof Fellner, Christine Gnahn, Wiebke Fischbach, Felix Klein, Alexander Schlair, Kay Michael Dankl, Bildungspolitisches Referat der ÖH Salzburg, Alfons Kaufmann, Roni Keidar, Stefan Klingersberger, Jana Nopper, Alan Schink. Druckerei: Ferdinand Berger & Söhne Ges.m.b.H. / www.berger.at / Auflage: 7.000. Für Verbesserungsvorschläge und kritische Hinweise sind wir sehr dankbar. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung des jeweiligen Autors/der Autorin und nicht immer die Sichtweise der Redaktion wieder.

FOTO: OTTO ReiTeR

RoterSalon No.111


EDITORIAL

Carolina Forstner

Hannah Wahl

Carlos Reinelt

Michael Seifert

Christoph Würflinger

Liebe LeserIn „Bundespräsidentenstichwahlwiederholungsverschiebung“ wurde im vergangenen Jahr zum Österreichischen Wort des Jahres gewählt und persiflierte die Anfang Dezember ausgetragene Bundespräsidentenwahl. Dadurch blieb der Wählerschaft nicht viel Verschnaufpause - im Mai dieses Jahres zerbrach die große Koalition, vorgezogener Wahltermin 15. Oktober. Sebastian Kurz‘ Ambitionen erinnerten an einen gewissen Jörg H., der die Freiheitliche Partei seinem eh schon marginalen liberalen Flügel beschnitt, und darin gipfelte, dass er die Partei 1995 in „F-Bewegung“ umbenennen wollte. Politische Einzelkämpfer als Must-Have des diesjährigen Wahlkampfes: Auf der einen Seite Sebastian Kurz, der, schlumpfblaues Eis verteilend, die ÖVP noch weiter rechts positionierte. Auf der anderen

Seite Peter Pilz, der mit einer One-Man-Show und nicht vorhandenem Parteiprogramm versuchte, eine BürgerInnenbewegung zu formieren. Beide galten als große Wahlsieger, nur einer von beiden wird nach neuesten Enthüllungen wirklich ins Parlament einziehen. Unter www.oewort.at können übrigens nicht nur Wörter, sondern auch Unworte zum Wort des Jahres 2017 gewählt werden und das Beste daran: JedeR darf mitmachen! Wir wünschen euch viel Spaß beim Lesen! Deine Redaktion Fragen, Wünsche, Anregungen, Kritik wie immer an presse@oeh-salzburg.at

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INHALT

in halt

BEWEGUNG

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"Das Schwein von Salzburg ist mittlerweile ein Mythos" Interview mit Dr. Ewald Hiebl Sind Salzburgs "Identitäre" tot? Ein Faktencheck im braunen Sumpf

Kann Politik uns bewegen? fellner’sche weisheiten Geschichte der ArbeiterInnenbewegung Wenn Schwimmen Freiheit bedeutet

Als sich in Österreich was bewegte Die Friedensbewegung in Österreich

UNI & LEBEN

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Neues aus dem Vorsitzbüro

Fragt eure Profs Interview mit Univ.-Prof. Dr. Gottwald

Hasst der Rektor Studierende? Erfolg für Studierende GesWi-Mensa bleibt. Protest zahlt sich aus! Ritalin runter, Widerstand rauf!


INHALT

POLITIK & GESELLSCHAFT

36 38 40 42 44 48 50

Die Qual (nach) der Wahl

Grün war die Hoffnung

Weil ich (k)ein Mädchen bin Ein Plädoyer an die Weiblichkeit und ans Frausein Unsicherheit Movement. Roni Keidar about her Life in Israel Demokratie heißt Volksherrschaft

Die Ideen sterben nicht

KULTUR & MENSCHEN

54 56 60 62 66

Mozarts Erb*innen Salzburgs musikalische Zukunft Liebe

Des Pudels Innereien

Der ultimative uni:press Beisltest Teil 3 – Maxglan

versus Fiat Multipla

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Ein Interview mit dem Historiker Dr. Ewald Hiebl über „68“ in Salzburg und Österreich Von Hannah Wahl

uni:press: Studierendenbewegung – das war ja auch immer ein Aufbegehren gegen tief verwurzelte „Werte“ und Autoritäten. Wie kann man sich die Gesellschaft zu dieser Zeit vorstellen? Woher kam das Protestpotential? Hiebl: Es war sicherlich so, dass die Gesellschaft in den 60er Jahren noch sehr stark hierarchisch geprägt war: Autoritäten spielten eine große Rolle, die wurden wenig hinterfragt – es war auch nicht erlaubt, sie zu hinterfragen. Auch an den Universitäten war so etwas wie Demokratie oder die Ansicht, dass das bessere Argument gewinnen würde, keineswegs verbreitet. So kam es auch zu massiven Auseinandersetzungen, da die Autoritäten entsprechend auf solche antiautoritären Bestrebungen reagiert haben. uni:press: Der Spruch „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“ ist ja gemeinsam mit der Studierendenbewegung in die Geschichte eingegangen. Wie muss man sich die Universitäten zu dieser Zeit konkret vorstellen? Hiebl: An den Universitäten muss man das etwas differenzierter sehen. Universitäten sind ja auch in sich heterogen. Es gab zwar sehr viele autoritäre Professoren, aber Ende der 60er Jahre auch einige liberale Professoren und besonders die jungen Lehrenden an den Universitäten, oft Assistenten, die diesen Forderungen nach mehr Liberalität recht offen gegenübergestanden sind. Also dieser „Muff von 1000 Jahren“ war sicher da. Spannend ist auch, dass gerade liberale Professoren, auch in Salzburg, oft die Zielscheibe der

Kritik waren. Die haben die Kritik auch zugelassen, während die autoritären Professoren so etwas sofort unterbunden haben. Die Möglichkeit zur studentischen Beteiligung, die Lehrende sich heute wünschen, musste damals noch [von den Studierenden] eingefordert werden. Liberale Lehrende hatten da auch kein Problem mit der Forderung nach einem aufgeklärten Diskurs, bei dem nicht der Lehrende immer Recht hat. Oft haben junge liberale Lehrende dieses studentische Anliegen unterstützt, manchmal standen sie der Studentenbewegung auch aktiv als Berater zur Seite und waren somit ein bisschen Teil der Avantgarde – aber als ProfessorInnen. So wie sich bei den Studentenprotesten 2009 auch keiner der ProfessorInnen in Hörsaal gelegt haben. Aber viele haben gesagt: Des passt scho! uni:press: Was waren die zentralen Forderungen, beziehungsweise politische Inhalte der Österreichischen Studierendenbewegung? Hiebl: Man forderte zum einen eine liberalere Gesellschaft, kämpfte für mehr Freiräume und Orte der Selbstbestimmung, wie zum Beispiel Kulturzentren. An den Universitäten und in den Studentenheimen waren solche Freiräume schon teilweise vorhanden, die die Studierenden nutzen konnten. Ein weiteres wichtiges Thema war zweifelsfrei der Rechtsextremismus. Wir wissen alle, dass die Entnazifizierung in Österreich zwar stattgefunden hat, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Die Studierendenbewegung hat da immer darauf gepocht, dass Österreich Verantwortung übernimmt und dass Nazis auch zur

Dr. Ewald Hiebl forscht und lehrt am Fachbereich Geschichte an der Universität Salzburg. Seit seiner Diplomarbeit (1991) befasste er sich immer wieder mit der Studierendenbewegung. Die neueste Publikation beleuchtet „68“ als Generationskonflikt: Ewald HIEBL, „Trau keinem über 30“, in: Lukáš Fasora, Ewald Hiebl u. Petr Popelka (Hrsg.), Generationen in der Geschichte des langen 20. Jahrhunderts – methodisch-theoretische Reflexionen, Wien 2017, S. 165–180 *Gekürzte Fassung. Die Langversion findet ihr auf unipress.oeh-salzburg.at


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Verantwortung gezogen werden. Zentral war auch die Beschäftigung mit dem aggressiven Imperialismus der Großmächte und dem Vietnamkrieg. Interessant ist, dass hier die USA das Feindbild der Studentenbewegung darstellten, nicht aber die ebenfalls imperialistische Sowjetunion. Das ist der Tatsache geschuldet, dass die Studentenbewegung eine linke Bewegung war und daher ihre Forderungen vor allem an die USA richteten, die auch der zugänglichere Adressat für die Bewegung waren. Das vierte große Thema der Studierendenbewegung – und manche sagen, sie hätte „68“ erst gekeimt – war die Frauenfrage. So richtig bricht sie erst in den 1970er Jahren mit der vermehrten Gründung von Fraueninitiativen etc. aus. Fünftes Thema ist die Verwirklichung einer sozialistischen Gesellschaft – die sich natürlich daran orientierte, wo man politisch verankert war. Es war die Idee einer solidarischen, weniger hierarchisch geprägten Gesellschaft, die sicherlich eine große Rolle gespielt hat. Das letzte große Thema wäre im Bereich der Kultur und der Lebensführung zu verorten: Freiheit, Autonomie und Selbstständigkeit – als Individuum und auch in der Gruppe der „Jungen“. „68“ war schon auch ein Generationenkonflikt: Man wollte sich keine Vorschriften mehr machen lassen, weder im sexuellen Bereich noch Kleidung betreffend. uni:press: Wenn man an Wien denkt, kommt einem gleich die Uni-Ferkelei in den Sinn. Was passierte in Salzburg? Welche Protestformen gab es?

Hiebl: „68“ war in Salzburg tatsächlich nicht viel los, wenn man jetzt große spektakuläre Aktionen im Kopf hat. In Salzburg beginnt das alles ein bisschen später. 1968 werden in Salzburg jedoch die Bewegungen in Deutschland, Frankreich, den USA und natürlich auch die in Wiener Aktivitäten rezipiert. Es gibt eine aktive Kulturbewegung, die sich für moderne Schriftsteller stark macht. Die Aktionen waren aber jedenfalls nicht vergleichbar mit den Happenings in Wien. Im Mai 1970 fand eine sehr bekannte Ferkel-Aktion statt, bei der ein eingeseiftes Ferkel bei einem Zapfenstreich und einer Angelobung des Bundesheeres am Salzburger Residenzplatz losgelassen wurde und diesen feierlichen Akt völlig zerstörte. Angehörige des Bundesheeres haben dann versucht dieses Ferkel wieder einzufangen, was ihnen aber nicht gelungen ist. Dann gab’s Schmährufe von dieser Seite, dann von den Studierenden. Auch die PassantInnen haben sich eingemischt: „Rasierts euch mal“, „Schneids eich die Hoar!“, „Gehts endlich moi wos oarbeiten!“ oder „Unter‘m Hitler hätt’s des ned geben!“ Da sind diese Dinge, die die Studierenden der Gesellschaft immer vorgeworfen haben, nämlich dass der Faschismus noch knapp unter der Oberfläche tickt, zum Ausdruck gekommen. Im Mai 1972 fand die größte Aktion in Salzburg mit mehreren tausend DemonstrantInnen statt, als der US-amerikanische Präsident Nixon auf dem Weg nach Moskau in Salzburg zwischenlandete. Dabei gelang es Leuten, die Absperrungen zu überwinden und die Landung der Air Force One so um eine halbe Stunde zu verzögern. Wie man sich vorstellen kann, hat das heftigste Reaktionen hervorgerufen: Das wäre

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eine Blamage für Österreich usw. Verbunden wurden diese mit Mutmaßungen, die Bewegung würde von bundesdeutschen AktivistInnen bzw. TerroristInnen unterwandert werden. Für die Protestbewegung war die Aktion ein Triumph. Ich würde sagen, dass das der Höhepunkt der wahrnehmbaren Salzburger „68er“-Bewegung war. Wobei meines Erachtens nach der Veränderung in den Köpfen noch viel wichtiger war, und die fängt zweifelsfrei schon 67/68 an, indem man Marx liest, indem man Mao liest, indem man Marcuse liest, die Frankfurter Schule rezipiert und Blicke über den Tellerrand wirft. Auch der Mut gehört dazu, endlich aktiv zu werden. uni:press: Kann man die Studentenbewegung dann eigentlich als eine Bewegung verstehen, wenn sie so heterogen zusammengesetzt war? Hiebl: Das ist schwierig zu sagen. Bewegungen haben ja eine Dynamik: Sie finden zusammen und trennen sich wieder. So hat man in gewissen Bereichen zusammengearbeitet, in denen man die gleichen Interessen hatte. Im Protest gegen das Polizeivorgehen bei der Störung des Zapfenstreichs waren interessanterweise die konservativen Studierenden der Österreichischen Studentenunion, die der ÖVP nahestanden, auch auf Seiten der störenden Studierenden. Das zeigt auch ein verändertes, liberales Verhältnis zwischen den Gruppierungen, auch zwischen linken und konservativen. uni:press: Bei „68“ denken viele an Straßenschlachten in Paris oder Berlin – nicht unbedingt an Österreich, wo es im Vergleich ja relativ ruhig zuging. Manche sprechen gar nur von einer „heißen Viertelstunde“. Kann man den Begriff der

„Bewegung“ hier ganz in Frage stellen? Hiebl: Nein, also eine Viertelstunde ist ein bisschen kurz. Die Studierendenbewegung zerfällt ja dann in neue Bewegungen. Die „68er“ schaffen es nicht bis zur Institutionalisierung, aber das ist ja auch typisch für soziale Bewegungen. Ich würde sagen, „68“ war mehr als eine kollektive Episode und schon so etwas wie eine soziale Bewegung, die zumindest über ein paar Jahre hinweg mit wechselnder Führerschaft aktiv war. Für mich persönlich spricht nichts dagegen, auch in Österreich von einer sozialen Bewegung zu sprechen. uni:press: Sie haben schon angesprochen, dass die primären Ziele vielleicht unwichtiger sind, weil man von einem gesellschaftlichen Wandel sprechen kann. Gab es etwas im Kleinen, das konkret werden konnte? Hiebl: Es gab ja in den 1970er Jahren die Demokratisierung der Universitäten, die jedoch nicht nur auf die „68er“-Bewegung zurückzuführen ist, sondern auch auf eine liberale Politik. Aber auch das war ein Anliegen der Studierendenbewegung, die Universitäten zu einem demokratischeren Ort zu machen, an dem Studierende mitbestimmen können und dürfen. Die berühmte Drittelparität ist dann eingeführt worden, auch wenn sie Studierenden nur ein Drittel Mitbestimmung überlässt – aber immerhin! Da würde ich sagen war die „68er“-Bewegung schon erfolgreich. Diesen „Muff von 1000 Jahren“ hat man meines Erachtens nach relativ schnell weggebracht, auch wenn‘s natürlich autoritäre Professoren weiterhin gab. Konkreter war vielleicht noch die Abschaffung der Fristenlösung, die natürlich nicht allein auf den


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Aktivismus der Studierendenbewegung zurückzuführen ist, aber eben auch die Schaffung von Kulturräumen – in Salzburg die ARGE. uni:press: Bis auf die uni-brennt-Bewegung 2009/2010 ist es ja relativ ruhig geworden an den Universitäten. Ist inzwischen alles toll geworden oder sind Studierende heute weniger politisch? Hiebl: Das ist auch eine schwierige Frage. Man muss sich von der Vorstellung lösen, dass „68“ eine starke Massenbewegung war. Es waren Gruppen von Studierenden, die aktiv waren, aber die Vorstellung, dass da praktisch drei von vier Studierenden ständig auf der Straße gestanden sind, das hat es auch nicht gegeben. Ich finde, 2009 war eine sehr spektakuläre und bemerkenswerte Aktion, vor allem in ihrer Dauer, Vehemenz und Hartnäckigkeit – aber auch das war eine Aktion von wenigen. Ich glaube, dass das immer nur wenige waren und es heutzutage gar nicht so leicht ist, wohin man den Protest richten soll. Wo sind angreifbare Feindbilder für Demonstrationen, wogegen demonstriert man, was ist ein Thema, wie betrifft einen das? Ich traue mich nicht zu sagen, dass die Studierenden konservativer werden; sie werden halt anders. Meine Botschaft ist, dass man nicht so schwarz-weiß malt und sagt, damals waren alle politisiert und heute

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niemand mehr. Das Problem der mangelnden Mobilisierung war auch „68“ da. uni:press: Ich gehe davon aus, dass es damals legitim für Studierende war, gesellschaftliche Themen anzusprechen. Das kommt mir heute nicht mehr so vor. Wenn zum Beispiel eine ÖH zu Protest gegen die Regierungsbildung durch ÖVP und FPÖ aufruft, dann gibt es viel mehr Kritik, nicht von rechter Seite, sondern von sogenannten unpolitischen Menschen. Mir kommt es so vor, dass Politisierung mehr in der Kritik ist. Hiebl: Das würde ich auch unterstützen. Ich glaube schon, dass die 1960er Jahre und die 1970er Jahre stärker politisierte Jahrzehnte waren als heute. Diese Kritik, wie die ÖH sich verhalten soll, ist aber nicht neu: Service-Orientierung oder gesellschaftliche und politische Partizipation. Da sind die Fronten relativ klar: Da die rechten und konservativen Gruppierungen, die für Service-Orientierung sind, und dort die anderen, die die Welt mitgestalten wollen. Man sieht ja an den ÖH-Wahlen, dass viele Studierende nicht links sind. Die Vorstellung, dass die junge Generation die Welt verändern will, ist falsch. Das gilt übrigens auch für „68“: Die linken Gruppierungen haben 50% der Stimmen gehabt, aber 50% haben für die anderen gestimmt. Aber immerhin, das ist schon ein Zeichen.

Hannah Wahl studiert Geschichte, ist Vorsitzende der STV und als Journalistin tätig.


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Wenig rechtsextremen Gruppierungen wurde in Österreich in den vergangenen Jahren medial mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als der sogenannten Identitären Bewegung. Auch wenn die rechten JungreckInnen in den letzten Monaten mehr und mehr der Lächerlichkeit preisgegeben wurden, die sie auch verdienen (man denke nur zuletzt an den absurden Versuch der Identitären, Europa im Mittelmeer zu „verteidigen“, der im Fiasko endete und führende Kader kurzfristig sogar als mutmaßliche Schlepper gesiebte Luft atmen ließ), geht von ihnen zumindest in der Steiermark und Wien nach wie vor eine nicht zu unterschätzende Bedrohung aus. Doch wie ist die Situation in Salzburg? Ein Faktencheck im braunen Sumpf von Antonia Fa*

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n ihrem Selbstverständnis verstehen sich die Identitären als „Bewegung“, wollen also nicht nur als kleine Gruppe versprengter völkischer SpinnerInnen wahrgenommen werden, sondern inszenieren sich als eine von einer „breiten Masse getragenen Bewegung“, was in erster Linie durch eine durchaus geschickte Medienarbeit geschieht. Einzelne Aktionen werden professionell gefilmt und überarbeitet, um das Bild einer ( jugendlichen) „Massenbewegung“ zu erzeugen. Diese Illusion zerbröselt allerdings schnell, sobald man etwas tiefer in die Materie eintaucht und erkennt, dass die AkteurInnen meistens dieselben sind. Gerade abseits von Wien und der Steiermark wird die „Bewegung“ von einem relativ kleinen Kader an AktivistInnen getragen – fallen zentrale Personen weg, kommt die lokale Aufbauarbeit auch schnell ins Stocken, wie das Beispiel Salzburgs nur zu deutlich illustriert:


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In der ersten Zeit nach Gründung der Salzburger Gruppe ist man hier äußerst aktiv, hat man doch mit Edwin Hintsteiner einen lokalen Führer, der scheinbar seine ganze Kraft und Energie einsetzt, um die Salzburger Gruppe zu einer schlagkräftigen Truppe auszubauen. Hintsteiner war während seiner Schulzeit im Ring freiheitlicher Jugend (RFJ), der Jugendorganisation der FPÖ aktiv, wurde jedoch 2012 ausgeschlossen (was nicht bedeutet, dass damit die Bande zur FPÖ gekappt worden wären, wie in der Folge noch gezeigt werden wird). Hintsteiner ist bereits in der Gründung der Identitären in Österreich involviert, 2013 wird er dann auch offizieller Landesleiter der Identitären Bewegung Salzburg. Die Aufbauarbeit in Salzburg beginnt er allerdings bereits in den Monaten zuvor: Im Oktober 2012 geht die Salzburger Seite der Identitären auf Facebook online. Bald wird auch stolz die erste „Aktion“ dokumentiert: Mitglieder der Gruppe haben mit Straßenmalkreide ihre Propaganda in Hallein verkündet. Im November verkleben und verstreuen Identitäre QRCodes, die auf ihre Propaganda-Seiten verweisen, quer durch Salzburg und Hallein, darunter auch einige Schulen. In der Folge tauchen auch erste selbstgemachte Sticker und Plakate auf. Anfang Dezember wird in Puch über einer Straße ein Banner gehisst. Ansonsten läuft 2012 noch nicht allzu viel, auch wenn auf Facebook gerne Slogans, Berichte über Aktionen aus anderen Städten sowie Freiwild-Songs geteilt werden. Auch das Jahr 2013 startet noch eher ruhig, im März versuchen sie sich zum ersten Mal an einer größeren Transparent-Aktion beim Neutor, für die sich die KameradInnen dann auch stolz auf Facebook auf die (virtuelle) Schulter klopfen. Anfang 2013 kündigen sie zudem einen ersten Stammtisch in Salzburg an, der dann am 23. März des Jahres auch stattfindet und im April mit einem weiteren Treffen fortgesetzt wird. Waren die beiden ersten Stammtische noch an klandestinen Orten organisiert, findet der dritte im

Mai im Gasthaus Lehenerwirt statt. Im Juni trifft man sich dann gleich zweimal und zwar einmal in Hallein in der Pizzeria Bella Palma und ein weiteres Mal beim Lehenerwirt. Kurz darauf wird – wie könnte es in solchen Kreisen auch anders sein – ein erstes „Sonnwendfeuer“ auf dem Tannberg (Nähe Wallersee) organisiert. Im Sommer 2013 wagt man sich dann an die erste Aktion bei Tageslicht: Vor der Salzburger ÖVP-Zentrale demonstriert ein kleines Häufchen gegen eine vermeintliche „Überfremdung“ Österreichs. Kurz darauf richten die Salzburger das erste österreichweite „Identitäre Sommerfest“ aus. Es folgen Stammtische im Lehenerwirt und im Zipfer Bierhaus. Ansonsten bleibt die Salzburger Gruppe 2013 hauptsächlich online aktiv und zieht nachts immer wieder durch die Gegend, um ihre grausigen Sticker zu verkleben. Auch 2014 finden regelmäßige Stammtische statt (wenn auch nicht – wie immer wieder angekündigt – im Monatsrhythmus) – bevorzugt im Lehnerwirt, Hauser Stubn, Zipfer Bierhaus und Stadtheuriger Weinstöckl. Offenbar bekommen sie dabei auch irgendwann Besuch linker AktivistInnen, denn ab Oktober 2014 finden die Stammtische wieder an „geheimen“ Orten statt, die nur nach persönlicher Kontaktaufnahme preisgegeben werden. Zwar wird wieder eine „Sonnwendfeuer“ auf dem Tannberg organisiert und an bundesweiten Aktionen teilgenommen (wie Demos in Wien und Graz), ansonsten schaut es aber in Salzburg eher mau aus: Da müssen dann auch schon ein Transparent auf einer Salzburger Autobahnbrücke und eine Winterwanderung mit bayerischen KameradInnen auf Facebook als große Widerstandsleistungen herhalten. Eine groß angekündigte Transparent-Aktion gegen eine Asylunterkunft in der Riedenburgkaserne Ende Dezember geht dann auch ordentlich in die Hose, da AntifaschistInnen binnen kürzester Zeit das Transparent und die in der Nähe aufgebrachten Sticker entfernten und durch ein neues Transparent ersetzten.

* Der Name wurde von der Redaktion geändert

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Das Jahr 2015 startet dann mit einem Eklat, als Salzburger Identitäre das Gedenken an die Opfer des Anschlages auf das Charlie-Hebdo-Hauptquartier für ihre rassistische Propaganda missbrauchen wollen. Für Aufregung sorgt nicht nur die menschenfeindliche Propaganda der Rechtsextremen, sondern vor allem auch die Teilnahme an der Aktion von FPÖ-Gemeinderat Andreas Reindl. Auch wenn den Identitären bei dieser Aktion massiver Gegenwind entgegenschlägt, ist man offenbar entschlossen, 2015 aus der wohligen Stammtisch-Atmosphäre herauszukommen (auch wenn relativ regelmäßig Stammtische an geheimen Orten stattfinden): Startet man zuerst noch verhältnismäßig harmlos mit Flyer-Aktionen, fühlen sie sich Ende Jänner offenbar stark genug, offen die Konfrontation zu suchen. Am 27.1. stören einige Mitglieder der Gruppe eine Diskussionsveranstaltung in der TriBühne Lehen zum Thema „Vielfalt in Gefahr, neue Formen des

Rassismus“, halten ein Transparent hoch und kotzen ihre „Heimat, Freiheit, Tradition! Multikulti Endstation!“-Slogans heraus. In den nächsten Monaten folgen Plakataktionen gegen Asylquartiere, linke Zentren und „88gegenrechts“, eine Transparentaktion gegen „den großen Austausch“ am Baustellengerüst der GESWI und die „Umbenennung“ der Ortsschilder von Hallein in „Istanbul?“. Im Zuge der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 entdeckt die Gruppe die Grenze nach Freilassing für sich. Nach einer eher unspektakulären „Dachbesetzung“ des ehemaligen Grenzpostens Freilassing wird am 12.12. eine Demonstration in Freilassing unter dem Motto „Wir sind die Grenze“ organisiert. Bei dieser und zwei Folge-Demonstrationen Anfang 2016 kommt dann öffentlich zusammen, was so offensichtlich zusammengehört: Ein breites Spektrum an Gestalten aus der recht(sextrem)en Szene, von Identitären über Burschis


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(zum Beispiel Akademische Burschenschaft Gothia zu Salzburg) bis hin zu Neonazis mit Reichsadler-Pullovern. Die Ironie, dass sie die Grenze von der falschen Seite her (nämlich auf der Straßenseite von Deutschland nach Österreich) schließen wollen, erschließt sich den anwesenden „VerteidigerInnen des Abendlandes“ offenbar nicht. Im Februar 2016 versuchten die Identitären österreichweit regelmäßige Mahnwachen „für die Opfer des Asylchaos“ zu etablieren – so auch in Salzburg am Mirabellplatz. Schnell sorgt antifaschistischer Gegenwind allerdings dafür, dass der Spuk bald wieder vorbei ist – auch dieses Mal ist es mit der „Mobilisierung der Massen“ nichts geworden. Dafür zeigt sich in den folgenden Monaten deutlich, wie eng die Identitären auch in Salzburg mit dem deutschnationalen Burschi-Milieu und der FPÖ verbunden sind: Waren Mitglieder der Gothia auch schon bei den Demonstrationen in Frei-

lassing dabei, so wollen sie sich jetzt offenbar noch intensiver für die Sache einsetzen und organisieren im März einen „Identitären Abend“ in ihrer „Bude“ (Bilder der Veranstaltung sprechen für sich: Glatzen neben Burschis – mit dabei auch Mitglieder anderer deutschnationaler Verbindungen). Im Juni feiern dann Identitäre und Burschis der Gothia gemeinsam ein Sonnwendfest auf der Trattbergspitze. Generell werden die Verbindungen zur Gothia in dieser Zeit immer offensichtlicher, teilt die Gothia doch nicht nur regelmäßig Identitären-Content auf ihrer Facebook-Seite, sondern feiert auch gerne mal mit Identitären, wie beispielsweise Hintsteiner. Gleichzeitig wird auch die FPÖ von der Gothia hofiert: So halten nicht nur die Identitären eine Abendveranstaltung auf der „Bude“ ab, sondern auch die frisch gewählte Landesparteivorsitzende der FPÖ Salzburg, Marlene Svazek referiert wenige Monate später am selben Ort über die Entwicklung der FPÖ.

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Im Laufe des Jahres übernimmt dann Dominik Steizinger die Leitung von Hintsteiner, der mittlerweile nach Wien abgewandert ist. Steizinger ist ebenfalls seit der Gründung mit von der Partie und scheut ähnlich wie Hintsteiner das Rednerpult nicht. So hält er beispielsweise einen Vortrag bei einer identitären Veranstaltung auf einer Almhütte in Wagrain. Ansonsten wird es nun etwas ruhiger um die Gruppe, neben Stammtischen (mittlerweile meistens im Zwergerlwirt), organisieren sie nur noch eine Pfeffersprayverteilaktion und hängen noch einmal ein Transparent in Anif auf. Anfang 2017 wird die vorerst letzte Transparent-Aktion vor der Salzburger Festung durchgeführt. Kurz danach folgt der verzweifelte Aufruf „Salzburg braucht dich“ – offenbar ist die Personalnot mittlerweile eklatant geworden. Die Situation scheint sich in den letzten Monaten nicht allzu sehr gebessert zu haben, denn mit Ausnahme einer Mini-Mahnwache vor dem britischen Konsulat sind die Identitären in Salzburg seither weit-

gehend in der Versenkung verschwunden – der Facebook-Account der Gruppe wird praktisch ausschließlich mit überregionalem Content bespielt. Sind die Salzburger Identitären also tot? Klar ist, dass seit Hintsteiners Weggang nach Wien zumindest die Luft heraußen ist. Wie die oben aufgezeigten Verbindungen quer durch den braunen Sumpf beweisen, sind die Identitären allerdings auch in Salzburg gut in der Szene vernetzt. Hier wird auch deutlich, dass die Identitären keinesfalls eine „neue“ Bewegung sind – vielmehr rekrutieren sie sich aus der gleichen Szene, aus der auch bereits früher „neue“ rechtsextreme Strömungen wie Gottfried Küssels VAPO hervorgegangen sind. Und diese Szene existiert nach wie vor. Konsequente antifaschistische Arbeit muss also genau hier ansetzen: Der ganze braune Sumpf muss trockengelegt werden! Den Salzburger Identitären ist die Luft ausgegangen – sorgen wir dafür, dass sie untergehen wie ihre Schiffsaktion im Mittelmeer!

Factbox Identitäre: ursprünglich aus Frankreich; ab 2012 österreichischer Ableger; rechtsextreme Jugendorganisation mit vielfältigen faschistischen Anklängen in Theorie, Ästhetik, Rhetorik und Stil weiterführende Literatur: Julian Bruns, Kathrin Glösel, Natascha Strobl: Die Identitären. Handbuch zur Jugendbewegung der Neuen Rechten in Europa, Münster 2014. www.doew.at


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von Silvia Leitner

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erade in den Zeiten vor und nach der Nationalratswahl hört man immer wieder den Begriff „Politische Bewegung“. Doch wo beginnt die Verbindung von Politik und Bewegung? Auch wenn man beim Thema Bewegung zunächst hauptsächlich an sportliche Betätigung denkt, lässt sich der Begriff Bewegung auch mit Gesellschaftspolitik verbinden. Das Leben in einer Demokratie fordert geradezu eine Bewegung. Stillstand und Trägheit der Menschen können zu Unzufriedenheit mit der aktuellen Situation führen, so wie es derzeit der Fall ist. Viele Menschen fühlen sich übergangen von der Politik, fühlen sich nicht wahrgenommen und haben das Gefühl, dass nur die Interessen bestimmter Personengruppe und Unternehmen in der Politik berücksichtigt werden. Diese Gedanken führen häufig dazu, dass einige Menschen sich denken, dass man „eh nichts verändern kann“ und so einfach über die Politik schimpfen statt aktiv zu werden, sich zu informieren und für seine Interessen zu kämpfen. Nichtstun verändert nichts. Klar, niemand erwartet, dass jeder Mensch seine komplette Freizeit dafür verwendet. Schließlich haben wir alle stressige Prüfungsphasen, eigene Verpflichtungen und unsere persönlichen Angelegenheiten, um die wir uns kümmern müssen. Zwischendurch FreundInnen treffen, Sport treiben und eigene Ziele verwirklichen, ist da überhaupt Platz für Politik?

Ja! Denn es wird ja nicht erwartet, dass einzelne Personen sich um alles kümmern oder jeder seine eigenen Vereine, Parteien etc. gründet. Doch schon der Gang zur Wahlurne ist ein wortwörtlicher Schritt in die richtige Richtung. Wer gar nicht zur Wahl geht, darf sich auch nicht über das Ergebnis beschweren. Darüber hinaus ist es natürlich immer von Vorteil über aktuelle Geschehnisse auf nationaler und internationaler Ebene informiert zu sein. So hat jede/r von uns 5 bis 10 Minuten täglich Zeit, um sich zu informieren. Dies sollte möglichst nicht nur über den Facebook-Feed passieren, da dieser eine sehr gefilterte Version der Realität vorgibt. Daher gilt es, auch hier selbst aktiv zu werden und am besten seriöse und unabhängige Quellen zu nutzen, statt sich einfach berieseln zu lassen. Wer informiert ist, kann leichter seinen eigenen Standpunkt zu Themen finden. Um diesen zu vertreten oder sich mit anderen auszutauschen gibt es viele Veranstaltungen, die beispielsweise auf der ÖH Seite geteilt werden. Auch hier gilt, man muss nicht zu allen hingehen, aber ab und zu kann vermutlich jeder von uns ein paar Stunden aufwenden, um etwas in Bewegung zu bekommen. Je mehr Menschen anfangen, desto weniger Aufwand ist es für den Einzelnen und es kommt dennoch eine größere Bewegung zusammen. Es gilt die Devise: Zusammen schafft man mehr als allein.

Silvia Leitner ist in der ÖH Salzburg im Referat für Gesellschaftspolitik und Menschenrechte aktiv.


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fellner ’sche weis heiten

Impressionen eines ArbeiterInnenführers in spe*

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ie ArbeiterInnen Bewegung ist alt, reicht in ihrer Geschichte über anderthalb Jahrhunderte zurück, in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts. Damals gründeten einige überzeugte Frauen und Männer (wobei das Sagen damals eher nur die Männer hatten) verschiedentliche Gruppierungen, die sich den Interessen von Arbeitnehmenden annahmen. Dazu zählten Ferdinand Lasalle, August Bebel (der übrigens hier in Salzburg seine Wanderjahre als Geselle verbrachte) und Karl Liebknecht Sr. Aus diesen Gruppierungen schließlich entwickelte sich erst der ADAV (Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein), und daraus schließlich die SPD. In Österreich fand das alles um ein paar Jahre versetzt, aber unter ähnlichen Vorzeichen statt. Nur dass hier Victor Adler, Otto Bauer und Karl Renner im Zentrum der Entwicklung standen, die zur Sozialdemokratischen (Arbeiter)Partei (Deutsch)Österreichs führte. Frankeichs zentraler Arbeiterführer war derweilen Jean Jaures, ein pazifistisch eingestellter Abgeordneter, der sich als Anwalt für streikende Fabrikarbeiter und deren Familien einen Namen gemacht hatte und am Vorabend des ersten Weltkrieges ermordet wurde. Kann man es sich aber so leicht machen, einfach die Geschichte dieser Bewegung als eine Sammlung von Geschichten der jeweiligen an

den Arbeitnehmenden orientierten Parteien zu begreifen? Ich sage nein, man kann es nicht. Bewegungen und Einrichtungen, die für Arbeitnehmende gedacht waren, gab es in vielen Zeiten und auch vielen verschiedenen Formen. Die gewalttätigste ist wohl jene „Bewegung“, die einst Spartakus gegen die Römer führte, die erfolgreichste vielleicht die sogenannte Bruderlade der Bergbauleute. Wie gut oder nicht gut versorgt arbeitende Menschen waren, hing einst von der Wichtigkeit der von ihnen verrichteten Tätigkeiten ab. Wer z. B. in der Salzgewinnungsindustrie des Salzkammergutes „beschäftigt“ war, genoss große Privilegien, etwa im Hinblick auf medizinische Versorgung oder das Privileg, nicht in den Krieg ziehen zu müssen. Andere, wie einfache Landarbeiter oder jene, die zum Schiffsziehen an der Donau verurteilt waren, waren dagegen ziemlich arm dran. Sie waren leicht zu ersetzende Arbeitskräfte und gab es mal zu wenige, wurde eben ein neues Delikt eingeführt, das zu bestrafen war. Besonders leidtragend waren da vor allem ProtestantInnen, aber auch die BewohnerInnen ganzer Staaten, wie man am Beispiel Frankreichs, Russlands oder Neapels sieht. Ihre Interessen standen ganz unten, ihr Mitspracherecht war gleichbedeutend mit Null. Auch in späterer Zeit, selbst als die oben genannten Bewegungen bereits existierten und - mehr oder weniger illegal


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Christof Fellner spricht zu revolutionären ArbeiterInnen, 1917, koloriert

oder legal – arbeiteten. Denn zunächst waren nicht alle Stimmen gleich viel wert, es galt das Zensus bzw. Kurienwahlrecht. Je besser eine Person finanziell gestellt war, desto höher war die Bedeutung der Stimme. Das heißt, dass bei der Wahl die Vermögenswerte berücksichtigt wurden und die reichen Leute mehr Vertreter in das Parlament entsenden konnten als arme. In dieser Zeit gewinnen auch die Burschenschaften an enormer Bedeutung. Politik ist zwar noch immer von Adel, Kirche und Großkapital beherrscht, aber nach und nach schaffen auch niedrigere Vermögensschichten den Einzug in die Welt der Bildung und der Politik. Diese wollen sich nun ein ähnliches soziales Umfeld schaffen, wie das auch die genannten Schichten haben. Natürlich passend zur damaligen Zeit, deutschnational, antijudaistisch, antiklerikal, antisozial. Die Macht übernehmen werden sie in der Zeit der alten Monarchien nirgends können, sich lediglich sozial nach oben und unten öffnen. Kaiser Wilhelm II. ist ebenso Burschenschafter wie Karl Marx. Neben den althergebrachten politischen Parteiungen gibt es nun also auch neue, mehr oder weniger wichtige. Sie unterscheiden sich vor allem an der Frage der Herangehensweise an die großen sozialen Fragen der Zeit. Gottbegnadete Stände, die nur auf den Herrscher vertrauen und nur um ihre Meinung gefragt werden wollen, Nationalisten und zu guter Letzt solche, die in sozialen Klassen denken, aber durchaus mit unterschiedlichen Lösungsansätzen daherkommen.

Dabei sind ausgerechnet diese den alten Konservativen und Liberalen noch am nächsten, denn der Hochadel vernetzt seine Interessen schon lange, ebenso das Großkapital, nur eben die arbeitenden Menschen oder dienstleistenden Kleinunternehmenden, wie man heute sagen würde, nicht. Die Nationalen aber bleiben außen vor, nicht nur in den zunehmend sozialistisch geprägten Städten, auch in den ländlichen Regionen, also überall dort, wo es nicht gelingt, das elitistische Gedankengut in den Vordergrund zu stellen. Lediglich in der Beamtenschaft werden sie bis weit ins 20. Jahrhundert stark bleiben. Erst nach dem Ende des ersten Weltkrieges, der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, wird es in den europäischen Staaten zu den ersten zaghaften Versuchen der Demokratie kommen. Bis auf wenige werden sie alle scheitern. Erst nach der noch um einiges größeren Katastrophe des 2. Weltkrieges wird das eigentliche Jahrhundert der ArbeiterInnenbewegung beginnen und rasch einem Höhepunkt zustreben. Doch die vermeintliche Glanzzeit des Aufschwungs nach dem zweiten Weltkrieg, die all die sozialen Errungenschaften, die wir heute genießen, ermöglicht, birgt auch bereits den Beginn des Niederganges in sich. Heute ist die Mobilisierung für Ziele der ArbeiterInnenbewegung kaum noch erfolgreich. Die ArbeiterInnen von einst, heute haben sie mehr zu verlieren als ihre Ketten. Und doch gleicht ihr Kampf um die Welt, die sie gewonnen haben, einem Wettlauf mit eingeschlafenen Beinen, wir werden sehen, wozu es führen wird.

*Christof Fellner studiert Geschichte und Politikwissenschaft. Derzeit führt er TouristInnen durch das Salzkammergut, bald vielleicht die ArbeiterInnenbewegung zu neuem Glanz.


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BEWEGUNG

Wie kann man sich heutzutage noch lösen von der ständigen Erreichbarkeit? Wie kommt man zur Ruhe? Ich habe meine Strategie gefunden. Von Christine Gnahn

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port hat für mich als Kind nichts Gutes bedeutet. Ich hatte den Geruch von schweren Medizinbällen und folterähnlichen Geräteinstrumenten in der Nase, diesen verschwitzt-muffigen Turnhallengeruch, sobald ich das Wort hörte. Sportunterricht in der Schule fand ich die längste Zeit sehr bescheiden: Ich war dürr, schmächtig und sah absolut keinen Sinn darin, mich dazu zu überwinden, über Schwebebalken zu balancieren, beim Völkerball andere abzuschießen oder überhaupt etwas zu tun, was meine dralle Sportlehrerin von mir verlangte. Nicht einmal das Laufen, das ich eigentlich liebte, machte mir hier Spaß. Mit dem Beigeschmack des „Du

musst das jetzt tun“ erschien mir nichts sonderlich erstrebenswert, schon gar nicht etwas, das körperlich anstrengend ist. Dass meine Leidenschaft dafür, schnell zu rennen, mich darin zu testen, wie weit ich über Pfützen springen und wie hoch ich einen Baum erklettern konnte, ebenfalls Sport war, auf die Idee wäre ich nicht gekommen. Was ist Sport für mich heute? Ich mag das Wort immer noch nicht. Für mich gibt es ein besseres Wort dafür: Freiheit. Das hat viel damit zu tun, dass wir (oder, um nicht zu sehr zu verallgemeinern, zumindest ich) in der heutigen Zeit sehr viel vor einem Schreibtisch stationiert sind. Auf diesem Schreibtisch steht ein


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Computer und in den dazugehörigen Bildschirm wird von morgens bis abends gestiert. Hastig schnellen die Finger über die Tastatur, der Blick fliegt immer wieder zum Smartphone, ob denn eh keine neue Nachricht zugeflogen ist. Man ist verfügbar. Es geht alles schnell. Man muss mitmachen. In diesem Kontext sind mein Bikini und meine Schwimmbrille für mein Leben entscheidende Symbole. Sie stehen für das Frei-Sein, für das Loslassen. Denn einmal in sie hineingeschlüpft kann mich nichts mehr aufhalten. Das Handy ist gefühlte Welten weit weg, so auch sämtliche anderen elektronischen Geräte, Termine, Verpflichtungen. Meine Beine beginnen zu rotieren, meine Arme sind im Takt, mein Geist ist plötzlich meditativ entspannt statt nervös zappelnd. Im Wasser herrscht sowieso eine eigene Magie-Welt. Es blubbert um mich herum, wellenförmige Bewegungen und ein bisschen das Gefühl der Schwerelosigkeit. Hier unten hört man nichts mehr, hier unten gibt es außer dem Boden des Beckens auch nicht viel zu sehen. Man holt aus, immer wieder auf ein Neues, krault sich die Anspannung vom Körper ab. Das ist am Anfang manchmal fad. Und diese Bahn, exakt diese Bahn, jetzt noch 79 Mal? Das erscheint erst einmal völlig hirnrissig, stupide, unendlich langweilig. Nach einer kurzfristigen Entrüstung von Seiten des Gehirns, das sich scheinbar nur ungern von seiner hohen Dosis an Reizüberflutung trennt, ist dann aber Ruhe. Habe ich gesagt Ruhe? Nein, ruhig ist es plötzlich gar nicht mehr. Ich gleite dahin, zähle die Bahnen und bin gleichzeitig irgendwo. Gedanken, Bilder, Fantasien, Träume sprudeln durch meinen Kopf wie die Flocken in einer Schneekugel, die man soeben kräftig durchgeschüttelt hat. Der ganze Körper fühlt sich geschmeidig an, hier im Wasser. Ich lasse meine Finger durch das Wasser gleiten, während mich meine Beine wellenförmig antreiben. Ich fühle mich warm und angekommen, hier drinnen ist Pause. Was im Wasser passiert ist wie das, was man in einem Traum erlebt, kurz bevor man richtig tief einschläft: Es ist da und es ist gleichzeitig nicht da. Auf einmal ist alles möglich. Sorgen und Ängste sind zwar noch da, verlieren aber ihre Tiefe. Was kann schon passieren? Warum sollte man nicht alles versuchen, von dem man träumt, was man sich wünscht? Die wahren Grenzen und Hindernisse für alles, was ich gerne machen würde, aber nicht tue, das merke ich im Wasser deutlich: Die sind in mir drinnen – und ich bin es auch, die sie überwinden kann!

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Christine Gnahn ist gebürtige Oberbayerin und lebt seit acht Jahren in Salzburg. Das Schreiben ist ihr ein wichtiges Instrument, um Gefühle auszudrücken und Geschichten zu erzählen. Die 27-Jährige hat ihren Master in der Kommunikationswissenschaft absolviert und ist seit neun Jahren als Journalistin und Redakteurin tätig.


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BEWEGUNG

Für einige scheint sie noch gar nicht so lange her zu sein, andere haben noch nie von ihr gehört: Die nukleare Bedrohung der 1980er Jahre und der sich zuspitzende Ost-West-Konflikt im sogenannten Kalten Krieg führte auch in Österreich zu einer Sozialen Bewegung. Von Hannah Wahl

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prüche wie „El Salvador, Afghanistan, wann fängt dort der Friede an“ und „Hopp – Hopp – Hopp – Atomraketen stopp“ ertönen durch die Wiener Innenstadt. Der Demonstrationszug zieht hinter einer älteren Dame vorbei. Sie trägt eine kurze graue Lockenfrisur, Perlenohrringe und eine Brille. In der Hand hält sie eine Tüte Eis. Selbstbewusst erklärt sie der Presse: „Den ondan Ländern, die schon so viel mitgmocht hom, zwanzig und zweiundzwanzig Millionen geopfert hom, denen glaub ich früher, dass sie keinen Krieg wolln, als einem, der daran immer nur verdient hat. Die Verdiener san ma natürlich ned sehr sympathisch. Und wir wissen: Kapitalismus trägt den Keim Krieg in sich. Die können nur zusammenschlagen – aufbauen. Das ist ihre Arbeitsbeschaffung. Da bin ich dagegen. Drum maschier ich do mit. Und wenn i ochzg bin, maschier i a no mit.“ Es ist der 15. Mai 1982, rund 70.000 Menschen beteiligen sich an diesem Tag am Friedensmarsch durch Wien und artikulieren ihre Forderungen an die Politik.


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Ost-West-Konflikt in Österreich spürbar Die politischen Auseinandersetzungen – innerhalb der Friedensbewegung, aber auch zwischen etablierten Parteien und ihrer Jugendorganisationen sowie zwischen Friedensbewegung und Medien bzw. Politik – waren maßgeblich vom Ost-West-Konflikt und den Interpretationen der weltpolitischen Vorgänge geprägt. Im Zentrum stand dabei die Frage nach der Ursache der Rüstungsspirale im „Kalten Krieg“. Der linkspolitische Teil der Friedensbewegung prangerte vor allem die aggressive, imperialistische Politik der USA und die damit einhergehende expansive Aufrüstung in Europa an. Für die konservativ-bürgerlichen AktivistInnen war das Bedrohungspotential ebenso der Sowjetunion zuzuordnen. Trotz dieser grundsätzlichen Uneinigkeiten gelang es der Friedensbewegung, einen gemeinsamen Appell zu formulieren: „Ich appelliere an die österreichische Bundesregierung, sich gegen die Stationierung von Pershing II und Cruise-Missiles in Europa auszusprechen und gemeinsam mit anderen Staaten konkrete und wirksame Maßnahmen zur Verhinderung der Stationierung als ersten Schritt für ein atomwaffenfreies Europa zu treffen.“ Politische Berichterstattung und Antikommunismus Mit der breiten Beteiligung an den großen Demonstrationen mit bis zu 100.000 AktivistInnen rückte die Friedensbewegung auch ins Feld medialer Aufmerksamkeit. Bis auf wenige Ausnahmen von Jugendsendungen wie „Ohne Maulkorb“ übten sich die Medien in politischer Berichterstattung und verunglimpften die Friedensbewegung als kommu-

nistisch unterwandert und von der Sowjetunion gesteuert. Zahlreiche Redakteure bezogen in Kommentaren Position gegen die Friedensbewegung. Zurück zur Demonstration am 15. Mai 1982. Da bereits einen Monat vor der Demonstration bis zu 100.000 TeilnehmerInnen erwartet wurden, war das mediale Interesse groß. Dabei wurde auch der Konflikt zwischen SPÖ und ihrer Parteijugend öffentlich ausgetragen. So titelten die Oberösterreichischen Nachrichten: „SP-Führung hat Angst Parteijugend könnte ihr über den Kopf wachsen.“ Laut diesem Artikel bestand in der SPÖ die Sorge, die Veranstaltung könne in eine antiamerikanische Kundgebung ausarten. Dieter Kindermann, Redakteur für Innenpolitik der Kronen Zeitung warnte: „Diese jungen, meist noch sehr unerfahrenen Menschen müssen aufpassen, nicht von dialektisch geschulten (moskauhörigen) Politruks für eine völlig einseitige, antiwestliche Protestaktion missbraucht zu werden.“ Die überwiegend jungen AktivistInnen der Friedensmärsche wurden in den Medien als junge, ungefestigte Leute dargestellt, die sich nur allzu leicht für die kommunistisch unterwanderte Friedensbewegung ausnutzen ließen. Auch unter der politischen Prominenz herrschte im Vorfeld der angekündigten Demonstration ein antikommunistischer Tenor. Die ehemalige Staatssekretärin und Sozialdemokratin Johanna Dohnal unterstellte KommunistInnen, sie würden die Friedenssehnsucht der Menschen als Transportmittel missbrauchen und für ihre Zwecke instrumentalisieren. Man könne aber die Teilnahme von Kommunisten an der Demonstration am 15. Mai nicht verhindern.

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Gesellschaftlicher Wandel Die Friedensbewegung war wohl die größte soziale Bewegung der Zweiten Republik. Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft und unterschiedlicher politischer Richtungen organisierten sich und traten gegen die geplante Aufrüstung mit Nuklearwaffen ein, die im Kriegsfall Europa zu einer Wüste gemacht hätten. Sie erreichte in den 1980er Jahren ein beträchtliches Ausmaß, konnte aber die Stationierung von Pershing-II-Raketen und Cruise-Missiles in Europa nicht verhindern. Stattdessen war aber ein gesellschaftlicher Wandel spürbar, der sich in verschiedenen Lebensbereichen manifestierte. So war der Zivildienst lange Zeit verpönt, wurde aber mit der Friedensbewegung zur politischen Alternative.

„DIE FRIEDENSBEWEGUNG WAR WOHL DIE GRÖSSTE SOZIALE BEWEGUNG DER ZWEITEN REPUBLIK.“ Die Friedensarbeit institutionalisierte sich zunehmend und es wurden Friedensbüros, wie in Salzburg 1986, gegründet. Die politischen Ressourcen verlagerten sich auf das Thema Umwelt, das in den Fokus sozialer Proteste rückte. Der Bedeutungsverlust der Friedensbewegung ist auch im Zusammenhang mit der Phase konservativer Regierungen und Bewegungen zu sehen, die zur Krise der gesamten Linken führten. Mit der Entspannung der weltpolitischen Lage und des Ost-West-Konflikts flachte die Friedensbewegung schließlich ab.

„Kalter Krieg“ (ca. 1947-1991) Der sogenannte Kalte Krieg bezeichnet den Konflikt zwischen den Westmächten (USA, NATO-Staaten und andere) und den Staaten des Ostblocks (Sowjetunion und Verbündete). Nach dem Zweiten Weltkrieg entfachte sich, nachdem die Einflussgebiete nicht mehr klar geregelt waren, ein Systemwettstreit. Sowjetunion und USA versuchten, ihre ideologischen Machtsphären in der Welt zu sichern und zu erweitern. Die militärischen Handlungen fanden als Stellvertreterkriege, Befreiungskriege, Bürgerkriege und Grenzkriege in der ganzen Welt statt.


BEWEGUNG

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Sigi Maron, sozialkritischer Liedermacher (gestorben 2016): „Die Medien waren nicht auf Seite der Friedensbewegung. Wir sind immer verunglimpft worden als Anhänger Moskaus. Was die Friedensbewegung sicher nicht war. Wir waren breit aufgestellt, und von Trotzkisten bis Erzkatholen war alles dabei.“

Hannes Schlosser, Journalist, von 1982 bis 1990 Aktivist der Tiroler Friedensplattform: „Die Friedensbewegung hat ihre vordergründigen Ziele nicht erreicht. Und das ist sicherlich etwas, was für das Fortbestehen der Friedensbewegung in der Form nicht zuträglich war. Weil, wer verliert schon gern? Aber ich bin zutiefst davon überzeugt, dass diese Demonstrationen für viele, ein beträchtlicher Teil von denen war das erste Mal in ihrem Leben auf einer Demonstration, ein wichtiger Politisierungsschritt war.“

Rosmarie Thüminger, Schriftstellerin, erhielt 1989 den Österreichischen Kinderbuchpreis und 2014 den Otto- Grünmandl-Literaturpreis: „Also für den Frieden hab’ ich mich schon seit meiner Kindheit interessiert. Krieg war für mich immer schon was Entsetzliches. Mein Vater war Lehrer und wir haben am Gerlosberg in einem Schulhaus gewohnt. Da hat die Mutti immer Brot, Erdäpfel und so Sachen in eine kleine Nische hin ausgelegt, weil wir die Kriegsgefangenen gesehen haben. Das meiste waren Polen, Russen oder Italiener, die sind immer eingesetzt worden bei Bauern oder auch bei einem Kraftwerk, das gebaut werden sollte. Und die haben immer am Schulhaus vorbeimarschieren müssen, und wir haben gesehen wie verhungert die ausgeschaut haben. Auch die Bekleidung war in diesen harten Wintern unzulänglich. Und mein Vati war damals auch im Krieg, und da haben wir immer Angst gehabt ob er wiederkommt und ob er gesund ist. Darum war die Frage Krieg und Frieden immer wesentlich für mich, schon von Kindheit an.“


uni & leben

NEUES AUS DEM

Wiebke Fischbach (GRAS), Vorsitzende

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ow. Und wir dachten schon, die ÖH Wahl ist schlecht ausgegangen. Im Nationalrat gibt es nicht mal eine klitzekleine Möglichkeit auf eine politische Mehrheit für soziale Politik, eine fortschrittliche Gesellschaftspolitik und progressive Bildungspolitik. Und kaum eine Stimme, die den bevorstehenden Angriff auf den Sozialstaat, das öffentliche Bildungs- und Gesundheitswesen, dem Kaputtsparen und dem Rechtsruck etwas entgegenhalten könnte. Und jetzt? Die ÖH kann die rechte Politik von Schwarz-Blau II nicht aufhalten, auch wenn die Mehrheit der Studierenden direkt davon betroffen sein wird, z.B. durch Studiengebühren und Platzbeschränkungen. Aber die ÖH ist ein Ort, wo Studierende aktiv werden können, sich austauschen und vernetzen können, um Schwarz-Blau etwas entgegenzusetzen. Und du? Du kannst selbst aktiv werden. Denn dafür braucht es jeden und jede Einzelne, damit wir trotz der politisch schwierigen Zeiten gemeinsam etwas erreichen werden. Werde aktiv, mach mit und melde dich bei vorsitz@oeh-salzburg.at! Und wer sitzt da eigentlich im Vorsitz der ÖH Salzburg? Wiebke Fischbach, Felix Klein und Alexander Schlair – bestes Team! Zusammenarbeit läuft, Aufgabenverteilung ist geregelt und ein gemeinsames Feierabendbier geht sich ab und an auch noch aus. Und was macht man so im Vorsitz? Da sind natürlich erstmal die 1000 eher langweiligen Dinge, das sogenannte Tagesgeschäft. Das Mail und Anfragen beantworten, sich um die Post kümmern, Kontakte pflegen, zum Telefon und der Tür rennen, Fristen und Pflichten

VORSITZBÜRO

Felix Klein (GRAS), 1. stv. Vorsitzender

Alexander Schlair (VSStÖ), 2. stv. Vorsitzender

im Blick haben, in Gremien entsenden, Sitzungen der Universitätsvertretung vorbereiten und Studienvertretungen und Studierenden unter die Arme greifen. Alles Dinge, die wir gerne tun, die aber eben auch einfach erledigt werden müssen. Was spannender und greifbarer ist, ist der Erfolg, den wir mit der neuen Teambesetzung verbuchen können. Die ÖH arbeitet in Referaten. Jedes Referat ist für einen eigenen Themen- oder Aufgabenbereich zuständig, innerhalb dessen Pflichten und Aufgaben nachgegangen werden müssen und eigene Projekte verwirklicht werden können. Die ÖH an der Uni Salzburg hat zehn Referate, welche sich jetzt mit großem Tatendrang und viel Einfallsreichtum in die Projekte der nächsten Semester werfen. Im ÖH Beratungszentrum haben wir ebenfalls einen Neuzugang, mit dem wir uns mehr als glücklich schätzen. Stand das ÖH Beratungszentrum die letzten Jahre unter der Leitung von Herrn Mag. Peter Engel, ist nun Frau Mag. Dr. Elba Frank damit betraut. Danke Peter! Willkommen Elba! Und hoffentlich schon von allen bemerkt und bewundert: Die ÖH an der Uni Salzburg hat endlich eine neue Homepage! Nicht nur sieht sie besser, moderner und ansprechender aus, sie ist auch übersichtlicher und einfacher zu bedienen. Die Studienvertretungen können nun selbst auf ihren Teil der Homepage zugreifen, um sich den Studierenden vorzustellen und Journaldienstzeiten etc. einzutragen. Die E-Mail Verteiler sind tiptop aktuell und wir haben einen eigenen Cloud-Service.

Euer Vorsitzteam


UNI & LEBEN

fragt eure profs

WIE WAR DAS DAMALS?

In unserer neuen Reihe wollen wir die Professorinnen und Professoren zu Wort kommen lassen. Wie sie verschiedene Aspekte der Universität wahrnehmen. Den Auftakt macht der Germanist für Neuere Deutsche Literatur, Univ.-Prof. Dr. Gottwald, mit dem wir über die ÖH und die politische Bewegung unter den Studierenden geredet haben. Damals und heute. Ein Gespräch über scharfe Äxte und kommunistische Damen, denen er unangenehm aufgefallen ist. Interview von Carlos P. Reinelt uni:press: Die ÖH-Wahlen stehen wieder einmal an (Anm.: Das Interview fand vor der Wahl statt). Wie viel bekommt man als Professor davon mit? Gottwald: Das hängt davon ab, ob man in den verschiedenen Gremien tätig ist, oder sich überhaupt dafür interessiert. Ich bin ja in verschiedenen und auch in der Curricular-Kommission, da bekommt man natürlich mit, dass ein Wechsel im Haus steht. Ich verfolge das auch seit Jahrzehnten über die Medien. Aber seit meiner Studienzeit hat sich da nicht viel verändert, was z.B. die Wahlbeteiligung betrifft. uni:press: Ich habe die Zahlen hier: In den ersten beiden Jahrzehnten der ÖH lag sie bei 60 bis 70%,

1975 nur noch 40% und seit 1985 schwankt es zwischen 25 bis 30%. Können Sie sich das erklären? Gottwald: Heute ist es vor allem die zunehmende Gleichgültigkeit. Diese Sattheit und Gleichgültigkeit besteht gegenüber über vielen Dingen: Der Politik, dem Geschehen an der Uni, den Strukturen an der Uni, gegenüber gesellschaftlichen Strukturen und den Problemen dieser Gesellschaft. Es scheint, wie Adorno es sagen würde, dass die Kulturindustrie den vollständigen Sieg errungen hat. Alles wird nur noch konsumiert und nicht mehr hinterfragt. Das ist ein Grundparadigma der westlichen Gesellschaft. Nicht ein speziell österreichisches Phänomen.

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uni:press: Also auch kein Uni-spezifisches? Gottwald: Nein, die Uni ist ja ein Teil der gesamten Gesellschaft. In dieser herrscht, was Walter Benjamin Zerstreuung nennt. Damals noch so lieb genannt, Zerstreuung. Das ist vielleicht ein euphemistisch klingender Ausdruck für Prozesse, die uns heute ganz massiv betreffen. Ich kämpfe schon seit Jahren gegen die mir so furchtbar erscheinende Gleichgültigkeit. Ich habe früher als Lehrer immer versucht, die Gleichgültigkeit junger Leute aufzubrechen. Und das ist durch literarische Texte auch gelungen. Es ist mir, um es auf den Punkt zu bringen, öfters Personen zum Weinen zu bringen, durch Literatur. Oder Kunst. Zu dem, was Peter Handke, die Erschütterung durch Kunst nennt. Dafür braucht es natürliche starke, heftige Texte. Aber es wird heute immer schwieriger. Man muss auch bei den ganz jungen schwere Geschütze auffahren, dass man so etwas wie Teilnahme oder Aufrüttelung hervorruft. Das macht mir schwer zu schaffen.

Sie dafür eine Erklärung und wie beurteilen Sie diese Entwicklung? Gottwald: Das empfinde ich als ganz negativ. Das was man so pauschal als Politikverdrossenheit bezeichnet, schlägt sich auch hier durch. Und die reagieren wahrscheinlich darauf, weil sie Wählerinnen und Wähler haben wollen. Politikverdrossenheit ist ein Teil eines Gesamtproblems. Es scheint eine Erschöpfung gewisse Erschöpfung kultureller Muster zu geben, wie es Umberto Eco mal in einem anderen Zusammenhang nennt. Gewisse eingeübte kulturelle Verhaltensweisen, wie z.B. die Sensibilisierung für politische Fragen, könnten abgenutzt, verbraucht, erschöpft sein. Ein Vizekanzler geht, ein Vizekanzler kommt, es ist immer dasselbe. Der Überdruss wird immer mehr. uni:press: Heute scheinen wirklich viele das Gefühl zu haben, nichts ändern zu können. Dieses Bewusstsein war ja zu Studienzeit noch ein anderes?

uni:press: Es braucht immer schärfere Äxte... Gottwald: Ja, Sie kennen den Spruch von Kafka: Ein Buch muss die Axt sein, für das gefrorene Meer in uns. Wenn uns ein Buch nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Solche Dinge würden vielleicht Lächeln hervorrufen. Das ist ein Indikator für eine allgemein um sich greifende Gleichgültigkeit. Ein Laissez-faire, ein sich treiben lassen vieler.

„WENN UNS EIN BUCH NICHT MIT EINEM FAUSTSCHLAG AUF DEN SCHÄDEL WECKT, WOZU LESEN WIR DANN DAS BUCH?“ uni:press: Noch eine Frage zur ÖH: Einige Fraktionen werben explizit damit, unpolitisch zu sein. Sich nicht in gesellschaftspolitische Fragen einmischen zu wollen. Teils mit großem Erfolg. Haben

Gottwald: Ich habe von 1976-1981 studiert. Ich kam aus einem eher unpolitischen, ländlichen Raum hierher. Ich habe kaum politische Prägung durch Schule, FreundInnen, oder die gemütlichen Fußballabende erhalten. Hier, vom ersten Tag an, wurde ich in einen eminent politischen Raum geworfen. Mit Studienkollegen konfrontiert worden, die total politisch sozialisiert waren. Überall lagen nahezu wöchentlich politische Flugblätter auf. Es gab dutzende Versuche, uns für politische Bewegungen zu gewinnen. Von radikal-rechts bis radikal-links. Da gab es die ANR, die Aktion Neuer Rechte, die hatte bei der Wahl 1977 in der Geschichte 16 Stimmen. Damals habe ich mich gefragt: Wer sind denn die? Auf der anderen Seite gab es ein breites Spektrum linker Gruppierungen.1 Es waren alle politisiert. Man hat die Leute überall getroffen und ist sofort ins Diskutieren gekommen. Auch auf Basis der marxistischen Klassiker. Die Bücher die man bei sich trug waren auch immer ein Statement.

1 Anm. d. Red.: Dr. Gottwald zählt sie hier alle auf, aber damit würden wir das Zeichen-Limit sprengen


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Streiks gab es praktisch jedes Semester. Da wurden Vorlesungen bestreikt. Mal von der ÖH unterstützt, mal nicht. Im Sommer 78 gab es einen Streik des KSV2. Die haben mit brachialer Gewalt die Leute daran gehindert, in eine Germanistikvorlesung zu gehen. Ich bin dann trotzdem hineingegangen. Daraufhin wurde ich fotografiert und von mehreren dementsprechend getadelt, man rief: „Dein Bild wird überall in Salzburg hängen!“ Einige andere StudentInnen sind mir dann nachgekommen und der Streik vor diesem Hörsaal scheiterte.

„STREIKS GAB ES PRAKTISCH JEDES SEMESTER.“ Am Abend traf ich dann eine Dame vom KSV, ein Mädchen, die sagte mir dann: „Du bist mir heute schon unangenehm aufgefallen.“ (lacht) Am nächsten Tag wurde dann der Streik mittels Polizei aufgelöst. Das waren noch die kleinen Ausläufer der 68er-Bewegung. Es gab auch viele Beschimpfungen, Attacken gegen Lehrende, Diskriminierungen, aber auch Solidaritätsbekundungen. Prof. Walter Weiss hat sich dann in die Diskussion eingebracht, wo er zur Ordnung aufrief. uni:press: Diese Ordnung würde heute vorherrschen...

Halten Sie so ein Szenario für möglich bzw. haben Sie manchmal derartige Befürchtungen?

Gottwald: Nein. Er wollte keine Stillhalte-Ordnung haben, sondern eine geordnete Diskussionskultur. Er war sehr offen für alles, wollte aber keine persönlichen Angriffe, keine Beschädigungen und dergleichen.

Gottwald: Nein. Es ist ein erstaunliches Buch, auch weil es an genau dem Tag3 veröffentlicht worden ist, an dem das passiert ist. Aber es ist schon sehr satirische. Houellebecq vielleicht überhaupt mehr ein Satiriker. Es ist in vielen Dingen erstaunlich, aber auch ästhetisch nicht geglückt. Die Handlung ist schon sehr überzogen. Die Uni ist in diesem Sinne nicht mehr politisch, wie sie damals war. Es wäre vielleicht gut, wenn wir eine gewisse Form von kritikfähiger, elaborierter, Repolitisierung erreichen könnten.

uni:press: Letzte Frage: Die Hauptfigur in Michelle Houellebecqs Bestseller Unterwerfung, ein Universitätsprofessor der Literaturwissenschaft in Paris, verliert aufgrund der politischen und religiösen Radikalisierung Frankreichs seinen Job.

2 Kommunistischer StudentInnenverband 3 07.1.2015, Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo


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HASST DER REKTOR STUDIERENDE? In der Oktober-Ausgabe der Salzburger Uni-Nachrichten plädiert Rektor Schmidinger einmal mehr für die Studienplatzfinanzierung. Für uns Studierende wäre das eine Katastrophe – der freie Hochschulzugang wäre dann endgültig tot. Von Christoph Würflinger

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uf uns Studierende kommen ungemütliche Zeiten zu. Die künftige Regierung will den freien Hochschulzugang drastisch einschränken. Freier Hochschulzugang bedeutet, dass jede/r mittels Matura als studierfähig Eingestufte ungehindert und uneingeschränkt studieren darf, wenn er/sie das will – ohne Aufnahmeprüfung und Studiengebühren. Schon jetzt ist das in Österreich nicht möglich. In zahlreichen Fächern gibt es bereits Aufnahmeverfahren und viele Studierende müssen noch immer Studiengebühren bezahlen. Diese Einschränkungen sollen nun noch weiter ausgebaut werden. Studierende werden dabei oft als Last für die Allgemeinheit begriffen; sie müssen – so das gängige Argument – von der steuerzahlenden Bevölkerung erhalten werden. Dass es für die Gesellschaft nur ein Vorteil sein kann, wenn möglichst viele Menschen Zugang zu Bildung haben, ist nebensächlich.

Daraus ergeben sich zwei Probleme: Erstens existiert kein Test, der die Eignung eines Menschen für ein bestimmtes Fach feststellen kann. Aktuell angewendete Prüfverfahren sind in der Regel recht beliebig und haben meist wenig mit dem Studium an sich zu tun. Über die Unsinnigkeit eines numerus clausus, bei dem die Schulnoten entscheiden, muss an dieser Stelle ohnehin nicht mehr diskutiert werden.

Warum ist die Studienplatzfinanzierung ein Problem? Studienplatzfinanzierung bedeutet, dass festgelegt wird, was ein Studienplatz z. B. für Geschichte pro Jahr kosten darf. Dann entscheidet die Regierung, wie viele Leute in Österreich Geschichte studieren dürfen und verteilt unter den Universitäten entsprechend Geld. Eine fixe Anzahl von Leuten darf dann studieren – der Rest hat Pech. Wer studieren will, muss sich einer Prüfung unterziehen; nur die „besten“ bekommen einen Platz.

Zweitens sind sozial Schwache bei solchen Aufnahmeprüfungen grob benachteiligt. Wer reiche Eltern hat und nicht nebenbei arbeiten muss, um sich ein Studium überhaupt leisten zu können, und sich vielleicht sogar einen Vorbereitungskurs leisten kann, ist dabei klar im Vorteil. Auch wer das Geld hat, zu warten und im nächsten oder übernächsten Jahr wieder anzutreten, hat es leichter. Die Studienplatzfinanzierung führt also dazu, dass die Kinder der Elite ungestört studieren können, während der Pöbel draußen bleiben muss. Studieren sollte aber nicht von der Geldbörse der Eltern abhängen.

„WER REICHE ELTERN HAT, IST KLAR IM VORTEIL.“


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© Universität Salzburg/gap

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Rektor vs. Studierende Seit einiger Zeit plädiert nun auch Rektor Schmidinger für die Studienplatzfinanzierung. Das war nicht immer so: Als er 2009 im Rahmen der unibrennt-Proteste den besetzten Hörsaal 380 an der GesWi (Rudolfskai 42) besuchte, erklärte er sich solidarisch und unterstützte die Forderungen der Studierenden. Anstatt die Geldnot der Unis auf den Rücken junger Leute abzuwälzen, die von der Uni weggeschickt werden und sich je nach Kontostand der Eltern schwerer oder leichter tun, kämpften Rektorat und Studierende eine Zeit lang gemeinsam für eine ausreichende öffentliche Finanzierung der Hochschulen.

„RESIGNATION UND FRUSTRATION ÜBER DAS EIGENE VERSAGEN?“ Was ist seitdem passiert? Ist Schmidinger vom Studierendenfreund zum Studierendenfeind geworden? Zweifellos kennt er die Folgen seiner Forderung und dennoch stellt er sie. Warum? Ist es Resignation und Frustration über die Schwierigkeit, eine fortschrittliche Hochschulpolitik zu erkämpfen – auch nach dem eigenen Versagen als Vorsitzender der uniko (Österreichische Universitätenkonferenz)? Als solcher war es ihm von 2011 bis 2015 nicht gelungen, gemeinsam mit BündnispartnerInnen aufzutreten, politischen Druck aufzubauen und eine hinreichende Ausstattung der chronisch unterfinanzierten Universitäten zu erreichen. Den Kampf gegen die sture Regierung hat er wohl schon aufgegeben. Wenn es nun nicht mehr Geld gibt, dann muss es eben weniger Studierende geben – das scheint die Logik des Rektors zu sein. Er wäre aber besser beraten, sich gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen weiterhin für die Umsetzung jener Ziele einzusetzen, die vom Nationalrat bereits beschlossen wurden: Die Steigerung der Hochschulausgaben auf 2% des Bruttoinlandsprodukts (von derzeit ca. 1,3%). Wir sind optimistisch: Der Rektor ist ein vernünftiger Mensch. Er wird seinen Fehler einsehen.

Christoph Würflinger studiert Geschichte und ist seit 2012 in verschiedenen Funktionen als Studierendenvertreter aktiv.


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Erfolg für Studierende: GesWi-Mensa bleibt!

Protest zahlt sich aus: Die drohende Schließung der Mensa an der GesWi, Rudolfskai 42, ist abgewendet. Monatelange haben Studierende und Lehrende für den Erhalt der Mensa protestiert. Von Kay-Michael Dankl

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ange war es ein Gerücht, niemand wollte es offiziell bestätigen oder dementieren: Die Mensa Betriebsgesellschaft wollte den Standort GesWi schließen, um Kosten zu sparen und mehr Profite zu behalten. Damit hätten über 4.000 Studierende und hunderte Bedienstete – viele davon in prekären Arbeitsverhältnissen – keinen Zugang mehr zu günstigen, schnellen und gesunden Mahlzeiten. Die sauteuren Innenstadt-Lokale in der Umgebung sind für die meisten keine Alternative. Das studentische Leben an der Uni wäre wieder um eine Facette ärmer. Eigentlich hat die Mensa laut ihrer Satzung das „studentische Wohl“ als oberstes Ziel, nicht den Profit. „… sollen sie doch Kuchen essen?“ Die Türen der GesWi-Mensa würden zu Semesterbeginn nicht mehr geöffnet, wenn nicht engagierte

Leute der ÖH-Studienvertretungen sich organisiert hätten. Ein Team der StVen Geschichte, Kommunikationswissenschaft, Soziologie, Politikwissenschaft und Doktorat KGW war ab Juli aktiv – auch im Sommer – um gemeinsam mit den Angestellten für den Erhalt der Mensa zu kämpfen. Sie haben einen offenen Brief und Protestschreiben geschickt, innerhalb kürzester Zeit über 800 Unterschriften gesammelt, die Medien informiert und auf Facebook eine Protest-Seite gestartet. Bei der Übergabe der Unterschriften an Andrea Dorfner, Bereichsleiterin der Mensa in Salzburg, wurde die Gelegenheit für ein intensives Gespräch genutzt. Dabei wurde nach intensiven Wochen erreicht, dass die Mensa-Öffnungszeiten im Wintersemester wieder ausgedehnt werden und eine Schließung vom Tisch ist. Eine Umfrage unter Studierenden und Angestellten soll helfen, das Angebot ansprechender zu machen.

Kay-Michael Dankl (Jus und Politikwissenschaft) ist aktiv im Netzwerk Kritischer Studierender Salzburg und in den Studienvertretungen Politikwissenschaft und Doktorat KGW.


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Der lange Weg zum guten Essen Die GesWi-Mensa bleibt: Das ist ein Erfolg. Aber es ist noch viel zu tun. Das beginnt bei den Mensa-Öffnungszeiten. Die sollten in Zukunft wieder ausgedehnt werden, um die Mensa attraktiver zu machen. Außerdem braucht es ein ansprechendes Angebot, angefangen beim Sortiment. Sehr engagierte Versuche der Mensa-MitarbeiterInnen fielen leider immer wieder den Einsparungen der Geschäftsführung zum Opfer. Und es reicht bis hin zu den Preisen, die für viele Studis immer noch empfindlich teuer sind. Die Preise müssen nicht den Mensa-Wünschen, sondern den Studierenden-Budgets entsprechen – und die sind im teuren Salzburg sehr begrenzt. Der Schlüssel für eine erfolgreiche Mensa, die von den Studierenden auch in großer Zahl genutzt wird, sind leistbare Preise, ausreichende Auswahl und bessere Qualität. ÖH-Frei:Kost: Selbstorganisiert kochen & speisen Sollte die weitere Entwicklung nach diesem Etappen-Schritt nicht in eine positive Richtung gehen, wird es langfristig günstige Alternativen brauchen, damit Studierende gut und gesund essen können. Das werden profitorientierte Lokale, die auf kaufkräftige Innenstadt-TouristInnen schielen und denen es nur um Profite geht, nicht leisten können. Es gilt, Alternativen zu entwickeln. Ein vielversprechendes Modell ist die Frei:Kost der ÖH. Das Prinzip ist einfach: Studierende kochen für Studierende, einmal wöchentlich und das in großen Mengen. Die Mitarbeit ist ehrenamtlich, die Organisation läuft über die ÖH und das Essen ist mit „pay-as-you-like“ €1 Soli-Spende unschlagbar günstig. Gekocht und gegessen wird in bester Innenstadt-Lage im ÖH-Freiraum, Kaigasse 17. Das Projekt wurde als günstige, selbstorganisierte Alternative gestartet und hat pro Semester über tausend Studierende erreicht. Die ÖH Salzburg hat das Projekt wieder aufgenommen. Auf www.oeh-salzburg.at und facebook.com/oehsalzburg kannst du dich über die nächsten Termine informieren. Wenn du selbst mitmachen willst, melde dich einfach unter organisation@oeh-salzburg.at!


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UNI & LEBEN

RITALIN RUNTER,

WIDERSTAND RAUF! …und täglich grüßt der Leistungsdruck. Mach kaputt, was dich kaputt macht! Vom Bildungspolitischen Referat der ÖH Uni Salzburg

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Stell dir vor, du wähnst dich frei und bist es nicht. Das Märchen des freien Hochschulzugangs in Österreich bleibt ein solches, wenn wir nicht konsequent in die Offensive gehen! De facto als „Hacklerkind“ an einer Universität inskribiert zu sein bedeutet noch lange nicht, ein erfülltes Studium betreiben zu können. Der soziale, wirtschaftliche und psychische Druck ist ungebrochen und zwingt uns in ein fatales Korsett der Wirtschaftlichkeit. Dabei bleibt das einzige, was wir von der Universität wollen, auf der Strecke: Bildung. Seit Beginn der 2000er Jahre ist ein Umbau an öffentlichen Hochschulen deutlich erkennbar, in der wissenschaftlichen Debatte, die sich mit diesem Thema auseinandersetzt, wird von einer Ökonomisierung oder einer Vermarktlichung von Hochschulen gesprochen. Durch die Unterzeichnung der Bologna-Prozesse werden Universitäten sowie Fachhochschulen in der EU und auch in Österreich dahingehend ausgerichtet, sich den wandelnden Bedürfnissen des Kapitalismus anzupassen, um zeitgemäße – also flexible, aktivierte und konkurrenzfähige – Arbeitskraft für den Neoliberalismus zu schaffen. Die am meisten wahrnehmbare Konsequenz, die

durch diesen Prozess angestoßen wurde, ist wohl die Umstellung der Studiengänge vom Diplom- auf das mehrgliedrige Bachelor-Mastersystem. Diese Umbauten, ebenso wie viele Reformen im Bildungsbereich im allgemeinen erhöhen den Druck auf die Individuen, die Eigenverantwortung steigt und man wird zum Manager oder der Managerin des eigenen Lebenslaufes erzogen, wodurch Risiken des Kapitalismus subjektiviert und individualisiert werden, der Leistungsdruck steigt. Außerdem sind Hochschulen durch die Reformen des Universitätsgesetzes in ihrer Struktur so umgestaltet worden, dass das Rektorat, bzw. RektorInnen die Hochschulen wie CEOs eines Unternehmens führen können. Das hat Konsequenzen für alle Bereiche der Universität, egal ob Verwaltung oder Lehre und Forschung. Hochschulen werden gleichzeitig vermehrt in Konkurrenz zueinander gesetzte, die ähnlich wie in Unternehmen an die MitarbeiterInnen weitergegeben wird und somit auch für Studierende spürbar wird (Stichwort: Hochschulranking und Wissensbilanz). Weiters sitzen durch die Reform im Universitätsrat vielfach Stakeholder aus Industrie und Wirtschaft, welche hierdurch Einfluss auf die Gestaltung der Hochschulen nehmen.


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Leistungsdruck als Konsequenz der Ökonomisierungstendenzen Mit einem zunehmenden Leistungsdruck und der Individualisierung bzw. Subjektivierung gesellschaftlicher und systemischer Risiken durch die Ökonomisierung von Hochschulen geht vielfach auch der Druck einher zu funktionieren oder so überspannt zu sein, dass man nicht mehr ohne Hilfsmittel abschalten kann. Dies spiegelt sich auch darin wieder, dass der Drogen- und Alkoholkonsum steigt.

tionsschwierigkeiten (23%), stressbedingte gesundheitliche Beschwerden (22%), Schwierigkeiten bei der Selbstorganisation des Studiums (17%). 42% waren laut eigenen Angaben durch mindestens eine der folgenden psychischen Beschwerden im Studium beeinträchtigt: Versagensängste/Prüfungsangst (24%), Existenzängste (20%), mangelndes Selbstwertgefühl (17%), depressive Stimmungen (17%), Kontaktschwierigkeiten, soziale Isolation (13%) (Studierenden Sozialerhebung 2015).

„RITALIN IST EINE DROGE FÜR DIE PFLICHTERFÜLLERGENERATION!“1

„WAS KANN MAN SICH SELBST SCHLIMMERES ANTUN, ALS SICH SO ZU FUNKTIONALISIEREN? ALS SICH ZUM SKLAVEN DIESES BILDUNGSSYSTEMS ZU MACHEN?“3

Österreich ist beim Drogenkonsum von Jugendlichen im europäischen Spitzenfeld. Passend zum zunehmenden Druck an Hochschule und Arbeitsplatz nimmt der Konsum von Aufputschmitteln zur Leistungssteigerung unter StudentInnen zu. Bspw. Ritalin macht wacher und konzentrierter, gleichzeitig aber auch ruhelos. Gereiztheit und verschiedene körperliche Leiden können die Folge sein. „Drogen und Medikamente zum Lernen zu nehmen, das nennt man an amerikanischen Universitäten „Pharming“.“2 Doch warum tun StudentInnen sich das an? Das Motiv ist Leistungsdruck und Konkurrenz. Im Sommersemester 2015 gaben 49% der Studierenden an (siehe Grafik 23), in ihrem bisherigen Studium durch mindestens einen der folgenden Stressfaktoren beeinträchtigt gewesen zu sein: Fehlende Studienmotivation (25%), Arbeits-und Konzentra-

Deswegen fordern wir als Bildungspolitisches Referat: •

Eine Rückkehr zum Diplomstudium

Gemeinsam statt einsam – Lernen im Kollektiv statt in Konkurrenz

Eine öffentliche Ausfinanzierung des Hochschulsektors statt Zugangsbeschränkungen

Abkehr von Bologna-Prozessen

Hochschulen, an denen Bildung und nicht Leistungsdruck das Studium bestimmt

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1 Zeit Campus, 2009: Ritalin: Ich bin ein Zombie, und ich lerne wie eine Maschine, online unter: http://www.zeit. de/campus/2009/02/ritalin 2 Ramoetzreiter, Heide, 2009: Sucht an der Uni: Unter Drogen zur Klausur, online unter: http://diepresse.com/home/bildung/ unilive/456897/Suchtan-der-Uni_Unter-Drogen-zur-Klausur 3 Zeit Campus, 2009: Ritalin: Ich bin ein Zombie, und ich lerne wie eine Maschine, online unter: http://www. zeit.de/campus/2009/02/ ritalin


politik & gesellschaft

POLITIK & GESELLSCHAFT

DIE QUAL (NACH) DER WAHL

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Niemand trauert dem schier endlosen Wahlkampf nach, der Österreich seit dem Frühjahr mit inhaltlicher Leere, Dirty Campaigning-Skandalen und gefühlten 2.198 TV-Debatten beglückt hat. Aber die eigentliche Qual bei dieser Wahl steht uns noch bevor. Gerade wir Studierende haben Grund, die schwarz-blaue Regierung, die uns jetzt blüht, zu fürchten. Von Kay-Michael Dankl

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m Dickicht der Tagespolitik verliert man schnell den Blick für das Ganze. Außerdem gewöhnt man sich schleichend an den politischen Wahnsinn in diesem Land. Also, was ist in Österreich eigentlich los? Allgemein rückt die Politik nach rechts. Das ist nicht nur in Ungarn, Polen oder in Trumps USA so, sondern auch hierzulande. Aber in Österreich hat der Rechtsruck nur eine beinhart rechtsextreme Schlagseite. Denn die FPÖ ist, nach nüchternen wissenschaftlichen Kriterien gese-

hen, eine rechtsextreme Partei. Sie vertritt eine völkisch-großdeutsche Blut-und-Boden-Ideologie, wird von deutschnationalen Burschenschaftern dominiert und hat einen Parteiobmann, der lange in Neonazi-Kreisen aktiv war. Diese Partei hat am 15. Oktober jede vierte Stimme erhalten. Gleichzeitig hat die ÖVP die Reste des Christlich-Sozialen über Bord geworfen und sich als FPÖ-Kopie mit besseren Manieren präsentiert. Inhaltlich ist sie von der FPÖ nicht mehr zu unter-

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scheiden. Der inhaltsarme ÖVP-Wahlkampf war beschränkt auf 2-3 asylpolitische Schlagworte, eine neue Farbe und ein junges Gesicht an der Spitze, das langjährige FPÖ-Forderungen harmloser erscheinen lässt als der polternde Strache. Soziale Konflikte in Österreich – wie die wachsende Schere zwischen Arm und Reich, der drohende 12-Stunden-Arbeitstag, eine ausreichende soziale Absicherung für alle, Löhne von denen man leben kann – wurden ethnisch-kulturell umgedeutet und auf „Die Ausländer sind schuld“ reduziert. Zusammen haben die rechtskonservative ÖVP und die rechtsextreme FPÖ mehr als die Hälfte der Stimmen erhalten. Gleichzeitig rückte auch die Sozialdemokratie politisch nach rechts und konnte nur auf Kosten der untergegangenen Grünen Partei den Absturz vermeiden. Aus der Geschichte nichts gelernt? Jetzt droht zum zweiten Mal in der Geschichte eine ÖVP-FPÖ-Regierung. Die Zeit der ersten schwarz-blauen Koalition (2000-2006) beschäftigt noch heute die Gerichte. Es gab zahlreiche Korruptionsskandale, öffentliches Eigentum wurde in haarsträubenden Privatisierungen verhökert und es wurden Milliarden an unser aller Geld z.B. für Kriegsgerät wie die unsinnigen Eurofighter verpulvert. Die Regierung führte Studiengebühren ein und baute in neoliberaler Manier die öffentlichen Unis nach dem Modell profitorientierter Firmen um. Nicht gerade die politischen Glanzstunden der Zweiten Republik.

„ÖFFENTLICHES EIGENTUM WURDE IN HAARSTRÄUBENDEN PRIVATISIERUNGEN VERHÖKERT.“ Dürfen wir für eine Regierung Kurz-Strache etwas Besseres erwarten? Leider nein. Schon im Wahlkampf haben ÖVP und FPÖ in Aussagen und ihren Wahlprogrammen angekündigt, eine neoliberale Wirtschaftsund Sozialpolitik zu betreiben und die rassistische Ausgrenzung, die im Wahlkampf bereits verbal betrieben wurde, auch mit Regierungsmacht auszuüben. Die Mittel für Soziales, Bildung und Gesundheit sollen massiv gekürzt werden, während den Reichen und den Firmen noch mehr Privilegien und Steuergeschenke winken. Studierenden droht schwarz-blaue Kostenlawine Wir Studierende sollten uns von der drohenden Rechtsaußen-Regierung gar nichts erhoffen. Die Ankündigungen, die Partei- und Wahlprogramme von ÖVP und FPÖ zeigen schwarz auf weiß, was uns be-

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vorsteht: Studiengebühren von mehreren tausend Euro für einen Bachelor oder Master, Zugangsbeschränkungen und Knock-Out-Prüfungen, Budgetkürzungen und noch mehr Abhängigkeit der Unis vom Sponsoring und den Profitinteressen der Wirtschaft. Anstatt die Studienbeihilfe endlich zu erhöhen, die Förderung für Studi-Heime wiedereinzuführen und leistbares Wohnen und günstige Öffis zu ermöglichen, droht der Rotstift. So ein Kaputtsparen trifft die Mehrheit der Leute hart, deren Wut weiterhin durch rassistische Hetze auf Sündenböcke gelenkt werden soll, während die Vermögen der oberen fünf Prozent steigen und steigen.

„WER NICHT AUS PRIVILEGIERTEN VERHÄLTNISSEN KOMMT, DEN TRIFFT DIESE VERSCHLECHTERUNG MASSIV.“ Das hat für viele Studierende spürbare Folgen. Als Unternehmersöhnchen oder Anwaltstöchterchen zahlt man 400 Euro Studiengebühren vielleicht mit dem Taschengeld der betuchten Eltern. Wer aber nicht aus so privilegierten Verhältnissen kommt, den trifft diese Verschlechterung massiv. Einen bitteren Vorgeschmack gibt es im schwarz-blau regierten Oberösterreich: Dort werden für alle Fachhochschul-Studierende Studiengebühren eingeführt. Das sind mehrere hundert Euro im Semester. Dafür müssen viele Studierende noch mehr arbeiten – und das obwohl schon jetzt zwei von drei Studierenden während des Semesters berufstätig sind. Für den Kindergartenbesuch am Nachmittag führt die OÖ-Regierung neue Abgaben ein. Das trifft vor allem Frauen hart, die dann – ganz nach der Kinder-und-Herd-Ideologie der Konservativen – eher daheim bleiben als zu arbeiten oder zu studieren. All das wurde (sicher zufällig) unmittelbar nach dem Wahltag verkündet. Was tun? Wie können wir als Studierende in Salzburg darauf reagieren, dass uns 5 Jahre Schwarz-Blau drohen? Es bringt wenig, den Kopf hängen zu lassen und sich allein durchzuwurschteln. Es ist auch sinnlos, sich selbstzufrieden zurückzulehnen, weil man eh etwas anderes gewählt hat, und bei einem Club Mate über die anderen zu schimpfen. Schwarz-Blau wird viele von uns in unserem Alltag betreffen. Um darauf reagieren zu können, müssen wir uns organisieren und gemeinsam aktiv werden. Dafür braucht es jeden und jede von uns, egal was man studiert, wie viel Zeit man hat und ob man sich schon mal wo politisch engagiert hat.

Kay-Michael Dankl (Jus und Politikwissenschaft) ist aktiv im Netzwerk Kritischer Studierender Salzburg und in den Studienvertretungen Politikwissenschaft und Doktorat KGW


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GRÜN WAR DIE HOFFNUNG

Um die Krise der Grünen zu verstehen, muss man einen Blick in ihre Anfänge werfen. Auf der Suche nach den Auslösern finden wir viele Anhaltspunkte in der Vergangenheit. Analyse von Alfons Kaufmann*

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ie Grünen sind nicht mehr im Österreichischen Nationalrat vertreten. Das Ergebnis wurde in den Wochen davor durch Wahlumfragen und Stimmungsbilder angekündigt, aber nicht ernst genommen. Zu groß war die Unsicherheit, ob die Umfragen richtigliegen. Daher wähle ich das Mittel der Deutung, der Spekulation, um die Krise der Grünen und was dahinterstecken könnte, zu beleuchten.

Anhand der Geschichte der Grünen möchte ich hier einen Rahmen eröffnen, durch den wir über ihre Krise nachdenken können. Dazu ist es notwendig, dass wir uns zu Beginn in die 80er Jahre zurückversetzen. In den 80ern wurde der Horizont kleiner. Es war ein Jahrzehnt der Resignation. Die radikalen Ideen der 60er und 70er Jahre wurden abgeschliffen. Aus Hausbesetzern, linken Agitations- und Theoriezirkeln und Abenteurern auf der Suche nach „dem Sand-


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strand unter dem Asphalt“ wurden PolitikerInnen und „Aktive“ in NGOs. Der frühere deutsche Grüne Thomas Ebermann erzählte einmal in einem Gespräch, dass sie die Grünen trotz, und nicht wegen ihrer Einsicht in die Möglichkeit einer radikalen Transformation der Gesellschaft gegründet haben. Sie brachten einen neuen Stil und neue Themen in die Parlamente. Dort fanden sie ihre Rolle als „kritische Korrektur“ in der politischen Kultur. Den resignativen Charakter der Zeit haben die Grünen nie abgelegt. Sichtbar wird die Frage, welche man sich stellen muss, wenn man eine Grüne Landespartei auf ihren Charakter untersucht. Agiert sie in einem Land mit konservativer oder sozialdemokratischer Mehrheit? Die Grünen wären nie zu einer Partei geworden, wenn nicht Mitglieder der ÖVP und SPÖ zu ihnen gegangen wären. Auch wenn die Partei längst ihre eigenen Mitglieder hervorgebracht hat, lebt der Ursprung in Rot oder Schwarz in der Partei fort. Nicht als bewusste Lager, aber als Spiegelbild der politischen Landschaft in der sie arbeiten. Sie konnten diese Landschaft nie umgraben, nie so sehr zur Macht kommen wie die Parteien, die zweimal die Republik Österreich gegründet haben, die SPÖ und ÖVP. In der Rolle des Junior Partners haben die Grünen ihre Aufgabe gefunden. Das Ziel war eine Grüne Handschrift, durch die man einer besseren Welt ein Stück näher kommt. Dadurch lässt sich sagen, dass die Grünen sich selbst als den fortschrittlichen, progressiven Flügel des Neoliberalismus sahen, jedenfalls wenn man unter neoliberal einen Zeitgeist und nicht einfach ein Bündel von Dogmen versteht. Als der Neoliberalismus seinen Siegeszug vollzog, zogen die Grünen nach – als sein schlechtes Gewissen. Während die Alternativen der 68er durch eine andere Lebensführung, demonstrativen Wiederstand und andere „Praxen der Privatheit“ die Welt verändern wollten, wählten die Grünen ein politisches Mittel zum Erklimmen kleinerer Berge. Überspitzt könnte man sagen, dass die 68er keinen politischen Körper hervorbrachte, der siegen konnte. Daher haben sie den Begriff des Politischen immer mehr auf hedonistische Lebensführung, ein ethisches Leben, Selbstfindungstrips und andere kleine greifbare Utopien angewendet. Bei den Grünen zeigt sich, wie sich dieses Verständnis in sein Gegenteil umkehren kann. Der „Marsch durch die Institutionen“, eine dem Maoismus entlehnte Metapher für den Eintritt einer ganzen Generation von Alternativen in den Staat und

seine Parteien, hatte das „nüchtern werden“ einer Generation von „Träumenden“ zur Folge. Die schwerwiegenden Konsequenzen dieses Traumes werden sichtbar, wenn man sie mit den Werten ihrer neoliberalen Gegner vergleicht. Wie diese standen die 68er den etablierten Institutionen der „verwalteten Welt“ negativ gegenüber. Dem gegenüber stand das Ideal eines spontanen, kooperativen Menschen, der sich nicht durch das Alte, Verfestigte binden lässt. Dieses Unbehagen an Institutionen förderte eine politische Kultur, in der es Macht gab, auch bei einem selbst, aber keine Mittel mehr, über diese nachzudenken, diese bewusst anzugehen. Anhand der Frage „wer führt die Grüne Partei?“ wird dieses Problem klar sichtbar. Hier liegt der Grund, warum die Partei fast immer von ihrem rechten Flügel geführt wurde. Dieser sah die Möglichkeit einer Kooperation, einer „Grünen Handschrift“ in der Zusammenarbeit mit der Volkspartei. Diese haben erkannt, dass man Wahlen nicht einfach durch interne Demokratie, sondern durch das Treffen von Entscheidungen und das professionelle Lösen von technischen Fragen - „wie organisiert man eine Kampagne, welche Zielgruppe könnten wir noch dazu gewinnen?“ – gewinnt. Im linken Flügel der Grünen bestand eine große, aus 68 geerbte Angst davor, das Macht korrumpiere. Damit wurde Ambivalenz getilgt und das eigene Tun moralisierend überideologisiert. Was man isst, was man kauft, wie man spricht, das wurde zum eigentlich Politischen. Das Tun muss schon so sein, wie man die Welt haben möchte. Weil sie Führung als etwas Rechtes ansahen, wurden sie von den Rechten geführt. Die ÖVP hat sich eine alternative Floskel zu Herzen genommen: Du musst dich erst selbst verändern, wenn du die Welt ändern möchtest. Sie hat ihren eigenen Banden und Cliquen befohlen, sich etwas zurück zu nehmen, wenn sie weiterhin an den Hebeln sein wollen. Die starrste aller Parteien, die Volkspartei, hat sich verändert, um eine Kraft zu werden, die ein Ende der Sozialpartnerschaft einleiten kann. Damit haben sie eine Dynamik losgelöst, auf die die Grünen nicht vorbereitet waren. Auf einmal konnte man wählen und damit sogar etwas entscheiden. Weiter mit Rot/ Schwarz oder lieber das Risiko eingehen und Kurz dabei unterstützen, den Gordischen Knoten der Sozialpartnerschaft zu zerschlagen? Die Demokratie hat den scheinbar Progressiven eine Niederlage erteilt. Gleich wie in UK und den USA. Angesichts dieser Zustände ist es fraglich, wie wir uns in einem Jahr, also 50 Jahre nach 1968, an die Leistungen dieser Generation erinnern werden.

Name von der Redaktion geändert.

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„WEIL ICH (K)EIN MÄDCHEN BIN“!?

Ein Plädoyer an die Weiblichkeit und ans Frausein von Carolina Forstner

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enn diese Ausgabe der uni:press erscheint, ist der rechte Shitstorm der, so haben es öffentliche Protestwellen auf Social Media Kanälen nun mal so in sich, so schnell versiegt wie er sich aufgebäumt hat. Initialzündung für die Hasspostings – ein neues Werbesujet der Drogeriekette bipa. Unter dem Claim „Weil ich ein Mädchen bin“, vollzog der Konzern am 16. Oktober ein sogenanntes „Marken-Relaunch“. Prolog: Die „besorgten BürgerInnen“ Eigentlich macht bipa in seiner Werbekampagne viel richtig – zeigt mit der Wahl einer muslimischen Frau mit Kopftuch, als eine der Werbeträgerinnen, Mut zum Aufzeigen von Diversität in der österreichischen Gesellschaft. Ob nun einkalkulierter, aufmerksamkeitspushender Shitstorm, oder nicht – rechte Rülpser auf sozialen Medien abzuwehren war sicher nicht Hauptziel der Kampagne – VerteidigerInnen des sogenannten „Abendlandes“ und besorgte BürgerInnen wohin man sieht. Die Facebookwall der Drogeriekette erstickte förmlich unter der Last der rechten Trolle, die um den Verlust „unserer österreichischen Werte“ bangten, angeregt durch ein Stück Stoff um den Kopf einer Frau. „I’m not a girl – yet a woman!“ "Eigentlich macht bipa in seiner Werbekampagne

viel richtig", steht ein paar Zeilen über diesen. Auf den ersten Blick ja; doch als ich von den neuen Werbemaßnahmen der Drogerie erfuhr und mir den Onlineauftritt, samt breit angelegter Social Media Kampagne, zu Gemüte führte, verspürte ich einen Stich in der Magengrube. Sätze wie „Moderne Frauen müssen sich nicht entscheiden, Sie können Erfolg UND Spaß haben. Denn egal wie stark und selbstbewusst wir sind – in jeder von uns steckt immer noch das Mädchen von früher.“1, brachten mich zum Grübeln, über mich und mein Frausein im Jahr 2017. Möchte ich als erwachsene Frau Mitte 20 noch als Mädchen bezeichnet werden? Mit dem Begriff „Mädchen“ verbinde ich die Vorstellung einer weiblichen Person, die sich noch im körperlichen Wachstum befindet, deren Körper vielleicht noch vorpubertär und kindlich ist und die bestimmt noch bei ihren Eltern wohnt, denn so wohnen nun mal Kinder (minderjährige Mädchen wie Buben). Aber ich verbinde mit dem Begriff „Mädchen“ nicht nur eine schlichte Altersbestimmung, sondern auch oftmals eine Anhäufung von stupiden Geschlechterklischees, die Mädchen und natürlich auch Buben anhaften. Zuschreibungen wie: süß, zurückhaltend, verletzlich, fleißig in der Schule (aber nicht so gut in naturwissenschaftlichen Fächern, eh klar), tragen mit Vorliebe rosa Kleidchen, spielen mit Puppen, sind „mädchenhaft“ und für das weibliche Geschlecht reserviert.

1 http://bit.ly/2gSuaV8 2 Auszug aus dem Songtext: „Mädchen“ von Lucilectric: http://bit.ly/2zeIr97 Bilder Bipa: © bipa/serviceplan austria


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Auch wenn wir es vielleicht „wirklich nicht so meinen“, wenn wir Frauen als Mädchen bezeichnen, setzen wir unsere Aussage in einen bestimmten Bedeutungsrahmen. Und ja, wenn KritikerInnen mir hier – ähnlich wie bei Genderdebatten, oder bei Diskussionen rund um das allseits gefürchtete Gender Watch Protokoll – Wortklauberei nachsagen werden, halte ich stur daran fest: Unsere Wortwahl vermittelt bestimmte Rollenund Geschlechterbilder. Immer. Der Slogan: „Weil ich ein Mädchen bin“, verniedlicht und setzt ein progressives und nach Gleichberechtigung strebendes Frauenbild herab. Starke, moderne Frauen brauchen keine Rückkehr in eine „heile Welt“, keine Pause vom „Toughsein“ wie es in den Werbespots der Drogeriekette heißt.

"Geschlechterklischees aufbrechen?" pt.1

Ich hab beim Slogan „Weil ich ein Mädchen bin“ übrigens immer diesen furchtbaren Lucilectric-Song als Ohrwurm: Was'n das für 'n wundervoller Hintern der da neben an 'nem Tresen steht und der Typ der da am Hintern noch mit dran ist hat sich grade zu mir umgedreht Und ich lach ihm zu oh prima den nehm ich nach Hause mit und da lehn ich mich zurück und lass dem Mann den ersten Schritt Mir geht's so gut, weil ich 'n Mädchen bin, weil ich 'n Mädchen bin komm doch mal rüber mann und setz dich zu mir hin weil ich 'n Mädchen bin, weil ich 'n Mädchen bin keine Widerrede mann, weil ich ja sowieso gewinn, weil ich 'n Mädchen bin Und der Hintern kauft mir viele schöne Sachen und dann lädt er mich zum Essen ein klar lass ich mich auch ganz ohne Kohle küssen doch wenn der meint das muss so sein sag ich nicht nein Ich bin so froh dass ich 'n Mädchen bin, dass ich 'n Mädchen bin (…)2

"Geschlechterklischees aufbrechen?" pt.2

Carolina Forstner studiert Jüdische Kulturgeschichte und ist neben ihrer Tätigkeit als Studienassistentin seit Anfang 2016 im Pressereferat aktiv.


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UNSICHERHEIT Von Carolina Forstner

Unsicherheit, die • Befangenheit, Gehemmtheit, Hemmungen, Scheu[heit], Schüchternheit, Verklemmtheit, Verkrampfung, Verlegenheit, Verschüchterung, Verwirrung; (Psychologie) [Minderwertigkeits]komplex • Gefahr, Risiko, Schwierigkeit, Unberechenbarkeit, Unsicherheitsfaktor, Unwägbarkeit; (bildungssprachlich) Imponderabilität; (dichterisch) Fährde, Fährnis1

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o definiert jedenfalls der Duden Unsicherheit, ein Begriff, der sich meiner Meinung nach je nach Lebensphase neu einpendelt und nicht nur vom Selbst – sondern auch Eigenbild neu kalibriert wird. Frühe Teenagerzeiten, in denen Unsicherheiten oft aufgebaut werden und als unumgänglich gelten, werden verhüllt durch Scham und Unerfahrenheit. Der Kraftakt der Entwicklung eines eigenen Ichs verlangte uns allen viel ab – manche wunden Punkte meißeln sich in unser Gedächtnis ein, bleiben ein Stigma, manchmal präsenter, dann wieder in den Untiefen unseres Bewusstseins vergraben. Der Eintritt ins Erwachsenenalter bringt einen Kulissenwechsel mit sich: Es gilt, Unsicherheiten, „Schwächen“ zu lösen, die radikalsten und unangepasstesten Züge des Ichs zu glätten und ihnen nicht auf den Grund zu gehen, oder sie gar verstehen zu wollen – eine klassische Catch-22-Situation2, weil die Unfähigkeit, Unsicherheiten zu lösen, sich zu einer neuen „Schwach-

stelle“ entwickeln kann. Der Druck, mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter alle Spuren von Selbstzweifeln zu verwischen, liegt auf unseren Schultern wie Blei. Impliziert er nicht, dass wir weniger verletzlich und daraus folgend gar weniger Mensch sind je älter wir werden? Ich für meinen Teil habe beschlossen, meine Unsicherheiten zu untersuchen, mit dem Ziel, ganz nach einem Zitat des deutschen Psychoanalytikers Erich Fromm zu leben und mir selbst das Ziel zu setzen, meine Unsicherheiten zu tolerieren anstatt nach dem schier unmöglichen Ziel, dem Gefühl der vollendeten Sicherheit, zu streben. Es hilft, die eigenen großen Unsicherheitsfaktoren auszuloten (das eigene Körperbild, gescheiterter Perfektionismus), nicht minder aber hilft es, ein paar Zeilen von Menschen, die in ähnlichen Lebenssituationen stecken, zu lesen. Ich habe einige Frauen aus meinem Umfeld, alle Mitte 20, über ihre bis jetzt noch ungelösten Unsicherheiten befragt.3

1 http://bit.ly/2zqqSDH 2 Beschreibt ein Dilemma, aus dem ein Individuum aufgrund widersprüchlicher Regelwerke nicht entkommen kann. Siehe Joseph Hellers 1961 erschienen weltbekannten Roman Catch 22, welcher die Absurdität der Kriegsmaschinerie persifliert. 3 Namen und Alter der befragten Frauen wurde teilweise, auf Wunsch der Befragten, geändert.


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Unsicher? Ich doch nicht! Das denke ich mir zumindest immer, bis mir dann beim nächsten Bewerbungsgespräch, einer Präsentation an der Uni oder einer mündlichen Klausur vor lauter Nervosität die Farbe aus dem Gesicht weicht und ich mich immer wieder frage „Bin ich gut genug?“. Ich glaube, dass es viele junge Frauen gibt, denen es ähnlich geht und für die Erfolgs- und Leistungsdruck ständige Begleiter im Berufs- und Lebensalltag sind. Mir ist es wichtig, diese Dinge offen anzusprechen, denn nur so kann sich etwas ändern. Unsicherheiten sind schließlich dazu da, um überwunden zu werden. - Martina, 23 Unsicher fühl ich mich, wenn jemand vor mir einen top Vortrag hält, und ich meinen eigenen für weniger gut befinde. Das geht aber meistens schnell vorbei. Ansonsten fühl ich mich kaum unsicher - ich musste glücklicherweise auch relativ lang darüber nachdenken, wann ich mich wirklich unsicher fühl. Ich denke, ich bin in meinem sehr linken Elternhaus zu viel Selbstbewusstsein erzogen worden. - Petra, 25 Ich bin 26, ich war noch nie in Kalifornien und ich will noch dringend in einem Indiana-Jones-Boot durch einen Fluss in Asien rasen, mich verlieren, neu erfinden, mir noch mindestens einmal richtig das Herz brechen und weiße Haie sehen. In 9 Jahren bin ich 35. Ab 35 fällt man automatisch ins Feld der Risikoschwangerschaft. Wie viel verunsichernder kann man ein Wort gestalten?! - Shula, 26 Ich hatte nie Angst davor, nicht gemocht zu werden oder in der Schule oder der Uni zu versagen - mir mangelte es in der Hinsicht nie an positiven, stärkenden Rückmeldungen, die ich von Eltern, Freund*innen, Lehrer*innen und Eltern von Freund*innen bekam. Was mich ab einem Alter von 8 Jahren verunsicherte, war mein Äußeres. Ich hasste meine Winterjacke, weil ich darin dick aussah und in der Pubertät schämte ich mich, wenn ich mich für’s Waschen und Umziehen auszog. Aus der Unsicherheit wurde mit 13 Jahren eine Essstörung, die sich aber allein auf die pubertären Jahre beschränkte. - Christa, 28 Ich trage keinen BH. Damit aufgehört, einen zu tragen, habe ich auf einer Selbstfindungsreise mit 18. Damals war ich dann eine ganze Zeit lang magersüchtig und hatte deshalb ohnehin kaum etwas Nennenswertes, um es in einen BH zu verpacken. Mittlerweile bin ich psychisch und physisch gesund – und habe dementsprechend auch wieder wirkliche Brüste. Dass ich keinen BH trage, sieht man jetzt auch (mal mehr, mal weniger, je nachdem was ich anhabe). Ich ernte dafür manchmal Blicke und es haben mich auch schon Mädels gefragt, warum ich denn bitte keinen BH anziehe. Eigentlich eine legitime Frage – aber ich fühle mich extrem verunsichert. Ich habe das Gefühl, die ganze (weibliche) Welt trägt BH, nur ich nicht. Das kann ich nicht nachvollziehen in einer Zeit, in der wir doch feministisch schon weit gekommen sein sollten. Der BH ist für mich ein verkürztes Korsett, so fühlt es sich für mich an. Ich fühle mich eingeengt in ihm. Geht es denn wirklich nur mir so? - Linda, 24 Ich war schon immer etwas anders, zumindest hatte ich das Gefühl. Ich bin kein typisches Mädchen. Ich beiße Fingernägel und obwohl meine Mama seit ich ein Kind Kind war immer sagt, dass die Hände einer Frau ihre Visitenkarte seien, habe ich bis heute nicht aufgehört. Ich bin jetzt 25 und habe meinen ersten richtigen Job. Leider bemerke ich hier umso mehr, dass ich anecke. Als ich in der Arbeit einmal gefragt wurde, welchen Arzttermin ich an einem Freitag Nachmittag hätte ich und ich darauf völlig unbedacht erzählt habe, dass ich mal Hypnose ausprobieren möchte wegen meinen Fingernägeln, schauten mich meine ArbeitskollegInnen ganz geschockt an. Das sagt man nicht, klärte mich ein Kollegin zwei Monate nach dem Vorfall auf. Bis heute kann ich ihre Argumentation nicht ganz nachvollziehen. Es wäre besser gewesen, ich hätte gesagt, dass ich zum Frauenarzt gehe, dann hätte niemand mehr weiter nachgefragt. Und so wurde ich immer unsicherer, was ich erzählen dürfte und was nicht. Einerseits sollen wir ein Team sein, das sich untereinander duzt und einen freundschaftlichen Umgang pflegt, andererseits gibt es Grenzen. Wo diese liegen, gilt es herauszufinden, aber auch für mich selbst zu definieren, denn nur weil "man nicht über sowas spricht" heißt es nicht, dass ich nicht darüber sprechen werde. Die Frage wann etwas angebracht ist und wann nicht, bleibt jedoch vorerst bestehen. Kommunikation ist eben nicht leicht und mindestens von zwei Personen abhängig, wobei der Rahmen, in welchem kommuniziert wird freilich großen Einfluss darauf hat, wie und ob etwas verstanden wird. - Magdalena, 25


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MOVEMENT. 1) Movement – a group of people with an ideology, a belief that they want to put across, to make a change. Other Voice – a movement that believes that dialogue is so much more powerful than violence and that life here + life there. 2) Movement – the action of moving from place to another for whatever reason. I moved, from England to Israel – being from a Zionist who believed that only here would we really feel at home. Later from one town to another because of work or studies and then forced to move from one region to another for the sake of turning an enemy into a peaceful neighbor. Later on, to Egypt where I discovered that there are two people here that need to be recognized and considered when creating a new just future with “no more was, no more bloodshed”, definitely a possibility worth striving towards. By Roni Keidar

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came from England to live in Israel in 1951, three years after the State of Israel was recognized by the UN as an independent Jewish state within set borders. I was 8 years old at the time, grew up in Jerusalem learning the history of the Jewish people – the Diaspora, the Holocaust, the establishment of the Jewish State for the Jewish People. I also grew up experiencing a war in 1956 – Israel against the Arab World who could not accept a Jewish democratic state in their midst. I remember the fear, the worry and also the victory.

It was in 1965 that I met and married my husband who came from Egypt – Jewish people from all corners of the earth reuniting here in Israel, the only place they really feel is home. It was only much later that I realized that there is another people – a Palestinian People – who say exactly the same, who go back in history and say this is the home of my ancestors. Who is right and who is wrong? In fact, is there actually a right and a wrong? That I believe is the essence of this conflict, a problem, that maybe does not have a solution but if the will is there, on both sides, a way out of this catch can be found.

*Gekürzte Fassung. Die Langversion findet ihr auf unipress.oeh-salzburg.at


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My husband is a specialized agriculturist, graduated here at the Hebrew University. With his professional knowledge and fluency in Arabic, after the 1967 war he was asked to go to the Gaza Strip and Northern Sinai and teach modern methods of agriculture there. While doing so he realized the potential that area had so as soon as the government started developing Israeli village there, he came home and suggested we join one of them applying, himself, what he was preaching to others. As he predicted the success was not late to come, the climate was good to us, the sand was good to us. We specialized in winter crops, we managed to come out and pick crops when they couldn’t anywhere else in the country. Most families enlarged their homes, enlarged their families and went into more and more sophisticated types of agriculture. There was a good relationship among the villages working together to create a good quality of life in education for our children and cultural activities for us all. There was also a very good relationship with our Palestinian neighbors. Our nearest towns were Rafah and Gaza. That is where we shopped and banked. I took my diving lessons with a Palestinian teacher in Rafah. So you see I do know for a fact that it can happen.

We can live side by side, accepting one another, in mutual respect. After ten years of euphoria while we were in the midst of preparing our tenth anniversary in the Northern Sinai, the totally unexpected happened – an Arab leader, Anwar-El-Assadat, offered his hand in peace. This was something that never occurred to us could ever, ever happen. The condition for this peace, was that all the land taken in the 1967 war be returned to Egypt – the whole of the Sinai Peninsula, from Eilat to the Suez Canal and along the coast till north of Gaza… But no, Egypt did not want Northern Rafah and Gaza. This piece of land was left for the Palestinian people. A stretch of land 41 Km long 6-12 Km wide, a total area of 365 square meters with a population of over 2,000,000, today – the 3rd most populated polity in the world. Nevertheless, on these conditions a peace treaty between Egypt and Israel was signed. We left the our villages and relocated ourselves right on the northern border of the Gaza Strip, within the internationally recognized border of Israel, as close as we could to our original village, knowing the agricultural advantages we had there but not on negotiable land again. 66 families 56 from the original Netiv Haasara and another 10 families all from neighboring villages in

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Roni is from Netiv Haasara, a moshav of 700 people just a few feet north of the border with the Gaza Strip. In Roni’s retirement, she decided to study international relations to help understand the impossible situation they are living in and to create a new reality of peace and empathy on both sides of the border between southern Israel and Gaza. She also helps people from Gaza get medical treatment in Israel. Roni is also active in the group Kol Acher (“Other Voice”), citizens who live in Sderot and other Israeli communities surrounding the Gaza Strip. Its members come from diverse backgrounds and hold a broad range of opinions and beliefs. People in the region have suffered from bombings. Other Voice calls for “creative action that will bring about a long-term and real solution to the region.


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the Northern Sinai, all people who had been evacuated from their homes and decided to make a fresh start here. All people who had been reimbursed compensated for everything they left behind and with that we were ready to start our new venture. The first years were great. Everyone was busy building their new homes and developing their new farms. Many of our Palestinian neighbors came to work with us people would continue going in to Gaza to shop to visit to fix cars and gadgets. It wasn’t until the mid 1990’s that things started changing. Every now and then a suicide bomber or an explosive truck would come across from Gaza and blow up in various parts of the country, killing innocent men, women and children. Every time this happened the border would be closed, no one was allowed in or out. These were actually the times I felt frightened of living so close to the border, knowing people were closed in without being able to go to work, to provide for their families, bored and frustrated. Sure enough, as expected, things started getting from bad to worse, missiles, rockets, mortar shells fired daily, several times a day, sometimes with a gap in between but we never knew when the next alert would be sounded.

„EVERY NOW AND THEN A SUICIDE BOMBER OR AN EXPLOSIVE TRUCK WOULD COME ACROSS FROM GAZA AND BLOW UP IN VARIOUS PARTS OF THE COUNTRY, KILLING INNOCENT MEN, WOMEN AND CHILDREN.“ In 1982, after we had just finished building our new home in the new Netiv Haasara, the government approached my husband and asked him to go to Egypt as an agricultural consultant. Our first answer was, NO. We were not going to help them in any way. In fact, my husband says that the Egyptians had evacuated from his home twice – once in 1956 in a state of war, when Nasser exiled all Jews from Egypt confiscating everything they had, allowing them to leave


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with a suitcase with their everyday belongings. The second time was in 1982 for the sake of peace. After thinking a little more about it we decided that if by taking the position we might contribute to making this peace treaty a lasting peace, he should go ahead and so in 1983, my husband left us here and went to Egypt to introduce modern methods of agriculture. After a very successful year he was asked to continue and we joined him as a family, leaving my oldest daughter to do her compulsory military service. We spent over four years in Egypt, four extremely educational years, four years that taught the children and myself so much about a people we really knew nothing about, except my husband’s family and yet had so much prejudice. This was when I discovered for the first time that there are two sides, at the least, to this story of the Middle East, two people sharing the same history each seeing it from their prospective. Neither were lying, each were seeing the same dates, the same incidents from their own perspective. It is so easy when you know one side of the story. You have no doubts. Due to my special experience I am conscious today of the other side. No matter how difficult, I am glad that I can see a full picture because I

believe that only when you realize that there are two sides to consider, is there any chance of coming to a break through. Through my recognition and understanding I also realized the power that is in dialogue. I found that dialogue is so much more powerful than violence – the power of understanding, respecting and accepting even when you do not necessarily agree to everything. Dialogue can go along way – listening, learning, trying to understand not necessarily judging, not condescending – something we must all try to do for the better of all concerned. Today, on Netiv Haasara, we are 230 families and 70 more have started building their homes here. On the other side of the border – the wall – there are over 2 million people closed in the biggest open prison in the world. Yes, I know why. I know there is a reason. But I also know that we are two people with a link to this small piece of land, with a history of five thousand years or five hundred years, does it really matter. Today we are both here, fighting for our survival, both wanting to live a healthy, free and secure life. This can be, if only we realize that a life worth living on one side = a life worth living on the other.

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DEMOKRATIE HEISST

VOLKSHERRSCHAFT

„Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten“, soll der deutsche Schriftsteller Kurt Tucholsky einmal formuliert haben. Natürlich, Wahlen können kleinere oder größere Verschiebungen der Kräfteverhältnisse bringen, so wie auch bei den Nationalratswahlen 2017. Aber sie bleiben doch immer innerhalb der Grenzen der bestehenden kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse. Von Stefan Klingersberger

W

er die bürgerliche Demokratie verstehen will, muss betrachten, was ihr zugrunde liegt: Die kapitalistische Produktionsweise. Kapitalismus bedeutet notwendigerweise Ausbeutung der arbeitenden Teile der Bevölkerung sowie Unterdrückung bzw. Einlullung jeglichen ernstzunehmenden Widerstands gegen dieses System. Es kann auch gar nicht anders sein: Das Kapital muss sich den erarbeiteten Mehrwert aneignen, bei Strafe des Untergangs. Der überwiegende Teil der österreichischen Bevölkerung wird daher tagtäglich ausgebeutet.

„KAPITALISMUS BEDEUTET AUSBEUTUNG UND UNTERDRÜCKUNG, IMMER UND ÜBERALL.“

Die von den ApologetInnen des Kapitalismus verbreiteten Schlagworte der bürgerlichen „Demokratie“ und „Freiheit“ sollen suggerieren, dass das gar nicht so schlimm sei. Schließlich entscheide man sich ja „frei“ für ein ausbeuterisches Arbeitsverhältnis, und wenn es einem nicht gefalle, könne man es ja beenden oder man geht es gar nicht erst ein. Eine so verstandene Freiheit ist aber rein formal und daher völlig unzureichend: Ja, rein theoretisch ist jeder dazu freigestellt. Aber de facto ist der Großteil der Bevölkerung dazu gezwungen, derartige Arbeitsverhältnisse einzugehen, um Miete bezahlen und Essen kaufen zu können.


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„DIE ENGEN GRENZEN DER BÜRGERLICHEN DEMOKRATIE MÜSSEN GESPRENGT WERDEN.“

So unzureichend wie die „Freiheit“ im Kapitalismus ist auch die „Demokratie“. Bürgerliche Demokratie hat mit dem Wortsinn „Volksherrschaft“ so gut wie gar nichts zu tun: Sie dreht sich im Wesentlichen darum, dass man alle paar Jahre mal ein Kreuzchen bei einer Partei machen darf. Zudem unterscheiden sich die zur Auswahl stehenden Parteien kaum. Die grundlegende Gemeinsamkeit lautet, dass das bürgerliche, kapitalistische System mit allen Mitteln gestützt wird. In dieser zentralen Hinsicht kann man in Anlehnung an Gore Vidal sagen, dass es in Österreich eigentlich nur eine Partei mit mehreren rechten Flügeln gibt. Von dieser grundlegenden Gemeinsamkeit abgesehen sind oft nicht einmal die oberflächlichen Unterschiede sonderlich groß. In vielen Fällen bestehen sie einfach nur darin, dass ÖVP und FPÖ das tun und offen aussprechen, was SPÖ und Grüne an ihrer Stelle zwar genauso tun, aber mit blumigen Worten umschreiben oder verheimlichen würden. Faymanns „Türl mit Seitenteilen“ war hierfür ein Paradebeispiel.

Wenn sich gegen die mögliche Neuauflage einer schwarz-blauen Regierung wieder Protestbewegungen formieren sollten, so mag das gut und richtig sein. Entscheidend wird dabei aber sein, dass nicht wieder die Illusion entsteht bzw. verstärkt wird, eine andere Regierungskoalition wäre besser. Bei allen Unterschieden, die die Parlamentsparteien untereinander haben mögen: Ihre Gemeinsamkeiten sind viel grundlegender. Die Grünen oder die SPÖ sind daher keine glaubwürdigen BündnispartnerInnen für Proteste gegen eine schwarz-blaue Regierung. Die engen Grenzen der bürgerlichen Demokratie müssen gesprengt werden, wenn sich in unserer Gesellschaft wirklich etwas zum Besseren ändern soll. Das geht aber nicht durch Wahlen, sondern nur durch eine gut organisierte und revolutionär gesinnte ArbeiterInnen- und Volksbewegung. Nur so kann eine wirkliche Volksherrschaft errungen werden.

Näheres zum prinzipiellen Ausbeutungsverhältnis im Kapitalismus findet sich bei Karl Marx: Lohn, Preis und Profit, 1865, http://bit.ly/2hNyQ1Y Über die Rolle des Staates im Kapitalismus findet sich Grundlegendes bei Wladimir Lenin: Staat und Revolution, 1917, http://bit.ly/2i4jPW5


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DIE IDEEN STERBEN NICHT

Wer nicht pünktlich ist, bekommt keinen Sitzplatz mehr an diesem sommerlich-heißen Freitagabend. Der kleine Raum im 1. Stock des „Das Kino“ ist voll besetzt, im Foyer werden hausgemachte somalische Krapfen und fair gehandelte Nüsse angeboten. Der Salzburger Verein „LOSITO“ hat in Zusammenarbeit mit verschiedenen weiteren Einrichtungen einen Abend organisiert, der den revolutionären Ideen Thomas Sankaras gewidmet ist. Sankara regierte von 1983 bis zu seiner Ermordung 1987 das westafrikanische Land Burkino Faso und stieß während seiner Amtszeit weitreichende Reformen an. Von Jana Nopper und Alan Schink

I

n europäischen Schulen lernt man kaum etwas über afrikanische Geschichte. Schon der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Hegel sagte über Afrika, es sei der Kontinent ohne Geschichte. Vom eurozentrischen Idealismus zum Kolonialismus ist es ideengeschichtlich nicht weit. Letzterer wird bestenfalls im Englischunterricht noch (kritisch) thematisiert. Das europäische Afrika-Bild ist wesentlich von Katastrophen-Meldungen und Werbeplakaten sogenannter „Entwicklungshilfeorganisationen“ geprägt. Wer kennt schon Geschichten von starken afrikanischen Frauen und Männern, die selbstständig für ihre Ideen von einer lebenswerten Zukunft in ihren Heimatländern eintreten? Zu diesen selbstbewussten Visionär_innen gehörte zweifelsohne Thomas Sankara.

1949 wird Thomas Sankara im damaligen französischen Überseeteritorium Obervolta, heute Burkina Faso, geboren. Als Sohn eines Mossi und einer Peul ist Sankara schon früh gezwungen, seine eigene Identität jenseits vorgegebener Stammes- oder ethnischer Zugehörigkeiten zu entwickeln. Sankaras Kindheit ist nach eigenen Aussagen von einem starken Ungerechtigkeitsempfinden geprägt, das ihn sein Leben lang antreibt. Schon früh wird die schulische Begabung des jungen Sankara entdeckt und ihm der Besuch einer Militärschule ermöglicht. Das politische Bewusstsein des jungen Offiziers bildet sich schließlich beim Volksaufstand in Madagaskar, wo er Anfang der 1970er Jahre stationiert ist. Es ist diese Zeit, in welcher Thomas Sankara und seine Kameraden die entscheidenden Impulse für die entristische1 Revolution in ihrem Heimatland bekommen.

1 Der Entrismus ist eine von kommunistischen Organisationen angewandte Taktik des gezielten (mitunter heimlichen) Eindringens in Organisationen, vor allem in Parteien der Arbeiterbewegung, seltener anderer Sozialer Bewegungen, z. B. mit dem Ziel, von innen heraus Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen. (vgl. Wikipedia)


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Eingeleitet wird der Sankara-Abend im „Das Kino“ von Hamado Dipama vom Panafrikanismusforum München mit einem Überblick über die Kolonialgeschichte Burkina Fasos. Danach folgt eine Buchpräsentation. Verschiedene Ausschnitte aus dem gerade erschienenen Buch „Thomas Sankara. Die Ideen sterben nicht!" werden vorgetragen. Dabei nimmt die legendär gewordene Rede Thomas Sankaras vor der African Unity Summit 19872 breiten Raum ein. Sankara spricht dort im Namen der kolonisierten, unterdrückten und verschuldeten Staaten der Welt und fordert dazu auf, die Schulden, die auf die Jahrzehnte lange ökonomische Ausbeutung dieser Länder durch die ‚westlichen‘ Industrienationen zurückzuführen sind, nicht zurück zu zahlen.

General und Präsident Blaise Compaore gestürzt, der das Land seit der Ermordung Sankaras regiert hatte. Diese politische Entwicklung hat dazu geführt, dass zahlreiche Archivaufnahmen aus der Sankara-Zeit nun wieder zugänglich sind. Die Bilder zeigen einen charismatischen und mitreisenden Revolutionär, der die Bevölkerung und auch die Zuschauer_innen durch seine starken Reden, seine scharfen Analysen und seine Tatkraft ansteckt. Sankara gibt dem von den französischen Kolonialherren so genannten „Obervolta“ den bedeutungsvollen Namen „Burkina Faso“ - das Land der aufrichtigen Menschen. Er lässt eine Fabrik bauen, um die dort angebaute Baumwolle im eigenen Land zu verarbeiten, statt sie zu ausbeuterischen Preisen in den Westen zu exportieren.

Obwohl es sozialistische Ideen sind, derer sich Sankara bedient, ist es, wie Dipama in der Diskussion betont, kein Sozialismus im westlichen Sinne, den Sankara verwirklichen möchte. Er will mit seinem Land einen afrikanischen Weg gehen – einen Weg, der sich nicht an Ideologien orientiert, die wesentlich in den Kolonialstaaten geboren wurden, von deren historischem Erbe Sankara Burkina Faso und Afrika befreien möchte. In der Pause kommt ein wenig Bewegung in die dichten Reihen. Danach wird ein Film über Thomas Sankara gezeigt, der hauptsächlich aus bislang unbekannten Sankara-Originalaufnahmen, die lange Zeit unter Verschluss gehalten wurden, besteht. Möglich wurde die Veröffentlichung durch die aktuelle Lage in Burkina Faso. 2014 wurde der burkinische

Er stößt politische Reformen zur Bildung von Kindern und zum Empowerment von Frauen und gegen FGM an, er lässt symbolisch Bäume gegen die Desertifikation des Landes pflanzen. Das alles innerhalb weniger Jahren. Der Film zieht die Zuschauer_innen in den Bann und in dem kleinen Raum im „Das Kino“ sind alle anderen still, wenn Sankara redet. Das durchweg positive Bild, das diese Dokumentation von ihm zeichnet, wird nur an einer Stelle etwas getrübt: als Sankara nachdenklich in Frage stellt, ob der eigene Umgang mit politischen Gegner_innen immer richtig war. Er vergleicht sein striktes politisches Programm mit einer Fahrradfahrt auf einem schmalen Grat, bei der er das Gleichgewicht nur halten kann, indem er immer weiter fährt, nicht anhält.

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2 Ein Auszug davon ist etwa hier zu sehen: www.youtube. com/watch?v=DfzoToJEnu8


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Alle Fotos © LOSITO

Hamado Dipama wird später in der Diskussion genau an diesem Punkt einhaken und erzählen, dass die Bevölkerung von Burkina Faso Sankara zwar geliebt, aber seine Reformen nicht immer gleich verstanden habe. Dies sei ein weiterer Faktor gewesen, der den jungen Revolutionär vor eine fast unlösbare Herausforderung gestellt habe. Sankara stand oft im Mittelpunkt und dennoch war er mit seinen Ideen zu Lebzeiten nicht selten allein. Wer sich noch nie mit der Person Thomas Sankara oder der Geschichte Burkina Fasos beschäftigt hat, wird zwar von der mitreisenden Aufbruchstimmung, die Thomas Sankara verkörpert, angesteckt. Allerdings bleibt der Film viele Antworten zu den historischen Umständen schuldig. Es gibt zu den aneinandergeschnittenen Archivbildern keinen Kommentar, sie werden nur durch ebenfalls historische Ausschnitte aus Nachrichtensendungen gerahmt, die ein paar Hintergrundinformationen liefern. Es bleiben viele Unklarheiten. Wie wurde auf Sankaras Forderung bei der Konferenz der African Unity Organisation 1987 reagiert? Und hat sein engster Freund und Nachfolger Blaise Compaore tatsächlich allein den Komplott zur Ermordung Sankaras ausgeheckt oder wurde er – wofür es viele Hinweise und mögliche Motive gibt – vom französischen Staat unter Francois Mitterand unterstützt? Trotz dieser offenen Fragen hinterlässt der Film einen bleibenden Eindruck und regt dazu an, sich weiter zu informieren.

„SANKARA STAND OFT IM MITTELPUNKT UND DENNOCH WAR ER MIT SEINEN IDEEN ZU LEBZEITEN NICHT SELTEN ALLEIN.“ Im Anschluss an die Vorführung gibt es die Möglichkeit, diese und andere Fragen an Hamado Dipama zu stellen. Obwohl sich die Reihen inzwischen gelichtet haben, wird noch bis in den späten Abend hinein engagiert über die eine oder andere brisante These diskutiert. Die historische Sachlage um Sankaras Ermordung ist ebenso komplex wie die aktuelle politische Lage Burkina Fasos. Dipama, der als ein Vertreter der Sankara-Bewegung anwesend ist, erweist sich als ebenso guter Zuhörer wie analytischer Denker. Er vertritt eine panafrikanischen Perspektive. Entgegen der Meinung, es könne ‚westliche‘ Lösungen, wie etwa Fairen Handel für Herausforderungen auf dem afrikanischen Kontinent geben, verteidigt er strikt und in sehr klaren Worten die Auffassung, die afrikanischen Länder müssten sich vor allem zunächst selbst emanzipieren. Er erklärt, weshalb er die Zeit für panafrikanische Lösungen kommen sieht. Die Diskussion findet kein Ende und der Abend wird lang. Die letzten Verbliebenen wechseln den Ort. Beim gemeinsamen Ausklang unter dem Salzburger Altstadthimmel kommen schließlich die grundsätzlicheren Fragen zur Sprache: Wie kann es den afrikanischen Ländern gelingen, souveräne Staaten zu bilden, die den europäischen Großmächten und Konzernen die Stirn bieten? Braucht es eine internationale Bewegung oder kann Afrika es allein schaffen? Und was können wir dafür tun?

Buchempfehlungen: Jean-Philippe Rapp/Jean Ziegler: Burkina Faso – eine Hoffnung für Afrika? Gespräch mit Thomas Sankara. Zürich 1987, 174 S. „Thomas Sankara. Die Ideen sterben nicht!", Berlin 2016, 268 S.


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DIALOGE SALZBURG: MUSIK VON HEUTE 95x125_dia17_unipress.qxp_Layout 1 23.10.17 12:56 Seite 1

30. November bis 3. Dezember 2017

Musik von Heute ist zentraler Bestandteil des zeitgenössischen Musikfestivals DIALOGE der Stiftung Mozarteum, das vom 30. November bis 3. Dezember 2017 stattfindet. Dieses Jahr ist der junge tschechische Komponist Miroslav Srnka Ausgangs- und Mittelpunkt des Festivals. Seine Klangwelt wird spannungsreich kombiniert mit der Musik von Gestern und der von Heute. Das Festival mixt Srnkas Kosmos genreübergreifend mit Klassik, zeitgenössischer, moderner elektronischer Musik, Film und Kabarett zu einer unprätentiösen Werkschau für ein neugieriges und offenes Publikum.

FÜR KARTEN DE N E STUDIER O R U E 10,–

DIALOGE Musik von heute MIROSLAV SRNKA

Während der vier Festivaltage verwandelt sich die Stiftung Mozarteum in einen entspannten Treffpunkt mit speziellen Lichtinstallationen, einer Festivallounge mit Bar und einem Punschstand für den Welcome-Drink vor dem Haus. Für packende Begegnungen auf der DIALOGE-Bühne sorgen aufstrebende und international Sais17_18_unipress_95x125.qxp_Layout 1 07.08.17 Seite 1 renommierte KünstlerInnen und Ensembles aus18:45 den unterschiedlichsten Bereichen. Zu Gast sind nebem dem schräg-unterhalt-

30.11. – 03.12.2017 www.mozarteum.at

SONNTAG 03.12 11.00 Esfahani 15.00 FILM 18.00 Mozarteumorchester Salzburg, Salzburger Bachchor, Heras-Casado, Eriksmoen, Selinger, Sonn, Winckhler u. a.

samen Wissenschaftskabarett Science Busters oder dem experimentellen Elektronik-Duo Grandbrothers u.a. die Sopranistin Laura Aikin, der Cembalist Mahan Esfahani, das Quatuor Diotima, das œnm . österreichisches ensemble für neue musik, das Münchener Kammerorchester oder Burgtheater-Schauspieler Markus Meyer. Das Festival endet traditionell mit einer Aufführung von Mozarts Requiem, hochkarätig besetzt mit dem Mozarteumorchester Salzburg unter der Leitung von Pablo Heras-Casado und kontrastiert mit zwei Werken Srnkas zum Thema Trauer und Abschied. Ermäßigte Karten für Schüler, Auszubildende und Studierende (bis 26 J.) zu 10 Euro sind erhältlich im: Kartenbüro der Stiftung Mozarteum, Theatergasse 2, 5020 Salzburg (Mo - Fr 10 bis 15 Uhr) Tel. +43 662 873154, tickets@mozarteum.at, www.mozarteum.at

SAISON KONZERTE 2017/18 KONZERT-FLATRATE FÜR JUGENDLICHE BIS 26 17 Konzerte für nur 50 Euro! Für Schüler, Studenten und Auszubildende bis zum vollendeten 26. Lebensjahr.

www.mozarteum.at

Konzerte Wissenschaft Museen

FREITAG 01.12 11.00 FÜR SCHÜLER*INNEN Grandbrothers 15.00 FILM 16.00 Meyer, Uzun, Truniger 18.00 IM DIALOG... Srnka, Takacs 19.30 Quatuor Diotima, Latchoumia 21.00 Grandbrothers

SAMSTAG 02.12 11.00 FILM 16.00 Kalitzke, œnm, Baba u. a. 17.30 FILM 19.30 Münchener Kammerorchester, Schuldt 21.30 Science Busters

Konzerte Wissenschaft Museen

DONNERSTAG 30.11 18.00 IM DIALOG... 19.30 œnm, Kalitzke, Aikin, Stockinger 21.15 FILM


kultur & menschen

Mozarts Erb*innen Wer denkt, dass Salzburg außer Klassik nichts zu bieten hat, hat natürlich recht. Dennoch gibt es vereinzelte Künstler*innen, welche fehlenden Auftrittsmöglichkeiten, horrenden Proberaumpreisen und fehlender Infrastruktur trotzen. Aus diesem Planschbecken haben wir 4 Fischchen geangelt. Von Carlos P. Reinelt Mr. Käfer Jeder, der sich ein bisschen im Trip-Hop-Genre auskennt, kennt das bahnbrechende Album Mezzanine (1998) von Massive Attack. Das Cover: Ein Käfer. Dass ein Lied des jungen Salzburgers auch gleich Scarabeus heißt, zeigt, dass er seine Vorbilder nicht leugnet. Sein erstes Album Travelin, welches auf YouTube bereits 50.000 Views genießt, hält dabei die gewohnte Mischung parat. Langsame, dumpfe Beats, kurze Rapeinlagen, alles sehr minimalistisch gehalten. Dazu sich wiederholende, gemütliche Samples, die einen nach einem langen Arbeitstag dazu einladen, mit einem Joint und Mr. Käfer in der Couch zu versinken. Es fehlt vielleicht die Dunkelheit von Massive Attack, die Melancholie von Portishead oder der Groove von Morcheeba, aber der Junge scheint noch am Start seiner Karriere zu sein. Eine Chance hat er allemal verdient.

Magic Delphin Zum Delphin gibt es viele Geschichten zu erzählen. Eine davon will ich euch nicht vorenthalten: Er war auch Stammgast der montäglichen Jamsession im Denkmal (*schnief *) und Zeuge davon, wie ich eines Abends dem Vereinsobmann ein Bier über den Kopf schüttete. Als ich danach selbstgerecht das Lokal verließ, rief mir der Delphin hinterher, ich sei ein Idiot, der wohl nichts im Schädel hätte. Woraufhin ich über die Alpenstraße schrie: „Du hast ja keine Ahnung wer ich bin!“ Naja. Heute mag er mein Geschreibsel und ich sein Gesingsel. Mit einer explosiven Mischung aus pointiert knackigen Texten, eingängigen Indie-Riffs und ironischer Glamour-Selbstdarstellerei erinnert er vielleicht an Bilderbuch & Konsorten. Er verbreitet dabei aber fröhlichere, positivere Vibes. Salzburger Charme halt. Nicht unerwähnt bleiben dürfen bei dem Gesamtkunstprojekt (samt Band) die schrulligen Musikvideos, welche einem beim Mitswingen öfter mal ein Schmunzeln ins Gesicht zaubern. Man darf also gespannt sein, welche Lieder es auf YouTube schaffen. Es werden wohl dieselben sein, die anschließend auf FM4 auf- und abgespielt werden.


KULTUR & MENSCHEN

Dandelion Dandelion, zu Deutsch Löwenzahn (klingt komisch, is‘ aber so), ist eine außergewöhnliche Truppe. Mit ihren einheitlichen Hochzeitsband-Outfits, perfektem Schwiegersohn-Image und 100% professionellen und fehlerfreien Gigs brechen sie alle Regeln, die man beachten muss, wenn man in der „alternativen“ Szene als cool gelten will. Da es heute gang und gebe ist, sich krampfhaft vom Mainstream abheben zu wollen, ist ihre offene Anbiederung an diesen eigentlich eine erfrischende Abwechslung. Sozusagen die Indies der Indieszene. Wer ihnen zuhört merkt auch bald, dass sie diese Form des pseudo-wir-sind-so-anders-und-speziell gar nicht nötig haben. Der druckvolle Synthi-Poprock überzeugt auch so. Refrains, die beim erstmaligen Hören Ohrwürmer verursachen, sowie mal funkigere, mal filigranere Lieder zeigen, dass hier musikalisch gebildete Köpfchen hinter den Songs stecken. So darf man mit Freude darauf warten, in welche Richtung der erste Longplayer nach ihrer EP Obvious gehen wird.

Obsolith Wer Obsolith bei einem ihrer Gigs im Rockhouse erlebt hat, weiß wie schwer es ist, solche Musik in Worte zu fassen. Am leichtesten fällt es da noch, den Ärger auszudrücken, dass es von ihnen noch keine erwerbbaren Aufnahmen gibt.

Die Wurzeln der Band muss man bei den frühen Isis (der Band, nicht den Terroristen), Amenra, Neurosis und ähnlichen Postmetal-Größen suchen. Die minutenlangen, ruhigen, atmosphärisch verdichteten Crescendos klingen, als ob sich heroinkranke Pink Floyds aus ihrer Depression manövrieren wollten. Den Ausbruch daraus bieten entweder Black-Metal-Gewitter, oder schwere, felsenrollende Gitarrenwände, die langsam und kraftvoll ins Tal stürzen. Dazu das stimmige Schreien eines Neandertalers, welcher gerade die schmerzvolle Endlichkeit seines eigenen Seins begriffen hat. Obsolith werden wohl nie groß rauskommen. Aber sie haben so großes Potenzial, dass 10 der 12 Kommentare unter ihren zukünftigen 2.900-Views-Videos lauten: „OMFG, this guys are so brutal, so touching, most fucking underrated Band ever!!!“

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LIEBEL LIEBEL LIEBE LIEBE LIEBE 56

KULTUR & MENSCHEN

Von Stefan Klingersberger


ELIEBE ELIEBE E E E KULTUR & MENSCHEN

D

ie Zeit mit dir war die schönste in meinem Leben. Ich wollte sie für immer dankend in Erinnerung behalten, als Kraftquelle für meine weitere Entwicklung. Stärkung durch Anerkennung statt Verdrängung oder Hass. Ein Hürdenlauf. ***

Ich möchte dich kennen und verstehen lernen, mit dir im Reinen sein, im Einklang zumindest über uns. Gegen dieses Bedürfnis konnte ich nie etwas tun und ich kann es bis heute nicht. Ich bin quasi dieses Bedürfnis, seit ich dich kenne. Auch deines war es umgekehrt lange Zeit. Wir haben es durch Reden und Zärtlichkeiten befriedigt und kamen uns dadurch immer näher. Und wir sahen, dass es gut war. Doch irgendwann hat sich das für dich geändert, ich weiß bis heute nicht wieso. Du beendest unsere Beziehung. Danach lässt du mich zehn Monate auf ein klärendes Gespräch warten, du versprichst es mir immer wieder. Ich warte sehnsüchtig darauf, um diesem unnachgiebigen Bedürfnis nachzukommen und Dinge endlich verstehen zu lernen. Doch plötzlich brichst du den Kontakt ab. Es war das Schlimmste, was du mir antun konntest. Das hat mir endgültig die Sprache verschlagen. Davor hatte ich seit deiner Trennung sehr viel über das alles geredet, in aller Offenheit mit Freunden. Doch je länger ich sprach, desto weniger konnten mich verstehen. Stets fand sich irgendwann der Punkt, an dem es aus verschiedenen Gründen nicht mehr ging, weiterzureden. Ein dreiviertel Jahr wechselten immer neue Freunde als Gesprächspartner: Sobald ich mit einem nicht mehr reden konnte, fand sich ein nächster. Inzwischen habe ich es aufgegeben, auch weil ich niemanden mehr belasten möchte. All diese Freundschaften halten bis heute an, doch ich kann mich nicht mehr öffnen, Gespräche bleiben oberflächlich. Warum sollte mich auch jemand verstehen. Ich ziehe mich zurück. Manche glauben womöglich, es würde daran liegen, dass ich sie aus irgendeinem Grund nicht mehr so mögen würde. Wenn sie nur wüssten. ***

Vergiss sie, sagten Freunde nach deiner Trennung, leb dein Leben weiter, sie hat dir genug angetan. Aber was hätte Liebe für eine Bedeutung, wenn das Leben nun einfach weiterginge? Aus dem „Vergiss sie“ spricht die Logik des Besitzes: Nur wenn sie dein ist, kannst, sollst, darfst du sie lieben. Ich aber möchte die Liebe und ihre eigene Logik stärken, die Besitz nicht kennt. Man liebt, indem man vom Ganzen des anderen Menschen im Innersten des eigenen Selbst ergriffen ist. So etwas vergeht nicht. Wir Menschen sind bewegte Spiegel mit Gedächtnis. In der Liebe widerspiegelt man sich gegenseitig, inklusive sogar auch des eigenen Abbilds im anderen, man beeinflusst einander, lernt voneinander, verwirklicht sich aneinander und lernt die Welt durch einander neu kennen. Man hinterlässt Spuren ineinander, die bleiben, die auch bleiben, wenn der andere Spiegel die eigene Umlaufbahn verlässt. Diese Spuren kann man wertschätzend anerkennen und sich dadurch selbst, wie auch den geliebten Menschen, stärken. Nur so erhält Liebe Ewigkeit, auch über Trennungen hinweg. Nur anerkennend fördern Liebe und Trennung die Charakterentwicklung. Das bloße „was ich daraus gelernt habe“ bleibt einseitig, egoistisch, charakterlos, wenn man dem anderen, der doch Teil von einem selbst ist und bleibt, nicht auch mitteilt, auch rückblickend, welchen Platz er im eigenen Herzen hat. Stattdessen versuchen viele, nach einer Trennung schnell zu verdrängen, denn die Liebe in unserer patriarchalen Gesellschaft, die der Logik des Besitzes verschrieben ist, verlangt, dass man jedes Mal „zum ersten Mal wirklich“ liebt. Vor allem von Frauen wird dies gefordert, sie werden durch diese Denkweise daher oft besonders geschwächt in ihrer Charakterentwicklung. Ist die Verdrängung erfolgreich, geht man ungestärkt hervor. Misslingt sie hingegen, wie so oft, dann wühlt etwas weiter in einem herum, das man immer schwerer in den Griff bekommt und das daher letztlich destruktiv wirkt. Jedes ernstgemeinte „Ich liebe dich“ ist die Bekundung des Entschlusses, die unendliche Tiefe der geliebten Seele beweisen und demonstrieren zu wollen. Ich habe einen solchen Entschluss gefällt und werde nicht von ihm ablassen. Denn was hätte je wieder ein Wort aus meinem Munde für einen Wert, wenn meine Liebesbekundungen von damals hinfällig wären, nur weil du die Beziehung beendet hast?

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KULTUR & MENSCHEN

In meinem ersten Brief nach deiner Trennung antworte ich auf deine Frage, warum ich nicht mehr mit dir zusammen sein möchte. Du möchtest das nämlich hören, weil du es brauchst, um mit mir befreundet zu bleiben, und um zuzulassen, dass ich dich körperlich verwöhne. Es ist ein Leichtes für mich, darauf in deinem Sinne zu antworten, denn in einer Beziehung bräuchte ich Wertschätzung. Die konntest oder wolltest du mir schon seit einer Weile nicht mehr geben, aus Gründen, die du mir nie gesagt, geschweige denn erklärt hast. Ich konnte dir also mit guten Gründen darlegen, warum ich mir unter diesen Umständen keine Beziehung mehr vorstellen könnte. Aber das konnte ich nur, weil eine Beziehung etwas völlig anderes ist als Liebe. Eine Beziehung muss funktionieren und hat immer einen Zweck: Die Sicherheit, dass immer jemand da ist, oder etwa das Vorhaben, eine Familie zu gründen. Liebe hingegen ist selbstzweckhaft, und sie funktioniert nicht, sondern ist einfach. Liebe ist unabhängig vom Beziehungsstatus, und umgekehrt: Nicht wenige Beziehungen funktionieren gerade deshalb, weil die Liebe nicht zu groß ist, wie traurig das auch klingen mag. Liebe ist Freiheit, Beziehung ist Verantwortung. Im Idealfall geht beides Hand in Hand, und bei uns schien es lange so. Doch irgendwann hat sich deine Freiheit gegen die Verantwortung gestellt, wie schon so oft in deinem Leben. Trotz der begründeten Ansicht, keine Beziehung führen zu wollen, konnte der Brief also mit dem Satz enden: „Wahre Liebe vergeht nicht“.

Der junge Hegel schrieb über die Liebe: „Das wahrhafte Wesen der Liebe besteht darin, das Bewusstsein seiner selbst aufzugeben, sich in einem anderen Selbst zu vergessen, doch in diesem Vergehen und Vergessen sich erst selbst zu haben und zu besitzen“. Doch was, wenn das andere Selbst, dieser Spiegel, in dem man sich wiederfinden sollte, immer trüber wird? Wenn der Spiegel zunehmend nur noch in eine Richtung durchlässig ist? Dann findet man sich immer weniger darin wieder und bleibt im ersten Halbsatz gefangen: Man gibt sich auf und vergisst sich. Du tust, als wäre nie etwas gewesen – ich finde mein Spiegelbild in dir nicht mehr. Der Trieb, mein Bedürfnis zu stillen, bewirkt daher, dass ich nun zunehmend auch aus meiner eigenen Erinnerung an die gemeinsame Zeit verschwinde: Da war nie gemeinsames Glück, da warst einfach nur . *** Der Anlass für meinen zweiten Brief nach deiner Trennung war deine Frage, was ich denn bräuchte, um mit dir abschließen zu können. Ich schreibe darüber, wie man ins Reine kommt, denn ich bin, wie gesagt, das Bedürfnis danach, und ich will nicht verdrängen. Jedes sonstige „Abschließen“ jedoch bringt die Notwendigkeit von Verdrängung mit sich. Ins Reine kommen: Den Platz des anderen im eigenen Herzen möglichst fair und präzise bestimmen und ihn mitteilen. Das Bleibende betonen, denn selbst wenn sich die Wege scheiden, hat man einander verändert. Und so sehr man einander verändert, sich aneinander verwirklicht hat, ebenso sehr ist man selbst


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KULTUR & MENSCHEN

D o n n ersta g , 2 5 . Jä n n e r 19.30 Uhr L i tera t u r ha u s

Foto: Heribert Corn

KONRAD PAUL LIESSMANN „Bildung als Provokation“ LITERATURHAUS SALZBURG, Strubergasse 23 0662 422 411, karten@literaturhaus-salzburg.at

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DES PUDELS INNEREIEN In vorbildlichen Staaten wie Rumänien oder Spanien werden Hunde eingefangen und vergast. Österreich hinkt in dieser Frage mal wieder hinterher und überlässt der Zivilgesellschaft die Aufgabe, die Straßen von den Vierbeinern zu säubern. Dabei gibt es viele verschiedene Tötungsmöglichkeiten. Deren Tücken, Vor- bzw. Nachteile, und wie man seine Spuren verwischt, soll hier erläutert werden. Ein- und Anleitung von Carlos Peter Reinelt Rasierklinge im Würstchen Sie ist der Klassiker schlechthin. Man geht in den Supermarkt, kauft Rasierklingen, eine dicke Wurst (am besten Knacker, damit die Klingen nicht herausschauen) und drückt die Klingen hinein. Um keinen Verdacht zu erwecken, sollte man die Rasierklingen und die Knacker getrennt kaufen, bestenfalls in verschiedenen Märkten. Dabei sollte man darauf achten, dass man nie mit Bankomat- bzw. Kreditkarte zahlt und IMMER Handschuhe trägt. Sowohl beim Einkaufen, beim Reindrücken, als auch beim Ausstreuen im Park. Falls ein wachsames Herrchen die Wurst findet und zur Polizei bringt, dürfen keine Fingerabdrücke darauf sein. Vorteil der Methode ist ein sehr grausamer Tod. Die Klinge bleibt im Hals stecken und das Herrchen muss sich mit ansehen, wie der Hund blutkotzend und jaulend verblutet. Wenn man Pech hat, erstickt der Hund am Blut und die Qualen sind rasch vorbei. So gibt es auch weitere Nachteile: Damit man unerkannt bleibt, darf man das Schauspiel nicht abwarten und beobachten. Befriedigen kann hier nur die Fantasie und die Vergewisserung des Dahinscheidens. Ebenso kann es sein, dass andere Tiere (Füchse, Marder) die Wurst fressen. Deshalb wird empfohlen, Rasierklingenwürstchen nur in abgetrennten Hundeparks und Auslaufzonen zu verstreuen.

Achtung: Frankfurter sind zu schmal für Rasierklingen

Erwürgen Erwürgen geht zwar schnell, aber jeder, der schon einmal einen Hund erwürgt hat, weiß um die Qualitäten der Methode. Der Körperkontakt, der Todeskampf, die Agonie, die erlöschenden Augen des „Lebewesens“, das rasende Herz, welches immer schneller wird, bis es irgendwann aufhört – all das sind einzigartige Merkmale. Aber Vorsicht: Auch hier gilt (wie immer!) Handschuhe tragen. Natürlich kann nicht jeder Hund erwürgt werden. Es empfehlen sich vor allem Welpen und kleinere Rassen. Nur nicht übernehmen, klein anfangen! Da Hunde nur selten leinenlos unterwegs sind, muss man sehr schnell sein und sich im Vorhinein schon eine Entsorgungsmöglichkeit überlegen. Flüsse sind nur bedingt geeignet, da die Gefahr des Anschwemmens des toten Korpus (wie z.B. in Bregenz 2011) besteht. Das Beiführen eines großen Wanderrucksacks (welcher natürlich bar bezahlt wird…), in den man den toten Hund steckt, ist praktisch und unauffällig. Da Hunde generell stinken und sich zusätzlich im Todeskampf öfter einscheißen, sollte der Leichnam zuerst in einen Müllsack gestopft werden. So bleibt der Rucksack sauber und geruchsfrei.


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Vorbildlich: Richard Gere trägt beim Erwürgen eines Pudels Handschuh.

Vergiften Von Vogelbeerenextrakt (trocknen und zerreiben) bis hin zu Nikotinsud (Zigaretten über Nacht in Wasser auflösen) gibt es viele Möglichkeiten für den Otto-Normal-Hundetöter, sein Gift herzustellen. Da die Hunde einen ausgezeichneten Geruchssinn haben, riechen sie die Stoffe aber in jedem Essen und werden nicht zubeißen. Darum gilt: Direkt zustechen! Die Venen zu treffen ist nicht unbedingt einfach, bei einer starken Dosierung (z.B. Nikotinsud auf kleiner Flamme einreduzieren) reicht es aber auch, wenn man dem Viech die 10ml irgendwo hineinjagt. Das Vergiften ist vor allem für all jene praktisch, die sich aufgrund körperlicher oder psychischer Mängel außerstande sehen, einen Hund zu erwürgen. Es geht schnell und sicher, die Vorbereitungen sind dieselben wie beim Erwürgen. Spritzen bekommt man am billigsten und nicht nachverfolgbar bei sogenannten „Spritzenautomaten“, welche eigentlich für Aids-sicheres Heroinspritzen gedacht sind. In Salzburg befindet sich einer an der Außenwand der öffentlichen Toilette am Mirabellplatz. Österreichweit sind die Automaten unter www.aidshilfe.at auffindbar.

Die Dexter-Mengele-Methode Jeder, der schon eine gewisse Erfahrung und Zahl an getöteten Tieren mitbringt, weiß, dass es eigentlich nur eine Vorgangsweise gibt, die gänzlich erfüllend ist. Alles andere sind nur betrunkene Quickies nach dem Fortgehen. Die Dexter-Mengele-Methode hingegen erlaubt es, über einen größeren Zeitraum eine Beziehung zu dem Getier einzugehen. Hier alle Schritte zu erklären, vom Kidnappen des Hundes, dem Auslegen der Folie im Keller, bis hin zur Beschaffung der Werkzeuge und Entsorgungsmöglichkeiten, würde leider den Rahmen sprengen. Darum nur kurz die wichtigsten Tipps: Damit man in der Nachbarschaft das Hundebellen nicht hört, sollte man ihm von Anfang an mit einem Skalpell durch den Rachen die Stimmbänder abtrennen (keine Angst, winseln kann er trotzdem noch). Wer sich das nicht zutraut, sollte ihm ein Halsband besorgen, welches ihm beim Bellen automatisch Stromschläge versetzt. Sind die Vorkehrungen getroffen, gibt es für die Fantasie keine Grenzen mehr. Vom Brechen der Beine über das Entfernen der Klauen und Zähne mit einer Zange bis hin zum Verhungern lassen. Das Kammerwasser erhitzen bis die Augen aufplatzen, die Hoden zerdrücken. Ner Hündin ein Rohr in die Vagina schieben, ein Käsestück reinlegen, eine Ratte hineinlaufen lassen, das Rohr wieder rausziehen und die Vulva zuklammern. Die Ratte findet schon einen anderen Weg hinaus. Und wenn man sich sattgefoltert hat, die Brechstange zücken und das Ende in vollen, langen Zügen genießen. Gott spüren. Fazit Es gibt viele Wege, wie man Hunde beseitigen kann. Dabei kann man auf Methoden von der Stange zurückgreifen oder seinen eigenen individuellen Stil finden. Am Anfang bietet es sich an, sich weitreichend zu informieren. Zum Beispiel auf der Website www.gegenhund.org (Warnung: Nichts für schwache Nerven!), CSI:Miami-Folgen schauen oder den Autor dieses Textes kontaktieren. Man bedenke nämlich, dass jedes Jahr im Gefängnis sieben wertlose Hundejahre ist!

Carlos Peter Reinelt ist Schriftsteller und Philosoph, studiert Germanistik in Salzburg und erhielt 2016 den Rauriser Literaturpreis. In seiner Freizeit geht er gerne mit seinem Rottweiler Hasso spazieren.


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DER ULTIMATIVE UNI:PRESS

BEISLTEST FORTGEHEN ABSEITS DES (STUDENTISCHEN) MAINSTREAMS TEIL 3 - MAXGLAN Rudolfskai, Gstättengasse, Bergstraße oder Imbergstraße – das sind die Topadressen des Salzburger Nachtlebens. Topadressen? Wirklich? Wir haben uns schick gemacht und für euch Lokale abseits des studentischen Nachtlebens getestet, damit ihr ein Refugium findet, wenn euch die Segabar zu fad wird.

I

m noblen Salzburg gibt es wenige Viertel, in denen die Beisldichte hoch genug ist, um einen ordentlichen Beisltest durchzuführen. Das Arbeiterviertel Maxglan ist eines davon. Mit 14.000 Einwohnern ist Maxglan nach Lehen und Liefering der drittgrößte Stadtteil Salzburgs und als Standort der größten Privatbrauerei Österreichs wohl auch der wichtigste für unsere Zwecke. Begrenzt wird unser Spielfeld vom Flughafen im Südwesten, der Westbahnlinie im Norden und der Aiglhofstraße im Osten. Zugegeben, bisher war Maxglan ein blinder Fleck auf unserer Trinklandkarte. Mit Angst blickten wir daher unserem Vorhaben entgegen. Was würde uns wohl erwarten – besoffene Austria-Fans, trinkfeste Braumeister und bedüdelte Piloten? Die Furcht war so groß, dass sich mehrere BeisltouristInnen lieber zuhause versteckten, anstatt ihren ÖH-Servicepflichten nachzukommen. Doch wer nicht wagt, der nicht gewinnt – der harte Kern blickte der Gefahr heldenhaft ins Auge, um der Studierendenschaft die Antwort auf die wirklich wichtige Frage zu liefern: Kann man in Maxglan ordentlich tschechern? Zu diesem Zweck waren wir inkognito unterwegs, um wieder einmal streng unsere bekannten Spielregeln zu befolgen: Ein Bier und ein Schnaps pro Lokal und Person, danach wird weitergezogen. Maxglaner Pub Die erste Station des Abends war das Maxglaner Pub, das seinen Namen durchaus zu Recht trägt – liegt es doch direkt im Zentrum Maxglans, am Hans-SchmidPlatz (benannt nach dem Schöpfer des Rainer-Marsches), der mit seinem charmanten Kreisverkehr täglich die Salzburger Autofahrer entzückt. Für Trinker

höchst erfreulich: die Bushaltestelle (Linie 1, 2, 20 und 28) direkt vor der Lokaltür. Und auch drinnen hält das Pub alle möglichen Annehmlichkeiten bereit: eine Dartscheibe, ausgewählte Schlagersongs und sanitäre Einrichtungen. Die Stammgäste – anfangs ob unseres Erscheinens noch eher skeptisch – treten uns gegenüber eher mit Gleichgültigkeit auf. Mit der Bestellung des zweiten Biers verwandelt sich diese in Akzeptanz, wie wir vermuten, denn von da an entschuldigt man sich für danebenfliegende Dartpfeile. Nach diesem ersten Regelverstoß und ohne eine Partie Darts gespielt zu haben, ziehen wir weiter und sind glücklich, dass unsere Fahrräder nicht gefladert worden sind (!). Platzhirsch Nur einen Katzensprung vom Maxglaner Pub entfernt, in einem unscheinbaren Haus in der Siezenheimer Straße befindet sich der Platzhirsch, der – obwohl bereits gut gefüllt – noch genug Platz für uns hat. Die Stammkundschaft empfängt uns dort bereits deutlich freundlicher, der Wirt geradezu enthusiasmiert. Selbiger muss sich durch die enge (aber gemütliche!) Bar zwar gewissermaßen zu uns durchkämpfen, die begehrten Flüssigkeiten – Bier und ein hervorragender dreifach gebrannter (was auch immer das heißen mag) Himbeerschnaps – erreichen uns schließlich aber unversehrt. Neben den moderaten Preisen macht die exzellente Musikauswahl den Platzhirsch zum sympathischsten Lokal des Abends: Es läuft eine ca. 20 Titel umfassende Playlist mit den größten Hits der 90er Jahre (vor allem What is love?). Auch das Knabberzeug, das uns vom Wirt gebracht wird, ist positiv hervorzuheben. Erleichterung verschafft – sofern man sich durch die enge Bar zu kämpfen vermag – die Unisex-Toilette im hinteren Bereich. Alleine ist man


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im Platzhirsch nicht lange, denn die Gäste suchen aktiv den Kontakt zu Neulingen. Lediglich ein Unglücklicher bekommt Sprechverbot mit der Begründung „Da Chef hot gsogt, i derf ned mit eich redn – weu i so unguad bin“. Besagter Chef, der einer Mittesterin zufolge aussieht wie ein Hochzeitsplaner (???), ist dann auch sehr traurig, als wir unseren Aufbruch ankündigen und ringt uns das Versprechen ab, ihn bei seinem Stand am Christkindlmarkt zu besuchen. Wir willigen ein und dürfen weiterziehen.

Hofa Stüberl Dass die Maxglaner Beislinfrastruktur hervorragend an das ÖPNV-Netz angeschlossen ist, zeigt sich auch bei unserer nächsten Station – dem Hofa Stüberl. Auch hier befindet sich die Bushaltestelle direkt vor dem Lokal und auch hier ist man von unserem Eintreffen sichtlich überrascht. Das Verhältnis von Stammgästen zu Beisltouristen beträgt ca. 1:5. Ehrfurchtsvoll, als ob man insgeheim wissen würde, auf welch wichti-

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ger Mission wir uns befinden, macht man uns sogleich Platz und bedient uns. Wir entscheiden uns mangels Alternativen für eine bekannte Kräuterschnapsmarke und ein gewöhnliches Bier. Die Dartscheibe lassen wir auch hier ungenutzt. Den Zugang zu den Toiletten hütet ein altersschwacher, aber nicht zu unterschätzender Wachhund, dessen Abschreckungspotential eher im Überraschungsmoment als in aggressivem Auftreten liegt. Dennoch lassen wir uns sicherheitshalber zuerst bestätigen, dass wir den Weg zum locus necessitatis ungebissen überstehen würden. So geschieht es dann auch. Unbeschadet können wir unsere Rechnung begleichen und weiterziehen. Zwergerlwirt Die letzte Station des Abends ist der Zwergerlwirt in der Kleßheimer Allee – bekannt für die mehr oder weniger regelmäßigen Stammtische der rechtsextremen Identitären und der freiheitlichen Parteijugend und auch von Jus-Studenten und Anwälten gern be-

sucht (besteht da etwa ein Zusammenhang?). Wir dürfen das Lokal auch ohne Hitlergruß ungehindert betreten und finden auch gleich einen Platz. Unsere Tischnachbarn ahnen wohl, dass es sich bei uns nicht um die übliche Klientel des Zwergerlwirten, sondern um linksgrünversifftes Gesocks handelt, und flüchten an einen anderen Tisch. Pflichtbewusst bestellen wir Bier und Schnaps und verlangen, weil einige von uns mittlerweile auch der Hunger plagt, die Speisekarte. Wir entscheiden uns für Käsekrainer, die einige Zeit später serviert werden und – soweit sich das nach mehreren Bieren und Schnäpsen beurteilen lässt – hervorragend schmecken. Man kann über die Rechten sagen, was man will – mit Würsten kennen sie sich offensichtlich aus! Die geschätzte Pressereferentin, die sich unerlaubterweise statt des Biers ein Gläschen Sturm bestellt hat, wird für dieses Vergehen sofort bestraft – der Sturm schmeckt scheußlich. Nachdem die rechten Würstchen vernichtet sind, hält uns allerdings nichts mehr in der Gaststätte und wir ergreifen die Flucht.


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Honorary Mention: Laterndl Ursprünglich wegen der angeblichen Öffnungszeiten (die Suchmaschine lügt!) als Ausgangspunkt unseres ausgeklügelten Prüfverfahrens gedacht, waren wir schwer enttäuscht, als wir dann vor verschlossenen Laterndl-Türen standen. Aufgrund eines inzwischen mehrere Jahre zurückliegenden Kurzaufenthalts in diesem Etablissement in der Innsbrucker Bundesstraße können wir aber einigermaßen zuverlässig sagen, dass sich ein Besuch lohnt!

Wie immer erheben wir keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Über Anregungen und Geheimtipps für die nächsten Beisltests freut sich die Redaktion ganz besonders (presse@oeh-salzburg.at). Prost!

Disclaimer: Der Test wurde in unserer Freizeit durchgeführt, dadurch keine Studierendeninteressenvertretungsarbeit vernachlässigt. Es wurden keine ÖH-Mittel aufgewendet. Es gab keinerlei finanzielle Zuwendungen seitens der Beisl-InhaberInnen.


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ver sus

FIAT MULTIPLA

Ein Plädoyer ans verbeulte Auto von Carolina Forstner, garniert mit aufgewärmten Kindheitserinnerungen

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or ein paar Tagen saß ich mit meinen Eltern im Auto und sinnierte laut über einige Artikelideen, unter anderem auch für diesen Versus-Artikel. Ich äußerte meine wachsenden Zweifel, ob ich in ein paar 1000 Zeichen über das abscheulichste Automobil seit Menschengedenken schreiben kann. So empfand jedenfalls eine Befragung von Auto Bild Online, dass der Fiat Multipla einen Ehrenplatz im verchromten Autohimmel verdient hat und ehrte das italienische Gefährt zum „Hässlichsten Auto aller Zeiten“1. So viel war mir klar: Lobeshymnen zum kühnen Design würden mein Publikum, also die LeserInnen dieses Magazins, nicht auf meine Seite ziehen, hier kann nur Eines punkten: Ein Erfahrungsbericht von einer gar nicht hässlichen Kindheit im hässlichsten Auto aller Zeiten. Der Tag, an dem wir unser neues, größeres Familienauto bekamen, hat sich, obwohl so unspektakulär, tief in mein Unterbewusstes eingegraben: Ein orange-roter Fiat Multipla, ganz so viel auf dem Symbolbild für diesen Artikel. Gewagte Farbe für, formulieren wir es diplomatischer, ein interessantes Auto. Ich war von Anfang an begeisterte Beifahrerin, schließlich durfte ich, durch die drei Sitzplätze auf der Vorderbank, oft neben meinem Papa und meinem damals noch sehr kleinen Bruder sitzen. Ich kann mich noch gut an ewige Autofahrten in Richtung Süden erinnern, wo ich vorne sitzen durfte, meine arme Mama auf die Rückbank verbannt. Neben länger aufbleiben wohl eine der Top-Errungenschaften meiner Kindheit. Unkonventionell, oft auch gegen den Strom der tiefschwarzen Gemeinde in der oberösterreichischen

Einöde schwimmend, so empfand ich oftmals mein Elternhaus, besonders den Besitzer des orange-roten Gefährtes, meinen Papa. Dadurch, dass meine Eltern beide berufstätig waren, mein Papa aber einen flexibleren Arbeitsalltag mit vielen Nachtdiensten hatte, war er oft mit uns kleinen Kindern Zuhause und kümmerte sich um alles, was sonst in das Klischeerollenbild einer Hausfrau passen würde: Er bekochte uns, putzte für sein Leben gern und erntete das von ihm herangezogene Obst und Gemüse. Ich wuchs in keinem schablonenartigen und in Rollenbilder gezwängten Elternhaus auf, Arbeitsteilung war für meine Eltern eine Selbstverständlichkeit, eine Situation, die ich so in keinem anderen Haushalt meiner SchulkollegInnen erlebte. Am Esstisch wurde ich schon in frühen Kindertagen in politische Diskussionen mit einbezogen und noch viel wichtiger: Ernst genommen. Mein Papa besuchte Elternsprechtage übrigens immer nur im Che Guevara T-Shirt. Das negative Image des Fiat Multipla war mir bis vor ein paar Jahren, als mein Papa den altersschwachen Italiener schon längst verkauft hatte, nicht bewusst2. Was Autos betrifft war ich noch nie ein Schöngeist, habe immer den funktionalen Aspekt: Die komfortable Bewegung von Ort zu Ort in den Vordergrund gestellt. Die paar 1000 Zeichen fielen mir dann doch leichter als gedacht, denn auch mit so, auf den ersten Blick schnöden Gegenständen wie dem scheinbar hässlichsten Auto verbindet man viel Gewichtigeres: Erinnerungen. Das Auto mit der Beule würde auch noch heute in unsere Familie passen: Nicht perfekt, aber anders.

1 http://bit.ly/2h4pTkI 2 Okay, das gegenseitige Grüßen von Multipla FahrerInnen, wie man es nur von MotorradfahrerInnen kennt, fand auch ich schon immer ein bisschen komisch – aber in einer Welt, die dein Gefährt als „umgekippte Telefonzelle“ (siehe Auto Bild Online) bezeichnet, muss man wohl gewisse Mechanismen, einen Gemeinschaftssinn, aufbauen, eine Art Community der Uncoolness. Carolina Forstner studiert Jüdische Kulturgeschichte und ist neben ihrer Tätigkeit als Studienassistentin seit Anfang 2016 im Pressereferat aktiv.


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E T S H C I L S S Ä H T L DAS E W R E D O AUT Könnt ihr euch noch an eure Schulzeit erinnern? Ihr hattet doch bestimmt auch diese etwas verrückte Lehrerin oder den leicht abgespaceten Lehrer – sagen wir im Fach Werken oder Bildnerische Erziehung. Vielleicht war es auch ein Elternteil anderer Schüler. Wenn diese Person nicht gerade mit dem Rad samt Anhänger zur Schule gekommen ist, fuhr sie Anfang der 2000er Jahre genau ein Auto: Einen Fiat Multipla. Da hatte das Werkzeug, der Künstlerbedarf oder was auch immer sonst genug Platz. So war zumindest die Erklärung der Minderheit, die dieses Auto verteidigen wollte. Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit von Miggi Seifert

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k, die 90er waren verrückt. Wir haben Blümchen gehört. Ohne Ironie. Aber 1999 waren wir dann auch froh, dass diese Zeit vorbei war. Genauer gesagt, genau zu dem Zeitpunkt, als der Fiat Multipla als eines der Autos der Zukunft auf den Markt gekotzt wurde. Diese Abscheulichkeit der Technik stand damals sogar im Museum of Modern Art in New York! Ja, es ist definitiv eine Kunst, so ein Auto zu designen, es durch mehrere Entscheidungs-Etagen zu winken, in einer Fabrik zu fertigen und dann auch noch genau so käuflich erwerblich zu machen. Moderne Kunst. Darunter fällt heutzutage vieles eher Hässliche. Und nein, das machen auch keine drei Sitzplätze in der Vorderreihe gut. Oder der Stauraum. Niemand zieht in eine hässliche Wohnung, weil sie so viel Platz im Keller hat. Warum sollte man bei einem Auto da eine Ausnahme machen? Könnt ihr euch an die Simpsons-Folge erinnern, in

der Homer für seinen Bruder Herb ein Auto entwickeln soll? Das Auto floppt glorreich und stürzt Homers Bruder in den Ruin. Worauf ich hinaus möchte: Dieses Auto – der „Homer“ - war bei weitem nicht so dumm designt wie der Fiat Multipla. Ich würde tausend Mal lieber im „Homer“ durch die Stadt brausen, als auch nur eine Sekunde Gefahr zu laufen, in einem Multipla von Bekannten gesehen zu werden. Aber eines haben die beiden Autos jedenfalls gemeinsam. Das eine ironischerweise (die Simpsons-Karikatur, nonaned), das andere leider vollkommen ernst gemeint (natürlich das Monster von Dr. Fiatstein). Sie beide haben versucht, „Autos der Zukunft“ zu sein. 2004 wurde der Fiat Multipla überarbeitet und die hässliche Leiste an der Windschutzscheibe entfernt. Zukunft. Sie kommt schnell. Sie kommt gnadenlos. Und manchmal macht sie Dinge sogar wieder gut, die in der Vergangenheit verbockt wurden.

Miggi Seifert studiert Politikwissenschaft, und kümmert sich hauptsächlich um das Layout der uni:press. In seiner Freizeit spielt er Videospiele und dokumentiert das in Text und Podcast-Form auf www.threetwoplay.com



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