Léo Bardon, Caché

Page 1

Léo Bardon gehörte zu dem kleinen Kreis enger Vertrauter, die von dem Leiden der Schauspielerin wussten und sie durch diese schwierige Zeit begleiteten. Er berichtet von der schrecklichen Entdeckung, dem Kampf darum, das Geheimnis zu wahren, und den Reaktionen von Familie, Freunden, Kollegen und am Ende der Öffentlichkeit.

Léo Bardon, geboren 1965 in Paris, französischer Schauspieler und Autor, war von 1995 bis 2007 persönlicher Assistent und Vertrauter der Schauspielerin Annie Girardot (1931-2011). Er bemerkte an ihr die ersten Anzeichen von Alzheimer und versuchte, mit allen Mitteln gegen das Unabwendbare anzukämpfen.

VAT

www.vat-mainz.de

19.90 EUR [D] Inklusive eBook ISBN 978-3-95518-002-7

Léo Bardon

© Thierry d'Ascia

Annie Girardot (1931-2011) war berühmt für ihre berührende Schauspielkunst, ihre große Liebesfähigkeit und ihr grandioses Gedächtnis. Als sie Ende der neunziger Jahre an Alzheimer erkrankt, beginnt ein belastendes Versteckspiel. Denn das Risiko einer kranken Schauspielerin würde kein Filmproduzent auf sich nehmen wollen.

CACHÉ – Der lange Abschied der Annie Girardot

SU_Bardon_AG_Bardon Caché 23.01.13 12:52 Seite 1

VAT

Léo Bardon

Annie Girardot prägte den Stil einer ganzen Generation selbstbewusster Frauen: Sie trat seit 1955 in mehr als 170 Filmen auf und war über Jahrzehnte hinweg eine der beliebtesten Schauspielerinnen Frankreichs und Europas. 2001 und 2005 spielte sie in zwei erfolgreichen Filmen des österreichischen Regisseurs Michael Haneke mit – zu diesem Zeitpunkt war sie bereits schwer an Alzheimer erkrankt. 2006 verkörperte sie dann ihre letzte große Rolle: Im Rahmen des Dokumentarfilms »Ainsi va la vie« trat sie mit ihrer Krankheit an die Öffentlichkeit und brach damit das Tabu, mit dem Alzheimer belegt ist.

CACHÉ

Annie Girardot starb am 28. Februar 2011 in einem Pariser Hospiz.

Der lange Abschied der Annie Girardot VAT VAT

www.vat-mainz.de



Cache_Inhalt.qxp_Layout 1 07.02.13 14:08 Seite 1

Léo Bardon CaChé


Cache_Inhalt.qxp_Layout 1 07.02.13 14:08 Seite 2


Cache_Inhalt.qxp_Layout 1 07.02.13 14:08 Seite 3

Léo Bardon

CaChé Der lange Abschied der Annie Girardot

Aus dem Französischen von Sabine Carolin Richter

Verlag andré Thiele


Cache_Inhalt.qxp_Layout 1 07.02.13 14:08 Seite 4

Zweite, überarbeitete auflage, März 2013 In Zusammenarbeit mit Sophie Blandinières. aus dem Französischen von Sabine Carolin Richter. © für die Originalausgabe: Michel Lafon Publishing, annie te souviens-tu …, 2009 © für die deutsche ausgabe: VaT Verlag andré iele, 2013 alle Rechte am deutschen Text vorbehalten. Umschlag: Inka heerde, Foto: ©Sunset Boulevard/corbis. Satz: Felix Bartels, Osaka Druck: anrop Ltd., Jerusalem Printed in Israel. isbn 978-3-95518-002-7 www.vat-mainz.de


Cache_Inhalt.qxp_Layout 1 07.02.13 14:08 Seite 5

PROLOg

Sie fehlt mir. Warum sie mir fehlt, möchte ich Ihnen erzählen. Um gegen die Stille anzukämpfen, die eingezogen ist. Um nichts zu vergessen, vor allem nicht, wie viel Mut sie hatte und wie groß ihr herz war. Um zu sagen, wie sehr ich sie liebe und wie unverzeihlich der Zynismus dieser Krankheit ist, deren Namen auszusprechen mir noch immer schwerfällt. Ein Name, den ich gerne vergessen würde. alzheimer. Ein verfluchter Name, ein hässlicher Name. als ich dieses Buch schrieb, war sie noch von dieser Welt. Und doch nicht mehr. Sie war noch am Leben. annie lebte, war aber auch schon ein bisschen gestorben. Sie war ins »Vergessen gefallen«. Im Februar 2011 verließ sie nach vielen Jahren Einsamkeit die Welt. Das Buch ist mein Nachruf. Ich fühle mich jetzt allein, doch mir bleibt, was sie verloren hat, die Erinnerung. Ich erinnere mich an die Zeit, als das schreckliche Weiß noch nicht da war, und an das Danach, als alles anfing, sich zu verschlechtern, als alles begann, sich aufzulösen. an die Zeit, als sich das Ende schon abzeichnete, die Leere. Normalerweise geht man von einer leeren Seite hin zu einer beschriebenen. aber alzheimer hat es sich 5


Cache_Inhalt.qxp_Layout 1 07.02.13 14:08 Seite 6

zur aufgabe gemacht, das ins gegenteil zu verkehren. Man geht von einer vollen zu einer leeren Seite, bis hin zur vollständigen Leere. Von Schwarz zu Weiß. Von Farbe ins Dunkle. Das kann nur alzheimer. Ich will Ihnen davon erzählen, und dann werde ich verstummen. Wie annie verstummte. Paris, Dezember 2011


Cache_Inhalt.qxp_Layout 1 07.02.13 14:08 Seite 7

–1– »sie da, wer sind sie?« annie und Léo sitzen im Wohnzimmer bei annie. Sie sitzen da schon eine Weile und schauen fern. annie »guten abend, geht es Ihnen gut?« léo »aber annie, ich bin es doch! Ich bin es, Léo!« annie »ah, Sie kennen Léo? Wissen Sie, Léo, das ist mein Freund, und er ist wirklich großartig.« léo »…« am liebsten hätte ich keine Ohren, am liebsten wäre ich taub. Für gewöhnlich bin ich Léo, die Quasselstrippe, der Zuhörer. aber in diesem augenblick fühle ich nichts mehr. Weder meine Ohren noch meine Stimme. alles in mir ist erstarrt. Man kennt mich als Léo, den Lebenslustigen, den Witzigen, nun sitze ich hier in diesem kleinen Sessel, traurig und stumm. annie kennt mich so gut, und trotzdem erkennt sie mich nicht. Für sie bin ich irgendein Besucher, irgendein Typ, dem sie erzählt, wie viel ihr dieser Léo bedeutet. Sie hat mir einmal, zu einer Zeit, als sie mich noch nicht für einen Fremden hielt, gesagt: »Ohne euch«, und damit meinte sie mich und Valéra, »wäre ich längst tot.« Ich bin mir bewusst, dass man an Einsamkeit zerbrechen kann. 7


Cache_Inhalt.qxp_Layout 1 07.02.13 14:08 Seite 8

annie, Léo, Léo, annie. Eine alte, sehr müde geschichte. Längst erloschen für alle anderen, nur nicht für mich. all die Bilder, die wie ein Film in meinem müden gehirn ablaufen und die sich unentwegt wiederholen, habe ich vollständig bewahrt. Ich erinnere mich an alles. Ich erinnere mich für zwei. Nachdem annie ins Pflegeheim gebracht werden musste, konnte ich mir, gleich einem Trauma, einem schwarzen Loch, merkwürdigerweise nichts mehr ins gedächtnis rufen. Doch dann, über eine art Umweg, begann ich die Vergangenheit zu sehen und zu hören. annie, Léo, Léo, annie. annie, Léo, die Krankheit. annie, Léo, Valéra, anne, die Krankheit. annie. Die Krankheit. »Sie da, wer sind Sie?« »Mein Name ist alzheimer. Man braucht nicht nach mir zu rufen, ich bin einfach da. Und ich warne Sie, ich bin boshaft. Ich komme mit der absicht, alles zu zerstören, bis es keine Erinnerung mehr gibt: keine annie, kein Lachen, keinen Léo, keine Worte. Bis es nicht einmal mehr genug Schweigen gibt.« Das Problem ist annies Berühmtheit, und sie ist sogar sehr berühmt. Noch vor annie ist sie die girardot, die große französische Schauspielerin mit fünfzig Jahren Karriere und mehr als einhundertfünfzig Filmen. Es ist diese zierliche Silhouette, dieses offene gesicht, diese Stimme und das be8


Cache_Inhalt.qxp_Layout 1 07.02.13 14:08 Seite 9

sondere Lachen, das den Franzosen so vertraut ist. Sie ist nahezu jedem bekannt und für viele die beliebteste Schauspielerin. Wo auch immer ich mit ihr erscheine, sie wird stets von allen erkannt. Nun ja, von fast allen. Der herr jedenfalls, der neben ihr im Zug nach Paris sitzt, scheint sich vollkommen sicher zu sein: »Oh, guten Tag, Madame! Ich kenne Sie. Sie sind wirklich eine großartige Schauspielerin. Ich bin sehr froh, Ihnen zu begegnen, Madame Moreau!« Ich beobachte annie, ihre Reaktion hinter ihrer großen Sonnenbrille. Ich weiß genau, dass sie etwas antworten wird. Sie hat immer eine gute Entgegnung parat. Niemals bissig, stets humorvoll. Manchmal ein bisschen derb. Im audiardschen Slang sozusagen, einer Mischung aus Pariser Original und Straßenjargon. Sie dankt also dem herrn höflich und sagt: »Oh, Sie sind sehr freundlich, Monsieur. Und ja, ich stimme Ihnen zu, Madame Moreau ist auch großartig, aber ich, Monsieur, ich bin die girardot!« Fakt ist, dass es sie nicht im geringsten kümmert, wenn man sie nicht erkennt. Das Wichtigste für sie ist geliebt zu werden. Sie fragt mich andauernd: »Mein Léo, liebst du mich noch?« als ob sie sich der antwort niemals sicher wäre oder diese nur für einen bestimmten Zeitraum gültig sein könnte. Madame girardot ist ein Star. Ich bewundere sie. Ja, ich kann sagen, ich verehre sie für all das großartige, das sie im Kino und auf der Bühne getan hat. aber das, was mich mit ihr wirklich verbindet, 9


Cache_Inhalt.qxp_Layout 1 07.02.13 14:08 Seite 10

ist sie selbst. Ich habe immer geglaubt, sie wäre eine zu starke Frau, um sich lieben zu lassen. Doch letztendlich war sie es, die es peu à peu verstand, mich nah an sich zu binden und mich bei ihr zu halten. als was? Das ist die Frage, und sie ist nicht einfach zu beantworten. Meine Position lässt sich schwer definieren. auf jeden Fall passe ich in keine Schublade. als es mit annie begann, existierte ich offiziell nicht. Es gab demzufolge in den ersten Jahren nicht selten Fragen zu der dauerhaften Präsenz des jungen Typen an annies Seite. Sollte das etwa ihr Liebhaber sein? Der Verdacht, dass ich mit ihr ins Bett gehe, ist lächerlich. Ich bin schwul. Und ich werde nicht einfach für die girardot das Ufer wechseln. »Vielleicht ist er ihr Dealer?« Man hatte mir diese Frage nie direkt gestellt, bis mich eines Nachts bei einem Fest ein Typ fragte, ob ich nicht Koks oder Ecstasy zu verkaufen hätte. Ich dachte bis dato nicht, dass ich den anschein erwecke, ein Dealer zu sein. Über diesen Verdacht war ich fassungslos und entgegnete empört: »Sagen Sie, für wen halten Sie mich denn?« Er fuhr mich schroff an: »Ich hielt dich für den Dealer der girardot!« Ich war absolut sprachlos. Bin ich ein Schmarotzer? Das wäre wohl das Schlimmste. aber nein, ich habe kein Entgelt erhalten. annie entlohnte mich für meine arbeit als »persönlicher assistent«, indem sie mir eine kleine Wohnung bereitstellte. Wäre ich ein Parasit, wäre 10


Cache_Inhalt.qxp_Layout 1 07.02.13 14:08 Seite 11

es leicht gewesen, mich an annie zu bereichern, und ich hätte ausgesorgt. aber das gegenteil ist der Fall. Ich habe alles verloren. Obwohl mich annie sehr schnell überall als ihren Vertrauten vorstellte, als Léo, der sich um sie kümmert und der ihre geschäfte führt, haben die Leute Zeit gebraucht, um mich offiziell anzuerkennen. Das bin ich gewöhnt. Ich bin ein Nobody, einer unter vielen. Léo Bardon. Dieser Name sagt keinem etwas, und das ist nicht gerade lustig, weil ich doch eigentlich Schauspieler bin. gut, man hat mich bisher nur in kleinen Kinorollen sehen können. Nicht groß genug also, um dem Publikum im gedächtnis zu bleiben. Es ist somit eigentlich nichts Befremdliches, wenn sich jemand nach meinem Namen erkundigt und fragt, was ich mit annie zu schaffen habe. Ich nehme ihm das nicht übel. Das verletzt mich nur wenig. Viel unangenehmer ist es, sich wie ein Eindringling zu fühlen. So wie bei Patrick Sébastien. Das ereignete sich noch ganz am anfang, im Jahre 1999, während der Dreharbeiten zu dem Film T’aime. Es war nicht zwingend nötig, dass ich anwesend war, aber Framboise, eine befreundete Sängerin der gruppe La Bande à Basile, über die die Begegnung mit Sébastien entstanden ist, bat mich mit stoischer Beharrlichkeit, unbedingt zu kommen. Sie rief mich jeden Tag an, und immer beklagte sie sich über annie. Sie behauptete, dass sie abscheulich und ihr Charakter nicht zu ertragen sei. Um diese Klagen zu beenden, fügte ich mich schließlich, und weil vor Ort kein einziges 11


Cache_Inhalt.qxp_Layout 1 07.02.13 14:08 Seite 12

hotel mehr über freie Zimmer verfügte, legte annie ohne zu zögern fest: »Er schläft bei mir.« Um von den Menschen, die mich anfangs noch nicht kennen, akzeptiert zu werden, komme ich stets mit geschenken beladen an. Zu jener Zeit besitze ich Unmengen an Spielzeug der Marke Action Man, weil ich kurz zuvor auf einer Werbetour gewesen bin. Trotz der vielen Mitbringsel fühle ich mich nicht wohl. Ich verbringe meine erste Nacht im haus von Patrick Sébastien und schlafe sehr schlecht. Früh am Morgen trinkt der Meister im Freien seinen Kaffee. Seine Jungs sind auch da und amüsieren sich mit den Spielsachen. Während er ihnen zuschaut, sagt er so laut, dass ich es gut vernehmen kann: »Wer also ist der große Prinz, der so viele Präsente mitbringt?« Ich werde immer kleiner in meinem Stuhl. Ein paar Monate später sieht mich Patrick Sébastien beim abendessen zur Vorpremiere seines Films T’aime mit kalten, verächtlichen augen an, als ich gerade versuche abzutauchen, und fragt: »Sie da, wer sind Sie eigentlich?« Ich bin nicht in der Lage, zu antworten, obwohl doch die antwort so einfach wäre. annie war ja nicht die Erste, die auf die Unterstützung eines Privatsekretärs vertraute. Die Wahrheit ist, dass ich nicht antworten kann, weil ich selbst nicht genau weiß, wer ich bin. Im Laufe der Monate habe ich mich in meiner Rolle verloren. Mein ganzes Sein hat sich in der neuen Funktion aufgelöst. Nach und nach war ich 12


Cache_Inhalt.qxp_Layout 1 07.02.13 14:08 Seite 13

nichts anderes mehr als der Léo, der sich mit annie beschäftigte. Wenn man einmal gelernt hat, den Mund zu halten, ist es später schwierig zu reden. als mir Sébastien an diesem abend also diese tödliche Frage stellte, brachte ich kein Wort heraus. Die antwort war eigentlich eine Frage, die ich mir selbst stellen musste: »Wer bin ich eigentlich?«

13


Cache_Inhalt.qxp_Layout 1 07.02.13 14:08 Seite 14


Cache_Inhalt.qxp_Layout 1 07.02.13 14:08 Seite 15

–2– »wer bin ich?« Früher war ich ein kleiner Star. Das sagten jedenfalls die Erwachsenen über mich. Die Sorte kleiner Jungen, die man beachtet, weil sie viel gestikulieren und Dummheiten machen. Ich war einer von den Teenagern, die auf die Nerven gehen oder begeistern, je nach Situation. hauptsache, es passierte etwas. Ich war schon immer anders. So habe ich mich selbst wie den Duracellhasen aus der Werbung gesehen, der einfach weiter winkt, auch wenn die Werbung schon vorbei ist. Ich war neugierig und ziemlich verrückt und habe schon immer das Komische dem Ernsten vorgezogen. Es sei denn, mir blieb keine Möglichkeit mehr, mich über alles und jeden lustig zu machen. Vor allem über mich selbst. So, wie es auch annie mit vielen Dingen und mit sich selbst machte. Sogar über ihre Krankheit haben wir anfangs viel gelacht. Ich glaube, dass schon sehr früh mein Talent zum Schauspiel deutlich wurde. allerdings am falschen Ort, in der Schule. genau da, wo man es nicht versteht, Klassenclowns zu fördern, sondern wo sie abgelehnt werden. Doch das habe ich zu spät begriffen, nämlich erst, als sie mich in eine »Klasse für auffällige Kinder« gesteckt hatten. Man hatte die absicht, mich aus dem allgemeinen Unterricht herauszunehmen, um mir eine ausbildung als Fliesenleger anzubieten. Diese Idee empfand 15


Cache_Inhalt.qxp_Layout 1 07.02.13 14:08 Seite 16

ich jedoch als komplett lebensfremd. Das war zudem alles andere als einleuchtend. Sie lobten meine Qualitäten in Französisch, aber schlugen mir zeitgleich vor, den Beruf des Fliesenlegers zu erlernen. Ich bekam weder den Bericht über mich zu sehen, noch fragte mich irgendjemand wirklich nach meiner Meinung. In null Komma nichts fand ich mich geistesabwesend mit einem hammer auf Fliesen klopfend wieder. Man kann wahrlich nicht behaupten, dass mich das aufblühen ließ. glücklicherweise war das nicht von langer Dauer. Meine Eltern akzeptierten, dass ich mich an der Pariser Schauspielschule anmeldete und am Cours Simon teilnahm. Dort war ich endlich unter gleichgesinnten in meinem Element. Wenn ich nicht gerade als Possenreißer auf der Bühne des Cours Simon agierte, hockte ich unter dem großen Tisch im Wohnzimmer, um alle Schwarz-Weiß-Filme anzuschauen, die damals im Fernsehen liefen. Filme anschauen und Schlafen, das waren die einzigen aktivitäten, die ich lautlos praktizierte. Der Flimmerkasten faszinierte mich, ich war hingerissen. Bei meinen Eltern in Levallois oder bei meiner geliebten großmutter, die ein großer Fernsehfan war, verbrachte ich auch später Stunden damit, laufende Bilder aufzusaugen. Dabei verschlang ich unter anderem auch den Film Dr. Françoise Gailland, dargestellt von annie girardot. Sie spielte darin eine moderne, kämpferische Frau. Ich bewunderte diese TV-heldin, weil sie mich mit ihrem altruismus und ihrer Rebellion gegen Ungerechtigkeit berührte. 1


Cache_Inhalt.qxp_Layout 1 07.02.13 14:08 Seite 17

Sie erinnerte mich zudem an meine Mutter, eine beherzte gastwirtin, und an meine großmutter, eine emanzipierte grande Dame, die im arbeitsministerium ihren Dienst tat. Meine kleine, liebe großmutter. Durch sie weiß ich, was Freiheit und Lebensfreude bedeuten. Für den theoretischen Unterricht gehe ich in den Cours Simon. Wieder einmal gelte ich als Faxenmacher, und das seit meinem ersten Vorsprechen. Ich trage der Direktorin das berühmte gedicht Le pont Mirabeau von apollinaire vor. Die klopft auf einen Metallaschenbecher, um Ordnung in die Klasse zu bekommen. Kaum begonnen, geht meine Darbietung auch schon schief. Die Unerfahrenheit spielt mir einen Streich und es folgt ein Blackout. Ich bin absolut nicht mehr in der Lage, mich an das Wichtigste zu erinnern, nämlich daran, was unter der Brücke Mirabeau fließt. also sage ich, dass es mir leider entfallen ist, und besitze gleichzeitig die Kühnheit, mein amüsiertes Publikum zu befragen: »Nun sagt schon, was fließt unter der Brücke Mirabeau? gute Frage, nicht wahr? Könnt ihr mir nicht helfen? Ich habe leider absolut keine ahnung mehr!« Die Klasse ist vergnügt und die Direktorin regt sich an ihrem aschenbecher ab. Ich jedoch bin enthusiastisch, weil ich solchen Quatsch liebe und schließlich gerade als König der Clowns gefeiert werde. Etwas weniger vergnügt bin ich dann, als die Direktorin mich von der Bühne scheucht und mir den Spitznamen »de Funès numéro 2« gibt. Ich bin sehr strebsam zu jener Zeit 17


Cache_Inhalt.qxp_Layout 1 07.02.13 14:08 Seite 18

und jung. Ich habe also absolut nicht vor, die Nummer 2 von irgendjemandem zu sein, auch nicht von de Funès, selbst wenn ich ihn unendlich bewundere. Ich besitze noch den Stolz eines anfängers und bin überzeugt, dass der Tag kommen wird, an dem man mein Talent als Schauspieler erkennen und feiern wird. Dieser Tag kam jedoch nicht, weil der Film nicht so verlaufen ist, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Oder besser gesagt, es wurde ein ganz anderer Film. Der Film von annies Leben. Es ist ihr eigener Film, in dem ich eine denkwürdige Rolle spiele. aber es sollten noch einige Jahre ins Land gehen, bevor man das überall erkannte. Bis auf wenige Situationen war das nicht weiter tragisch, denn ich wusste ja, dass ich der Prinzipal war. Ich kannte meinen Nutzen, die Bedeutung meiner anwesenheit an annies Seite. am Ende ausgelaugt und abgehetzt, überkamen mich dann doch Zweifel, das gestehe ich. Die Erschöpfung gab mir flüsternd den gnadenstoß: »hey, Don Quichotte, du kannst jetzt nichts mehr ausrichten. Du kämpfst gegen Windmühlen. Kannst du denn nicht erkennen, dass du verlierst? Man kann nichts mehr für sie tun. Es ist vollkommen nutzlos, was du da machst!« abgesehen von annies Dankbarkeit selbst wurde mir erst viel später anerkennung von anderen zuteil. Erst, als Nicolas Baulieus TV-Dokumentation Annie Girardot – ainsi va la vie, im Jahre 2008 ausgestrahlt wurde. Erst an diesem Tag habe ich end18


Cache_Inhalt.qxp_Layout 1 07.02.13 14:08 Seite 19

lich gefühlt, dass ich mich nie mehr rechtfertigen muss. Der Film zeigt all das, was wir mit annie erlebt haben. Er erklärt das, was ich Patrick Sébastien einige Zeit vorher nicht erklären konnte: annies Liebe, ihre Zuneigung, unsere Zärtlichkeit, meine aufmerksamkeiten, ihre Wunden, meine Liebesbezeugungen. Wir haben uns immer verstanden, auch dann, wenn es gelegentlich ziemlich stürmisch zuging. annie hatte ihre gründe, mich gern zu haben. Sie verabscheute Stillstand, hatte Unmengen Liebe zu geben – und ich ebenso. alle beide besaßen wir ein Übermaß an Zärtlichkeit. Bei der Wahl ihrer Rollen hatte annie girardot ein festes Prinzip: Sie lehnte es ab, bösartige Rollen zu spielen. Die hätten ihr Schmerzen bereitet. Deswegen weigerte sie sich beharrlich, derartige angebote anzunehmen. Es war also völlig sinnlos, sie zu bitten, im Film jemanden umzubringen. auch für Darstellung von Betrügern stand annie nicht zur Verfügung. Wenn ich ihr das Ende eines Drehbuchs vorlas, in dem vorgesehen war, sie zu einer Mörderin zu machen, rebellierte sie konsequent. »Oh nein, niemals! Ich bringe niemanden um. Ich habe in keinem einzigen Film jemals jemandem etwas zuleide getan, und ich werde heute ganz bestimmt nicht damit anfangen! Entweder sie ändern das Ende oder ich mache es nicht. Punkt.« So wurde dann eine Kugel zu einem herzinfarkt oder zu einem autounfall. Ich lächelte schon im Vorfeld, weil ich ihre Reaktion bereits auswendig kannte. Oft sah ich, wie sie sich vor dem Fernseher aufregte, wenn in den Nachrichten wieder gewalt19


Cache_Inhalt.qxp_Layout 1 07.02.13 14:08 Seite 20

szenen zu sehen waren. annie war gegen Krieg und jegliche Form von Leid. Das geballte Böse machte sie unendlich wütend, sie verstand das nicht. Sie wünschte niemandem den Tod, nicht einmal dem miesesten Typen. Das Schlimmste, was sie sagen konnte, war: »Den sollte man wegsperren.« Sie selbst war es auch, die sich fortwährend zu helfen wußte, wenn es darum ging, sich an die guten Dinge zu erinnern. Und zwar ausschließlich an die guten. Freude bereiten, glück verschenken – annie tat es unentwegt. am anfang unserer Freundschaft versuchte sie oft, mich zum Lachen zu bringen. So wusste sie beispielsweise von meiner Bewunderung für Muriel Robin. also organisierte sie heimlich eine Begegnung. Sie bat mich ganz nebenbei, zum Café Banana zu kommen, wo eine kleine Überraschung auf mich warten würde. Nichtsahnend blieb ich also gekleidet, wie ich war, völlig zerknittert und verschwitzt. Wie hätte ich auch vorhersehen sollen, dass ich gleich meinem Idol begegnen würde. als ich dort ankomme, entdecke ich Muriel Robin sofort. Sie ist mit annie auf der Tanzfläche, und die Damen amüsieren sich. Ich nähere mich den beiden, aber die Komikerin hält mich für einen Störenfried und stellt sich schützend vor den Star. Ich bleibe wie ein Idiot angewurzelt stehen und verhasple mich in einem anfall von Schüchternheit. Dabei fühle ich mich sehr ungeschickt, und 20


Cache_Inhalt.qxp_Layout 1 07.02.13 14:08 Seite 21

dieses gefühl löst sich auch nicht wieder auf. Der ganze abend ist furchtbar. auf dem Rückweg werfe ich annie vor, mich nicht gewarnt zu haben. Ich werfe ihr an den Kopf, dass ich Muriel doch ein geschenk mitgebracht hätte, wenn ich gewusst hätte, dass sie da ist. annie nimmt mir meine Kommentare ziemlich übel. Sie wird wütend: annie »aha, du bist also der Meinung, dass ich Mist gebaut habe. habe ich das jetzt richtig verstanden?« léo »Nein, das wollte ich nicht sagen. Ich freue mich natürlich sehr über deine Überraschung, aber du hättest mir doch wenigstens sagen können, dass es gut wäre, wenn ich mich umziehen würde.« annie »ach, ich habe es satt. Jedes Mal, wenn ich dir eine Freude machen will, geht es schief!« léo »Das ist nicht der Punkt, annie. Wenn du es mir nur ein bisschen angedeutet hättest, hätte ich mich auch gefreut.« In ihrem Zorn beschimpft annie alles, was sich auf dem Tisch befindet. Wütend schmeißt sie Skripte, Bücher, akten und anderes umher. Ein Tornado tobt. Mit einem Male fliegt der ganze Kram über meinen Kopf. Ich bin fassungslos und unterbreche kurz ihren Wutausbruch: »Okay, dann haue ich jetzt ab, und ich habe keine ahnung, wer das alles wieder aufheben wird.« Ich halte Wort und verschwinde kurzerhand. Vor dem haus, als 21


Cache_Inhalt.qxp_Layout 1 07.02.13 14:08 Seite 22

ich gerade mein Moped besteigen will, klingelt das handy. Es ist annie. »hallo, mein Lieber, hast du mich noch gern?« Ich sage, dass ich sie natürlich noch gern habe und sie sich jetzt beruhigen und schlafen gehen soll. aber zu dieser Zeit muss wohl schon diese kleine zwanghafte Seite von ihr Besitz ergriffen haben. Sie ruft mich noch einmal und noch einmal an, um mir immer dieselbe Frage zu stellen. Die Frage, die sie ängstigt und die ihr keine Ruhe lässt. annie will absolut sicher sein, dass ich ihr nicht böse bin, damit sie ruhig schlafen kann. Sie lacht und wirft ihren Kopf zurück. Ihr grüner Schal flattert im Wind. annie ruft: »Ich liebe das Leben, ich liebe das Kino!« Ich beginne zu träumen. In meinem Traum entführe ich sie. Mit neuen Kleidern gehe ich zu ihr ins Pflegeheim. Wir lachen beide, als ich den Raum betrete. Rasch helfe ich ihr, sich umzuziehen, und dann machen wir uns heimlich davon. Wir sind überglücklich und nehmen uns vor, all das zu tun, was wir als Kinder schon immer tun wollten; wie zwei Verrückte, die entkommen sind. Wir würden essen, lachen, geschichten erzählen, spazieren gehen und streiten. Wir würden alles tun, so wie früher. Weil mir das so wichtig ist, würden wir zum Meer fahren, denn ich bin noch immer Bretone. Und wir würden auch den himmel bestaunen, der für annie so wichtig ist, den sie betrachtet, wann immer es nur geht. Im auto, im Flugzeug … überall. annie würde nie und nimmer ins heim zurückkehren wollen, das ist mir klar. außerdem würde ich sie 22


Cache_Inhalt.qxp_Layout 1 07.02.13 14:08 Seite 23

niemals zurückbringen können, das brächte ich nie übers herz. annie »Sag mir, Léo …« léo »Ja, annie?« annie »Du lässt mich nie im Stich, nicht wahr?«

23


Léo Bardon gehörte zu dem kleinen Kreis enger Vertrauter, die von dem Leiden der Schauspielerin wussten und sie durch diese schwierige Zeit begleiteten. Er berichtet von der schrecklichen Entdeckung, dem Kampf darum, das Geheimnis zu wahren, und den Reaktionen von Familie, Freunden, Kollegen und am Ende der Öffentlichkeit.

Léo Bardon, geboren 1965 in Paris, französischer Schauspieler und Autor, war von 1995 bis 2007 persönlicher Assistent und Vertrauter der Schauspielerin Annie Girardot (1931-2011). Er bemerkte an ihr die ersten Anzeichen von Alzheimer und versuchte, mit allen Mitteln gegen das Unabwendbare anzukämpfen.

VAT

www.vat-mainz.de

19.90 EUR [D] Inklusive eBook ISBN 978-3-95518-002-7

Léo Bardon

© Thierry d'Ascia

Annie Girardot (1931-2011) war berühmt für ihre berührende Schauspielkunst, ihre große Liebesfähigkeit und ihr grandioses Gedächtnis. Als sie Ende der neunziger Jahre an Alzheimer erkrankt, beginnt ein belastendes Versteckspiel. Denn das Risiko einer kranken Schauspielerin würde kein Filmproduzent auf sich nehmen wollen.

CACHÉ – Der lange Abschied der Annie Girardot

SU_Bardon_AG_Bardon Caché 23.01.13 12:52 Seite 1

VAT

Léo Bardon

Annie Girardot prägte den Stil einer ganzen Generation selbstbewusster Frauen: Sie trat seit 1955 in mehr als 170 Filmen auf und war über Jahrzehnte hinweg eine der beliebtesten Schauspielerinnen Frankreichs und Europas. 2001 und 2005 spielte sie in zwei erfolgreichen Filmen des österreichischen Regisseurs Michael Haneke mit – zu diesem Zeitpunkt war sie bereits schwer an Alzheimer erkrankt. 2006 verkörperte sie dann ihre letzte große Rolle: Im Rahmen des Dokumentarfilms »Ainsi va la vie« trat sie mit ihrer Krankheit an die Öffentlichkeit und brach damit das Tabu, mit dem Alzheimer belegt ist.

CACHÉ

Annie Girardot starb am 28. Februar 2011 in einem Pariser Hospiz.

Der lange Abschied der Annie Girardot VAT VAT

www.vat-mainz.de


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.