Gegen Romantik

Page 1


© für die deutschsprachigen Regionen: Vat Verlag andré thiele, Mainz am Rhein 2012 © für die originalausgaben: vgl. Quellennachweise S. 129 Lektorat: Dr. Christophe Fricker Umschlag und Satz: inka Heerde Druck und Bindung: anrop Ltd., Jerusalem alle Rechte vorbehalten. Printed in israel. www.vat-mainz.de iSBn 978-3-940884-85-5


Michael C. Blumenthal

gegen RoMantik gedichte aus dreiĂ&#x;ig Jahren

aus dem amerikanischen von irmgard Hunt

Verlag andrĂŠ thiele


VoRwoRt nun fliegen sie wieder, die gedichte von Michael Blumenthal, in zwei Sprachen. Verglichen mit dem zweisprachigen Lyrikband Engel, Vögel, Lieder (2011) steht die vorliegende Sammlung an einer schwierigeren, ernsteren Stelle. Die engel (Schreibgeister) inspirieren diesmal weniger leichtlebig, die Vögel (Menschen) schweben mit schwereren Flügeln und die Lieder – ja die Lieder sind die Lieder. Sie sind zum Zweck einer zeitlichen Überschau chronologisch geordnet, um der entwicklung des lyrischen werkes von Michael Blumenthal (zehn Bände) zu folgen. erstaunlich sein erster Band, Sympathetic Magic (1980), gedichte, die ein sehr junger Dichter bereits vor seinem dreißigsten Jahr schrieb. »Jew / Jude« ruft die identität in sein literarisches Schreiben, die in allen folgenden werken hervortritt, auch wenn sie die gedichte nicht dominiert. Das gedicht stellt es dem Leser bedingungslos vor: Hier ist die grauenhafte geschichte, hier mein Jude-Sein, hier der vielberufene Selbsthass, hier bin ich: die Zerrissenheit. Das gedicht »Julieks geige« ist erschütternd, während zum Beispiel »United Jewish appeal« Humor und Selbstironie ins Bild bringt. es ist nicht allein die Zerrissenheit in Bezug auf die jüdische identität, sondern auch im Verhältnis zur Partnerschaft, zur welt schlechthin und nicht zuletzt im Schreiben: Das jüdische erbe und das Leben der nachgeborenen der Judenverfolgung zum thema eines literarischen werkes machen, zum einzigen, zentralen, oder gar nicht, oder eine Mischung? Michael Blumenthal entscheidet sich für letzteres. Der weitaus überwiegende teil seines lyrischen gesamtwerks über nun mehr als dreißig Jahre hinweg berührt die jüdische geschichte nicht. insgesamt


schuf der Dichter lyrische kleinodien, die bei aller tiefe und oft trauer »eher in Dur als in Moll« ausklingen, wie ich in der früheren Sammlung von 2011 befand. Sie fliegen, flattern, schweben; sie singen im Blumenthal-Rhythmus. Liebe und erotik sind in all seinen Sammlungen konstante themen sowie auf gewisse weise die idee ›Romantik‹. Beispiele wie »Die Schatten«, »Halbiert«, »Dämmerung«, »Morgenlied« und so viele andere dieser lyrischen gebilde werden aufgefangen im gedicht »gegen Romantik« (titel der Sammlung Against Romance von 1987, neudruck 2006): Desillusionierung, so weiß der Dichter, steht dem Verliebten, naiven, Romantischen bevor. wieder andere themen in den verschiedenen Sammlungen behandeln die Biografie des Dichters, Selbstbespiegelung, bzw. -analyse, philosophische Betrachtungen und nicht selten den Schreibprozess und die kunst der Lyrik selbst. Mögen letztere ins gedicht »Fliegen« hineingelesen oder aus ihm heraus interpretiert werden, hier schützt ein »engel«, der den Stürzenden auffängt. es geht um Balance, um ein Fliegen, welches ein Schweben ist, in der kunst wie auch im Leben. Solche Schwebekunst ist ausdruck der Zerrissenheit und des Dazwischen-Seins. Daß die gedichte von Michael Blumenthal auf leichte, leichteste wie auch auf schwere und schwerste art fliegen, soll diese auswahl aus sieben Lyrikbänden sowie neuesten Manuskripten darstellen. irmgard Hunt


i


inVentoRS Imagine being the first to say: surveillance … Howard nemerov “imagine being the first to say: surveillance,” the mouth taking in air like a swimmer, the tongue light as an astronaut, gliding across the roof of the mouth, the eyes burning like the eyes of Fleming looking at mold and thinking: penicillin. imagine Franklin holding his key that dark night, the clouds rolling across the sky’s roof like a poet’s tongue, the air heavy with some unnamed potential, the whole thing suspended from a string like a vocal cord waiting to say: electricity. or imagine digging for shale in some dull oklahoma, how the ground is a parched throat waiting for moisture, and you all derricky and impatient, knowing something you have yet no name for might rise and surprise you. imagine being the first to say: petroleum. Some night, dry as an old well and speechless beneath a brilliant moon, think of Heisenberg taking his ruler to the world for a measure and finding, in the measuring, an irrevocable changing. imagine being the first to say, with confidence: uncertainty. it goes on like this always. a poet stops in the woods to clear his throat, and out comes: convolvulus. a biologist rolls over during the night to hold her husband, thinking: peristalsis. a choreographer watches the sunrise over Harlem, whispering: tour-jetté, ronde-de-jambe.

10


Die eRFinDeR Stell dir vor, du bist der erste, der sagt: Überwachung ... Howard nemerov »Stell dir vor, du bist der erste, der sagt: Überwachung«, der Mund schnappt nach Luft wie ein Schwimmer, die Zunge in der Mundhöhle schwebend wie ein Raumfahrer, die augen feurig wie die augen von Fleming, der den Moder betrachtet und denkt: Penizillin. Stell dir Franklin vor, wie er in jener dunklen nacht den Schlüssel hielt, die wolken rollten über die Höhle des Himmels wie die Zunge eines Dichters, die Luft erfüllt von einem noch unbekannten Potential, das ganze aufgehängt an einer Schnur wie ein Stimmband, das nur drauf wartet zu sagen: Elektrizität. oder stell dir vor, im öden oklahoma nach Öl zu bohren, der Boden ein ausgetrockneter Rachen, der nach Feuchtigkeit dürstet, und du ganz Bohrturm und Ungeduld im wissen, daß etwas von dir noch Unbenanntes emporschießen und dich überraschen könnte. Stell dir vor, als erster zu sagen: Öl. eines nachts, wenn du trocken wie eine versiegte Quelle sprachlos unter einem glanzvollen Mond liegst, denke an Heisenberg, der sein Lineal an die welt legt und misst und der während des Messens unwiderruflichen wandel bemerkt. Stell dir vor, du bist der erste, der mit Überzeugung sagt: Ungewissheit. So geht es immer weiter. ein Dichter steht still im wald, um sich zu räuspern, und heraus kommt: convolvulus. eine Biologin dreht sich um in der nacht, will ihren Mann umarmen und denkt: peristalsis. ein Choreograph sieht den Sonnenaufgang über Harlem und flüstert: tour-jetté, ronde-de-jambe.

11


Just think of it – your tongue rolling over the ďŹ rst pharmacopoeia like a new lover, the shuddering thrill of it, the way the air parts in front of your mouth, widening the world in its constant uncertainty. go on. Let your mind wander. imagine being the ďŹ rst to say: I love you, oregano, onomatopoeia. Just imagine it.

12


Stell es dir einfach vor – die Zunge rollt dir über das erste pharmacopoeia wie über eine neue Liebe, dies Schauern und Beben, die art, wie sich die Luft vor dem Mund teilt und die welt in immerwährender Ungewissheit erweitert. Mach weiter. Lass deinen geist wandern. Stell dir vor, du bist der erste, der sagt: Ich liebe dich. Oregano. Onomatopöie. Stell es dir einfach vor.

13


aiR i’d like to describe to you how sweet the wind is in December, how it glides off the Potomac with the recklessness of children leaving old paths for clean ground and how the gibbons swing in their cages with the steady grace of sopranos these brisk Saturdays and the equal importance of all movement leaves me breathless, makes acts of irreverence of all my purchases. Contrition is something we are born with– the easy grief of sacrifice, the goose down of regret and apology. Some nights, the voices of all we’ve failed to help gather like moss at our feet and our steps grow treacherous and slick, pentameters of unrest and longing. But once, in a dream, i met a man who took with him everywhere a suitcase of emptiness. each night, in a new town, he’d open and close it, open and close it, the way toucans open their beaks with a longing for insects. air, he said, was how he took the world with him, everywhere. and now, still silly with irreverence and youth, i take air as the measure of all grace, a hand that rises to bless all things equally– soot, crabgrass, you, and me. and i find justice in the evenness of wind, how it rises

14


LUFt ich möchte dir gern beschreiben wie wohltuend der wind ist im Dezember, wie er über den Potomac jagt mit der Unbesonnenheit der kinder, die alte Pfade verlassen und neues gebiet betreten, und wie die affen in ihren käfigen schaukeln mit der anmut eines Soprans an diesen kalten Samstagen wo die gleiche Bedeutung aller Bewegung mir den atem nimmt und all meine einkäufe in Respektlosigkeiten verwandelt. Reue ist etwas uns angeborenes, die schnelle trauer um opfer, die Daunenfedern des Bedauerns und der abbitte. Manche nacht versammeln sich die Stimmen all jener, denen wir nicht geholfen haben, wie Moos an den Füßen, und unsere Schritte werden gefahrvoll und schlüpfrig, Pentameter aus Unrast und Verlangen. Doch einmal, im traum, traf ich einen Mann, der überallhin seinen koffer voll Leere mit sich trug. Jeden abend in einer anderen Stadt öffnete er ihn und schloss ihn wieder, öffnete und schloss ihn wieder, wie der tukan den Schnabel öffnet aus einem Verlangen nach insekten. als Luft, so sagte er, nehme er die welt überallhin mit. Und jetzt, noch immer dumm vor Renitenz und Jugend, verstehe ich die Luft als Maß aller gnade, eine Hand die sich erhebt um alles gleichermaßen zu segnen – Ruß, wuchergras, dich, und mich. Und ich finde gerechtigkeit im gleichmaß des windes, wenn er sich erhebt

15


like a perfect skater over the ice to ďŹ ll the suitcases of old men and carry the warm kisses of lovers from place to place, and how it falls again over the darkening night into the quiet, airy stillness of the world.

16


wie ein vollendeter Läufer über dem eis um die koffer alter Männer zu füllen, um die heißen küsse Liebender zu tragen von ort zu ort, und wie er wieder abflaut über der dunkelnden nacht, in die ruhige, luftige Stille der welt.

17



QUeLLennaCHweiSe Michael Blumenthal, Sympathetic Magic. Huntington nY: water Mark Press, 1980 Michael Blumenthal, Days We Would Rather Know. new York: Pleasure Boat Studio, 2005 (1984) Michael Blumenthal, Against Romance. new York: Pleasure Boat Studio, 2006 (1987) Michael Blumenthal, The Wages of Goodness. Columbia and London: University of Missouri Press, 1992 Michael Blumenthal, Dusty Angel. Rochester nY: Boa editions, 1999 Michael Blumenthal, AND. Rochester nY: Boa editions, 2009 neue gedichte seit 2010: guide / wegweiser in tRanS-Lit2 vol. XVi / no. 2, 2010 Poetry Love / Liebe zum Dichten in tRanS-Lit2 vol. XVii / no. 1, 2011 Pills / Pillen (unveröffentlicht) Fin de Siècle / Fin de Siècle (aus: No Hurry. etruscan Press, 2012, im Druck)

129


inHaLt i

aus: Sympathetic Magic (1980)

inventors / Die erfinder air / Luft Jew / Jude Sympathetic Magic / Sympathetische Magie Sweet easel / gute Staffelei washington Heights, 1959 Flying / Fliegen ii

10 12 18 22 24 26 30 aus: Days We Would Rather Know (1984)

october Sestina: the Shadows / Sestinen im oktober: Die Schatten the Bitter truth / Bittere wahrheit Juliek’s Violin / Julieks geige a Photograph of giacometti / ein Foto von giacometti Poem by Someone else / gedicht eines anderen the woman inside / Die Frau in mir Days we would Rather know / Bessere Zeiten what i Believe / was ich glaube Praise / Lob iii against Romance / gegen Romantik academic Suppers / Heilige Hallen the tip of the iceberg / Die Spitze des eisbergs the new Story of Your Life / Dein neues Leben Somewhere else / woanders Patience / geduld Halved / Halbiert Dusk: Mallards on the Charles River / Dämmerung: enten auf dem Charles River

34 38 42 46 48 50 52 54 56

aus: Against Romance (1987) 60 62 64 66 68 70 72 74


iV

aus: The Wages of Goodness (1992)

aubade / Morgenlied the Bear / Der Bär ordinary Heartbreaks / gewöhnlicher kummer Letters Floating around ellis island / Buchstaben, die um ellis island schwimmen United Jewish appeal / »United Jewish appeal« Cherries / kirschen and the wages of goodness are not assured / Und der Lohn für das gute ist nicht garantiert V

92

aus: Dusty Angel (1999)

Falling asleep in at the erotic Mozi / einschlafen in der erotischen Mozi Hotels / Hotels the art of Poetry / Dichtkunst Vi

87 80 82 84 86 90

96 98 100

aus: AND (2009)

and How Shall the orchestrations of the night …? / Und wie sollen die orchestrierungen der nacht ...?

106

and the nomenclature of Love Contains a Sadness / Und die nomenklatur der Liebe birgt ein trauriges in sich

108

and the Self that was My old Self is Still within Me / Und das Selbst, mein früheres Selbst, lebt noch in mir

110

and there was no More to give to the world / Und weiter war der welt nichts mehr zu geben

112

Vii

Neue Gedichte seit 2010

Poetry Love / Liebe zum Dichten guide / wegweiser Pills / Pillen Fin de Siècle / Fin de Siécle

118 122 124 126

QUeLLennaCHweiSe

129



Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.