D O S SI E R — Wie der Mensch zur Sprache kam
DAS GEHIRN TUNEN
Lesen gehört zu den grundlegenden Fertigkeiten, die wir uns als Kinder aneignen. Doch manchen fällt das schwer. Neurowissenschaftlerin Silvia Brem erklärt, weshalb. Und sie arbeitet an vielversprechenden Therapien. Text: Thomas Gull
W
enn wir lesen lernen, gilt wie bei so vielen anderen Dingen, die wir uns aneignen: Übung macht den Meister. Das beginnt schon in der Wiege, wenn unsere Eltern oder die Ge schwister uns anlächeln und mit uns sprechen. Je mehr, je öfter wir Sprache ausgesetzt sind, desto schneller und besser lernen wir sie. Kinder, genauer ihr Gehirn, saugen alle sprachlichen Informationen auf, die auf sie einprasseln, und analysieren und kate gorisieren diese mit dem Ziel, im Lautschwall Struk turen und Sinn zu erkennen. So lernen sie, die Spra che zu entschlüsseln und dann auch selbst zu produ zieren. Eltern können deshalb die Sprachentwicklung ihrer Kinder aktiv fördern, indem sie mit ihnen reden, allerdings bitte nicht nur in Babysprache, wie die Neurowissenschaftlerin Silvia Brem betont: «Eltern sollten auch möglichst normal mit ihren Kindern sprechen.» Brem ist Assistenzprofessorin für Kogni tive Neurowissenschaften im Kindes- und Jugendalter an der UZH. Sie erforscht, wie Kinder Lesen lernen und wie jenen geholfen werden kann, die damit Mühe haben.
TOLL IST NICHT GLEICH VOLL Meist verläuft der unbewusste Prozess, mit dem wir unsere Erstsprache lernen, problemlos. Doch bei ge wissen Kindern ist er gestört. Sie haben mehr Mühe, sprachliche Informationen zu verarbeiten. «Im Kern geht es um die Phoneme», sagt Silvia Brem. Phoneme sind die kleinsten lautlichen Bestandteile eines Wortes, anhand deren sich die Bedeutung von Wörtern unter scheiden lässt, wie etwa das R beziehungsweise M in Ratte und Matte oder das t und das v in toll und voll. Um die Bedeutung von Wörtern zu unterscheiden, ist
es essenziell, Phoneme zu erkennen. Wenn dieser Pro zess gestört ist, fällt es schwerer, eine Sprache zu lernen. Bereits im Säuglingsalter zeigen sich Unterschiede, wie Kinder Sprache verarbeiten. «Das ist ein Hinweis auf spätere Schwierigkeiten, auch beim Lesen- und Schreibenlernen», sagt Silvia Brem. Denn wenn wir anfangen zu lesen, übersetzt unser Gehirn die Graphe me, die Bausteine der geschriebenen Sprache, in Pho neme, also in Laute. Die Laute lernen wir zuerst, indem wir sie hören. Wenn wir nun bereits die Phoneme nicht richtig erkennen und zuordnen können, macht uns dies das Lesen (und das Leben) schwer. Erschwerend kommt hinzu: Grapheme (Schriftzeichen) können unterschied liche Phoneme abbilden, und umgekehrt kann ein Phonem durch mehrere Grapheme repräsentiert sein. So haben die beiden Wörter Schrift und Sprache das gleiche Phonem am Anfang – / /. Dieses wird jedoch einmal mit dem Graphem sch und das andere Mal mit s dargestellt. Andererseits kann das Graphem V mal als [f] oder als [v] gesprochen werden wie in Vogel oder Vase. Wenn wir besser lesen können, speichern wir ganze Wörter im Gehirn hab. Auch hier ist wichtig, diese in der korrekten «Schreibweise» abzulegen.
DYSLEXIE IST ERBLICH Die Schwierigkeiten, Sprache zu verarbeiten, zeigen sich bereits bei Babys. Das deutet darauf hin, dass es sich dabei eher um ein angeborenes als um ein er worbenes Handicap handelt. Silvia Brem betont zwar, es sei noch unklar, was Sprachstörungen verursacht. Sie sagt aber auch: «Wir wissen, dass Gene dazu einen Beitrag leisten.» So beeinflussen Gene, die bei der Entwicklung des Gehirns aktiv sind, die Wanderung von Nervenzellen in jenen Hirnregionen, die wichtig sind, um Sprache zu erkennen. «Hier sehen wir Unter schiede bei Menschen, die Mühe haben, phonologische Informationen zu deuten», erklärt Brem. Das führt dazu, dass Sprache anders wahrgenommen wird, und erschwert so das Erlernen der Sprache und später das Lesen und Schreiben. Ein weiterer Hinweis auf genetische Ursachen der Lese- und Schreibschwäche, die als Dyslexie oder Legasthenie bezeichnet wird, ist die Tatsache, dass Dyslexie erblich sein kann: Das Risiko, an Dyslexie zu leiden, ist in Familien, in denen es bereits Fälle der Lese- und Schreibschwäche gibt, 30 bis 60 Prozent höher als in solchen ohne. Allerdings, betont Brem, ist die Vererbung komplex, es sind mehrere Gene daran beteiligt. Deshalb könnte man auch nicht einfach das Dyslexie-Gen ausschalten und alles wäre in Butter (wenn Sie hier jetzt Mutter gelesen und sich gewundert haben, könnte es sein, dass Sie an Dyslexie leiden).
GOLDSTANDARD OCHSENTOUR Weil die Sache eben kompliziert ist, ist es nicht ein fach, Dyslexie zu behandeln. Der Goldstandard, erklärt
UZH magazin 2 /2 1
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