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Europäische Spallationsquelle in Lund, Schweden

ESS Target Building nach Fertigstellung © Buro Happold

Buro Happold Europäische Spallationsquelle in Lund, Schweden

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Die Stahlkonstruktion der Europäischen Spallationsquelle (ESS) in Lund, Schweden, ist fertiggestellt. Dieser Schritt markiert einen wichtigen Meilenstein im Bauprozess eines zentralen europäischen Projekts der Forschungsinfrastruktur. Die internationale Forschungseinrichtung ESS schafft ein multidisziplinäres Forschungsumfeld, basierend auf der leistungsstärksten Neutronenquelle der Welt. Die in der ESS durch Spallation erzeugten Neutronen werden es Wissenschaftler:innen ermöglichen, Materialien auf atomarer und molekularer Ebene zu untersuchen. Dies wird für eine Vielzahl von Forschungsbereichen von großem Nutzen sein.

Projekt

Die ESS ist eine multidisziplinäre Forschungsanlage, die auf der leistungsstärksten Neutronenquelle der Welt basiert. Sie wird wissenschaftliche Durchbrüche in der Material-, Energie-, Umwelt- und Gesundheitsforschung ermöglichen und dabei einige der wichtigsten gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit angehen. Sie ist eines der größten Forschungsinfrastrukturprojekte in Europa. Organisiert als Europäisches Forschungsinfrastruktur-Konsortium (ERIC) mit 13 Mitgliedsländern, arbeiten rd. 40 europäische Partner und mehr als 130 Einrichtungen weltweit zusammen, um die Investition in Höhe von 1,84Mrd. e zu realisieren.

Buro Happold war ab 2013 an der Gestaltung des Daches des Target Building beteiligt sowie später auch an der Gestaltung des Target Building und der beiden angrenzenden Versuchshallen. Alle Gebäude wurden Ende 2021 vom Generalunternehmer Skanska fertiggestellt und an den Bauherrn übergeben. 2027 soll die Anlage für die Forschung geöffnet werden. Bis dahin erfolgen die Installation von Instrumenten und technischer Ausrüstung sowie die Prüfung und Inbetriebnahme zahlreicher, Komponenten und Systeme. Die gesamte Anlage des Target Building besteht aus zwei Versuchshallen und der zentralen Halle. Das ca. 180m × 140m große Dach ist das architektonische Hauptmerkmal und verbindet mit seinen bis zu 35m weit auskragenden Überhängen alle Gebäude miteinander. Es schützt die darunter liegenden Hallen vor extremen Klimabelastungen wie 1:100.000-jährigen Schnee- und Windlasten. Der künftige Betrieb der Forschungseinrichting war ausschlaggebend für die Funktionalität der Gebäude. So musste jede Versuchshalle ohne Stützen auskommen, um eine Anpassung an künftige Bedürfnisse und Erweiterungen zu ermöglichen. Dies führte zu inneren lichten Weiten von ca. 20, 30und 50m. Vier Brückenkräne sorgen für die Flexibilität im Betrieb des Gebäudes. Der Kran im zentralen Target Building erfüllt besonders hohe Sicherheitsstandards, da er bis zu 115t schwere Komponenten aus den Versuchen und manchmal auch aktiviertes Material, das aus dem Spallationsprozess resultiert, transportieren wird. Die äußere Tragkonstruktion des Gebäudes wurde so konzipiert, dass sie die internen Kräfte und Bewegungen aufnehmen kann, die einerseits von den einzelnen Kränen verursacht werden sowie andererseits auch entstehen, wenn die Kräne gleichzeitig in Bewegung sind. Somit waren zahlreiche Belastungsszenarien zu berücksichtigen.

Stahlkonstruktion während der Bauphase © Buro Happold

Überblick über die tragenden Systeme im Dach des Target Building © Buro Happold

Tragwerkssystem

Die Stahldachkonstruktion (SDK) ist der tragende Überbau des Target Building: bestehend aus den Versuchshallen D01 und D03, dem zentralen »hochschiffigen« Target Building D02 sowie dem Target-Building-Dach. Die Gebäude D01 und D03 enthalten großvolumige, eingeschossige Experimentierhallen, die für höchste Flexibilität im Betrieb ausgelegt sind. Um diese Hallen ist die SDK auf einer kombinierten Pfahlplattengründung gegründet. Das Gebäude D02 beherbergt die Betongebäude des Target-Systems und des Accelerator to Tunnel (A2T). Alle Betongebäude unterhalb der Stahldachkonstruktion wurden von anderen Planern entworfen. Das Stabilisierungssystem besteht aus biegesteifen Rahmen in der einen Richtung und Querverstrebungen in der anderen Richtung. In der longitudinalen Ost-West-Richtung (X) wird die Stabilität durch diagonale Verstrebungen innerhalb der langen Wände von D01, D02 und D03 gewährleistet. Die Stabilität in der transversalen Nord-Süd-Richtung (Y) wird durch biegesteife Rahmen des hochschiffigen Gebäudes D02 (mit Vouten an der Traufe und gelenkigen Anschlüssen an die Sockel) gewährleistet. Sie wurden in dieser Richtung verwendet, um eine Verstrebung innerhalb der Hallen zu vermeiden. Eine frühe Alternativüberlegung war die Verwendung eines aussteifenden Schlitzdaches mit verstrebten Giebelwänden, was jedoch aufgrund der vorgegebenen Tragfähigkeit der Unterkonstruktion unterhalb der Giebelenden nicht zulässig war. Die biegesteifen Rahmen sind als gefertigte Doppel-I-Profile ausgebildet, um die seitliche Durchbiegung der SDK zu kontrollieren. Gleichzeitig wird so die Bautiefe begrenzt und der Innenraumbedarf gedeckt. An der westlichen Giebelseite des D02Gebäudes ist der zweigeschossig hohe Rahmen (31m hoch) ausgesteift, um die lokalen Kräfte vom Dach des Target Building in die Fundamente zu

leiten, wo die Unterkonstruktion im Vergleich zu anderen Bereichen zusätzliche Kapazität bietet. Das horizontale Stabilitätssystem des Daches in Ost-West-Richtung (X) wird durch die Aussteifung in Form eines Chevron-Plans im mittleren Teil des geschlossenen Daches gebildet. Es verteilt die Querkräfte auf die zuvor genannten Stabilitätssysteme innerhalb der Tragwerke. Das Tragsystem des Daches variiert in seinen Ausdehnungen, um die unterschiedlichen Auflagerbedingungen sowie die Spannweite und Form des überhängenden Daches zu berücksichtigen. Typische tragende Elemente, die diesen unterschiedlichen Bedingungen Rechnung tragen, sind in Bild »Überblick über die tragenden Systeme im Dach des Target Building« dargestellt. Das hohe Hallenschiff D02 verfügt außerdem über einen 45m hohen Abluftkamin und ragt als höchster Punkt der Anlage über das Dach hinaus. Die Gesamttonnage des verwendeten Stahlbaus beträgt 4.650t, einschließlich aller sekundären Stähle und Verbindungen, die für die Erstellung eines vollständig ausgearbeiteten Fertigungsmodells mit der Software Tekla Structures entworfen wurden.

Erdbeben- und Extremklimadesign

Die Anlage ist so konzipiert, dass sie außergewöhnlichen klimatischen Belastungen standhält, wie sie in dieser Region Schwedens mit ihren geringen jährlichen Schneefällen und nur einem einzigen kleineren Erdbeben in der Vergangenheit nicht zu erwarten sind. Die Zulassungsbehörden legten strenge Kriterien für das Gebäude fest. Diese Anforderungen wurden in das Projekt eingebracht, als die Planung bereits weit fortgeschritten war und die Gründungsarbeiten auf der Baustelle kurz vor der Fertigstellung standen, sodass nur wenig Spielraum für eine Anpassung der Fundamentkapazitäten blieb. Um das bestehende Design an die Tragfähigkeit der vorhandenen Fundamente anzupassen, war eine kreative Planung vonnöten, die in enger Zusammenarbeit mit COWI, dem gesamtverantwortlichen Plaungsbüro, erfolgte. Im kritischsten Planungsszenario, bei dem der Schnee gegen die Wände des zentralen, hohen Target-Gebäudes driftet, entspricht die Schneehöhe 7m. Die größte Herausforderung stellte jedoch das Erdbeben mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit von einem in einer Million Jahren dar. Verstärkt durch die sehr steifen Betonunterkonstruktionen führte dies zu vertikalen Bodenbeschleunigungsspitzen, welche die Stahlkonstruktion mit dem 6-Fachen der Erdbeschleunigung belasten – höher als jedes Erdbeben, das in der jüngeren Geschichte in diesem Gebiet aufgezeichnet wurde. Um Luftdichtheit zu gewährleisten, durfte die Stahlkonstruktion keine Bewegungsfugen aufweisen. Somit ergab sich eine komplexe Schnittstelle, bei der das Stahlbauwerk von mehreren strukturell unabhängigen Betonbauten getragen wurde. Dies führte dazu, dass die seismischen Bemessungsdaten über den gesamten Bereich der Stahlkonstruktion erheblich variierten und weitgehend vom jeweiligen Betonbau abhingen, auf dem sie gegründet war. Ein solcher Aufbau erforderte eine Multi-Response-Spektralanalyse in Kombination mit den von den einzelnen Betonbauwerken ausgehenden unterschiedlichen Verschiebungen. Mit der Spektralanalyse wurde ermittelt, wie sich die Beschleunigungen auf die Stahldachkonstruktion auswirkten, wobei die differenzielle Verschiebungsanalyse die zusätzliche Komplexität der sich phasenverschoben bewegenden Betonkonstruktionen berücksichtigte. Leider gibt es auf dem Markt keine Software, die solche Konstruktionsanalysen ermöglicht. Daher entschied sich Buro Happold, jede seismische Kraftrichtung in separaten Modellen zu den differenziellen Verschiebungen und den Eigen-, Verkehrs- und Schneelasten zu berechnen. Diese Ergebnisse wurden dann unabhängig voneinander zur Bemessung von Stahlelementen kombiniert. Dieser Prozess ist in Bild »Konstruktionsmethode zur Überwindung von Softwareeinschränkungen« dargestellt. Dieses Verfahren ermöglichte die erfolgreiche Umsetzung des komplexen Designs und lieferte Ergebnisse, die mit dem Modell des externen Prüfers, gut vergleichbar waren.

Konstruktionsmethode zur Überwindung von Softwareeinschränkungen © Buro Happold

Folge der Kombination vieler Lastfälle: große Anzahl möglicher Bemessungslastkombinationen (hier: Grenzzustand der Tragfähigkeit) © Buro Happold

Ablaufplan zur Reduzierung der Lastkombination © Buro Happold

Lösungen für komplexe Probleme

Um die Auswirkungen der extremen klimatischen Bedingungen zu minimieren, arbeiteten die Fassadentechnik und Tragwerk-Teams eng mit den Architekten von COBE und Henning Larsen zusammen. Sie entwickelten ein halbporöses Fassadensystem für das auskragende Dach, das Wind größtenteils durchlässt und Schnee auf den Boden fallen lässt. Dies spielte eine entscheidende Rolle, um eine leichtere und effizientere Struktur zu erreichen und gleichzeitig die architektonische Vision zu erfüllen. Die Verkleidung besteht aus L-förmigen Aluminiumlamellen, die auf Paneelen montiert sind. Die Geometrie der Paneele verhindert eine unerwünschte Schneeansammlung und reduziert die Gesamtlast, die auf die großen Überhänge wirkt. Mithilfe der parametrischen Modellierung wurden die optimale Form und Anordnung der Paneele festgelegt und die Anzahl der maßgefertigten Baugruppen um 87% reduziert. Dies trug zu einer nachhaltigeren Nutzung von Materialien und Produktionsressourcen bei und ermöglichte gleichzeitig eine wesentlich schnellere Fertigung und Montage. Nicht nur bei der Optimierung der Fassade wurden computergestützte Verfahren eingesetzt. Es gab mehr als 2Mio. Lastkombinationen, die sich daraus ergaben, dass alle Konstruktionsmaßnahmen gleichzeitig wirken können. Aufgrund der Größe des Gebäudes und der Komplexität des Tragwerks war die Zeit zur statischen Analyse unter Berücksichtigung der umfangreichen Lastkombinationen nicht ausreichend.

Da handelsübliche Software nicht in der Lage war, dieses Analyseniveau zu erreichen, wurde ein hauseigenes Programm entwickelt, das die Auswahl der kritischen Kombinationen unterstützte und einen effizienten Entwurfsprozess ermöglichte. Dabei wurde die Anzahl der kritischen Lastkombinationen um 98 % der möglichen Szenarien reduziert.

Planung für die Fertigung

Buro Happold war für den Entwurf und die Detaillierung aller Stahlelemente und Verbindungen für alle Baukörper verantwortlich, mit Ausnahme der Planung der Dachverbindungen des Target Building, die in Zusammenarbeit mit einem Subunternehmer durchgeführt wurde. Es handelt sich um etwa neuntausend Verbindungen, die alle nach dem Prinzip der einfachen Montage und Demontage durch Verschraubung ausgeführt wurden. Dies ermöglichte eine leichtere, kostengünstigere sowie sicherere Herstellung und minimierte die Montagezeiten und Arbeiten in der Höhe.

Bauüberwachung und Baubetreuung

Während die Bauarbeiten auf der Baustelle direkt von Skanska als Generalunternehmer überprüft und beaufsichtigt wurden, besuchte das Team vom Buro Happold die Baustelle regelmäßig und informierte den Kunden über alle festgestellten Probleme. Während der Covid-19-Pandemie wurden die Bauarbeiten durch die detaillierte Analyse hochauflösender Baufotos weiter begleitet. Buro Happold leistete kontinuierlich technische Unterstützung, beantwortete Fragen zum Bau und zur Herstellung via Informationsplattform und in Abstimmungsterminen, um gemeinsam zum bestmöglichen Ergebnis zu kommen.

Nachhaltigkeit

Während letztendlich die technische Integrität der Anlage aus Sicherheitsgründen entscheidend war, wurde auch der Nachhaltigkeit große Bedeutung beigemessen. Das Team entwickelte parametrische Tools, mit denen unterschiedliche Abstände und Höhen für die strukturellen Elemente des Dachs getestet wurden, um die Effizienz zu erhöhen. Somit konnte die Stahltonnage und damit die Menge des gebundenen Kohlenstoffs reduziert werden, was zusätzlich einen kostengünstigeren und effizienteren Transport ermöglichte. Aufgrund der spezifischen geometrischen Zwänge der Anlage war es leider nicht möglich, das Design der vertikalen Elemente weiter zu optimieren. Durch die Leichtbauweise des Daches konnte die Betonmenge in den darunter liegenden Fundamenten reduziert werden. Buro Happold hat den verbauten Kohlenstoff bewertet und kam dabei auf die Klasse D für die Energiebewertung des Tragwerks mit 338 kg CO2/m² (in Anlehnung an IStructE). Die Planung des Tragwerks, insbesondere die robuste Bauweise und die stützenfreien Flächen, machen die Anlage äußerst flexibel und ermöglichen eine interne Anpassung im Laufe der Zeit, ohne dass Änderungen an der Struktur erforderlich sind. Eine künftige Erweiterung der Versuchshallen wird durch die Detailkonstruktion um die Hallen herum ermöglicht. Stützen können mit nur geringer Verstärkung entfernt werden. Alle Stahlkonstruktionsverbindungen wurden mittels Schrauben hergestellt, um eine spätere Demontage und Wiederverwendung zu ermöglichen.

Zusammenfassung

Die Planung der ESS zeichnete sich durch einzigartige Herausforderungen aus, die aus der komplexen Geometrie, den technischen Anforderungen und den extremen Lastbedingungen resultierten. Durch den Einsatz innovativer Designkonzepte und -methoden konnte Buro Happold ein ganzheitlich abgestimmtes Design für eine Anlage von Weltklasse liefern. Dabei spielte insbesondere das kollaborative Zusammenspiel mit mehreren Dutzend Fachplanern eine wichtige Rolle. Mit dem Abschluss der Bauarbeiten wird nun die Anlage für die Forschung vorbereitet. Ende 2027 soll die ESS vollstädnig in Betrieb genommen werden und steht dann bereit für bahnbrechende wissenschaftliche Entdeckungen der Forschenden.

Adam Dominik Pekala (leitender Statiker), Paul Scott Roberts (Direktor), Buro Happold, Dänemark

WEItErE InFormatIonEn Buro Happold D-10717 Berlin Tel.: +49 (0)30/8609060 veronica.guenther@BuroHappold.com www.burohappold.com

BauhErr ESS – European Spallation Source

archItEktEn Henning Larsen Architects und Cobe

konStruktIonSPartnEr Skanska

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