Brigitta Dewald-Koch, in der Nähe von Trier geboren, studierte Pädagogik, Psychologie, Soziologie und Philosophie. Sie leitete lange Jahre eine Ehe- und Familienberatungsstelle, war Vorsitzende des Landesfrauenbeirates bei der Landesregierung Rheinland-Pfalz, ist Mitglied in europäischen Gremien und seit 2011 stellvertretende Abteilungsleiterin in einem Ministerium der rheinland-pfälzischen Landesregierung.
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Im VAT ist von Brigitta Dewald-Koch 2011 der Roman »Am falschen Ort« erschienen.
www.vat-mainz.de
14.90 EUR [D] Inklusive eBook ISBN 978-3-940884-95-4
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Am französischen Felsenriff von Cap Fréhel treffen die unkonventionelle Nina und der überzeugte Junggeselle Martin aufeinander, und eine leidenschaftliche, aber schwierige Beziehung nimmt ihren Lauf. Obwohl die beiden sich stark zueinander hingezogen fühlen, entwickeln sie sich in ganz unterschiedliche Richtungen: Sie geht im häuslichen Bereich und der Idee von Familie völlig auf, er fühlt sich immer stärker eingeengt.
Sturm und Stille VAT
Als Jahre später die gemeinsame Tochter stirbt, reagieren Nina und Martin grundverschieden: Sie fällt in apathische Trauer und wird in eine Klinik eingewiesen. Er hingegen betäubt sich mit Affären – ein schwerer Fehler, wie sich bald herausstellt.
Roman www.vat-mainz.de
Titel © teusrenes - Fotolia.com
2008 erhielt sie den Literaturpreis der Stadt Oppenheim. Seit 2012 ist sie Vorsitzende des Literaturwerkes RheinlandPfalz-Saar e.V.
Sturm und Stille
Brigitta Dewald-Koch ist eine Meisterin in der Schilderung von Familienverhältnissen und deren Schwierigkeiten. Ihr neuer Roman erzählt von dem langen und steinigen Weg einer komplizierten Liebe.
Brigitta Dewald-Koch
Was passiert, wenn sich eine von Leidenschaft und großer Unterschiedlichkeit geprägte Beziehung dem Alltag, aber auch einem schweren Schicksalsschlag stellen muss?
Brigitta Dewald-Koch
Brigitta Dewald-Koch Sturm und Stille
Brigitta Dewald-Koch
Sturm und Stille
Verlag AndrĂŠ î “iele
© VAT Verlag André Thiele, Mainz 2013 Umschlag: gestaltungsmerkmal.de, Dresden Lektorat: Sabine Krieger-Mattila, Königswinter Satz: adrian.medienundbuch.de Druck: CPI, Ebner & Spiegel, Ulm Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany. www.vat-mainz.de ISBN 978-3-940884-95-4
ERSTER Teil
Kapitel 1
1 Das Mädchen musste auf einem Trip sein. Saß da auf einem Felsenriff, zweiundsiebzig Meter tief unter ihr das Meer, ein geradezu halsbrecherischer Ort. Was hatte dieses Mädchen vor? Das Cap Fréhel in der Bretagne war für ihn ein Ort mehr auf einer lustlosen Reise, die er alleine angetreten hatte, alleine antreten musste, weil Enno, dieser verrückte Kerl, sich zwei Tage vor dem gemeinsam geplanten Urlaub ein Bein gebrochen hatte. Gut, er hätte mit Greta nach Stockholm fliegen können, zu entfernten Verwandten von ihr, in ein Sommerhäuschen an einem der zahllosen Fjorde, oder sich Iris anschließen, zu einer von ihr und ein paar anderen Leuten geplanten Rucksacktour in die Pyrenäen, aber beides hatte ihn nicht recht begeistern können. In den Fjorden vermutete er unzählige Mücken, eine Rucksacktour, noch dazu in einer Gruppe, stellte er sich ziemlich anstrengend vor. Dann lieber alleine mit dem Auto nach Frankreich, hatte er sich gesagt und jenes Kribbeln in sich gespürt, das ihn jedes Mal befiel, wenn er sich etwas Besonderes von dem erhoffte, was er sich vornahm, wenn er sich frei und unabhängig fühlte. Nun, die Überraschungen waren bis jetzt eher spärlich ausgefallen. Martin beobachtete das Mädchen. 7
Die See war moosgrün und ultramarinblau und der Wind stark genug, dieses Mädchen tatsächlich von der Felskante wegzupusten wie eine Feder, um es dem Meer zum Spiel zu überlassen. Der Gedanke, es könnte aufstehen und dabei auf dem feuchten, von Salzwasser und Wind zerfressenen Kliff ausrutschen, machte ihn unruhig, und die Vorstellung, möglicherweise Zeuge eines grausamen Ereignisses zu werden, führte dazu, dass er am liebsten aufgestanden und gegangen wäre. Und doch fühlte er sich verantwortlich für dieses Mädchen, das er gar nicht kannte. Er saß hier, in der Macchia, und dieses Mädchen saß auf diesem gefährlichen Felsvorsprung. Wenn er nun aufstehen und sie dabei erschrecken würde? Der Zufall hatte sie beide zusammengebracht, der Zufall musste sich etwas dabei gedacht haben, sagte er sich. »Bist du in Ordnung?«, fragte er vorsichtig. Das Mädchen antwortete nicht. Gut möglich, der Wind hatte seine Worte verschluckt, ehe sie das Mädchen erreichen konnten, überlegte er und wiederholte seine Frage, dieses Mal lauter, gegen den Wind anschreiend: »Bist du in Ordnung?« Wieder blieb die Antwort aus. Ob sie überhaupt Deutsch verstand? Der Wind zerrte an ihren Haaren, und Martin kam es vor, ihr Haar sei ein brennender Busch, an dem der Wind seinen Gefallen gefunden hatte. Erst der Wind, dann das Meer. Wie hilflos ihn der Anblick des Mädchens machte, wie hilflos die Gefahr, der es sich ausgesetzt hatte. Zu Hause hätte er eine wie sie übersehen. Emanze, hätte er gedacht. Leidenschaftlich im Bett, vielleicht, wenn man sie ein wenig kitzelte, aber der ganze Ärger drumherum, nein danke. Martin besah sie sich genauer: Sie trug eine weiße Bluse – oder war es ein Herrenhemd? Hosen, wie sie für gewöhnlich Wanderer tragen, mit riesigen Seitentaschen, in denen wer weiß was versteckt war, ausgebeult wie sie waren. Ihre 8
nach rechts und links gespreizten Füße steckten in groben Stiefeln. Einzig ihr Haar, feuerrot, mit schwarzen und grünen Strähnen, wirkte lebendig. Sie wollte um jeden Preis auffallen, aber bestimmt auch bewusst unweiblich wirken. Das Mädchen drehte langsam seinen Kopf, zwei Lachgrübchen erschienen auf den Wangen. Ein hübsches kleines Gesicht. Sie könnte Anfang zwanzig sein, dachte er. »Hast du ein Auto?«, schrie das Mädchen. Martin lachte erleichtert. »Wozu brauchst du ein Auto?«, schrie er zurück. »Hast du eins oder nicht?« »Vielleicht.« »Meine Güte. Mach’s mal nicht ganz so kompliziert.« Geschickt rollte sich das Mädchen zur Seite, hin zu einem sicheren Untergrund, dann sprang es auf die Füße. Erst jetzt sah Martin, wie zierlich die Kleine war. »Ich kenne in der Nähe eine nette Kneipe. Wir könnten da hinfahren und zusammen etwas trinken. Willst du?« Martin überlegte, ob das jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, zu verschwinden. Auf einem Zeltplatz, etwa einen Kilometer entfernt, warteten zwei Belgierinnen auf ihn. Er hatte ihnen beim Aufbau ihres Zeltes geholfen und sie ihn im Gegenzug für den Abend zum Essen eingeladen. »Zu einem Mehr-GängeMenü«, hatten sie gesagt. Er hatte sofort nicht nur an Essen gedacht, obwohl eine der beiden Köchin war, in einem Viersternehotel in Aachen. Im Geiste sah er jetzt die beiden Belgierinnen miteinander lachen, sich umarmen. Er sah sie zusammen kochen, seufzte. Und wenn sie nun doch nur ihre Kochkünste unter Beweis stellen wollten, die Kleine hier aber auf ein Abenteuer aus war? »Was ist? Willst du oder willst du nicht?«, riss ihn das Mädchen aus seinen Gedanken. 9
Er betrachtete sie eingehend. »Eigentlich bist du nicht mein Typ«, sagte er. Das Mädchen lachte amüsiert und bog dabei seinen Kopf nach hinten. »Dann eben nicht«, sagte es frech. Wie es so an ihm vorbeihüpfte, machte es den Eindruck, als sei es auf niemanden angewiesen. Das gefiel ihm, und er entschied, mit ihr mitzugehen wäre in jedem Fall interessanter als sich von einer Köchin, und war sie auch noch so gut, bekochen zu lassen. 2 Auf der Fahrt nach Sables d’Or les Pins fragte er: »Wie heißt du eigentlich?« »Nina«, antwortete das Mädchen. »Klingt wie ein Pseudonym.« »Gut möglich«, sagte Nina leichthin und zog ihre Stiefel aus. Ihre Füße waren makellos, tiefbraun, ihre Zehennägel blau und grün lackiert. Nina bemerkte seinen Blick. »Wie das Meer«, erklärte sie. Ob sie alleine unterwegs sei, wollte er wissen. Dafür, dass sie nicht sein Typ sei, wolle er ganz schön viel von ihr wissen, entgegnete sie. Daraufhin schwiegen sie, bis sie sagte: »Das hier ist ein heiliger Ort.« »Wie bitte?« »Ich liebe das Meer, seine Weite, seine Farben, seine Geräusche. Das Meer ist ein heiliger Ort.« Sie erreichten gerade den Ortseingang von Sables d’Or les Pins, fuhren auf der staubigen Landstraße an Häusern vorbei, die in der mittäglichen Hitze wie ausgestorben wirkten. Sables d’Or les Pins ist kein heiliger Ort, eher eine Durchgangsstraße, an der eine Handvoll staubiger Häuser und ein Restaurant mit Bar kleben, dachte Martin. 10
Nicht ein Hauch Wind, der ganze Ort wie erschöpft, jetzt um die Mittagszeit. Plötzlich lag mitten auf der Straße ein schlafender Hund. Martin hupte, der Hund hob müde seinen Kopf, stand dann im Zeitlupentempo auf und trottete etwa zwei Meter zur Seite, wo er sich sofort wieder fallen ließ. Nina lachte. »Bist du Reiseführerin oder eher auf einem esoterischen Trip?«, fragte Martin. »Weder noch. Ich bin aus einem Traum gefallen und zufällig hier gelandet.« Martin schüttelte den Kopf. Fast bereute er, sich auf ihren Vorschlag eingelassen zu haben, und fühlte sich ein wenig wie in einen drittklassigen Film katapultiert. »Die nächste rechts«, sagte Nina. Sie fuhren in eine schmale Seitenstraße, rechts ging es zum Centre, Nina dirigierte ihn aber nach links, zu einem sandigen, kleinen Platz. Sie zeigte auf ein Haus aus dunklem Granit und sagte: »Das und das Meer, für mich sind sie eins.« »De la Poste« und »Bar Tabac« stand in roten Lettern, die schon bessere Tage gesehen hatten, über dem Eingang. Jemand hatte nachlässig weißen Kalk an das Mauerwerk geworfen, an dem sichtbar die salzige Meeresluft fraß. Die Fenster- und Türrahmen waren in der Farbe des Meeres gestrichen, an manchen Stellen leuchtete frischer Rost. Nina erklärte ihm, dass er das Auto auf einem Parkstreifen abstellen müsse. Immerhin, sie hat einen gewissen Ordnungssinn, dachte Martin schmunzelnd. Er parkte seinen Wagen, sie stieg aus und ging, ohne sich nach ihm umzusehen, zur Bar de la Poste. Martin folgte ihr. Auf der renovierungsbedürftigen Terrasse wählte Nina einen Tisch, der schon bei der kleinsten Berührung bedrohlich wackelte. Von hier hatte man einen guten Blick auf den 11
von Platanen gesäumten kleinen Platz, auf dem fünf Männer Boule spielten. Nina winkte ihnen, und die Männer winkten ihr fröhlich zurück. »Hier bin ich wirklich gerne«, sagte sie. »Und warum?« Nina zeigte auf Kübel, in denen Fleißiges Lieschen wucherte, auf Lavendel und prächtige Malvenstauden am hinteren Teil des Hauses, auf tiefrote Rosenbüsche rechts der Hausfront und auf ein Meer aus roten, blauen und weißen Hortensien. »Darum«, sagte sie. »Ist das hier auch ein heiliger Ort?« Nina zeigte ihre Lachgrübchen. »Nein«, sagte sie. »Das hier ist ein lauter, ein lebendiger Ort.« »Lebst du hier? In diesem Ort meine ich.« Nina warf wieder den Kopf zurück. Sie lachte herzhaft, und Martin fragte sich, wie es wohl sei, mit ihr zu schlafen. Wenn er schon den Chauffeur für sie gab, dann doch nicht ganz umsonst. Während ein paar Zuschauer auf den Bänken im Schatten der Platanen Platz nahmen, den Fotoapparat im Anschlag, und sich zwei Eis schleckende Kinder neugierig hinzugesellten, legte er sich einen Plan zurecht, wie er es schaffen könnte, dieses seltsame Mädchen neben ihm dazu zu bringen, dass sie miteinander vögelten. Dann fiel ihm seine Frage wieder ein und auch ihr Lachen. »Was ist so lustig an meiner Frage?«, wollte er wissen. »Nichts. Es ist nur … Du hörst mir nicht richtig zu.« Sie zog das weiße Hemd aus. Darunter kam ein hellgrünes, knappes T-Shirt zum Vorschein, das ihren Bauch freigab, tiefbraun und fest. Bestimmt war sie überall braun und fest und warm. Mit einem Mal fühlte sich Martin sehr einsam. Wie zufällig berührte er ihren Arm, sie ließ es geschehen, ihre Aufmerksamkeit aber galt den alten Männern auf dem Platz, die jetzt, unter ihrem Blick, kleine Tanzeinlagen vollführten, was wegen ihres schweren Schuhwerks 12
ziemlich komisch aussah, und, dachte Martin, auch ein wenig albern. Die Männer trugen Baumwollhosen, wie Martin sie bei den Bauern auf dem Markt oder den Fischern im Hafen nahe Mont Saint Michel gesehen hatte. Ihre vom Wetter gegerbten Gesichter waren grob wie ihre Pullover aus blauer Wolle. Einer der Boule-Spieler, ein Mann mit langem weißem Haar, lehnte sich nun wie ermattend an eine der Platanen und drehte bedächtig seine Kugel in den Händen. Sein Blick war offen, als er erst Nina traf. Dann fiel er auf Martin und verfinsterte sich, wie um diesem zu signalisieren, es wäre besser zu gehen. Jetzt bleibe ich erst recht, überlegte Martin. Als der Wirt zu ihnen an den Tisch kam, lächelte auch er Nina wie einer alten Bekannten zu. Sie wechselten ein paar französische Worte miteinander, die Martin nicht verstand, weil sie zu schnell sprachen und sein Schulfranzösisch nicht reichte, ihnen zu folgen. Ihn ärgerte, dass sie ihn aus ihrem Gespräch ausschlossen, und er drängte dem Wirt seine Bestellung auf, was beide, der Wirt und Nina, offenbar komisch fanden. Wenig später brachte der Wirt eine Karaffe Wein, und als Martin darauf hinwies, er habe keine Karaffe bestellt, tauschte der Mann mit Nina Zeichen aus, die nur sie beide verstanden, dann erklärte sie Martin nachsichtig, das sei ein guter Landwein, den trinke sie am liebsten, der Wirt wisse das. Martin verkniff sich eine schroffe Antwort. Er ließ sich von dem Wirt einschenken und musste insgeheim zugeben, dass der Wein ziemlich gut schmeckte. Später, als Martin die Karaffe im Innern der Wirtsstube noch einmal auffüllen ließ, fragte der Wirt: »Ist sie deine Freundin?« »Ja«, behauptete Martin. Der Wirt nickte. »Sie ist hübsch, aber ich glaube, sie ist schwierig«, sagte er dann und grinste dabei. 13
»Sie ist, wie sie ist. Ich mag das.« »Die Alten da draußen auf dem Platz sind verrückt nach ihr. Würde mich nicht wundern, wenn Paul sie schon flachgelegt hat.« Der Wirt sah Martin lauernd von der Seite her an. »Und wenn schon«, sagte der. »Willst du damit sagen, es macht dir nichts aus, wer mit deiner Freundin vögelt?« »Was geht das eigentlich Sie an, wie wir leben?« »Nichts«, erklärte der Wirt. »Ich kann mir aber gut vorstellen, sie macht mit dir, was sie will«, fügte er hinzu, ehe er endlich die leere Karaffe mit Wein auffüllte. Und als Martin schon fast aus der Tür war, rief ihm der Wirt nach: »Wie lange kennst du sie eigentlich?« Nina saß nicht mehr am Tisch, als Martin aus der Kneipe trat. Sie war zu den Männern gegangen, zu dem, den der Wirt »Paul« genannt hatte, wie Martin vermutete. Sie spielte Boule mit ihnen. Es war den Alten ein Vergnügen, Nina gewinnen zu lassen. Er beobachtete den, den jetzt auch die anderen »Paul« nannten, jenen Weißhaarigen, der Nina nicht von der Seite wich, der mit ihr flüsterte, der sie aufs Haar küsste. Sie lachten zusammen, Nina schenkte ihm ihr Grübchenlächeln, und augenblicklich spürte Martin den bitteren Geschmack von Eifersucht im Mund, spürte, wie er sich in seinem Hals festsetzte, ihn würgte und nicht mehr losließ. Und er wusste nicht einmal genau, warum das so war. Festen Schrittes ging er auf sie zu und sagte, sie benähme sich lächerlich, außerdem habe er keineswegs vor, seine Zeit noch länger in diesem trüben Kaff zu verbringen. Er habe Besseres zu tun. »Okay«, entgegnete Nina. »Danke fürs Herbringen.« Dann wandte sie sich wieder Paul zu, lachte mit ihm, und es sah ganz danach aus, als habe sie Martin bereits vergessen. 14
3 Die nächsten Tage fuhr Martin stets um die gleiche Uhrzeit nach Sables d’Or les Pins. Am dritten Tag stand sie wie herbeigezaubert am Straßenrand. Diese roten Haare mit den grünen und schwarzen Strähnen, unübersehbar. Martin hielt neben ihr an. Er fragte, ob es ihr Spaß mache, sich mit alten Männern rumzutreiben. Zuerst wirkte sie verwirrt, dann legte sich ein verärgerter Zug um ihren Mund, der kurz darauf ins Spöttische wechselte. Ob das die einzige Frage sei, die ihn in den letzten Tagen beschäftigt habe, wollte sie wissen, worauf Martin entgegnete, jegliche Eifersucht sei ihm fremd, wenn sie das meine. »Prima«, erklärte sie liebenswürdig. Noch freundlicher sagte sie, dass sie auf dem nahegelegenen Camping Municipal de la Plage erwartet werde. Es mache ihm doch sicher nichts aus, sie dorthin zu fahren. Mit wem sie verabredet sei, lag es Martin auf der Zunge, doch er sagte nur: »Steig ein!« Sie setzte sich neben ihn, hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und lächelte. Wo sie herkomme, hätte er sie gerne gefragt, aber sie kam ihm zuvor, indem sie wissen wollte, ob er einen schönen Tag gehabt habe. Er erzählte ihr irgendeine Geschichte. Sie hörte aufmerksam zu. Dann sagte sie, Ebbe und Flut seien ebenso beeindruckend wie gefährlich, wenn man wie er einsame Buchten bevorzuge. Er kenne sich aus, behauptete er. Sie nickte, zeigte auf ein Hotel an der Durchgangsstraße und sagte, hier hätte sie früher gewohnt, als sie noch mit ihren Eltern herkam. Jedes Jahr das gleiche Zimmer, klein, eng, aber mit Meerblick. Ihr Vater habe das so gewollt. Er wollte ein ruhiges Zimmer, sagte sie. Zimmer zur Straße hin habe er verabscheut, und er wollte ein preiswertes Zimmer. Nie zu dick auftragen, habe er gesagt, immer unauffällig bleiben, vor allem im Ausland. 15
Martin hörte ihr zu und dachte: Warum glaubt sie, das alles würde mich interessieren? »Zimmer mit Meerblick«, wiederholte sie. »Und ruhig.« Sie lachte. »Kommt immer darauf an, was man unter ruhig versteht. Mein Vater verstand darunter, dass er keine Menschen hören wollte, keine Gespräche, keinen Kinderlärm, keine Autos, das alles bekam er auch, aber auf der Seite zum Meer brüllte immer der Wind. Und oft hat es Sand geregnet.« »Wie geht denn das?« »Oh, das geht ganz einfach. Der Wind fährt in die Dünen, er hebt Lagen von Sand hoch und spielt damit, treibt sie vor sich her.« Gegen die Fensterscheiben habe er den Sand geworfen, sagte sie, und dass sie dann Angst gehabt habe, weil sie dachte, in dem Sand stecke ein grausamer Geist, der sie aus dem Zimmer holen und ins Meer entführen wollte. »Hast du denn nie mit deinen Eltern darüber gesprochen?« Sie sah ihn an und lächelte. Ihre Grübchen fingen an, ihm zu gefallen. Einmal, sagte sie, da habe sie an einem stillen Tag bei Sonnenaufgang einen Jockey beobachtet, der mit Pferd und Sulky über den noch leeren Strand raste. Dieses Bild habe sich fest in ihr eingeprägt, für immer. »Und du? Bist du zum ersten Mal hier?«, wollte sie wissen. »An diesem heiligen Ort?« »Ja.« Martin nickte. Pinien neigten sich tief zu ihrem Auto herab, ihr harziger Geruch strömte mit der warmen, salzigen Luft ins Auto. Links der schmalen Küstenstraße wucherte Lavendel, dahinter, smaragdgrün, endlos weit, das Meer. Nina stellte fest: »Ich glaube, wir kommen beide aus der gleichen Gegend.« 16
4 Er sah ihn kommen, wusste, er konnte nicht mehr ausweichen. Nina schrie: »Oh mein Gott. Nein!« – und schlug sich verzweifelt die Hände vor die Augen. »Nur ein Hase. Vermutlich ist das dämliche Vieh noch zu blöd zum Sterben.« »Halt an! Sofort!« »Wegen einem Hasen?« »Jetzt halt doch endlich!« Da er noch immer keinerlei Anstalten machte, zu tun, was sie verlangt hatte, griff sie selbst ins Lenkrad, gleichzeitig fasste sie nach der Handbremse. Das Auto drehte sich, dann landete es mit einem kratzenden Geräusch in der Heide. Ein silberner Renault schoss laut hupend auf der Straße an ihnen vorüber. Sie hatten Glück gehabt. Martin stellte den Motor ab, seine Hände zitterten. Er schaute aufs Meer. »Wir müssen nachsehen, was mit dem Hasen ist«, jammerte Nina neben ihm. Martin hielt sie nun für eindeutig verrückt. Er holte tief Luft und sagte in einem Ton, in dem ein Vater zu seinem aufmüpfigen Kind spricht. »Ist dir eigentlich klar, dass wir beide leicht hätten tot sein können?« »Du denkst also, einen Hasen kann man totfahren, es gibt ja so viele? Ja, denkst du das?« »Ein Hase ist eine Sache. Ich bin es nicht.« »Auch ein Hase ist ein Lebewesen. Auch ein Hase will sich am Leben freuen. Auch ein Hase hat Gefühle. Auch ein Hase empfindet Schmerzen …« »Ja, ja, ja. Ich habe verstanden.« Sie ist verrückt, sagte er sich noch einmal. »Worauf wartest du dann? Wir müssen ihn suchen.« »Erst einmal müssen wir hier wieder rauskommen.« 17
Nina stieg aus. Sie war wütend. Sie ging um das Auto herum, trat es, stemmte sich gegen die Frontseite und versuchte den Wagen auf diese Weise auf die Straße zurückzuschieben. Allein, er bewegte sich keinen Millimeter. Ihre zupackende Art gefiel Martin wider Willen, aber die Art und Weise, wie sie die Dinge anging, machte ihm auch Angst. Leichter als er gedacht hatte, gelang es ihnen gemeinsam, den Wagen wieder auf die Straße zu schieben. Sie fuhren die Strecke, die sie gekommen waren, zurück, einen Hasen sahen sie nicht. »Er muss es gepackt haben«, sagte Martin schließlich. Nina hingegen behauptete, er sei viel zu schnell gefahren, sie werde die Strecke noch einmal zu Fuß gehen, gut möglich, das Tier habe sich verletzt in die Macchia geschleppt und verblute dort ohne ihre Hilfe. Sie wolle auch nicht länger in einem Mörderauto sitzen und neben einem Mann, der kein Herz für Tiere habe. »Bitte«, sagte Martin. Er hielt am Seitenrand. Nina stieg aus. Und während er davonfuhr und sie im Rückspiegel beobachtete, kam ihm in den Sinn, dass aus Ninas Verabredung nun nichts mehr werden würde. 5 Zwei Tage später packte Martin sein Zelt zusammen. Er fuhr nach Sables d’Or les Pins und mietete sich in dem Hotel ein, von dem Nina ihm erzählt hatte, hier habe sie in ihrer Kindheit oft die Ferien verbracht. Warum er das tat, wusste er nicht recht, er sagte sich, er habe das Zelten satt. Er bekam ein Zimmer zur Straße, alle übrigen Zimmer waren ausgebucht. 18
Er schrieb sich ins Gästebuch ein, dann folgte er der Wirtin über dunkle, ausgetretene Stufen hinauf in den zweiten Stock, in ein Zimmer, das klein war und muffig roch und nur ein Fenster hatte, vor dem schwere Vorhänge auch den winzigsten Sonnenstrahl aussperrten. Die Wirtin pries die Vorzüge des Zimmers, sie pries die Lage ihres Hotels und sie pries die wundervollen Sonnenuntergänge, die am Meer zu beobachten seien. Danach zählte sie ihm seine Pflichten als Gast auf, dann endlich ließ sie ihn allein. Martin zog die Vorhänge auf, öffnete das Fenster und sah zur Straße hinunter, wo es um diese Zeit außerordentlich ruhig zuging, dann zu dem Restaurant auf der anderen Straßenseite. Es war Mittagszeit. Alle, die nicht am Strand waren, saßen beim Essen. Und weil es ihnen draußen offenbar zu heiß war, aßen sie im schattigen Inneren des Restaurants oder saßen in der Bar. Wenig später ging er zu dem Platz, an dem die alten Männer Boule gespielt hatten. Auch diesmal waren sie dort. Er setzte sich unter die Platanen und blätterte in einer mitgebrachten Zeitung. Ab und an ließ er sie sinken, als dächte er über das Gelesene nach. In Wahrheit aber beobachtete er den, den sie Paul riefen, und es war ihm, als dächte Paul wie er: Nina fehlte. 6 Neben der Hotelrezeption gab es in einer Ecke mehrere Bistrotische, das war der Frühstücksraum. Die Tische standen derart nahe beieinander, dass man bei der kleinsten Bewegung an seinen frühstückenden Nachbarn stieß. Inmitten einer kleinen, munteren Touristengruppe sah er Nina sitzen. Sie wirkte nicht einmal erstaunt, eher, als habe sie damit gerechnet, ihn hier zu treffen. Sie trug zerschlissene Jeans, 19
ein grünes T-Shirt, ihre Füße steckten in bunt bemalten Ledersandalen. Ihre Augen waren kleiner, als er sie in Erinnerung hatte, außerdem wirkten sie ein wenig verquollen. Hatte sie etwa geweint? »Darf ich mich zu dir setzen?« Nina nickte. Sie hoffe, murmelte sie, er sei kein nachtragender Mensch. Dann nahm sie einen Schluck Kaffee, gurgelte ihn, als müsse sie etwas Unangenehmes wegspülen. Das gelte ja wohl für beide Seiten, gab Martin zurück. Der Frühstückskellner unterbrach ihr Gespräch. Ein Gesicht wie Belmondo. Der Mann brachte ein frisches Gedeck und fragte Martin, was er ihm zum Frühstück bringen dürfe. Martin bestellte einen Café noir, den der Kellner nur wenig später zusammen mit einem intensiv nach Butter duftenden Croissant, Stücken vom Baguette und portionsweise abgepackter Orangen- und Erdbeermarmelade servierte. Fasziniert von den abgekauten, schwarzen Fingernägeln fragte sich Martin, welche Berufe der Kellner sonst noch haben mochte, da hatte Nina auch schon ein Gespräch mit dem Mann begonnen. Sie fragte ihn nach seinen Kindern, seiner Frau, seiner Arbeitszeit an diesem Tag, sie wollte wissen, wie sich das Wetter in den nächsten Tagen anließe. Sie redete wie jemand, der aus der Großstadt kommt und sich wohlwollend der Landbevölkerung zu nähern versucht. Der Kellner schien sich über Ninas Interesse zu freuen. Das Wetter sei in der Bretagne grundsätzlich unberechenbar, meinte er. »Rau, aber ehrlich, wie die Bretonen selbst.« Er zwinkerte mit den Augen, auf eine lächerliche Weise, fand Martin. Am Nachmittag, fuhr der Kellner fort, werde er mit seiner Familie zu Verwandten reisen, nach Saint Malo, um den Geburtstag seiner Schwägerin zu feiern, später, in der Nacht, schlösse er sich Fischern an. Ob sie einen guten Fang haben würden, sei fraglich. Das Meer sei leer. Das Öl der Schiffe habe das Meer leer gemacht und die Fischer um ihr Einkommen gebracht. 20
»Verstehe«, sagte Nina. Sie kreuzte Zeige- und Mittelfinger, schenkte ihm ihr Grübchenlächeln. Der Kellner bekam Hundeaugen, auf seinem Gesicht erschien das Lächeln eines Dummkopfs, fand Martin. »Wirklich, ein aufdringlicher Kerl«, sagte er, sobald der Kellner außer Hörweite war. »Es ist für ihn nicht einfach, gleichzeitig Kellner, Fischer, Bauer, Ehemann und Familienvater zu sein«, entgegnete Nina leise. »Er sollte sich für eine Sache entscheiden und die richtig machen.« »Ach ja, du Schlauberger.« Martin ärgerte ihre Parteinahme. Die Leute hier konnten tun und lassen, was sie wollten, immer war Nina auf ihrer Seite. Er stürzte den bitteren Café noir hinunter, warf Nina einen schrägen Blick zu und brummte: »Was hab ich dir eigentlich getan?« Sie antwortete mit einer Gegenfrage: »Wann fährst du wieder nach Hause?« »Brauchst du etwa wieder einen Chauffeur?« Martin nahm sich ein Stück Baguette, bestrich es mit Butter und Orangenmarmelade, dann biss er herzhaft hinein. »Ich muss nach Frankfurt zurück«, sagte sie lahm. »Ich dachte, du bist hier zu Hause.« Er machte eine weitschweifige Geste mit seiner Hand. »Bei all diesen Leuten, die du so gut verstehst, und in diesem Hotel, das dir ja seit Langem sehr vertraut ist.« »In diesem Hotel?« Nina lachte hell. »Das könnte ich mir nicht leisten«, sagte sie. »Nein? Zahlt Paul das nicht?« Erst dachte er, sie würde ihm vor allen Leuten eine Ohrfeige verpassen, aber sie schien sich eines anderen zu besinnen. Sie lächelte angestrengt und legte ihre Hand auf seinen rechten Oberschenkel. Er spürte sie warm und fest. »Du würdest mich doch gerne nach Hause mitnehmen, oder?«, fragte sie. 21
7 Der Tag ihrer Abreise war strahlend blau und heiß. Entgegen Martins Plan fuhren sie erst gegen Mittag los, weil Nina darauf bestand, jeder Abschied brauche sein eigenes Ritual. Sie wollte noch einmal im Meer schwimmen und danach am Strand spazieren gehen, nach einem ganz persönlichen Souvenir suchen. Ein Abschied sei für sie immer etwas sehr persönliches, sagte sie. Als sie dann in der Bar auftauchte, hatte sie nicht mehr als einen kleinen Rucksack dabei. »Hallo«, begrüßte sie Martin. »Von mir aus kann es jetzt losgehen.« Sie roch nach Meer. Sie hatte Sand im Haar, das ihr feucht im Gesicht klebte. Dieses Mädchen hat seine eigenen Gesetze und definiert sie jeden Tag neu, dachte Martin, während sie zu seinem Auto gingen. Wie klein und zerbrechlich sie doch neben ihm wirkte, das dachte er auch. 8 Hemd und Jeans klebten ihm am Körper, kaum, dass sie die Küste hinter sich gelassen hatten. Sie fuhren an trockenen Wiesen, abgeernteten Kornfeldern und weitläufigen Maisfeldern vorbei. Im Auto roch es nach Schweiß, Leder und Staub, trotz der heruntergekurbelten Scheiben und des Fahrtwinds. Nina zeigte sich wenig unterhaltsam. Entweder hielt sie die Augen geschlossen oder sie betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Martin fragte vorsichtig, ob es etwas sehr Unangenehmes sei, weswegen sie nach Hause müsse. Ja, in gewisser Weise sei das so, antwortete Nina. Mehr wollte sie sich allerdings nicht entlocken lassen. Und wie schon in den letzten Tagen, schwiegen sie die Sprachlosigkeit, die zwischen ihnen aufgekommen war, einfach weg. 22
Sie waren kaum zweihundert Kilometer gefahren, da seufzte Nina: »Jetzt eine Pause, das wäre schön.« »Jetzt schon?« »Warum nicht? Mir gefällt die Gegend hier, die Wiesen, die kleinen Wäldchen, sie sind ideal für ein Picknick.« Dieses Mal setzte er sich durch. Er hielt nicht an. Hinter Le Mans stellte Nina fest, Autobahn fahren sei langweilig. Ein Land, das man auf einer Autobahn durchquere, bliebe ein fremdes Land, zudem sei das Fahren auf der Landstraße billiger. »Du bezahlst doch gar nichts«, erwiderte Martin. »Eben. Das gibt mir ein schlechtes Gefühl.« Er warf einen prüfenden Blick zur Seite. Nina sah aus, als sei ihr schlecht. Augenblicklich meldete sich bei ihm der Beschützerinstinkt. Er dachte, dass er sich ihr gegenüber fordernd und überheblich benommen hatte. Und dass er wusste, warum das so war, machte es für ihn nicht besser. Bei der nächsten Abfahrt verließ er deshalb die Autobahn und fuhr auf der Route nationale weiter. Nina summte leise ein Lied vor sich hin. Nach ein paar Kilometern kam der Hinweis auf einen Weiher. Nina wollte sich den unbedingt genauer ansehen, aber Martin hielt dagegen, dann würden sie nur noch mehr Zeit verlieren. Doch Nina ließ nicht locker, sie wollte wissen, von welcher Zeit sie wie viel verlören, und als er ihr nicht antwortete, sagte sie: »Da siehst du es. Du weißt es selbst nicht.« Mit ihr ist alles anstrengend, dachte er, bestimmt auch das Vögeln. Schweigend nahm er die Ausfahrt, die zu dem Weiher führte. Sobald sie hielten, sprang Nina aus dem Wagen, schlüpfte aus ihren Sandalen und setzte sich an den Rand des Sees, um ihre Füße abzukühlen. Mit den Zehen zog sie erst kleine, dann größere Kreise. »Ob man hier schwimmen kann?«, überlegte sie laut. 23
»Das ist ein vergifteter Weiher«, bemerkte Martin, noch immer wütend darüber, dass er ihr nachgegeben hatte. »Auf seinem Grund liegen faulende Kühe. Riechst du das nicht?« »Nein«, antwortete Nina. »Ich rieche nichts außer einem wunderbaren Tag.« »Wunderbar finde ich bis jetzt eigentlich gar nichts.« »Weil du nichts genießen kannst. Du siehst aus, als stündest du dauernd unter Strom, als hättest du Angst, irgendetwas zu verpassen.« Martin schwieg betroffen. Nina hatte nicht ganz unrecht mit ihrer Einschätzung. »Was arbeitest du eigentlich?« »Was hast du in deinem Rucksack?«, stellte er eine Gegenfrage. Nina lachte leichthin. »Darfst du nicht darüber reden?« »Quatsch. Aber ich bin im Urlaub.« »Auf der Rückreise vom Urlaub«, sagte sie und fügte hinzu: »Woher weißt du eigentlich, dass dieser Weiher vergiftet ist?« »Das habe ich heute Morgen in der Zeitung gelesen. Die Grünen haben es entdeckt und auch, dass der Bauer, dessen Kühe in diesem undurchsichtigen Wasser verrotten, inzwischen aus seinem Hof eine gutgehende Ferienanlage gemacht hat, die vor allem bei Familien mit kleinen ängstlichen Kindern sehr beliebt ist.« Sie warf ihm einen missbilligenden Blick zu, schien dann aber ernsthaft über das Gesagte nachzudenken. »Stimmt das alles wirklich, was du da sagst?«, fragte sie. »Sicher.« Nina zog ihre Füße aus dem Wasser und betrachtete sie eingehend. »Es klingt, als könnte etwas dran sein«, sagte sie. Im nächsten Augenblick schlüpfte sie aus Shirt und Hosen, sprang ins Wasser und tauchte unter. »Alles eine Lüge«, rief sie, als sie wieder oben war und ordentlich Wasser ausgespuckt hatte. 24
»Das ist ein toller See, komm doch auch rein.« Sie legte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Martin verspürte keinerlei Lust zum Baden, trotzdem legte er seine Kleider ab und sprang zu ihr ins Wasser. Als er fragte, ob sie an Paul denke, schwamm sie von ihm fort. »Okay, okay«, sagte er. Später zauberte Nina aus ihrem Rucksack zwei Croissants und eine Flasche Cidre hervor. Die Selbstverständlichkeit, die in jeder ihrer Bewegungen lag, und die Intimität, die sie auf eine sehr natürliche Weise zwischen ihnen herstellte, gaben Martin das Gefühl, sie schon lange zu kennen. Er hätte sie gerne berührt, nicht sanft und vorsichtig oder gar liebevoll, sondern rücksichtslos fordernd, lustvoll. Er wollte Paul aus ihrem Kopf vertreiben. Ein Käfer krabbelte über ihre rechte Hand, dann ihren Arm hinauf, überquerte ihren Busen, wanderte abwärts, ruhte sich in der Kuhle ihres Bauchnabels aus. Martin beneidete das Tier. »Du bist ein merkwürdiges Mädchen«, murmelte er. »Sag doch gleich, dass du Lust hast, mit mir zu schlafen, aber nicht weißt, wie du die Sache anfangen sollst«, sagte sie. »Seit Tagen sehe ich dir das schon an.« »Ja«, sagte er. »Genauso ist es. Ich will Paul sein.« »Das kannst du nie«, entgegnete sie. 9 Als sie auf dem Périphérique Paris umfuhren, machte sich Nina krumm, als habe sie Bauchweh. »Ich weiß nicht, wo ich hin soll, wenn wir in Frankfurt sind«, bemerkte sie kleinlaut. »Wie bitte?« »Du hast schon richtig gehört.« »Ich dachte, du hast es eilig, nach Hause zu kommen.« 25
»Ja, weil ich ein paar Dinge regeln muss.« »Welche Dinge?« »Wichtige Dinge eben.« Nina stemmte ihre Füße gegen das Armaturenbrett und ließ ihre Zehen wackeln. »Ehrlich. Tatsache«, murmelte sie. »Und ich muss mir eine Wohnung suchen.« »Und das alles hat sich erst in den letzten Tagen ergeben.« Nina nickte. Da hatte er sich ja was Schönes eingebrockt. Mit ihr schlafen, ja, das konnte er sich vorstellen, sehr gut sogar. Aber mit ihr seine Wohnung teilen, das nicht. Martin überlegte, wie ihr am ehesten beizubringen war, dass sie nicht damit rechnen konnte, bei ihm unterzukommen. »Willst du wissen, warum?« »Warum was?«, fragte er, mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. »Warum ich mir eine Wohnung suchen muss …« »Also, was ist der Grund?« »Der Grund ist … nun … ich habe mich von jemandem getrennt. Und mit ihm habe ich auch meine Wohnung verloren.« »Paul?« »Quatsch. Paul ist … egal. Lassen wir Paul dort, wo er ist und hingehört.« Sie schenkte ihm ihr Grübchenlächeln. Es war schöner als jedes Lächeln zuvor. »Warum bist du nicht bei ihm geblieben? Es sah aus, als würdet ihr euch bestens verstehen.« Ein Gefühl von Überlegenheit kam mit diesen Worten in ihm auf, und er war froh darüber, dass es so war. Er brauchte jetzt dringend Distanz. »Lass endlich Paul aus dem Spiel«, fauchte sie.
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Brigitta Dewald-Koch, in der Nähe von Trier geboren, studierte Pädagogik, Psychologie, Soziologie und Philosophie. Sie leitete lange Jahre eine Ehe- und Familienberatungsstelle, war Vorsitzende des Landesfrauenbeirates bei der Landesregierung Rheinland-Pfalz, ist Mitglied in europäischen Gremien und seit 2011 stellvertretende Abteilungsleiterin in einem Ministerium der rheinland-pfälzischen Landesregierung.
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Im VAT ist von Brigitta Dewald-Koch 2011 der Roman »Am falschen Ort« erschienen.
www.vat-mainz.de
14.90 EUR [D] Inklusive eBook ISBN 978-3-940884-95-4
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Am französischen Felsenriff von Cap Fréhel treffen die unkonventionelle Nina und der überzeugte Junggeselle Martin aufeinander, und eine leidenschaftliche, aber schwierige Beziehung nimmt ihren Lauf. Obwohl die beiden sich stark zueinander hingezogen fühlen, entwickeln sie sich in ganz unterschiedliche Richtungen: Sie geht im häuslichen Bereich und der Idee von Familie völlig auf, er fühlt sich immer stärker eingeengt.
Sturm und Stille VAT
Als Jahre später die gemeinsame Tochter stirbt, reagieren Nina und Martin grundverschieden: Sie fällt in apathische Trauer und wird in eine Klinik eingewiesen. Er hingegen betäubt sich mit Affären – ein schwerer Fehler, wie sich bald herausstellt.
Roman www.vat-mainz.de
Titel © teusrenes - Fotolia.com
2008 erhielt sie den Literaturpreis der Stadt Oppenheim. Seit 2012 ist sie Vorsitzende des Literaturwerkes RheinlandPfalz-Saar e.V.
Sturm und Stille
Brigitta Dewald-Koch ist eine Meisterin in der Schilderung von Familienverhältnissen und deren Schwierigkeiten. Ihr neuer Roman erzählt von dem langen und steinigen Weg einer komplizierten Liebe.
Brigitta Dewald-Koch
Was passiert, wenn sich eine von Leidenschaft und großer Unterschiedlichkeit geprägte Beziehung dem Alltag, aber auch einem schweren Schicksalsschlag stellen muss?
Brigitta Dewald-Koch