D O SSI E R — Wie der Mensch zur Sprache kam
IM JORDAN DER SPRACHEN Kleine Krallenaffen und Menschen kinder brabbeln. Doch schon bald lassen die kleinen Menschen die Affen weit hinter sich und beherrschen eine komplexe Sprache – wie das geht, erforscht Sabine Stoll.
Text: Thomas Gull
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eide tun es: die kleinen Krallenaffen im brasi lianischen Urwald und die Menschen – sie brab beln. Mit Brabbeln fangen unsere sprachlichen Äusserungen an und damit der verbale Austausch mit der Welt, die uns umgibt. Vorher haben wir gut zu gehört und gelegentlich gelächelt. Jetzt, wenn wir brabbeln, versuchen wir mitzureden. Gut, im Moment versteht uns noch niemand und wir sehen Gesichter, die uns zwar begeistert, aber auch verständnislos an schauen. Daraus lernen wir zweierlei: Brabbeln ist noch nicht gut genug, um wirklich verstanden zu wer den. Und: Ich kommuniziere, also bin ich. Denn dar auf kannst du wetten – wenn du brabbelst, wirst du wahrgenommen. Wahrgenommen zu werden, dürfte eine evolu tionsbiologische Funktion des Brabbelns sein, weil Babys und junge Krallenaffen darauf angewiesen sind, nicht vergessen zu werden. Da schadet es nicht, akustisch auf sich aufmerksam zu machen. Im Sprach erwerb dient Brabbeln in erster Linie dazu, das Arti kulieren zu üben und zu imitieren, was wir gehört haben. «Was das bedeutet, verstehen Babys aber erst etwa ab dem neunten Monat», sagt Sprachwissen schaftlerin Sabine Stoll, die erforscht, wie Kinder ihre erste Sprache lernen. Die Professorin für Vergleichende Sprachwissen schaft an der UZH untersucht im NFS «Evolving Lan guage» zusammen mit dem Verhaltensbiologen Simon Townsend, wie die Umgebung den Spracherwerb von Menschen- und Affenkindern beeinflusst. Dabei geht es um Fragen wie: Wie prägen Interaktionen mit der Umwelt, etwa mit Eltern oder Geschwistern, die Sprach entwicklung? Oder: Wie lernen Säuglinge, Signale
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UZH magazin 2 / 21
wie Mimik und Gestik zu interpretieren und welche Rolle spielt der Kontext für das Lernen von Bedeutung? Zu kommunizieren ist existenziell für uns Men schen und für viele der höher entwickelten Tiere. Deshalb haben auch sie einfachere Formen von Spra che entwickelt. Entsprechend haben wir und andere Tiere die angeborene Fähigkeit, Sprache zu lernen oder zumindest ein angeborenes Repertoire von Lau ten gezielt einzusetzen. Unser menschliches Gehirn muss allerdings ganz andere Mengen von Informa tionen verarbeiten können, um die drei grundlegenden Elemente zu lernen, die Sprache ausmachen – ihre Struktur, die Laute und den Inhalt. Der Menschen hat im Verlauf seiner Geschich te tausende von Sprachen hervorgebracht, viele sind wieder verlorengegangen, doch heute gibt es immer noch rund 7000. Wir haben die kognitiven Fähigkeiten, sie uns anzueignen. Selbst solche, die ungeheuer kom plex sind, wie etwa das Chintang in Nepal mit seinen 4800 Verbformen oder das Archi im Kaukasus mit 1,5 Millionen. Sie alle können wir lernen, zumindest als Erstsprachen, das heisst, wenn wir in sie hineingeboren werden oder als Kinder in sie eintauchen – dank unse rem Gehirn, das am Anfang noch unglaublich flexibel ist und unserem formidablen Gedächtnis. Doch wie lernen wir die Sprache, deren erste Äusserungen noch unverständliche Brabbellaute sind? Unser Spracherwerb, so könnte man zusammenfassen, orientiert sich entlang der vier grossen I: Immersion, Interpretation, Interaktion und Imitation. Ihr Zu sammenspiel ermöglicht uns, selbst grammatisch sehr komplexe Sprachen zu lernen. «Dazu gehören etwa die athapaskischen Sprachen, eine weit verbreitete indigene Sprachfamilie im Norden Amerikas», sagt Sabine Stoll, «eine dieser Sprachen, Navajo, wurde im Zweiten Weltkrieg als Code verwendet, der nicht geknackt werden konnte.»
MUSTER IM SPRACHBREI Die Immersion beginnt schon in der Wiege: «Wir werden in die Sprache eingetaucht wie die Täuflinge in den Jordan», sagt Sabine Stoll. Als Babys und Klein kinder sind wir umgeben von Sprache. «Ein Kind hört in den ersten drei bis vier Lebensjahren Millionen von Wörtern.» Die Kunst, oder präziser gesagt, das kognitive Kunststück, besteht nun darin, aus diesem Strom von Lauten, die uns aus vielen Mündern ent gegenquellen, Bestandteile wie Wörter oder Sätze zu filtern und ihren Sinn zu verstehen, das heisst zu interpretieren, was uns da entgegenschlägt und zuerst mal so klingt wie das, was uns zum Essen vorgesetzt wird: wie Brei. In diesem Sprachbrei gibt es Muster. Und wir können diese erkennen. Eine Fähigkeit, die uns an geboren ist. Sie ist das Fundament unseres stupenden Talents, Sprachen zu lernen. Kleinkinder analysieren