Manfred Pauli, Theater in Stücken

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Was denkt das Drama über das eater? In vielen Stücken machen sich die Autoren mitten im Rollenspiel Gedanken über den Ort, an dem das Werk aufgeführt wird. Manfred Pauli liefert bekannte und unbekannte Beispiele für die ungewöhnliche und erkenntnisreiche Perspektive auf die Regeln und die Praxis von Bühne und Ensemble.

Zehn Jahre lang war er Dramaturg an eatern in Zwickau und Erfurt und wirkte bis 1996 als Dozent für eatergeschichte und Dramaturgie an der eaterhochschule »Hans Otto« sowie der Universität Leipzig.

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Theater in Stücken

Manfred Pauli

19.90 EUR [D] Inklusive eBook ISBN 978-3-940884-60-2

Philosophen, Ästhetiker und Künstler haben eine wahre Flut von Abhandlungen über das eater geschrieben. Aber auch im Drama selbst kommt die eorie des Dramas zur Sprache, nicht nur im szenischen Spiel, sondern indem die Dichter sich unmittelbar an ihr Publikum wenden. Mittels Chören oder Spielmeistern lenken sie kommentierend, appellierend oder ironisierend das Interesse oft auf weit über den Gang der Handlung hinausweisende Sachverhalte. Manfred Pauli untersucht unterhaltsam und fundiert mehr als 30 exemplarische Fälle, in denen sich eater selbst eine Lektion erteilt. Wir erleben eatertheorie als dramatische Aktion, es entsteht eine Dramaturgie der Dramaturgie.

Manfred Pauli

Manfred Pauli, geboren 1933, ist Germanist und eaterwissenschaftler.

Theater in Stücken

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Dramatiker aus vier Jahrhunderten haben dargestellt, wie eater sein sollte und wie es wirklich ist

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Manfred Pauli TheaTer in ST端cken


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Manfred Pauli

THEATER IN STÜCKEN

Mit einem Essay von Gottfried Fischborn

Verlag andré Thiele


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© VaT Verlag andré iele, Mainz am rhein 2013 alle rechte vorbehalten. Lektorat und Satz: Felix Bartels, Osaka Umschlag: inka heerde Druck: anrOP Ltd., Jerusalem Printed in israel. www.vat-mainz.de isbn 978-3-940884-60-2


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inhaLT Gottfried Fischborn: TÄUSchUnG – WahrMehMUnG – iDenTiTÄT

Anmerkungen zu den Topoi »eater in eaterstücken« und »eater auf dem eater«

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Prolog: Auf der Suche nach Maßgaben für die Künste des eaters

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1. Fall: eater auf dem eater oder Hamlet als eatertheoretiker haMLeT PrinZ VOn DÄneMark von William Shakespeare

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2. Fall: eater als Zerrspiegel sozialer Verhältnisse Der riTTer VOn Der FLaMMenDen MÖrSerkeULe von Francis Beaumont und John Fletcher

41

3. Fall: Die Welt als Bühne und Gott als Spielmeister DaS GrOSSeS WeLTTheaTer von Pedro calderón de la Barca

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4. Fall: Eine populäre Poetik der Komödie für den Sonnenkönig Die kriTik Der SchULe Der FraUen und iMPrOMPTU VOn VerSaiLLeS von Moliére

7

. Fall: Ein venezianischer »eaterkrieg« um die Commedia dell’arte DaS kOMiSche TheaTer von carlo Goldoni und Die LieBe ZU Den Drei OranGen von carlo Gozzi

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6. Fall: Dramaturgie einer gestörten Beziehung von Drama, eater und Publikum Der GeSTieFeLTe kaTer und Die VerkehrTe WeLT von Ludwig Tieck 79 


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7. Fall: Das hämische Lob der Schmiere TheaTerG’SchichTen von Johann nestroy und Der raUB Der SaBinerinnen von Franz und Paul von Schönthan

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8. Fall: Das Dilemma von »nichttheatralischem« eater Die raTTen von Gerhart hauptmann

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9. Fall: Die Oper und das wirkliche Leben Der BaJaZZO von ruggero Leoncavallo

107

10. Fall: Die Faszination von »nichttheatralischem« eater Die MÖWe von anton Tschechow

11

11. Fall: eater als Realität des Spiels und als »Surrealität« der Abbilder SechS PerSOnen SUchen einen aUTOr, JeDer aUF Seine WeiSe, heUTe aBenD WirD aUS DeM STeGreiF GeSPieLT (die Trilogie »eater auf dem eater«) und Die rieSen VOM BerGe von Luigi Pirandello

123

12. Fall: Konversation über Poesie, Musik und Spiel, kunstvoll gesungen caPricciO von richard Strauss

13

13. Fall: Commedia dell’arte als Groteske auf der Opernbühne Die LieBe ZU Den Drei OranGen von Sergej Prokoew

14

14. Fall: Dramaturgie der Zeitmaschine DaS SchWiTZBaD von Wladimir Majakowski und Die PUrPUrinSeL von Michail Bulgakow

13

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1. Fall: Poetische Grenzüberschreitungen im eater DaS PUBLikUM und kOMÖDie Ohne TiTeL von Federico García Lorca

16

16. Fall: Dialoge über nichtaristotelisches eater Der MeSSinGkaUF von Bertolt Brecht

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17. Fall: Die heilige Johanna als künstlerische und ethische Herausforderung JOhanna aUS LOThrinGen von Maxwell anderson

18

18. Fall: Eine polnische eatervision zwischen den Zeiten ZWei TheaTer von Jerzy Szaniawski

193

19. Fall: Der Dramaturg als dramatischer Held oder »Die Mühen der Ebenen« ShakeSPeare DrinGenD GeSUchT von heinar kipphard

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20. Fall: Argumente und Gegenargumente des Antitheaters iMPrOMPTU oder Der hirT UnD Sein chaMÄLeOn von eugène ionesco

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21. Fall: Clownsspiel als Labyrinth gesellschaftlicher Rituale Die neGer von Jean Genet

217

22. Fall: Rollenspiele um die Staatsaffäre Hamlet oder eater auf dem eater auf dem eater rOSenkranZ UnD GüLDenSTern von Tom Stoppard

22

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23. Fall: Dramaturgie des Kalten Krieges: Die PLeBeJer PrOBen Den aUFSTanD von Günter

Grass

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24. Fall: »Totales eater« um politische und sexuelle Gewalt oder Die Differenz von Akteur und Aktion Die VerFOLGUnG UnD erMOrDUnG Jean PaUL MaraTS DarGeSTeLLT DUrch Die SchaUSPieLGrUPPe DeS hOSPiZeS ZU charenTOn UnTer anLeiTUnG DeS herrn De SaDe von Peter Weiss

241

2. Fall: Beschreibung einer kommunikativen Beziehung PUBLikUMSBeSchiMPFUnG von Peter handke

21

26. Fall: Leben im Konjunktiv oder eater als Versuchsanordnung BiOGraPhie: ein SPieL von Max Frisch

29

27. Fall: Von der Commedia dell’arte zur Arte della commedia Die kUnST Der kOMÖDie von eduardo de Filippo

267

28. Fall: Lektionen eines Gauklers über die subversive Macht der Gaukler MiSTerO BUFFO von Dario Fo 27 29. Fall: Stücke nach Stücken oder Volkstheater im Sozialismus DaS JahrMarkSTSFeST ZU PLUnDerSWeiLern von Peter hacks und cOncerTO DraMaTicO von

armin Stolper

28

30. Fall: eater als heitere »Vorahmung« oder Die Utopie vom »eigentlichen« eater Die kanTine von Gerhard Branstner

299

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31. Fall: ere’s No Business Like Show Business oder Casting als Show a chOrUS Line von Michael Bennett u.a., Musik von Marvin hamlisch

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32. Fall: Backstage Comedy, die Quintessenz farcenhaften eaterspielens Der reinSTe WahnSinn von Michael Frayn

31

33. Fall: eatralik als Medium gesellschaftlicher Verdrängung BUrGTheaTer von elfriede Jelinek

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34. Fall: Endspiele oder eater als Überlebensstrategie MineTTi und Der TheaTerMacher von omas Bernhardt

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3. Fall: Welttheater heute oder Der Regisseur als Gott GOLDBerG-VariaTiOnen von George Tabori

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36. Fall: Texte für und über »postdramatisches« eater haMLeTMaSchine von heiner Müller

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37. Fall: Über postmoderne »Miniaturisierung« des Dramatischen BeSUcher und DaS BLinDe GeSchehen von Botho Strauß

39

epilog: Stückeschreiber und eatermacher

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Liste der betrachteten und zitierten Stücke

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Gottfried Fischborn TÄUSchUnG – WahrnehMUnG – iDenTiTÄT

Anmerkungen zu den Topoi »eater in eaterstücken« und »eater auf dem eater« eater in eaterstücken ist ein literarisches Phänomen, ein bestimmter Topos innerhalb der Gattung Drama, und es ist Vorprogrammierung von eater auf dem eater. Die beeindruckende Zahl von nicht weniger als 37 »Fällen«, die Manfred Pauli im vorliegenden Buch so lebendig wie präzise analysiert – und er war nicht auf Vollständigkeit aus! – belegt: Offenbar hatten gerade Dramatiker immer wieder Lust oder verspürten den Drang, vorerst im kopf und auf dem Papier nicht nur selbst eater zu spielen1, sondern dabei auch mit dem eater zu spielen, mit ihm spielerisch zu jonglieren. Zugleich gaben sie damit dem künstlerischen eater Vorgaben, wie es seinerseits mit sich selbst spielen kann. Diese Vorgaben sind keine Vorschriften, sondern Vorschläge. Das eater kann sie, wie alles, was vom Drama kommt, auf seinen Bühnen kaum völlig ignorieren (auch wenn Teile des postmodernen regietheaters das Gegenteil zu belegen scheinen), doch aber unterschiedlich akzentuieren, partiell auch kontern oder ausschlagen, ja sogar komplett »gegen den Strich bürsten«. Ganz abgesehen davon, daß per se in der konkreten sinnlichen ausgestaltung, erscheinungsweise und Publikumsrezeption ein jeder eaterabend anders aussieht als jeder andere selbst der gleichen inszenierung. Von dem bekannten kommunikationsmodell roman Jakobsons ausgehend, läßt sich sagen, daß von den beiden Topoi zwei Funktionen besonders beansprucht werden: die poetische und die metasprachliche.2 Daraus ergibt sich ihr 11


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Gottfried Fischborn

ideeller wie künstlerischer Mehrwert. Wenn wir die künste – im Grunde genommen muß man sagen: metaphorisch – als »Sprachen«, als Zeichensysteme, begreifen, wie das für die eaterkunst etwa durch die grundlegenden arbeiten erika Fischer-Lichtes zur eater-Semiotik geschah, dann gilt: Poesie wird in einer poetisch geprägten kommunikation als das hergestellte, das »Gemachte« mit Genuß dadurch erfahrbar, daß die Zeichen auf sich zurückverweisen. kunst wird solcherart als »Verfahren« kenntlich, wie es der russische Formalist Viktor Schklowski schon 1916 formuliert und damit zugleich den Begriff der »Verfremdung« (ostranenije) begründet hatte. Das Vergnügen am Spiel mit den Zeichen nun wird verdoppelt, wenn eine metasprachliche Funktion hinzutritt, also in diesem Fall die eaterzeichen sich durch eine ematisierung und/oder handlungsmäßige Vorführung von eater innerhalb von Dramen, in der Folge dann auch als eater auf dem eater, auf sich selbst reflexiv beziehen.3 Damit wird zugleich der ersten eine zweite poetische ebene des »Gemachten« hinzugefügt. Man wird, indem man beispielsweise das »Wie« der Tschechowschen charakterisierung seiner Figuren und ihres Sprechens bewußt bemerkt oder, wie es die meisten tun, einfach »nur« empathisch erlebt, ein großes ästhetisches Vergnügen daran haben – doch in der MÖWe wird dieses erweitert und inhaltlich vertieft durch das Verhalten der dramatischen Personen zum und im eaterspiel, das im Stück thematisch wird; Manfred Pauli hat es im einzelnen beschrieben. in einer Farce wie Der reinSTe WahnSinn von Michael Frayn wird unser Vergnügen am derbkomischen irrsinnsspiel der eaterzeichen (hier in den konventionen der boulevardesken Schmiere), also die metasprachliche Funktion, fast ganz zum Selbstzweck.4 in einem solchen Lachtheater wird die erste, die primäre poetische Zeichenebene nahezu zum Verschwinden gebracht, ohne daß freilich die subversive Seite älteren volkstümlichen Lachtheaters zum Tragen käme. 12


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Täuschung – Wahrnehmung – Identität

in arthur Schnitzlers 1898 entstandenem einaktigen Schauspiel Der Grüne kakaDU, von ihm selbst als Groteske bezeichnet, werden bereits viele der modernen und sogar postmodernen Möglichkeiten der hier zur rede stehenden Topoi »eater in Stücken« und »eater auf dem eater« in genialer Weise vorweggenommen. ein Blick auf die Fabel: in Prospères Schänke Zum grünen Kakadu treffen sich in Paris, wie allabendlich, auch am 14. Juli 1789 angehörige des hochadels mit allerlei Bürgern und einfachem Volk, das dort verkehrt. Strolche und Verbrecher prahlen mit ihren Taten und beschimpfen die anwesenden aristokraten. in Wahrheit aber handelt es sich dabei um Prospères, eines ehemaligen eaterdirektors, alte Schauspielertruppe, die den zahlenden herrschaften, die davon wissen, eine verdeckte Vorstellung gibt. Während auf den Straßen der aufruhr schon sein haupt erhebt, hat man seinen gruseligen kitzel an den plebejischen Frechheiten, die man hier hören kann; schließlich meint man alles im Griff zu haben, es ist ja nur eine unterhaltsame Vereinbarung, ein Spiel. ein neuer, vorher nicht eingeweihter adeliger Gast geht nur äußerst zögerlich auf die Vereinbarung ein – er spürt den subversiv-revolutionären ernst, der sich hinter der Spielkonvention verbirgt. Tatsächlich hat Prospère, das sah man am anfang, buchstäblich den Dolch in der Tasche: wirt Es macht mir Vergnügen genug, den Kerlen meine Meinung ins Gesicht sagen zu können und sie zu beschimpfen nach Herzenslust – während sie es für Scherz halten. Es ist auch eine Art, seine Wut loszuwerden. (Zieht einen Dolch und läßt ihn funkeln.) Der Star der Truppe, henri, stürzt ins Lokal und spielt meisterhaft vor, wie er den herzog von cardignan aus eifersucht angeblich ermordet hat. Das Publikum ist begeistert, sachkundig kommentiert es henris Darstellungskünste. Prospère, der zu Beginn des Stücks als einziger ein offenbar tatsächlich 13


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Gottfried Fischborn

bestehendes Verhältnis zwischen cardignan und Léocadie, henris frisch Vermählter, bemerkt hatte, nimmt jedoch schließlich das Spiel als bare Münze, glaubt also an diesen Mord und fordert henri zur Flucht auf. als der herzog nach seinem erotischen abenteuer mit Léocadie noch einmal ins Lokal zurückkehrt, tötet ihn henri wirklich mit Prospères Dolch. Der Mörderdarsteller wird zum Mörder. inzwischen hat das Volk gesiegt, die Bastille ist erstürmt, nun wird henri für seine Tat als held gefeiert. Die anderen aristokraten werden vorerst verschont, sie ziehen ängstlich und verunsichert von dannen. Wir haben es im Stück mit dreierlei eater zu tun: dem eater Prospères, dem eater der revolution und dem erotischen eater. Was für ein eater, zunächst, ist das eater Prospères? Zuerst denkt man an das »unsichtbare eater« augusto Boals. Dieses war/ist eine Technik seines eaters der Unterdrückten, bei der die Schauspieler in öffentliche räume (restaurants, kaufhäuser, Verkehrsmittel) gehen und die Passanten als Zuschauer wie zufällig in ein gespieltes ereignis sowie in Diskussionen verwickeln. So ist es im Prinzip (es gibt daneben einen erwerbszweck) auch im Lokal Zum grünen Kakadu. Wie bei Boal ist die Wirklichkeit – Prospères Spelunke – ihr eigenes Bühnenbild, in dem professionelle Schauspieler einstudierte Szenen vorspielen, zugleich aber so intensiv mit dem Publikum kommunizieren, daß sie zu improvisierten reaktionen mehr als gewöhnlich imstande sein müssen. Denn diese Zuschauer wissen nicht, daß sie Zuschauer sind – zumindest bei Boal. Bei Prospère tun sie nur so, als wüßten sie es nicht; darin liegt der wesentliche Unterschied. Das unsichtbare eater wird also in seiner kneipe als solches selbst zur Fiktion, die alle sowohl herstellen als auch rezipieren. Man spielt sozusagen miteinander Boal, auch die Zuschauer. Meisterhaft, immer nur mit wenigen repliken, werden allerdings die verschiedensten Schattierungen und übergänge zwischen Sein und Schein, Täuschung und Selbsttäuschung ausgeleuchtet. »es ist ein seltsamer Ort!«, 14


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Täuschung – Wahrnehmung – Identität

sagt der Philosoph Grasset, »es kommen Leute her, die Verbrecher spielen – und andere, die es sind, ohne es zu ahnen.« Oder: Der anfänger-Zuschauer albin kann sich nur mühsam ins Spielgeschehen einfädeln, mehr noch als seine naive Tumbheit hindert ihn daran sein aristokratischer klasseninstinkt – so daß er am ende doch »klüger« war als seine Standesgenossen. auch der herzog ist intelligent genug, den schmalen Grat zumindest zu erspüren, auf dem er wandelt, und die neue revolutionäre Situation schließlich rascher zu erfassen als andere seinesgleichen. Und andererseits hat das Spiel der Schauspielertruppe von anfang an eben auch eine aufrührerisch-subversive Dimension, die für das aristokratische Publikum tatsächlich »unsichtbar« bleibt. Betrachten wir kurz auch die Funktionalität dieses Prospère-eaters im Vergleich zu dem augusto Boals. Dieses will die Zuschauer, denen ihre »rolle« als eine solche nicht bewußt ist, hineinziehen in die Wirklichkeit, die durch das Spiel an einer Stelle grell ausgeleuchtet wird, und damit in die kämpfe der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker. im übertragenen Sinne sollen sie die rolle als bloße Zuschauer, Betrachter der Verhältnisse aufgeben. im eater Prospères hingegen waltet nicht das Prinzip des hineinziehens, sondern das der bewahrten Distanz zwischen Spielern und Publikum. es ist dann die Wirklichkeit, der tatsächliche ausbruch der revolution, die die aristokratischen Zuschauer gegen ihren Willen hineinzieht, ja hineinstößt ins revolutionäre Geschehen. Ähnliches gilt analog für den Schauspieler-Protagonisten henri: er vermag durch seine hoch empathische einfühlungs-Schauspielerei das Publikum in sein vermeintlich fiktives Spiel von der ermordung des rivalen hineinzuziehen – und wird selbst in die Wirklichkeit des Betrügens und Tötens hineingestoßen. Sein allzu distanzloses Spiel hatte selbst den Wirt getäuscht. Und dann stößt ihn der BastilleSturm in seine neue »rolle« als revolutionärer held. Das eater der Revolution ist als solches immer im Stück anwesend; es ist grundierender Subtext der gesamten Fabel. 1


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Gottfried Fischborn

Schon in der ersten Szene wird ein starker akkord angeschlagen, wenn der Philosoph Grasset und der Schneider Lebret die kneipe betreten. Grasset war selbst Schauspieler in Prospères Truppe, und er hat dort gelernt, was er jetzt auf der Straße anwenden will: die revolutionäre rhetorik und Gebärde seines Vorbildes, des Politstars camille Desmoulins: Hier hab ich angefangen, Lebret, hier hab ich meine erste Rede gehalten, als wenn es zum Spaß wäre […] und hier hab ich die Hunde zu hassen begonnen, die mit ihren schönen Kleidern, parfümiert, angefressen unter uns saßen … allerdings will er sich den rückweg in die komödiantentruppe für alle Fälle offenhalten, sollte es mit der politischen karriere als Berufsrevolutionär im Gefolge Desmoulins’ schiefgehen. hier wie mehrfach im Stück, so in den Wandlungen henris vom Spieler zum Mörder, zum helden, deutet sich frühzeitig, schon an der vorletzten Jahrhundertwende, ein revolutionsskeptischer Sarkasmus an, wie er sich Jahrzehnte später in heiner Müllers Stück Der aUFTraG als »eater der weißen revolution« in höhnisch-grotesker Gestalt rückblickend als »erinnerung an eine revolution« entfaltet. Galloudec, der Bauer, sagt als Danton zu Sasportasrobespierre: »Paß auf, daß dir dein schlauer kopf nicht ganz abhanden kommt, robespierre, durch die Liebe des Volkes. hast du revolution gesagt. Das Beil der Gerechtigkeit, wie. Die Guillotine ist keine Brotfabrik. Wirtschaft, horatio, Wirtschaft.« es folgt die regiebemerkung »Sklaven schlagen Sasportas den robespierrekopf herunter und gebrauchen ihn als Fußball.« Die analogie läßt erahnen, warum arthur Schnitzler sein Stück als Groteske bezeichnete. Die Motive schließlich, die man im übertragenen Sinne als erotisches eater bezeichnen könnte, durchziehen die Stückhandlung als ein weiteres kontinuum. Das reicht von 16


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Täuschung – Wahrnehmung – Identität

der so naiven wie lächerlichen arkadischen Utopie, die henri mit seiner Léocadie am liebsten leben würde, richtiger: die er ihr aufzuzwingen sucht, über die dem Publikum zur Verfügung gestellten kokotten bis zum erotischen kitzel, der sich für aristokratische Weiber wie die Marquise Séverine de Lansac unlösbar mit dem eater Prospères verbindet. am ende, als im ergebnis des erotischen Beziehungs-Dreiecks der herzog ermordet, die Bastille gestürmt, die Verwandlung des Mörders zum helden vollzogen und damit auch die subversive Funktion der Prospèreschen kaschemme offenbar geworden ist, fließen alle drei eater-ebenen in einer einzigen aktion zusammen. Zum anderen kann man an unserem Beispiel auch studieren, wie vorzüglich die beiden Topoi geeignet sind, die moderne krise der Wahrnehmung zu offenbaren. Bekanntlich ist Wahrnehmung, zwischen empfindung und Bewußtheit stehend, als unmittelbare, ganzheitliche Verarbeitung der realitäten durch unsere Sinnesorgane, als erfahrung von evidenz, nicht einfach ein passiver Vorgang des einwirkens der Dinge auf uns, sondern Teil einer aktiven erkenntnistätigkeit – freilich nicht allein durch uns als individuen determiniert, sondern mehr noch durch die Muster und Symbolsysteme, die in uns als angehörigen soziokultureller Gruppen, als »Spieler« unterschiedlichster Sozialrollen durch erziehung und Umwelt verankert wurden. Daher erscheint unreflektierter, naiver Wahrnehmung oft genug als evident, was doch nur Täuschung war. Prospères entwickelte Beobachtungsgabe, also seine hohe Wahrnehmungs-Sensibilität ist es, die ihm gegen Beginn des Stückes als einzigem ermöglicht, die Beziehungen zwischen henri, Léocadie und dem herzog (als) wahr zu nehmen, also zu durchschauen – aber gerade deshalb nimmt er dann auch henris schauspielerisches Bravourstück über die Tötung des herzogs schließlich als pure Wahrheit, warnt ihn und bewirkt dadurch, daß nun auch henri begreift, daß das, was er eben vorgespielt hatte, als Wahrheit genommen werden muß; so wird er wirklich zum Mörder. in dieser Verkettung 17


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Gottfried Fischborn

offenbaren sich nicht nur Grenzen unseres Wahrnehmungsvermögens innerhalb eines – hier buchstäblichen – raumes fast unbegrenzter Täuschungsmöglichkeiten, sondern es liegt darin auch eine immanente kritik an einer hemmungslos illudierenden Schauspielkunst à la Stanislawski oder Lee Strasberg. Denn die illusion, die der komödiant damit erzeugen kann, ist so mächtig, daß sie die vereinbarte konvention des Prospère-eaters auf geradezu triumphale Weise sprengt: Selbst deren Schöpfer und Spielmeister erliegt ihr am ende. Daß diese Methodik der buchstäblichen überwältigung der Zuschauer vermittels schauspielkünstlerischer illusionserzeugung auch progressiv eingesetzt werden kann, zeigt ein nochmaliger, kurzer Blick auf das »unsichtbare eater« des Strasberg-Schülers augusto Boal. Dort soll das Publikum gesellschaftlich-politische Zu- und Mißstände besser – oder überhaupt erst – wahrnehmen lernen, indem es die kunstwirklichkeit, die dafür eingesetzt wird, gerade nicht als solche wahrnimmt. in Schnitzlers GrüneM kakaDU allerdings ließe sich eine Verunsicherung des Wahrnehmungsvermögens für fast alle Figuren beschreiben, so wie es hier am Beispiel henris und Prospères versucht wurde. eater in eaterstücken und, daraus folgend, eater auf dem eater sind – zum dritten – durch ihre metasprachliche Dimension gesteigerte Spiele mit der Identität. Dieser aspekt tritt in den Stücken Luigi Pirandellos (1867–1936) deutlich stärker hervor als in Schnitzlers einakter, der allerdings als wichtiger Vorläufertext des sogenannten Pirandellismus gelten darf. rund 2 Jahre nach erscheinen des Grünen kakaDU ist die in sich ruhende, mit sich identische Persönlichkeit, wie sie durch die bürgerlichen Geschäfte und das Bildungsgut der aufklärerischen Traditionen entstanden war, in den Wirren einer kriegs- und nachkriegszeit endgültig dahin. Die gebildeten Mittelschichten sind tief verunsichert, ein »neuer Mensch«, nach dem vielfältig – so auch durch die italienischen Futuristen – gesucht wird, kommt entweder gar nicht ins Visier der intellektuellen re18


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Täuschung – Wahrnehmung – Identität

präsentanten oder, im schlimmeren Falle, als charismatischer Führertypus. So fragen sich in den breiten Mittelschichten alle, um einen populären Philosophen unserer Tage zu zitieren: »Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?« Manfred Pauli hat die Verwirrspiele in Pirandellos bekanntestem Stück SechS PerSOnen SUchen einen aUTOr (»Sei personaggi in cerca d’autore«) in seinem Buch gründlich aufgehellt, so daß ich mich auf eine einzige, vielleicht als ergänzung brauchbare anmerkung beschränken will. ich hatte mich immer ein wenig gewundert, daß diese sechs »personaggi« (also, genaugenommen, personae dramatis), vom Verfasser ihres Dramas in fragmentarischem Zustand im Stich gelassen, zwar einen autor suchen, sich dazu aber nicht etwa in die Schreibstuben anderer Dramatiker begeben, sondern ins eater – bis ich begriff: Sie suchen in Wahrheit ihre Ver-Körperung als erste und fundamentale, nämlich materielle Voraussetzung einer möglichen identitätsfindung. ihre hoffnung muß trügerisch bleiben. Die Schauspieler können dafür zwar ihre körper herleihen, nicht aber die wirklichen – nicht gespielten! – Biographien der dramatischen Personen. Während seiner arbeit ist der Schauspieler körper der rolle, die er dem Publikum »gibt« – nicht der Figur. Die rolle ist »nur« seine auch körperliche interpretation der Figur. Die dramatische Figur selbst, ein kunstprodukt, wird nun einmal nicht Fleisch und Blut; auch nicht durch den körper ihres eater-Darstellers. So verweist, in seinem assoziativen Untertext, bereits der Titel auf das Paradoxe des Versuches, fiktive individualitäten in realer körperlichkeit leben zu wollen. Dieses Paradoxon ist das Fundament, über dem sich das Gebäude des Stückes erhebt. Pirandellos 1921/22 unmittelbar nach den »Sei personaggi« entstandenes Stück heinrich iV., vielleicht sein bestes, macht sich daran, eben dieses Paradox aufzulösen: es geht im Grunde darum, ob man als Darsteller einer prächtigen, das triste, allzu geregelte Dasein des heute phantastisch überwindenden rolle nicht doch mit dieser verschmelzen, 19


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Gottfried Fischborn

mit ihr identisch werden könne. So ist das Geschehen im Stück gewissermaßen ein Versuch größtmöglicher annäherung an eine Quadratur des kreises – und dramatisiert dessen tragisches Mißlingen. auf den ersten Blick scheint es, der Topos »Theater im Drama« werde hier nur näherungsweise und in die Vorgeschichte verlagert beansprucht: Bei einem theatralen Maskenspiel war der held, ein als Salierkaiser heinrich iV. (der berühmte canossa-Gänger) verkleideter angehöriger des italienischen hochadels, einst vom Pferd gestürzt. er glaubt, nachdem er aus tiefer Ohnmacht erwacht ist, dieser kaiser wirklich zu sein. er verlangt und bekommt von seiner Umwelt die anerkennung als mittelalterlicher Monarch des 11. Jahrhunderts samt gespieltem historischen Zeremoniell, kostüm, Dekor und Benehmen. So geht es zwölf Jahre lang im simulierten Ort der kaiserpfalz von Goslar. Dann, nach seiner heilung, spielt er weiterhin die rolle des Wahnsinnigen, der sich für heinrich iV. hält. niemand scheint vorerst an seinem Zustand zu zweifeln. So kann er, die künstliche rekonstruktion mittelalterlicher Verhältnisse weiterführend und eine besondere Machtposition darin einnehmend, die anderen zur Maskerade, zum ständigen, festgelegten rollenverhalten, zur ununterbrochenen rücksichtnahme auf ihn als »kranken« zwingen. er kann seine Umgebung damit weit besser steuern, und er kann verhindern, daß andere ihn manipulieren oder endgültig festlegen können, sei es auf den armen irren oder sei es auf das (sofern sie etwa einen Simulanten in ihm sehen) vergleichsweise armselige »normale Leben«. er ist, wie Manfred hardt angemerkt hat5, sozusagen Protagonist, autor, regisseur, ausstatter und sogar von außen betrachtender Zuschauer des Geschehens in ein und derselben Person. als »irrer« erlebt er subjektiv – und gestaltet sich – ein reich der Freiheit. als er jedoch einen rivalen aus eifersucht ermordet hat, muß er, schon dem Verdacht der Simulation ausgesetzt, die rolle des Wahnsinnigen immer weiter spielen, wohl bis ans Lebensende – der rück20


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Täuschung – Wahrnehmung – Identität

weg ist versperrt. Die Möglichkeiten eines multivalenten, multipotenten rollenspiels verengen sich drastisch. Der Graf ist jetzt festgelegt auf die eine rolle des Wahnsinnigen. Und immer droht die enttarnung. Was er vorher als Freiheit erlebte, erfährt er nun als Zwang. So wird die Fabel des Stückes zum tragikomischen Gesamtvorgang. Die krise der subjektiven identität ist seither nicht geringer geworden. Man mag darunter leiden. Man kann aber auch mit heiner Müller sagen: Wer mit sich identisch ist, der kann sich einsargen lassen. Der existiert nicht mehr, ist nicht mehr in Bewegung. 6 Wiesbaden, 20. Dezember 2011

1 So sagte etwa heiner Müller schon 1974 in einem interview mit Gerda Baumbach und Gottfried Fischborn: »Der Vorgang ist doch eigentlich beim Stückeschreiben, daß man nacheinander oder gleichzeitig alle rollen spielt, die da aufgeschrieben werden.« Ungefähr zur gleichen Zeit antwortete Volker Braun in einem ähnlichen interview auf die Frage, warum er eaterstücke schreibe: »Da wir uns eigentlich immer als mehr fühlen, als wir selber sind, nämlich doch in der haut von vielen stecken, egal an welchem ende der Welt, ist das zunächst ein fast kreatives Bedürfnis, Situationen und entscheidungen anderer durchzuspielen.« Beides zit. n. Fischborn: Stückeschreiben, Berlin 1981, S. 197 bzw. 172. 2 eine strukturalistisch-kommunikationstheoretisch orientierte, konzentrierte erläuterung dieses Modells in seiner anwendung auf Drama und eater findet sich in: Manfred Pfister: Das Drama. eorie und analyse, München 1982, abschnitt 4.2, S. 11–168. 3 nach Pfister bezieht sich die metasprachliche Funktion auf den sprachlichen code (ebd., S. 163). Wenn wir also die theatralen Zeichensysteme semiotisch als codierte »Sprache« begreifen, dann 21


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Gottfried Fischborn

erfüllen Spiel im Spiel bzw. eater auf dem eater eine sekundär metasprachliche Funktion. 4 Manfred Pauli führt im »32. Fall« dieses Buches detailliert aus, wie die »Mechanik« dieser Farce funktioniert.  Manfred hardt: Geschichte der italienischen Literatur. Von den anfängen bis zur Gegenwart, Düsseldorf und Zürich 1996, S. 694f. 6 heiner Müller: Werke 11 (Gespräche 2), hrsg. v. Frank hörnigk, Frankfurt a.M. 2008, S. 613.

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prolog Auf der Suche nach Maßgaben für die Künste des Theaters eaterspielen ist eine elementare menschliche Tätigkeit, fast so alt wie die Menschheit selbst. Für seine Grundstruktur sind nur zwei komponenten unverzichtbar: Leute, die spielen, und solche, die zuschauen. als Darsteller und Publikum treten beide miteinander in Beziehung. alle anderen elemente können wichtig sein, sind aber entbehrlich: fixierte Spielvorlagen, spezielle eatergebäude, dekorativ ausgestaltete Spielräume usw. in unterschiedlichen epochen ist eater vielfältig benutzt worden: als instrument spielerischer Weltaneignung, als gemeinschaftsbildender erlebnisraum, als ideologisches Propagandainstrument, als Stätte reiner, hochspezialisierter kunstfertigkeit, als arbeitsteilig organisierte institution der Volksbildung, der Unterhaltung oder des kommerzes und manches andere. Zwar sind nicht wenige kulturregionen und -epochen dauerhaft oder zeitweilig ohne theatralische hochkultur ausgekommen. aber auch jene, für die eater als Bestandteil des gesellschaftlichen Selbstverständnisses unverzichtbar war, sind nicht zwangsläufig zum theoretischen Diskurs über die darstellenden künste vorgestoßen; sogar unter künstlern in der Moderne gibt es eine verbreitete aversion gegen das eoretisieren. andererseits haben – stärker als in anderen künsten – Philosophen, Ästhetiker und künstler immer aufs neue abhandlungen über das eater geschrieben: eine wahre Flut von Poetiken, Dramaturgien und Manifesten, eorien, Methodiken, Lehrbüchern und anderen Programmschriften ist überliefert. Oft sind sie sogar die einzigen halbwegs sicheren Zeugnisse von Gipfelleistungen jener 23


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Prolog

flüchtigen, nur in rudimenten zu bewahrenden kunst des eaterspielens. Das erste umfassende eorieangebot der europäischen eatergeschichte ist mehr als 2300 Jahre alt. es stammt von aristoteles. nachdem sich in der attischen Polis die ablösung des eaters von der religion und hin zum Staatskult sowie die Wendung vom tänzerisch und chorisch akzentuierten rituellen Spiel hin zur textintensiven dramatischen ausdeutung der Mythen vollzogen hatte, wuchs das Bedürfnis nach allgemeinem nachdenken über den nutzen der Bühnenkunst für die Gesellschaft als Ganzes und für jeden einzelnen Bürger. aristoteles schrieb in seiner nur fragmentarisch überlieferten POeTik dem eater eine gesellschaftlich-therapeutische Wirkung zu: Durch die im Spiel gemeinsam erlebte erschütterung und durch (lustvolles) Mitleiden sollte eine – je nach Lesart als Schaudern und Jammern oder Furcht und Mitleid gedeutete – Katharsis, eine reinigung und Befreiung eintreten, die auf die Polis-Bürger sensibilisierend wirken und zum abbau von konflikten im Gemeinwesen beitragen kann. Den eigentlichen kunstschöpferischen Vorgang bezeichnete aristoteles als Mimesis, als nachahmende Darstellung, für die alle kunstmittel – dramatischer Text, Schauspiel, Tanz, Musik, Szenographie – zu aktivieren sind. Schließlich hat der Gelehrte, abgeleitet von den Werken der großen antiken Tragiker, Grundregeln der Dramaturgie herausgearbeitet: über die Beschaffenheit der Fabel, über dramatische charaktere und die Sprache im Drama, über die Spezifik der Gattungen, die sogenannten Drei einheiten und anderes mehr. Dieser fundamentale entwurf der aristotelischen POeTik ist lebendig geblieben auch lange nach dem ende der antiken eaterkultur; über die Jahrhunderte hin haben sich eoretiker aller bedeutenden europäischen eaterepochen im Grundsätzlichen wie in einzelaspekten immer wieder auf die autorität des großen aristoteles bezogen. insbesondere sind Dramen- und eatertheorien der renaissance und des 24


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Prolog

Barock, der aufklärung und der klassik ohne diesen Bezug kaum vorstellbar. nur wenige dieser theoretischen und programmatischen Schriften erfassen allerdings den theatralischen Gesamtkomplex von kunstkonzeption, -produktion und -wirkung. Doch selbst jene Schriften, die ein völlig anderes eaterverständnis begründen, beziehen sich zuweilen auf den griechischen Philosophen; Bertolt Brecht etwa nennt seine eaterkonzeption mit nachdruck nichtaristotelisch. Zum europäischen erbe der aristotelischen eatertheorie gehört freilich auch die literaturzentristische, nachgerade einseitige Betonung der dramatischen Sprache und die Geringschätzung körpersprachlich-spielerischer, bildnerischer und musikalischer ausdrucksmittel des eaters. Oft ist – bis hinein ins 20. Jahrhundert – eatertheorie auf Dramentheorie und diese auf einen kanon dramaturgischer regeln und rezepte verengt worden; ja, vielen eoretikern galt das eater lediglich als institution zur illustrierenden »Verlebendigung« von Stücken. in gleichem Maße aber, in dem das Drama der Sprache und mit ihr rationaler Diskurse mächtig wurde, begannen seine autoren, sich nicht nur durch das Darstellen von Fabeln und Lesarten alter Sujets mittelbar an ihr Publikum zu wenden, sondern auch direkt. Durch chöre oder Spielmeister lenkten sie kommentierend, appellierend oder ironisierend sein interesse oft auf weit über den Gang der handlung hinausweisende Sachverhalte. Solcherlei Verfahren gehören zum Grundbestand europäischer Dramaturgie seit der entstehung von Tragödie und komödie im antiken Griechenland. Später haben dramatische autoren dann in raffinierter Verdoppelung der nachahmenden Darstellung auch die realität des eaters selbst auf die Bühne gebracht: in Vor-, Zwischen- und nachspielen oder auch kompletten rahmenhandlungen. in der renaissance und dem Zeitalter des Barock ist daraus die recht verbreitete konvention des eaters auf dem eater geworden. Wenn beide ansätze zusammenkamen – das Spiel im Spiel und die direkte Wendung hin zum Publikum –, so 2


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Prolog

konnte daraus leicht ein theatralischer Diskurs über Grundlagen und konkrete Modalitäten der jeweils aktuellen eaterkonzepte werden. Tatsächlich gibt es in der europäischen Dramengeschichte der letzten vierhundert Jahre gar nicht so wenige Stücke, Libretti, Szenen und Dialoge, die partiell oder generell von den künsten der Bühne handeln. Gemeinsam ist ihnen allen eine gewisse »Offenheit« des szenischen aufbaus, die raum läßt für thematische abschweifungen und kommunikative Wendungen. Und gemeinsam ist ihnen auch eine interessenbedingt subjektive Darstellungshaltung der Stückeschreiber gegenüber den »Verwertern« ihrer Texte: der institution eater, seinem apparat und den verschiedenen »Gewerken« der eatermacher; sowie gegenüber den adressaten der Stücke: der Gesellschaft als Ganzem und den einzelnen Zuschauern. Denkbar verschieden sind hingegen die Zusammenhänge, in denen eater in den Stücken ausdrücklich oder beiläufig vorkommt; und gegensätzlich sind auch die absichten und Ziele, mit denen dies geschieht. eater in Stücken kann unter anderem sein: - umfassende Metaphorik für die Welt als eater und/oder das eater als Welt - enthüllung von »Maskierung« und Verstellung im realen Leben und auf der Bühne - voyeuristischer Blick hinter die kulissen und in die »exotische« Welt der eatermacher sowie auf theatergeschichtlich gewachsene konventionen - gezielter Umgang mit einer »Dramaturgie des Publikums«, also mit poetischen und spielerischen Maßnahmen, Wirkung zu erzielen; eine arena gespielter oder tatsächlicher kämpfe zwischen dem »Oben« der Bühne und dem »Unten« des auditoriums, bis hin zur Publikumsbeschimpfung - kampffeld gegensätzlicher eaterkonzepte, Spielweisen und Gattungen 26


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Prolog

- abbild surrealer oder absurder Grenzüberschreitung von Sein und Schein, kunst und Leben - Forum politischer, philosophischer und ästhetischer Diskurse. Und eater in Stücken kann dies alles in verschiedenen Graden wirklichkeitsnaher Darstellung oder poetischer überhöhung sein, mit divergierenden literarischen handschriften und theatralischen absichten, auch in kombination mehrerer der genannten aspekte. Die auswahl der im folgenden näher zu betrachtenden exemplarischen Fälle ist absichtlich weit gefaßt; sie hat sich im Verlauf des Schreibens auch immer wieder verändert. ausgangspunkt war die idee zu einem dramaturgisch-methodischen Seminar aus der Zeit meiner Tätigkeit als Dozent an der eaterhochschule hans Otto, das seinerzeit nicht zustande kam, weil ein kollege mit der Verwirklichung eines ähnlichen Projekts schneller war. ausgehend von dem ursprünglichen Dutzend ausgesuchter Stücke ergaben sich immer neue Bezüge zu anderen Texten; auch neue, vorher nicht bedachte Gesichtspunkte kamen ins Spiel. irgendwann hatte ich dann den eindruck, auch weitere »Fälle« könnten keine wesentlich neuen Gesichtspunkte mehr erbringen; so schloß ich die auswahl kurzerhand ab. überhaupt war zu keinem Zeitpunkt quantitative Vollständigkeit beabsichtigt; auch mag es eine ermessensfrage sein, ob das einzelne Stück exemplarisch oder nur von sekundärem interesse ist oder überhaupt nicht in den rahmen der Untersuchung gehört. Mancherlei anregungen für die späte Wiederaufnahme des alten Seminarprojekts habe ich auch aus der einschlägigen Sekundärliteratur empfangen; zwei seither erschienene Bücher möchte ich besonders hervorheben: Joseph kiermeierDebres »eine komödie und auch keine – eater als Stoff und ema des eaters von harsdörffer bis handke« und herbert herzmanns »›Mit Menschenseelen spiele ich‹ – eater an der Grenze von Spiel und Wirklichkeit«; die ent27


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Prolog

stehung des letzteren hatte ich das Vergnügen mit ein paar ratschlägen begleiten zu können. es versteht sich fast von selbst, daß die sehr verschiedenen Qualitäten und eigenarten der Stücke, Libretti und Dialoge unterschiedliches methodisches herangehen erfordern; in keinem Fall war ich auf umfassende analyse aus, sondern stets auf eine dem charakter der einzelnen Studien angemessen selektive Betrachtungsweise. Bei der anordnung der einzelnen Studien bin ich nur dann von der durch die entstehungsdaten der Texte gegebenen historischen abfolge abgewichen, wenn thematische oder poetische Zusammenhänge oder kontraste dies nahegelegt haben. über eater in Stücken kann man schwerlich schreiben, ohne auf Goethes einzigartiges VOrSPieL aUF DeM TheaTer einzugehen. es vereinigt in sich mehrere elemente theaterkonzeptioneller Diskurse. Die Beschäftigung mit der kleinen Dialogszene bietet sich vorgreifend als eine art allgemeines Paradigma für die Untersuchung der nachfolgenden Stücke an. Gemeinhin gilt das VOrSPieL als Teil eines umfassenden poetischen apparats, der die FaUSTDichtung umgibt. einen ersten, »inneren« rahmen bilden der Prolog im Himmel und die abschließenden Szenen Grablegung und Bergschluchten im fünften akt von FaUST ii, die mit der Wette um Fausts Seele und der endlichen erlösung die Lebensgeschichte des Doktor Faust als parabolisches Welttheater zusammenfassen (einige andere Welttheater-Modelle stehen in späteren kapiteln zur Betrachtung an). Der zweite rahmen wird mit dem VOrSPieL markiert, das die Bühne als metaphorischen Spielraum empfiehlt; spätestens seit Gustaf Gründgens’ hamburger FaUST-aufführung von 197/8 ist es immer wieder auch als Vorgabe für den charakter von inszenierungen genommen worden. Und der dritte, nurmehr poetische rahmen ist gegeben mit der Zueignung und den in die Paralipomena verwiesenen Schlußgedichten, in denen der Dichter seine persönliche haltung zur »inkommensurablen«, vom real existierenden eater der 28


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Prolog

Goethezeit abstrahierenden »Produktion« gleichsam zelebriert. es gibt indes gute Gründe, das VOrSPieL als eigenständige Szene des eaters auf dem eater zu betrachten. entstanden ist es zwischen 1796 und 1798, zu einer Zeit also, da Goethe sich als geschäftiger hoftheaterintendant unmittelbar in die eaterpraxis eingebracht hat, da er nach dem ungeheuren erfolg von Mozarts ZaUBerFLÖTe (1791 in Wien uraufgeführt und 1794 auch in Weimar gespielt) sogar das Libretto einer Fortsetzung der Oper entwarf und da er auch in eine neue Phase der arbeit am FaUST eintrat. Der Gedanke ist faszinierend, daß das VOrSPieL (wie manche Forscher meinen) ursprünglich dem Zaubermärchen aus dem Geist des Wiener Volkstheaters vorangestellt werden sollte. in jedem Fall ist das in ihm dargestellte eater eine jener wandernden komödiantentruppen des 18. Jahrhunderts, von deren unsicherer sozialer und künstlerischer existenz nicht zuletzt Goethes WiLheLM-MeiSTer-roman handelt. Und thematisch geht es um den schier unüberbrückbar gewordenen konflikt zwischen den hohen ideellen ansprüchen dramatischer Literatur und den Spielkonventionen populären eaters, der im Disput zwischen den drei Figuren des VOrSPieLS ausgetragen wird. Der Dichter ist repräsentant der klassizistischen Poetik, und die lustige Person, eine domestizierte hanswurst-Figur, vertritt den anspruch auf effektvolles unterhaltsames Spiel; der Dissens zwischen beiden besteht hauptsächlich in ihrer herablassenden oder unterwürfigen haltung dem Publikum gegenüber. Und im Direktor schließlich präsentiert sich ein eaterpragmatiker, dessen Plädoyer auf eine populäre Dramaturgie der Vielfalt und des Spektakulären zielt. Goethe ist in allen drei Figuren gegenwärtig: als der kompromißlose klassische Dichter der iPhiGenie oder des TaSSO, als zu allerlei konzessionen bereiter Weimarer intendant und (in der retrospektive) als jugendlicher »Stürmer und Dränger«, der sich in kleinen dramatischen Texten (über die in einem späteren kapitel 29


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Prolog

zu reden sein wird), auch in manchen Sequenzen des UrFaUST lustvoll mit dem erbe des clowns- und harlekinstheater befaßt hat. Dem Direktor erteilt Goethe das letzte Wort: Ihr wißt, auf unsern deutschen Bühnen Probiert ein jeder, was er mag; Drum schonet mir an diesem Tag Prospekte nicht und nicht Maschinen. Gebraucht das groß’ und kleine Himmelslicht, Die Sterne dürfet ihr verschwenden; An Wasser, Feuer, Felsenwänden, An Tier und Vögeln fehlt es nicht. So breitet in dem engen Bretterhaus Den ganzen Kreis der Schöpfung aus, Und wandelt mit bedächt’ger Schnelle Vom Himmel durch die Welt zur Hölle. Goethes VOrSPieL aUF DeM TheaTer ist mithin der entwurf eines volkstümlichen eaterkonzepts, und es ist in theatralischem Spiel aufbewahrte deutsche eatergeschichte des 18. Jahrhunderts. außerdem bringt es Goethes Bezug auf weltliterarische Traditionen zum ausdruck; denn die anregung für sein VOrSPieL empfing er aus der eingangssequenz des berühmten Dramas ŚakUnTaLĀ des altindischen klassikers kãlidasã aus dem . Jahrhundert. So ist das VOrSPieL aUF DeM TheaTer möglicher ausgangspunkt, über Dramen nachzudenken, die in effektvoller mehrfacher Spiegelung die künste der Bühne durchleuchten.

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1. fall Theater auf dem Theater oder Hamlet als Theatertheoretiker haMLeT, PrinZ VOn DÄneMark

von William Shakespeare (1600) Die renaissance hat zwar das erbe des antiken eaters für die europäische kulturgeschichte neu erschlossen, doch zu nationaler repräsentanz und überragendem öffentlichem interesse gelangte die kunst der Bühne in italien, Spanien, Frankreich und england seit dem 16./17. Jahrhundert erst, als sich humanistische innovationen mit den Traditionen spielerischer Volkskultur verbanden. Der große Shakespeare war einer von vielen Stückeschreibern, die oft und gern auf die konvention des eaters auf dem eater zurückgegriffen haben. Gleich mehrfach treten in seinen Stücken wandernde Berufstheatertruppen als akteure auf: so in der Tragödie haMLeT (worüber ausführlicher zu reden sein wird) und in der komödie Der WiDerSPenSTiGen ZÄhMUnG. in der rahmenhandlung der letzteren gibt es sogar drei ebenen des Spielerischen. Zum einen die auf alte Motive zurückgehende Geschichte des volltrunkenen kesselflickers Sly, dem ein Lord und sein Gefolge aus purem Jux suggerieren, er sei ein aus langer Bewußtseinstrübung erwachter vornehmer herr. Sly wird zum Schein mit allen adligen insignien ausgestattet, ein verkleideter Page muß gar die rolle der liebenden Gattin übernehmen; nachdem alle diesen »Spaß« kräftig ausgekostet haben, wird der Vagabund natürlich in die miserable realität zurückgestoßen. Zweite Spielebene ist das zufällige erscheinen einer 31


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1. Fall

eatertruppe, die sogleich engagiert wird, zur Unterhaltung des echten und des vermeintlichen Lords die komödie von der Zähmung einer zänkischen jungen Frau zu spielen. Die dritte ebene schließlich ist die aufführung dieser turbulenten komödie selbst. auch wenn es im überlieferten Text nicht ausdrücklich vermerkt ist, darf man davon ausgehen, daß diese Vorstellung nach dem Willen des autors ihren besonderen Witz daraus bezieht, daß sich der clown Sly improvisierend immer wieder ins Spiel einmischt. in einer anderen Shakespeare-komödie – dem SOMMernachTSTraUM – besteht eine der kunstvoll miteinander verflochtenen handlungslinien darin, daß biedere handwerker als amateurschauspieler anläßlich der hochzeit des athenischen herzogs eseus mit der amazonenkönigin hippolyta ein interludium vorbereiten und aufführen: ein selbstverfertigtes kleines Stück nach der art des frühen humanistentheaters mit der aus Ovids MeTaMOrPhOSen stammenden tragischen Liebesgeschichte von Pyramus und isbe. Die Proben zu der »spaßhaften Tragödie« verlaufen chaotisch, und die aufführung gerät zum komischen Desaster, weil der anspruch des Gegenstands in eklatantem Widerspruch zu den intellektuellen und künstlerischen Fähigkeiten der handwerker und zum Unterhaltungsbedürfnis des aristokratischen Publikums steht. keine Frage: Da macht sich der einzigartige autor und professionelle Schauspieler Shakespeare im einvernehmen mit seinem Publikum lustig über primitive Textschreiberei und darstellerischen Dilettantismus. Zugleich aber stehen Witz und Vitalität der um ihre existenz spielenden einfachen Leute in effektvollem kontrast zu den blasierten Standespersonen im Finale des Stückes. Die geniale eatererfindung des clownsspiels im SOMMernachTSTraUM gilt mit recht als Muster unzähliger eater-auf-dem-eater-konstellationen; der deutsche Barockdichter andreas Gryphius beispielsweise hat daraus ein komplettes Stück – das »Schimpfspiel« PeTer SQUenZ – gemacht. 32


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William Shakespeare

Ganz anders wiederum ist Shakespeare in seinem wahrscheinlich letzten Stück, der romance STUrM, mit der konvention eater auf dem eater umgegangen. Der als herrscher gescheiterte, aber als Magier fast allmächtige herzog Prospero läßt aus einem eher banalen anlaß ein allegorisches huldigungsspiel aufführen. Shakespeare zitiert hier die Tradition der Masque, ein im elisabethanischen Zeitalter beliebtes höfisches Genre mit Musik, Tanz, Gesang und opulenter ausstattung, das im Unterschied zum Schaffen des Dichter-Zeitgenossen Ben Jonson in seinem Werk sonst keine rolle spielt. Prospero läßt das Festspiel von ihm dienstbaren Luftgeistern in gleichsam schwebender Poesie vorführen. als er es in einer plötzlichen anwandlung unterbricht und das »leere Schaugepränge« spurlos verschwindet, erscheint ihm die Flüchtigkeit des eaters als Sinnbild für menschliches Leben überhaupt. Und der Dichter legt dem melancholischen Magier die berühmten Worte in den Mund: Wir sind aus solchem Stoff gemacht wie Träume, Und unser kleines Leben gleicht einem Schlaf. Wenn die romantische komödie STUrM in ihrer Gesamtstruktur als Parabel für magisch-wissenschaftliche und mimisch-künstlerische Weltaneignung im Geiste der renaissance verstanden werden kann, so führt die von Geistern auf Prosperos insel gespielte Masque hin zu jener für das Barockzeitalter charakteristischen metaphorischen Gleichsetzung von Leben, Spiel und Traum. auch im haMLeT agieren Darsteller als Darsteller auf dem eater. nicht Phantasiegebilde, Luftgeister wie in der Masque des STUrM, auch nicht dilettierende handwerker wie im interludium des SOMMernachTSTraUM, sondern professionelle Darsteller: im Text als players, actors, tragedians bezeichnet. Sie gehören zur prominentesten Truppe »aus der city«, die aus Gründen, über die noch zu reden sein wird, auf Tournee gehen muß und in der dänischen königs33


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1. Fall

residenz helsingör am Öresund Station macht. Prinz hamlet instrumentalisiert diese künstler für seinen racheplan gegen könig claudius, der dringend verdächtig ist, seinen Vorgänger, hamlets Vater, ermordet zu haben: Die Truppe soll bei hofe eine Tragödie, Die erMOrDUnG GOnZaGOS, spielen; hamlet hofft, daß die analogie des Spiels zur realen Mordtat claudius zu einer entlarvenden reaktion treibt. Der Plan gelingt: Der könig verläßt verstört das eater, und die Vorstellung wird abgebrochen. Welche konsequenzen der Vorfall für die eatertruppe hat, läßt sich nur mutmaßen. So weit die reine handlungsfunktion des eaters auf dem eater. Shakespeare hat darüber hinaus vielerlei theater- und kulturgeschichtliches Material in sein Stück eingeschrieben. Das betrifft die Darstellung der GOnZaGO-Tragödie selbst, die mit einer Dumb Show, einem im frühen englischen renaissancetheater üblichen pantomimischen Vorspiel, und einem Prolog beginnt. Das betrifft auch die gängige Festlegung der Schauspieler auf bestimmte rollentypen; Frauen und Mädchen etwa wurden generell von maskierten Männern oder knaben gespielt, und hamlet macht sich den Spaß, einen dieser Mädchendarsteller direkt anzusprechen: »Fräulein, ihr seid dem himmel um die höhe eines absatzes näher gerückt, seit ich euch zuletzt sah. Gott gebe, daß eure Stimme nicht wie ein abgenutztes Goldstück den hellen klang verloren haben mag!« Das betrifft schließlich die Ungeniertheit, mit der Zuschauer aufführungen stören (beispielsweise der geschwätzige kanzler Polonius) oder sie laut kommentieren (wie hamlet dies in Verfolg seines racheplans tut). Shakespeare rechnet im Stück sogar mit einer lästigen konkurrenz ab: er läßt rosenkranz und hamlet gesprächsweise dagegen polemisieren, daß chorknaben verschiedener Londoner kathedralen – wie in der folgenden Studie über Beaumont/Fletchers parodistisches riTTer-Stück auszuführen sein wird – mit provokativen komödien und einer marktschreierischen Spielweise den öffentlichen eatern das Publikum abspenstig machen; 34


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William Shakespeare

das nämlich, so erfährt man, ist der Grund dafür, daß auch die erste Truppe der city (hinter der man die chamberlain’s Men, Shakespeares eigenes eaterunternehmen vermuten kann) gezwungen ist, die einnahmeausfälle durch eine Tournee zu kompensieren. Bekanntlich hat Shakespeare in seinem haMLeT die rolle des Geists von hamlets Vater und mit einiger Wahrscheinlichkeit auch die des ersten Schauspielers selbst gespielt. Die Vorstellung ist reizvoll, daß der Stückeschreiber seine aktuelle Polemik sozusagen auge in auge mit dem Publikum geführt hat; der etwas erstaunliche Umstand, daß also Londoner eaterquerelen ausgerechnet am dänischen königshof des frühen Mittelalters diskutiert werden, mag ihn dabei wenig gestört haben. am interessantesten aber sind theatertheoretische Diskurse, die unmittelbar aus den konstellationen des Stückes und den charakteren seiner Figuren hervorgehen. Mindestens drei Personen bei hofe interessieren sich deutlich für die kunst der Bühne. könig claudius allerdings gehört nicht dazu; seine mißtrauische Frage in den Verlauf der aufführung hinein »habt ihr den inhalt gehört? Wird es kein Ärgernis geben?« ist die einzig erkennbare reaktion des Staatsoberhaupts. Doch sein kanzler Polonius und der Spitzel rosenkranz sind kenner des real existierenden eaters. Und hamlet selbst sieht sich als ambitionierter Freund der Bühnenkunst und der akteure, für deren privilegierte Behandlung bei hof er Sorge trägt (zu Polonius gewandt): … laßt sie gut behandeln, denn sie sind der Spiegel [im Original heißt es: abstract, also abriß] und die abgekürzte Chronik des Zeitalters. Es wäre Euch besser, nach dem Tod eine schlechte Grabschrift zu haben als üble Nachrede von ihnen, solange Ihr lebt. Doch als auf der hohen Schule zu Wittenberg gebildeter humanist hat er ein durchaus elitäres, alles andere als volkstümliches eaterverständnis. er belehrt die Schauspieler, das 3


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1. Fall

Urteil eines einsichtsvollen (womit er natürlich sich selbst meint) müsse »ein ganzes Schauspielhaus voll von anderen überwiegen«; und den Mißerfolg eines seiner Meinung nach vortrefflichen, nach den klassischen regeln gebauten Stückes kommentiert er mit der hochmütigen Bemerkung: »es war kaviar für das Volk«. Der Pragmatiker Polonius, der seinen aristoteles sehr wohl parat hat, beschreibt weitschweifig, aber durchaus zutreffend die künstlerische Flexibilität der (Shakespeareschen) eatertruppe: Die besten Schauspieler in der Welt, sei es für Tragödie, Komödie, Historie, Pastorale [es folgt die aufzählung aller möglichen Mischgenres] … für unteilbare Handlung [d. h. Stücke, die den klassischen Drei einheiten folgen] oder fortgehendes Gedicht [d. h. Versdramen]. Seneca kann für sie nicht zu traurig, noch Plautus zu lustig sein. Für das Aufgeschriebene und für den Stegreif haben sie ihresgleichen nicht. es ist klar, daß hamlets Vorliebe vor allem der regelmäßigen Tragödie gilt. er goutiert höchstens widerwillig Shakespeares und seiner Zeitgenossen Methode, Genres und Stile zu vermischen, die Dramaturgie »offen« zu halten und publikumsnah-spielerische oder gar improvisatorische elemente zu integrieren: »Und die bei euch den narren spielen« (im Original steht: Clown), ermahnt er den Prinzipal, »laßt sie nicht mehr sagen, als in ihrer rolle steht«. es kann also nicht die rede davon sein, daß Shakespeare dem »eaterfachmann« hamlet sein eigenes eaterverständnis in den Mund gelegt hätte; der Dänenprinz ist eher der aristokratische Opponent des volkstümlichen Shakespeare-eaters. Gleich bei der ankunft der eatertruppe in helsingör bittet hamlet den ersten Schauspieler, seinen »alten Freund«, um eine Probe seiner kunst: den Vortrag der pathetischen rede aus einem »in seinen Szenen wohlgeordneten« klassischen Stück über die ermordung des Priamus und die Ver36


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William Shakespeare

zweiflung der hekuba. Unter dem eindruck der Schauspielkunst spürt hamlet eine kathartische Wirkung: Durch Schaudern und Jammern fühlt er sich zu eigener Tatkraft herausgefordert. Sein rache-Plan rechnet mit einer ähnlichen starken erschütterung des königs: Ich hab gehört, das schuldige Geschöpfe, Bei einem Schauspiel sitzend, durch die Kunst Der Bühne so getroffen worden sind Im innersten Gemüt, daß sie sogleich Zu ihren Missetaten sich bekannt […] Das Schauspiel sei die Schlinge, In die den König sein Gewissen bringe! ein höchst prekärer Gebrauch von Katharsis. Der könig gerät wie erwartet in Panik, doch der große Zauderer hamlet läßt die Gelegenheit zur rächenden Tat verstreichen. Was aus den solcherart benutzten eaterleuten – immerhin den »Freunden« hamlets – wird, erfährt man nicht. Schließlich ist noch über die berühmte ansprache hamlets an die Schauspieler unmittelbar vor der aufführung zu reden. Sie ist in der Tat – weit über den unmittelbaren szenischen anlaß hinaus – Shakespeares Lektion über Mimesis, über die Funktion dessen, was im aristotelischen Sinne nachahmende Darstellung sein soll: Denn alles, was […] übertrieben wird, ist dem Vorhaben des Schauspiels entgegen, dessen Zweck sowohl anfangs als jetzt war und ist, der Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten: der Tugend ihre eigenen Züge, der Schmach ihr eigenes Bild, und dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen. Sie ist die bis heute als gültig empfundene Begründung realistischer Schauspielkunst: 37


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1. Fall

… behandelt alles gelinde. Denn mitten in den Strom, Sturm und, wie ich sagen mag, Wirbelwind eurer Leidenschaft müßt ihr euch eine Mäßigung zu eigen machen, die ihr Geschmeidigkeit gibt […] Seid auch nicht allzu zahm, sondern laßt euer eigenes Urteil euren Meister sein: paßt die Gebärde dem Wort, das Wort der Gebärde an; wobei ihr sonderlich darauf achten müßt, niemals die Bescheidenheit der Natur zu überschreiten … es mag merkwürdig erscheinen, daß Shakespeare seinen hamlet in einer Situation, in der dieser ganz auf seinen racheplan konzentriert sein sollte, ausgerechnet eine ästhetische Grundsatzrede halten läßt; wohlbemerkt, als künstlerischer Laie schulmeistert er gestandene eaterleute und macht den ersten Schauspieler (als dessen Darsteller Shakespeare persönlich zu vermuten ist) zum devot zustimmenden Statisten. Was wie eine Verkehrung der theatralischen Perspektive aussieht, ist in Wahrheit ein genialer wirkungsstrategischer Schachzug des Dichters. er schafft sich die Möglichkeit, an exponierter Stelle – sozusagen als retardierendes Moment vor einer der entscheidenden Szenen der Tragödie – dem Publikum sein theatralisches credo zu vermitteln. Und zwar durch die identifikationsfigur. Und auch die hamlet-Gestalt selbst erfährt dadurch eine Bereicherung. es wird deutlich, daß der enttäuschte humanist unter dem Zwang der nachfolgenden ereignisse immer mehr vom reichtum seiner menschlichen Möglichkeiten einbüßt: in der Liebe zu Ophelia ebenso wie in der gerade hier spürbaren Beziehung zu den künsten und künstlern. Dabei ist Shakespeare realist genug, hamlet die eigenen auffassungen nicht pur in den Mund zu legen; er betont einerseits dessen aristokratisches kunstverständnis (in der erwähnten rede mokiert sich der Prinz einmal mehr über den primitiven Geschmack des »haufens alberner Zuschauer«, was dem autor und eaterunternehmer Shakespeare gewiß nicht in 38


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William Shakespeare

den Sinn käme), und andererseits macht er ihn zum Verfechter einer modernen Spielweise. Bündiger kann man die tragische Geschichte und den theatertheoretischen Diskurs auf der Bühne nicht zusammenführen. haMLeT ist im Jahre 1600 im Londoner Globe eatre, der hauptspielstätte der Lord chamberlain’s Men uraufgeführt worden. Den hölzernen Bau schmückte eine Weltkugel und die auslegbare lateinische inschrift »totus mundus agit histrionem«. Wörtlich übersetzt – »Die ganze Welt bewegt den Schauspieler« – stellt sie den hohen anspruch, daß alles, was in der realität geschieht, zum Gegenstand der Bühnenkunst taugt. nicht falsch ist aber auch die etwas freiere, vom Geist des Barock inspirierte Lesart »alle Welt schauspielert«. es geht also gleichermaßen um eine kunsthaltung wie um ein Lebensgefühl. in der etwa zeitgleich mit dem haMLeT entstandenen komödie Wie eS eUch GeFÄLLT läßt Shakespeare durch den melancholischen narren Jacques dieses empfinden noch deutlicher ausdrücken: Die ganze Welt ist Bühne Und alle Frau’n und Männer bloße Spieler. Sie treten auf und gehen wieder ab. Sein Leben lang spielt einer manche Rollen, Durch sieben Akte hin …

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Was denkt das Drama über das eater? In vielen Stücken machen sich die Autoren mitten im Rollenspiel Gedanken über den Ort, an dem das Werk aufgeführt wird. Manfred Pauli liefert bekannte und unbekannte Beispiele für die ungewöhnliche und erkenntnisreiche Perspektive auf die Regeln und die Praxis von Bühne und Ensemble.

Zehn Jahre lang war er Dramaturg an eatern in Zwickau und Erfurt und wirkte bis 1996 als Dozent für eatergeschichte und Dramaturgie an der eaterhochschule »Hans Otto« sowie der Universität Leipzig.

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Manfred Pauli

19.90 EUR [D] Inklusive eBook ISBN 978-3-940884-60-2

Philosophen, Ästhetiker und Künstler haben eine wahre Flut von Abhandlungen über das eater geschrieben. Aber auch im Drama selbst kommt die eorie des Dramas zur Sprache, nicht nur im szenischen Spiel, sondern indem die Dichter sich unmittelbar an ihr Publikum wenden. Mittels Chören oder Spielmeistern lenken sie kommentierend, appellierend oder ironisierend das Interesse oft auf weit über den Gang der Handlung hinausweisende Sachverhalte. Manfred Pauli untersucht unterhaltsam und fundiert mehr als 30 exemplarische Fälle, in denen sich eater selbst eine Lektion erteilt. Wir erleben eatertheorie als dramatische Aktion, es entsteht eine Dramaturgie der Dramaturgie.

Manfred Pauli

Manfred Pauli, geboren 1933, ist Germanist und eaterwissenschaftler.

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Dramatiker aus vier Jahrhunderten haben dargestellt, wie eater sein sollte und wie es wirklich ist

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