Klaus Seehafer, Magister Tinius

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Johann Georg Tinius (1764–1846) war eologe, Pfarrer auf dem Land und kein wohlhabender Mann. Trotzdem hatte er eine der größten Bibliotheken, die jemals privat zusammengestellt worden sind: Bis zu 40.000 Bände sollen es gewesen sein, wohlgeordnet und sicher verwahrt. 1813 wurde er verhaftet: Er soll betrogen haben, um an Bücher zu kommen, gestohlen – und gemordet. Klaus Seehafer rollt den spektakulären Fall des Magisters Tinius mit kunstvollen Mitteln neu auf. In einem faszinierenden Textmosaik verknüpft der Autor biografische Referenzen mit moderner Psychologie, Rechtsgeschichte mit historischer Pflanzenkunde und stellt so die Schuld des Verurteilten grundlegend in Frage.

Klaus Seehafer, geboren 1947, ist Buchhändler und Diplom-Bibliothekar. Seit 2005 lebt und arbeitet er als freier Schriftsteller in Bitterfeld. Beiträge von ihm erschienen u. a. in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Die Zeit und der Stuttgarter Zeitung.

Der Fall Tinius bringt vor allem ein ema zu Bewusstsein: das der Sinnlichkeit gedruckter Bücher, an deren »magischer« Anziehungskraft sich bis heute nichts geändert zu haben scheint.

Er hat mehr als zwanzig Bücher geschrieben und herausgegeben. Seine Hörspiele wurden vom NDR, WDR, BR und von Radio Bremen gesendet.

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19.90 EUR [D] Inklusive eBook ISBN 978-3-940884-81-7

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Klaus Seehafer MagiSter tiniuS


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Klaus Seehafer

MAGISTER TINIUS Lebensbild eines Verbrechers aus Büchergier

essay

Verlag andré iele


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alle rechte vorbehalten. © Vat Verlag andré iele, Mainz 2013 Lektorat & Satz: Felix Bartels, Osaka umschlag: inka Heerde Druck und Bindung: anrOP Ltd., Jerusalem Printed in israel. www.vat-mainz.de isbn 978-3-940884-81-7


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Gleich bei meinem Eintritt faßte mich der ewige Zauber der Bücher, jene fast krankhafte, unwiderstehliche Sucht, die jeder Bibliophile kennt, die Lust, alle diese zahllosen Werke zu sehen, zu riechen – ja, zu riechen, genießerisch die Einbände in der Handfläche zu fühlen und mit den Fingerspitzen der Blindpressung des Rückens nachzugehen, griechisch zu lesen und Latein, bedächtig das alte, gelbfleckige Papier zu wenden, und vom erlesenen seltenen Text zu kosten, hier und dort, bis man berauscht ist, wie ein weiser Trinker. arno Schmidt: »Die insel« (1937)


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inHaLt »Der Hammermörder ist wieder frei!« geschichten aus dem Lesesaal i: ein Buch aus der Bibliothek des Magisters Vom Schäfersohn in Staakow zum Pfarrer in Heinrichs. 1764 bis 1809 Teil 1: Eine Kindheit in der Lausitz Teil 2: Studentenjahre Teil 3: Erste Jahre als Lehrer und Pfarrer Exkurs über die Autobiographie des Magisters Tinius Poserna oder Die Bibliothek von 40.000 Bänden. 1810 bis 1813 Exkurs darüber, ob Tinius ein Bibliomane gewesen ist Von Sachsen nach Syrakus: Exkurs über Johann Gottfried Seume Exkurs über Betäubungsmittel raub und Mord – Die verschwiegenen Jahre: 1810 bis 1813 Teil 1: Die Angst geht um im Land Teil 2: Taten – und endlich ein Täter? Exkurs über die geheime Weichenstellung in Tinius’ Leben Exkurs über die Lesewut um 1800 nicht länger Pfarrer, doch lange angeklagter. 1813 bis 1823 Teil 1: Verhaftung und Voruntersuchung. 1813 bis 1814 Teil 2: Die Degradation am 31. März 1814 – Dokumente der Demütigung Exkurs über Gerücht, Vorurteil und Dämonisierung 7

9 13 17 17 33 38 3 7 66 71 74 77 77 91 107 112 119 119 16 16


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Exkurs über die neue Funktion des Beweises im zeitgenössischen Prozeß Teil 3: Fortführung des Prozesses. 1814 bis 1823 Abschließende Anmerkung Exkurs über die Dummheit eines klugen Menschen sowie über Schuld und Unschuld in den Zuchthäusern Moritzburg und Lichtenburg. 1823 bis 183 geschichten aus dem Lesesaal ii: Die endzeitlichen Werke des Magisters tinius Der unheimliche greis. 183 bis 1846 Postskriptum 1: War Magister Tinius ein Mörder oder nicht? Postskriptum 2: Genealogische Anmerkungen Exkurs über die Glaubensnöte des Magisters Tinius Exkurs über Arno Schmidt, Detlef Opitz & mich geschichten aus dem Lesesaal iii: Odyssee eines nachlasses geschichten aus dem Lesesaal iV: Wer war Magister tinius? Exkurs über Bibliomanie und Bücherdiebstahl in Europa Danksagung auswahlbibliographie anmerkungen

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»der hammermörder ist wieder frei!« »in den zahlreichen Verhören, denen [er] in der Folgezeit ausgesetzt war, leugnete er hartnäckig jede Schuld: von Kindheit auf an Demütigungen gewöhnt, ein Meister kaltherziger Verstellungskunst, früh geübt, seine gedanken und gefühle um der Verfolgung eines Zieles willen in Zucht zu halten. Mit derselben energie, die ihn als Schüler und als jungen eologen den Kampf mit Widerwärtigkeiten aller art hatte aufnehmen lassen, führte er jetzt den Kampf mit den richtern.« Helene Homeyer: »Bericht über das Leben des Pfarrers und Magisters tinius, Mörders aus Büchersammelwut« (1932)

183 geschah, wovor sich viele Menschen lange gefürchtet hatten: Der Halleysche Komet kehrte wieder. im selben Jahr wurde in der Moritzburg von Zeitz, einem der bestbefestigten Zuchthäuser Preußens, ein Mann freigelassen, der – die untersuchungshaft eingerechnet – 22 Jahre lang hinter gittern gesessen hatte. Mit 49 war er in der Blüte seiner Jahre verhaftet worden. niemals hatte man ihm eine Schuld nachweisen können, immer hatte er alles bestritten. Das Verfahren gegen ihn – einer der längsten indizienprozesse, die in Preußen je geführt worden sind – war nach der wirren Zeit der Koalitionskriege und Friedensschlüsse, der neuen grenzen, Zuständigkeiten und gesetze, endlich nach zehn Jahren zu ende gegangen. Längst war, was man dem angeklagten einst vorgeworfen hatte, zur Fama geworden. entlassen wurde ein kleiner, zierlicher Mann, an geist und Körper ungebrochen, nicht weiter auffällig, ein kräftiger Fußgänger, der bald darauf verschwunden war. er tauchte in Weimar und erfurt auf. in glauchau soll er gesehen worden sein, auch in ascherode, in Manebach, Kahla und rudolstadt. 9


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»Der Hammermörder ist wieder frei!«

Wenn er fünf taler hatte, lief ’s gut, hatte er sie nicht, konnte jede Streifmannschaft ihn als Vagabund verhaften und zurück nach Zeitz expedieren. in der Moritzburg saß er nun nicht mehr im Zuchthaus, sondern in der sogenannten Landarmenanstalt, nicht länger zwar als Häftling, aber der umgangston war entwürdigend roh, die Zucht militärisch streng und seine Freizügigkeit wieder dahin. Vagabunden und Huren waren seine nachbarn. Die einzigen Vorzüge bestanden darin, daß er hier zu essen bekam und in der kalten Jahreszeit ein Dach über dem Kopf hatte. als der Mann 1813 verhaftet worden war, hatte eine völlig andere Zeit geherrscht. es war die große Zeit der Postkutschen. Der Walzer kam als gesellschaftstanz auf. georg Büchner wurde geboren, und goethe arbeitete an »Dichtung und Wahrheit«. als der berüchtigte gefangene der Moritzburg 183 wieder auf freiem Fuß war, fuhr die erste deutsche eisenbahn zwischen nürnberg und Fürth, hatte Büchner sein Drama »Dantons tod« geschrieben und Bettina von arnim »goethes Briefwechsel mit einem Kinde« veröffentlicht. Der uS-amerikaner Samuel Colt ließ sich einen von ihm entwickelten revolver patentieren. Charles Darwin beobachtete auf den galapagosinseln, wie sich durch isolation neue arten bilden. Der New York Herald kam heraus und wurde zum Preis von nur einem Cent massenhaft vertrieben. Der unbekannte Wanderer kam und verschwand alsbald wieder, keiner wußte, wohin. Die Familie hatte sich von ihm losgesagt. Freunde, soweit er welche besessen hatte, hatten ihn in den langen Jahren der Haft verlassen. Doch als bekannt wurde, wer da wieder auf freiem Fuß war, ging die angst um in Preußen und Sachsen, am meisten natürlich dort, wo er früher gelebt hatte und wo die gegenden einsam, die Wälder dicht und dunkel waren. Wie ein riesiger, finsterer Schatten waren zwischen üringer Holzland, Fläming und Spreewald, zwischen elbe und Havel die gerüchte immer schon da, wenn vom Wanderer noch weit und breit nichts zu sehen war. 10


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»Der Hammermörder ist wieder frei!«

Der Hammermörder soll wieder auf freiem Fuß sein, raunte man sich zu. Der Mann, der der alten Frau in Leipzig den Schädel eingeschlagen hat. geld habe er gewollt. Hat schon früher die mitreisenden Männer auf Kutschfahrten zwischen Lützen und Leipzig mit selbst verfertigtem Schnupftabak und die Damen mit hübschen Blumensträußchen betäubt und dann ausgeraubt. nie habe man ihn wiedererkannt, weil er sich durch Perücken, Bärte und immer neue Verkleidungen ein immer anderes aussehen zugelegt habe. und der ist jetzt wieder frei. Der Hammermörder ist frei! in einer Zeit, da es keine genauen Steckbriefe gab und aus der bis heute nur ein einziges, noch dazu ungesichertes Bild dieses Menschen existiert, wußte niemand, wie er genau aussah, dieser Johann georg Heinrich tinius. also konnte ihn jeder mit den Zügen der eigenen Phantasie, der eigenen Furcht und Schrecknis ausstatten. am ende, so erinnert sich einer, der ihn noch als Kind kennengelernt und später in der Gartenlaube darüber geschrieben hat, »hat er alle seine dunklen blutigen geheimnisse mit sich ins grab genommen. Kein Mensch hat jemals nach ihm gefragt. Weder angehörige, noch eine Behörde wandte sich an meinen großvater um ausstellung eines totenscheins. er war für die Welt längst gestorben!«

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geschichten aus dem lesesaal i ein buch aus der bibliothek des magisters ich hatte schon fast den ganzen nachmittag in der universitäts- und Landesbibliothek Halle verbracht, hatte mir einen titel nach dem anderen aus der eologischen abteilung kommen lassen, einzig zu dem Zweck, Lücken im Literaturverzeichnis meines letzten Buches zu schließen. eine sturzlangweilige arbeit, die ich mir deshalb auch jedesmal bis zum Schluß aufspare. in gedanken war ich längst bei meiner neuen Biographie: Johann georg tinius, der Büchermörder! ein Mann, der sich einst mit bibliomanischem Furor eine Bibliothek von angeblich 40.000 Bänden aufgebaut hatte. und weil ein einfacher Landpfarrer niemals genügend Kapital für eine solche Sammlung hätte aufbringen können, soll er geraubt und gemordet haben, um an das benötigte geld zu kommen. Das Jahr 1810 muß für den Sammler ein Höhepunkt gewesen sein. Der Hallenser eologe Johann august nösselt – auch er ein großer Sammler – war drei Jahre zuvor gestorben, und nun lag da ein auktionskatalog mit allen 10.966 Bänden vor, die er hinterlassen hatte. Die Sammlung ging am 3. September komplett an tinius, den unbekannten Pastor aus Poserna, der bislang allenfalls durch gutes Predigen und zwei kleine Heftchen mit Homilien aufgefallen war. er soll sich damals gebrüstet haben, mit seinem gebot noch 400 taler über dem des preußischen Königs Friedrich Wilhelm iii. gelegen zu haben. im november 1813, als er schon neun Monate in untersuchungshaft saß und um alles in der Welt wieder frei sein wollte, gab er vor, seine Bücher der Berliner (mithin preußischen!) Bibliothek zugedacht zu haben. ein andermal war der »Schatz von 40 tausend auserlesenen Büchern, an welchen ich seit 20 Jahren gesammlet und all mein Hab und gut darauf verwendet habe«, angeblich für die 13


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Geschichten aus dem Lesesaal I

universität Jena bestimmt, und er, tinius, müsse so rasch als möglich aus der Haft, um den wertvollen Bestand zusammenhalten zu können. Bald, bald durfte ich in all diesen geschichten wühlen und forschen und hemmungslos neugierig sein. immerhin gab es schon jetzt Berührungspunkte zwischen meiner demnächst beendeten arbeit, in der die theologischen richtungen während der Deutschen Klassik eine rolle spielten, und der sich anschließenden: Der name nösselt tauchte wiederholt auf, und so bibliographierte ich den rest des nachmittags die hier noch bestehenden Lücken. Das ist nun eine dieser arbeiten, über der man irgendwann an der nützlichkeit wissenschaftlichen arbeitens zu zweifeln beginnt. Wer hat etwas von der erkenntnis, daß es einmal einen »einflussreichen protestantischen eologen neologischer richtung« namens nösselt gegeben hatte, 1734 in Halle geboren, 1807 dort auch gestorben? Wem nützen diese ganzen ergänzungen von Vornamen wie J. a. in J[ohann] a[ugust]? Wer kann etwas mit der entdeckung anfangen, daß ein titel nicht nur 1772, sondern auch noch 1787 und 1803 erschienen war? Meine augen brannten. Die uhr an der Wand zeigte mir, daß der Lesesaal in einer halben Stunde schließen würde. Vor mir lag der letzte titel des wackeren unbekannten: »anweisung zur Kenntniß der besten allgemeinen Bücher in allen eilen der eologie«, 4. auflage 1800. Dies noch rasch buchstabengetreu abgeschrieben – und fertig! Schon wollte ich das Buch zu den anderen legen, als ich unwillkürlich mit dem Daumen über die 700 Seiten des Wälzers hinstrich und dabei entdeckte, daß jemand auf Seite 48 oben rechts ein Kreuzchen hingezeichnet hatte. Das gehört sich nicht bei einem über 200 Jahre alten Buch, ist aber jahrhundertealter Mißbrauch. Schon 134 hat sich richardus de Bury in seinem »Philobiblon« über »unzuständige glossatoren« beschwert. Dann wurde mir auf einmal schlagartig klar: Das hat nösselt selbst gemacht. Das Kreuzchen auf Seite 48 war sein versteckter Besitztumsvermerk! Wo hatte 14


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Ein Buch aus der Bibliothek des Magisters

ich noch von dieser tatsache gelesen? es war in letzter Zeit in einem anderen Zusammenhang gewesen. Die stundenlange stumpfsinnige arbeit muß mir wohl den Kopf zugenagelt haben, denn erst, als ich in der Straßenbahn saß, ging mir auf, was aus dem Kreuzchen folgte: Wenn diese »anweisung« einst zur Bibliothek ihres Verfassers gehört hatte, mußte sie doch später dem bibliomanischen nachlaßsammler tinius gehört haben! Zum ersten Mal hatte ich also etwas in Händen gehabt, worauf früher schon des Magisters Hand gelegen hatte. eines jener vielen Bücher, die er stolz in die selbst geschreinerten regale seines Hauses oder seiner großen Bücherscheune eingeordnet haben mußte. Johann georg tinius mochte Besitztumsvermerke nicht und hatte darum seinen namen selten vermerkt. (So selten, daß einmal auf einer auktion ein völlig unbedeutendes theologisches Büchlein einen aberwitzigen Preis erzielte, nur weil es vorn ein gestempeltes t. für tinius trug.) nösselts gesamte Bibliothek war in der des Pfarrers aufgegangen. Beide Sammlungen existierten nicht mehr. aber was ich hier gefunden hatte, trug auf Seite 48 dieses Kreuzchen. ich hatte also eines von 11.000 Büchern des Professors nösselt entdeckt und damit zugleich eines der 40.000 von Magister tinius. er hatte sich an der »anweisung zur Kenntniß der besten allgemeinen Bücher in allen eilen der eologie« bestenfalls zwei Jahre erfreuen können. am 4. März 1813 wurde der damals 48jährige verhaftet, weil man ihn verdächtigte, eine Leipziger Witwe ermordet zu haben. aber damit greife ich meiner geschichte weit voraus – um 48 Jahre, um genau zu sein.

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vom schäfersohn in staakow zum pfarrer in heinrichs 1764 bis 1809 Teil 1: Eine Kindheit in der Lausitz »nach dem aufstehen war ordentliche Musterung; Waschen, Haarkämmen, und eine halbe Betstunde vor dem tische, nebst Morgengesang. Dann erst kam es zum Frühstücken. Dasselbe geschah auch abends vor dem Schlafengehen. Die tischgebete waren etwas lang und feierlich in Verbindung mit Knechten und Mägden. Mit ihnen hatten wir gleiche Kost.« »Merkwürdiges und lehrreiches Leben des M. Johann georg tinius …« (1813)

1. Ich, Johann Georg Tinius, bin der zweite Sohn von 9 Kindern aus Einer Ehe, wovon noch sechse leben, geboren am 22. October 1764 auf einem Landhause in der Mühle bei dem Niederlausitzischen Flecken Staako, das auf der sächsischen Seite liegt, wo mein Vater, Johann Christian, als Aufseher über die königlich preußischen Schäfereien in den Ämtern Buchholz und Krausnigk, damals im Sommer sich aufhielt. Er stammt her aus dem Dorfe Kimmeritz bei Luckau, in der Niederlausitz, wo sein Vater Schäfer gewesen ist, und unsern Namen zuerst nach Deutschland gebracht hat. Er ist nämlich im spanischen Successionskriege, als ein siebenjähriger Knabe, an der großen Heerstraße bei Baruth, wo beständige Durchmärsche geschahen, an einem Morgen, seitwärts im Kornfelde, herumirrend 17


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Vom Schäfersohn in Staakow zum Pfarrer in Heinrichs

und weinend gefunden worden im militärischen Habit, und hat ausgesagt, es wäre in der Nacht ein großer Tumult entstanden, und durch einen feindlichen Überfall Alles auseinander gesprengt worden. Er hätte sich ins Korn versteckt, und bei Tages Anbruch Niemanden mehr gesehen. Alles sey fortgewesen. Er hat eigen seinen Namen gewußt, und von seinem Vater ausgesagt, daß derselbe auf einem Schimmel sitzend mit einem großen Säbel ein Regiment kommandirt habe. Bestimmtere Nachrichten fehlen. Der Name ist römischen Ursprungs mit verschiedenen Vorsylben, z. B. Atinius, Titinius, Vatinius; der reine Name findet sich in Rufus Tinius, der unter den römischen Kaisern einen Feldzug gegen die Parther führte. genealogische Forschungen haben ergeben, daß schon dieser anfang der autobiographie von Johann georg Heinrich tinius voller ungereimtheiten ist. in den Kirchenbüchern von Kümmeritz war niemals ein Schäfer mit namen tinius oder ähnlich eingetragen. Der Spanische Successionskrieg – ein 13jähriger Krieg um das erbe Karls ii., der kinderlos gestorben war und die Begehrlichkeiten von nicht weniger als vier Dynastien geweckt hatte – war zu keiner Zeit auch nur in die nähe der niederlausitz gekommen. allerdings hatte es im September 1706 in der nähe von Luckau einzelne gefechte zwischen fliehenden Sachsen und anrückenden Schweden im nordischen Krieg gegeben. Da könnte der großvater von tinius als kleiner Junge schon eher abhanden gekommen sein. er war auch nicht der erste, der den namen nach Deutschland gebracht hatte. nachgewiesenermaßen wurde 172 im märkischen Fehrbellin ein Johann tinius geboren – und dieser dürfte weitere, nicht nachweisbare namensvetter einschließen. Die häufigste Verbreitung des namens findet sich noch heute in Berlin, den brandenburgischen Kreisen Dahme-Spreewald, teltow-Fläming und den umliegenden Landkreisen; in Deutschland leben heute knapp 300 Personen, die tinius heißen. 18


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1764 bis 1809

als die autobiographie des Magisters Johann georg Heinrich tinius 1802 das erste Mal erschien, war er 37 Jahre alt, ein geachteter Pfarrer, nach dem tod der ersten Frau in zweiter ehe verheiratet und Vater von sechs Kindern, adoptierten und eigenen. Dennoch lassen sich starke untertöne von Minderwertigkeitsgefühlen nicht überhören. Da ist der gebildete Lateiner, der seinen namen natürlich von einem römischen Feldherrn ableiten muß – aber kein altes oder neueres Konversationslexikon kennt dessen namen. Da ist sein großvater, aus dem nichts auftauchend wie Moses im Schilfkörbchen, Mitleid heischend und hilfsbedürftig. und der urgroßvater natürlich »auf einem Schimmel sitzend mit einem großen Säbel ein regiment kommandirent«: ein Kriegsheld, der ein edles, weithin sichtbares tier lenkt und hinter dem ein ganzes regiment steht, ein Streiter mit dem Säbel, eine geradezu mythische gestalt. Was für ein verzweifelter kindlicher größenwahn pulst da noch immer in diesem Mann auf dem Höhepunkt seines ansehens! 1813 hat er den Zenit überschritten, da zerren ihn die selbst geweckten erinnyen rächend in die tiefe. er wird verhaftet, ein Objekt der öffentlichen Sensationslust, und seine autobiographie erscheint, nunmehr als Separatdruck und ohne sein Zutun, ein weiteres Mal. Da ist er 48 Jahre alt. 2. Soviel ist sicher: tinius wurde bei der Mühle von Staakow, dem heutigen rietzneuendorf-Staakow, geboren. Das liegt im großraum Wittenberg, Potsdam, Königs Wusterhausen, eisenhüttenstadt und Cottbus, zwischen Fläming und Spreewald. einen Katzensprung weiter verläuft heute die polnische grenze. als er auf die Welt kam, war diese Welt durch das ende des Siebenjährigen Krieges bitterarm geworden. 1763, ein Jahr vor seiner geburt, hatten Österreich, Sachsen und Preußen den Frieden zu Hubertusburg geschlossen, aber die Bevölkerung aller beteiligten Staaten litt noch lange unter 19


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Vom Schäfersohn in Staakow zum Pfarrer in Heinrichs

den verheerenden Folgen der jahrelangen bewaffneten auseinandersetzungen. Zwar hatte Friedrich ii. zwischen 1740 und 1763 in drei Kriegen Schlesien für Preußen vereinnahmt und den Hohenzollernstaat damit zur viertstärksten Macht in europa befördert, aber der Verlust an Soldaten war mit 180.000 Mann ein blutiger aderlaß geworden. Der einwohnerzahl nach rangierte Preußen damals nur an 13. Stelle unter europas nationen. Die zivile Bevölkerung, besonders in den am stärksten betroffenen Landesteilen Sachsen und Pommern, war in den Kriegen stark dezimiert worden. Sachsen hatte als ein von Preußen besetztes gebiet außerdem stark unter Plünderungen, Zwangsrekrutierungen und Kontributionszahlungen zu leiden. und zu alledem hatten die letzten Jahre eine Mißernte nach der anderen gebracht. Das gut Staakow war 1711 um eine Schäferei und 1718 um ein Vorwerk erweitert worden, für die großvater und Vater tinius arbeiteten, außerdem um eine Wasser- und eine Schneidemühle. in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelte sich Staakow zu einer kleinen gemeinde, deren Bewohner von Handwerk und Landwirtschaft lebten. Mit dem Kauf des anwesens durch Friedrich Wilhelm i. wurde Staakow dann dem amt Buchholz unterstellt. Wie es damals bei Johann georg tinius und seiner Familie zugegangen sein wird, kann man sich vielleicht anhand einer wenige Jahrzehnte vor seiner geburt aufgezeichneten Beschreibung einer preußischen Vollbauernstelle vorstellen: »Michel Koßian der elter, Vollbauer, hat 4 Kinder, als Jochen 29 Jahr alt, Maria 28 Jahr, anne 26 und trine 16 Jahr alt. Dessen Wohnhaus ist von  gebunden, darinnen eine Stube mit 3 schlechten Fenstern, der Kachelofen ist niedergefallen, das Schweifchen schlecht. im Hause eine schlechte Kammer, noch im Hause zwei Viehstelle, item ein Backofen, so noch zimlich. Das Haus an Holz, Wenden und Dach schlecht im Stande und muß notwendig gebessert werden. Die Scheure ist von  gebund mit einer Scheundiele, daran ein Stelchen. 20


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1764 bis 1809

Das Holz und Wende sampt dem Dache ist noch in mittelmeßigem Stande. Darnegst ein Schopchen von 4 gebunden, darunter 2 Viehstelle oben mit Bohlen beleget und Leim beschlagen, darauf das Saatkorn verwahret wird. Das torgerichte mit einer kleinen und zwei großen türen nur schlecht. an beiden Seiten ein Zaun im Hackelwerk, so noch zimlich im Stande, wie auch der übrige Bohlenzaun. Hinter dem Hause ein garten mit Obstbeumen.« tinius’ Vater Johann Christian war Schäfer, was wenig war, aber er war aufseher über die königlich-preußischen Schäfereien in den Ämtern Buchholz und Krausnick. er war also mit einem angestellten im öffentlichen Dienst vergleichbar und verfügte vermutlich auch über Mitarbeiter. Dennoch wird er nicht viel verdient haben. Hat vielleicht, um die zeitweise elfköpfige Familie durchzubringen, neben dem Schafehüten Kräuter gesammelt, Blumen und gräser, alles, woraus sich Kost und Beikost machen ließ. Johann georg ist oft genug mitgegangen, hat ihm so manches abgeschaut und sich offenbar mit der Zeit ein beträchtliches Wissen über die guten und gefährlichen Kräfte der Pflanzen angeeignet. auch von mütterlicher Seite war nicht viel geld in die ehe gekommen. »Meine Mutter ist eine geborene gnädig, aus der preußischen amtsschäferei teuro, bei Buchholz, an der niederlausitzischen grenze, eine Stunde von meinem geburtsorte, wo ihr Vater als Schäferei-Verweser angestellt gewesen, und in einem hohen alter von 98 Jahren, als der würdigste greis, den ich je gekannt habe, im Jahre 1786 gestorben ist.« Vater und beide großväter waren Schäfer, der Junge jeden Sommer mit auf den Wiesen. am ende eines langen, erbärmlich harten Lebens, das nichts ausgelassen hatte, um tinius für alles zu bestrafen, was er etwa begangen haben mochte – und wir wissen es ja bis heute nicht mit letzter Sicherheit! –, sagte eine Mutter zu ihm: »Wenn meine Jungens bloß halb so klug werden wollten, wie Sie es sind, Herr Magister!« Da soll der alte nur verbittert abgewinkt haben: 21


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Vom Schäfersohn in Staakow zum Pfarrer in Heinrichs

»Wünschen Sie das nicht, liebe Frau! Das war gerade mein unglück, daß ich so klug war und immer noch mehr wissen und immer klüger werden wollte! es wäre mir besser gewesen, man hätte mich als Hütejungen bei meinen Schafen gelassen; so wäre ich wie mein Vater ein ehrlicher Schäfer geworden.« nichts mehr von weißem Schimmel und generals-urgroßvater, der vor einem ganzen regiment herreitet. in den autobiographischen aufzeichnungen aber geht es zunächst noch tief erbaulich und in hohem tonfall weiter. »Die gottesfurcht, der Fleiß und die Mäßigkeit waren unsere täglichen gäste. Vater und Mutter gingen Sonntäglich in die Kirche, wir aber sahen nie einen Schulmeister, noch einen Pfarrer, bis wir 12 Jahre alt waren – nach dem Beispiel Jesu. Wir blieben ganz naturkinder, außer der Veredelung durch die häusliche Frömmigkeit. […] alle diese umstände haben einen bleibenden eindruck auf mich gemacht. nie habe ich von meinen eltern ein böses Wort gehört, noch ein böses Beispiel gesehen. ehrlichkeit bis auf den Heller, Verträglichkeit ohne ende, geradheit und Wahrheitsliebe, ätigkeit und geduld …« Die aufzählung geht immer noch weiter. Der großvater mütterlicherseits habe kurz vor seinem tode wie der fromme Simeon seinen enkel »eingesegnet, und mir meine Schicksale prophezeit«. ein starker Vergleich, denn in Lukas 2 finden wir, daß Simeon offenbart wird, das Kind, das er in armen halte, sei kein geringerer als der Messias. Der ehrwürdige lobt daraufhin gott und dankt ihm mit den Worten: »nun läßt du, Herr, deinen Knecht in Frieden scheiden.« auch dem alten Schäfereiverweser wird prophetisch zumute: »Seine Worte sind mir unvergeßlich geblieben, und da sie meinem geiste in der Folge eine eigene richtung gegeben haben: so mögen sie hier sein andenken verewigen. ›Sorget nur nicht, lieben Kinder, sprach er, ihr seyd wohl arm, aber ihr werdet viel gutes haben, so ihr gott werdet fürchten, die Sünde meiden und gutes thun. und du, mein Sohn – hier fasste er meine 22


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Hand – du hast einen schweren Stand erwählt, und willst ein Hirt der Heerde (?) Jesu werden; theile das Wort der Wahrheit recht. Du wirst darüber viel leiden müssen; aber fliehe nicht, wann der Wolf kommt, sondern vertheidige die Wahrheit bis in den tod, so wird gott der Herr für dich streiten. Lebe wohl und denke an mich!‹« Literarisch ein guter trick, denn zu diesem Zeitpunkt muß tinius in seiner beruflichen Laufbahn der Wind schon ein paar Mal heftig um die nase geweht sein, wird er sich schon einige Male gerechtfertigt haben müssen. Möglicherweise hatte er auch schon einiges zu verantworten, was sich in einer gottesfürchtigen Biographie nicht gut machen würde, also konnte sein Lebenslauf gar nicht gottesfürchtig genug ausfallen. 3. Über wen schreibe ich da überhaupt? Wer ist es, der am 22. Oktober 1764 auf die Welt kam, getauft auf die namen dreier ausgesprochen standhafter und streitbarer Heiliger? er ist ja kein Dichter, Komponist oder Staatsmann, sondern der nachwelt, wenn überhaupt, dann als räuber und Mörder in erinnerung geblieben. und Johann georg Heinrich tinius war nicht einmal ein robin Hood, der zugunsten der armen gemordet und geraubt hätte, sondern ein ganz und gar egoistischer Büchersammler. Da muß doch die Frage erlaubt sein: Warum ist dieser Mann eigentlich immer noch nicht im Orkus des Vergessens verschwunden? Warum gibt es heute ein antiquariat mit seinem namen, eine Zeitungsserie voller literarischer rätsel, deren autor unter dem Pseudonym (»)tinius(«) schreibt? Warum existieren bei ebay und in allerlei Blogs accounts, die sich den Magister tinius als tarnkappe überziehen, und warum gibt es über ihn mehr Literatur als über viele bedeutendere und zweifellos nützlichere Zeitgenossen? Mehr als zwei Jahrhunderte lang scheint dieser Mann fasziniert zu haben. Zu Lebzeiten kulminierte das 23


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zeitweilig in grauen, später wurde er zur schillerndsten gestalt unter den deutschen Bibliomanen. aber zurück zum Kind tinius: unschuldig, lernbegierig und intelligent. unsere annahme, daß es vielleicht ein Mörder werden sollte, muß im Hinterkopf bleiben und darf erst wirksam werden, wenn der erwachsene tinius tatsächlich unter Verdacht und vor gericht gerät. Dann können auch wir gericht spielen, mit allen drei rollen: ankläger, Verteidiger und richter. tinius wurde angeklagt und durch zwei instanzen hindurch verurteilt. Wir rollen den Fall jetzt erneut auf. gnade müssen wir ihm nicht schenken, gerechtigkeit genügt. Wahrscheinlich ist das schon mehr, als ihm zu Lebzeiten widerfahren ist. Bislang habe ich das tinius-gewebe zweisträngig geflochten und meinen eigenen Faden mit dem des Magisters verzwirnt. Jetzt wird noch ein dritter hineingedreht, und der stammt von einem Mann namens Detlef Opitz. Siebzig, achtzig Jahre lang hat es kaum eine nennenswerte tinius-Forschung gegeben – und dann kommt dieser erzähler und veröffentlicht im Jahre 200 einen historischen roman mit dem titel »Der Büchermörder«. eigentlich aber doch keinen roman, sondern eine in literarisch hoch verschnurrter Sprache gefaßte Biographie, die aus einem Mosaik in schlechtem Zustand ein Bildnis zusammenfügt, dem nur noch wenige Steinchen fehlen. aber stimmen denn die vielen kleinen randbemerkungen, Fußnoten und integrierten Dokumente überhaupt, die er da erzählt hat? inwieweit kann ich mich auf ihn verlassen? »gehen sie davon aus«, schrieb er mir, »daß es in den marginalien keine literatur gibt, will sagen nix erfundenes. auch das buch selbst enthält kaum erfindungen, selbst die personen, und noch der kleinste wachtmeister, ist authentisch. das war das prinzip des buches, bis ins winzigste Detail alles zu recherchieren.« in meiner textur wird er der dritte, der rote Faden sein, der sich von vorn bis hinten durch alles zieht, von belle24


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tristischen arabesken befreit, damit klar bleibt: Von ihm ist der biographische roman mit all seinen entdeckungen, von mir die geruhsam-übersichtliche Biographie. Opitz’ »Büchermörder« hat mit »Zettels traum« von arno Schmidt gemeinsam, daß hier romane weiter führen, als es die Wissenschaft vermocht hat. Daß sie dabei aber neben dem Züchten prächtiger Wortblumen auch derart viel Wissen schultern müssen, macht die Lektüre nicht eben einfach. also habe ich keinen alles übertreffenden tinius-Cicerone geschrieben, sondern den reiseführer für viele, dabei immer eingedenk des Wortes von Matthias Claudius: »Hab’s gemacht wie die anderen: fremd Kraut, und meine Brühe drüber.« 4. tinius’ autobiographie enthält einige anekdoten, kleine Halbedelsteine von minderem Wert oder auch ganz gefälscht, aber sie lohnen die kritische Prüfung, weil sie die Kette der geschehnisse nicht nur chronologisch weiterführen, sondern ihr unterschiedlicher Wahrheitsgehalt biographisch durchaus aufschlußreich ist. Da wäre als erstes die geschichte des achtjährigen, der für vier Jahre zum großvater mütterlicherseits gebracht worden war, auf daß er von ihm fromm erzogen werde, mithin lesen und beten lerne. »allein das gesinde im Hause und seine großen Söhne verdarben dem guten alten Manne seine Freude. Sie bliesen außen mit Waldhörnern, wenn ich anfing in der Stube zu beten, und sagten mir hernach, der schwarze Mann wolle mich holen, wenn ich weiter beten lernte; er habe schon geblasen. nun wurde ich so furchtsam, dass ich beim Vorsagen der gebete zitterte, und schlechterdings nicht mehr nachbetete.« also wurde der Junge 1772 wieder nach Hause geholt. als Johann georg wieder bei den eltern war, wollen er und seine geschwister Finsternis und gespenster nicht gefürchtet haben, »denn wir hörten nichts Schauerliches 2


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von ihnen erzählen, und der teufel, hieß es, ist ein böser geist, der den frommen Menschen nichts thun darf.« eine seltsam konträre aussage, in der autobiographie steht sie nur zwei Seiten später. 1772 zog der Vater mit der Familie in das nur 17 Kilometer1 von Staakow entfernte Wasserburg, und bis in sein 13. Lebensjahr blieb tinius dort. Der unterspreewald war bis zum Studium die Heimat seiner frühen Jahre. auf das erste Kapitel Schwarzer Pädagogik beim großvater folgte daheim das zweite: »Bei meiner ankunft nahm mich meine Mutter sogleich bei Seite, sagte mir ein gebet vor, und hieb, als ich auch nicht nachsprechen wollte, mit einer ruthe so lange, bis ich mitbetete, und die Buchstaben in der Fibel lernte. innerhalb vier Wochen lernte ich alle ihre kindlichen gebete und auch das Lesen, so dass ich im folgenden Winter die ganze Bibel durchlas, und nun gar nicht aufhören wollte. Das Lesemagazin bestand in einer Bibel, einer Postille, in arnd’s wahrem Christenthum, in Luther’s Katechismen und in zwei gesangbüchern.« also doch eine erfolgsgeschichte? Spätestens seit alice Millers »evas erwachen« (2001) wissen wir, daß die Schwarze Pädagogik nicht erziehen und Wissen vermitteln, sondern den Willen des Kindes brechen, ihn mit Hilfe offener Machtausübung (der »ruthe«) oder verborgener (»der schwarze Mann wolle mich holen«) in einen gehorsamkeitspanzer pressen und das Freiheits- wie das glücksstreben möglichst für immer töten will. Zu tinius’ Zeiten sah man das anders. einer der bekanntesten Philosophen und erzieher seiner Zeit, Johann georg Sulzer, meinte gar in seiner Schrift »Versuch von der erziehung und unterweisung der Kinder« (1748): »Diese ersten Jahre haben unter anderem auch den Vorteil, dass man da gewalt und Zwang brauchen kann. Die Kinder vergessen mit den Jahren alles, was ihnen in der ersten Kindheit begegnet ist. Kann man da den Kindern den Willen nehmen, so erinnern sie sich hiernach niemals mehr, dass sie einen Willen gehabt haben.« 26


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es wäre eine erklärung für des Magisters späteres Lavieren zwischen kriecherischem Verhalten vor der Obrigkeit und aggression gegenüber seinen nächsten. er war ein unfroher, auch gewalttätiger ehegatte, und zumindest seine angeheirateten Kinder haben ihn gefürchtet. es wäre vielleicht auch eine erklärung für die unendliche geschichte seiner späteren widersprüchlichen Verteidigungsstrategien vor gericht, der kaum zu zählenden offenen Bittbriefe und heimlichen Kassiber, schleimig und wirr und manchmal dumm und hinterlistig zugleich. noch immer haben solche während ihrer Kindheit seelisch drangsalierten naturen den Weg in eine Spezialbegabung gesucht, bei der ihnen keiner etwas vormachen konnte, oder in kühne gedankenspiele, bei denen es nicht anders war. Lange bevor tinius auch nur sein erstes Buch geschrieben hatte, behauptete er, ein Werk über die Differenzen zwischen dem samaritanischen und dem masorethischen Pentateuch herausgeben zu wollen. Sieben Kommentare zu den chaldäischen Paraphrasen mit besonderer Berücksichtigung der samaritanischen texte sollte es geben und schließlich auch noch ein aramäisch-chaldäisch-syrisches Wörterbuch. nichts davon wurde bis heute gefunden. Wohl aber beschrieb tinius seine Pläne detailliert in manchen Briefen, um damit seine Bedeutung als Wissenschaftler herauszukehren. So am 18. Februar 181 an den rektor der universität von Berlin: »ich selbst habe den Samaritischen Pentateuch völlig umgestaltet gegen die Form von Morin gehalten, und die übrigen orientalischen Versionen ganz neu revidiert und corrigirt, weil ich vorher erst das a. und das n. testament verstehen lernen wollte. um ganz ungehindert im Stillen meine Werke auszuarbeiten, wählte ich eine kleine, mit wenig mechanischen amtsgeschäften verknüpfte, Landpredigerstelle, und ging deswegen von meiner humanistischen Bahn, vom gymnasium in Schleusingen, ab, ward Prediger in Heinrichs bey Suhl 12 Jahre und endlich seit 1810 in Poserna bey Weißenfels, um die universitäten Halle, Jena und Leipzig um mich 27


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zu haben. einen antrag zur orientalischen Professur in Jena schlug ich aus.« So freilich ließ sich die tatsache auch ausdrücken, daß man es dann doch nicht vom kleinen Dorfpfarrer zum bedeutenden gelehrten geschafft hatte. . Der andere Weg eines bedrängten Menschen ist die allmachtsphantasie. irgendwann, irgendwo wird man besser, schöner, reicher, klüger sein als jeder andere, vollends jeder, von dem man etwa gedemütigt wurde. Hierzu gibt es in der autobiographie eine anekdote, die – wenn sie wahr ist, und es spricht eigentlich nichts dagegen – vielleicht das Schlüsselerlebnis im Leben des Kopfmenschen tinius war. in Wasserburg gab es keine Schule. eine Stunde bis Krausnick mußten alle Kinder gehen, die von ihren eltern zu einem Katecheten der Filialkirche von Buchholz geschickt wurden, einem Handwerker eigentlich nur. im Hause der Familie tinius wurde das anders gehandhabt. Hier hatte das älteste Kind – also Johann georg – die nachgeborenen geschwister zu unterrichten, erst unter anleitung der Mutter, schließlich allein. auf dem Lehrplan standen das Lesenlernen anhand der katechetischen Hauptstücke und das auswendiglernen von gebeten, Liedern und Sprüchen. Kein Problem für den Jungen, der das »fertige Lesen« ja schon beherrschte. im September 1777, zu Michaelis, zog die Familie wieder nach Staakow, das zur gemeinde Oderin gehörte und wo Johann georg getauft worden war. immerhin: Von Staakow nach Oderin waren es zehn bis elf Kilometer Fußweg. Der Junge war jetzt so weit, daß er den Winter über in die dortige Konfirmandenlehre bei Magister Starke gehen sollte. also machten sich Mutter und Sohn auf den Weg, damit er angemeldet werde. 28


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Die übrigen Kinder waren schon vier Wochen in die Vorbereitung gegangen, und er trug Bedenken, ob ich so viel nachlernen würde. Ich, ohne Furcht und Scheu, weil ich noch keine menschliche Hoheit kannte, erbot mich sogleich, das ganze Stück (es war aus dem mir noch völlig unbekannten Berliner Katechismus) in ein paar Stunden zu lernen, wenn ich in der andern Stube allein seyn könnte. Der Herr Magister sahe mich an mit Lächeln über meinen Vorwitz, und sagte: Mein Söhnchen, wenn du nur heute eine halbe Seite lernst, so musst du schon tüchtig lernen. Es war Mittag vorbei. Ich nahm das Buch, ging in die Einsamkeit, kam um 5 Uhr wieder und sagte alle Blätter, so weit die andern Kinder gekommen waren, ohne Anstoß her. Dieser Augenblick war von der Vorsehung bestimmt, mir meine künftige Laufbahn zu eröffnen. Der würdige Pastor, ein frommer Mann, der in allen Ereignissen Gottes Fingerzeig erblickt, gerieth in Erstaunen, und sagte meiner Mutter, die während dieser Zeit voll Erwartung gewesen war, und im Herzen gewiß viel zum Herrn gebetet hatte, ›Euren Sohn hat Gott zu etwas anderem bestimmt, er soll Menschenheerden weiden!‹ Meine Mutter war unbeweglich, und sagte: wir können unserm Sohne keinen Groschen zum Studieren geben, und brauchen ihn nothwendig in unserm Stande. Mein Vater war noch mehr dagegen, weil er eine Abneigung gegen alles Vornehme hatte. Allein Hr. M. Starke ließ nicht nach und versicherte meinen Eltern, es solle ihn mein Studieren keinen Heller kosten; es studierten ja viele Arme. entfernen wir einmal die pathetische Patina, die dem Zeitgeschmack geschuldet ist (oder auch dem, was man von einem frommen Manne erwartete), so haben wir hier die später oft und gern erzählte Kernanekdote von und über tinius: das Öffentlichmachen einer intellektuellen Spezialbegabung des bis dato völlig unauffälligen Heranwachsenden. Zum ersten Mal keine Phantasterei, zum ersten Mal nachprüfbare 29


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Wirklichkeit, zum ersten Mal war er wirklich besser als alle anderen. es brachte ihn voran und schuf ihm eine Basis, auf der er aufbauen konnte. natürlich machte er sich damit keine Freunde unter seinesgleichen. und als erwachsener wurde es sein Schicksal, daß sich Kinder und manche erwachsene vor ihm fürchteten, was bei seinen stechenden augen und dem bezeugten Jähzorn kein Wunder war. in Parenthese sei aus einer Kurzbiographie über den nachmaligen Philosophen Johann gottlieb Fichte zitiert, weil es wohl selten eine größere Ähnlichkeit der anfänge zweier bekannter Menschen gegeben hat: »Vielleicht«, so erzählt Klaus günzel in seinem 199 erschienenen Werk »Die deutschen romantiker«, hätte man von Fichte, »dem Sohn eines armen Bandwebers, nie außerhalb seiner Oberlausitzer Kleinwelt gehört, wenn er nicht dem Dorfpfarrer aufgefallen wäre, dessen Sonntagspredigten der Knabe fast Wort für Wort zu wiederholen vermochte. als der rittergutsbesitzer Haubold von Miltitz einmal den gottesdienst versäumt hatte, wurde der Kleine ins Schloß zitiert, wo er dem Herrn die Predigt artig aufsagte. Beeindruckt von dieser gedächtnisleistung übernahm der gutsherr die erziehung des Jungen und schickte ihn auf eine der sächsischen eliteschulen, die Fürstenschule Pforta bei naumburg. Das Studium der eologie in Jena und Leipzig mußte er abbrechen, da von Miltitz starb und die materielle Hilfe von zu Hause nicht einmal mehr das existenzminimum garantierte. aber Fichte war ein Oberlausitzer Dickschädel, wenn es je einen gab, und nicht gesonnen, die eingeschlagene Laufbahn wieder zu verlassen.« 6. Zwei Jahre blieb Johann georg tinius bei Magister Starke in Oderin, der ihn konfirmierte, ihn das Schreiben und die anfangsgründe des Lateinischen lehrte. am 22. September 1779 meldete ihn der geistliche am gymnasium in Luckau an, wo schon sein Sohn adolph war, dem tinius nun »die 30


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Kohlen meines feurigen eifers im Lernen anzünden« sollte. Der Oderiner geistliche war aus Luckau gebürtig und von Kindheit an mit dem mittlerweile verstorbenen Stadtkämmerer Bötticher befreundet gewesen. Bei dessen Witwe hatte er um Quartier für seinen Zögling gebeten, und die Dame war einverstanden. und nicht nur sie, sondern mit Vehemenz auch ihre einzige tochter Johanna Sophia, die wiederum Magister Starkes Patenkind war; glücklicher hätte es sich kaum fügen können. Ihr habe ich meine städtische Erziehung und die in Oderin angefangene Fortbildung für die Welt zu verdanken. Wohnung, Wäsche und Frühstück genoß ich hier 7 Jahre, obgleich diese beiden edlen Seelen selbst arm waren. Durch meine Stimme im Chorsingen, da ich 7 Jahre im Discant die erste Stelle gehabt habe, ist mir das dasige Convictorium, wo täglich 7 Schüler gespeiset werden, und meine Kleidung jährlich mit den nöthigen Büchern zu eil worden. Außerdem bekam ich Freitische bei Honoratioren und Bürgern. es muß tinius bei den Böttichers wirklich gut gefallen haben, denn das gesamte Wittenberger Studium brachte er später in nur zwei Jahren hinter sich, während er die Luckauer Zeit auf zehn Jahre ausdehnte. 1784 wurde der 20jährige, der ohnehin nie über eine widerstandsfähige gesundheit verfügt hatte, lebensgefährlich krank. er dürfte sich wohl im Studium überanstrengt haben. Daneben verdiente er sich geld als Hauslehrer und lebte ausgesprochen asketisch. Der Winter 1783/84 war zudem ungewöhnlich lang und streng gewesen. Seit Monaten hatte es in Deutschland starke Frosttemperaturen gegeben, in Wittenberg minus 21 grad. Weichsel, Oder, elbe, rhein, alle großen Flüsse trugen meterdicke eisdecken. ende Februar stiegen dann die temperaturen plötzlich, tauwetter setzte ein, es begann zu regnen. Mit der Schmelze kam es zu einer 31


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der größten damaligen naturkatastrophen. Hochwasser drang in die Städte ein, zerstörte Schiffe und Brücken, Wohnhäuser, Öl- und getreidemühlen. tinius gehörte in diesem harten Winter zu einer gruppe von Kurrendesängern und instrumentalmusikern, die zwischen Weihnachten und ende Januar ununterbrochen ihre runden machten und für geld sangen. er war in dieser Zeit nicht nur länger krank, sondern kam auch in den Stimmbruch – gott sei Dank aber kurz darauf in den Baß, so daß er weiter singen konnte. insgesamt acht Jahre hat er in der Kurrende gesungen und »viel Welterfahrung gesammelt. an verführerischen Beispielen aller art hat es mir nicht gefehlt«. auch wieder eine dieser vagen angaben in seiner autobiographie! gleich darauf heißt es, die »armuth nöthigte mir gleichsam eine gute aufführung ab, sonst hätten meine gönner ihre Hand von mir abgezogen«. Das läßt eigentlich nur die Vermutung zu, daß außer gesang auch Wein und Weib den jungen Musikern keine Fremdworte gewesen sind und tinius nur deshalb nicht gewagt hat mitzumachen, weil er seinen Freitischstatus nicht gefährden wollte. gleichzeitig heißt es dann wieder lammfromm: »an meinen studirenden Mitbrüdern habe ich damals vielen Fleiß, und an den meisten ein gesittetes Leben gesehen«. als er Johanna Sophia am 21. September 1779 das erste Mal traf, war sie 20 Jahre alt und er noch nicht ganz 16. ein großer altersunterschied, doch war man sich offenbar von anfang an gut. Johanna Sophia sollte später tinius’ Frau werden, aber dazu mußte noch einiges Wasser die Berste und die Wudritz hinabfließen. Zunächst einmal zog er 1787 zu Pfarrer Johann Wilhelm Pinkert nach Heinsdorf, Kreis Baruth, um dessen Sohn nachhilfeunterricht zu erteilen. Dafür bekam er Kost und Logis sowie das Versprechen des geistlichen, ihm bei der aufnahme an der Wittenberger universität behilflich zu sein. am 21. april des revolutionsjahres 1789 zog tinius voraus und 32


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machte Quartier für sich und den 17-jährigen Pinkert, der erkrankt war und nachkommen sollte.

Teil 2: Studentenjahre »Strebsam im wohlverstandenen Sinne, entwickelte tinius sich schnell aber auch zu einem Streber aus materieller Veranlagung, der zweifellos mit dem Odium der ichsucht nach jeder richtung hin behaftet war. Wahre Freunde fürs Leben finden wir nicht in seiner gesellschaft, er hat sie wahrscheinlich nie gesucht und nie gefunden. Zu diesem menschlichen glück sind innere aufrichtigkeit und Klarheit erforderlich, die bei ihm kaum angedeutet sind.« Hanns Wagner: »Der Pfarrer von Poserna« (o.J.)

1. im Matrikelbuch der universität Wittenberg heißt es: »tinius, Joan georgius; Staako Lusat.; 21. 4. semigrat«. Der latinisierte eintrag umfaßt neben seinem namen auch tinius’ Herkunft (Staakow in der Lausitz) und gibt darüber auskunft, daß der junge Mann zu halben Kosten (semigrat[is]) aufgenommen worden sei. Die universität genoß seit Luthers und Melanchthons Zeiten einen hervorragenden ruf. Zeitweilig war sie eine der wenigen europäischen Hochschulen, an denen Hebräisch gelehrt wurde – eine der Sprachen, auf die sich tinius später verstand und auf deren Feinheiten er sich spezialisierte. Kaum war er eingeschrieben, starb Pinkert, und vorbei war es mit der lebenswichtigen pekuniären unterstützung. Sein Quartier durfte tinius zwar noch bis Michaelis behalten, aber der September stand schon vor der tür, und wovon sollte er nun leben? 33


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Johann Georg Tinius (1764–1846) war eologe, Pfarrer auf dem Land und kein wohlhabender Mann. Trotzdem hatte er eine der größten Bibliotheken, die jemals privat zusammengestellt worden sind: Bis zu 40.000 Bände sollen es gewesen sein, wohlgeordnet und sicher verwahrt. 1813 wurde er verhaftet: Er soll betrogen haben, um an Bücher zu kommen, gestohlen – und gemordet. Klaus Seehafer rollt den spektakulären Fall des Magisters Tinius mit kunstvollen Mitteln neu auf. In einem faszinierenden Textmosaik verknüpft der Autor biografische Referenzen mit moderner Psychologie, Rechtsgeschichte mit historischer Pflanzenkunde und stellt so die Schuld des Verurteilten grundlegend in Frage.

Klaus Seehafer, geboren 1947, ist Buchhändler und Diplom-Bibliothekar. Seit 2005 lebt und arbeitet er als freier Schriftsteller in Bitterfeld. Beiträge von ihm erschienen u. a. in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Die Zeit und der Stuttgarter Zeitung.

Der Fall Tinius bringt vor allem ein ema zu Bewusstsein: das der Sinnlichkeit gedruckter Bücher, an deren »magischer« Anziehungskraft sich bis heute nichts geändert zu haben scheint.

Er hat mehr als zwanzig Bücher geschrieben und herausgegeben. Seine Hörspiele wurden vom NDR, WDR, BR und von Radio Bremen gesendet.

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19.90 EUR [D] Inklusive eBook ISBN 978-3-940884-81-7

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