PZG-09_Finanzmaerkte

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Stefan Hinsch

Finanzm채rkte

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Finanzm채rkte

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Politik und Zeitgeschehen


Politik und Zeitgeschehen 9

Finanzm채rkte


Stefan Hinsch

Finanzmärkte

Dieses Skriptum ist für die Verwendung im Rahmen der Bildungsarbeit des Österreichischen G ­ ewerkschaftsbundes, der Gewerkschaften und der Kammern für Arbeiter und Angestellte bestimmt.


Inhaltliche Koordination: Peter Autengruber

Zeichenerklärung

Hinweise

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Beispiele Zitate

Diese Broschüre basiert in weiten Teilen auf dem Skriptum „Finanzmärkte“ von Jörg Huffschmid und Christian Rammer. Dieses wurde im Jahr 2002 vom ÖGB veröffentlicht.

Stand: November 2011 Impressum: Layout/Grafik: Dietmar Kreutzberger/Walter Schauer Layoutentwurf/Umschlaggestaltung: Kurt Schmidt Medieninhaber: Verlag des ÖGB GmbH, Wien © 2011 by Verlag des Österreichischen Gewerkschaftsbundes GmbH, Wien Herstellung: Verlag des ÖGB GmbH, Wien Verlags- und Herstellungsort: Wien Printed in Austria

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Inhalt Einleitung 6 Funktion von Finanzmärkten

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Struktur der Finanzmärkte

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Kreditmarkt und Kreditschöpfung

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Wertpapiermarkt: Finanzierung abseits der Banken

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Der Sekundärmarkt für Wertpapiere

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Sollbruchstellen: Die Krisenanfälligkeit des Finanzsystems

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Die Politik der Finanzmarktöffnung

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Ein Wachstumsmodell und seine Grenzen

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Reform des Finanzsystems

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Fernlehrgang 86 Allgemeine Fragen

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Einleitung Finanzmärkte sind heute überall präsent. In jeder Zeitung kann man Börsenkurse nachlesen. In der „Zeit im Bild“ ist die Entwicklung des DOW Jones und des ATX (Indices der New Yorker und der Wiener Aktienbörse) wichtiger als das Wetter. Viele Österreicherinnen und Österreicher zahlen in private Zusatzpensionen ein und vertrauen damit zur Sicherung ihres Lebensstandards im Alter auf Finanzmärkte – dort wird das Geld des Pensionsfonds angelegt. Auch in der Politik und anderen Bereichen der Wirtschaft führt an Finanzmärkten nichts mehr vorbei: Um „die Märkte zu beruhigen“ werden staatliche Sparmaßnahmen angeordnet. Weil „die Investoren“ nach mehr Rendite verlangen, werden Kostensenkungsprogramme in Unternehmen durchgezogen. Der Bedeutungsgewinn von Finanzmärkten ist auch an der Zunahme des globalen Finanzvermögens ablesbar, das dort investiert ist.

❮❯ Bedeutungsgewinn von Finanzmärkten 1980 1990 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 Gesamtes Finanzvermögen Davon Bank­einlagen, Kreditmarktpapiere und Anleihen Finanzvermögen in Pro­zent des weltweiten BIP

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120% 195% 294% 288% 290% 316% 319% 316% 340% 356% 293%

Globales Finanzvermögen in Billionen Dollar, Quelle: Mc Kinsey Institute

Seit der Finanzkrise ist aber auch die Störungsanfälligkeit von Finanzmärkten allen vor Augen geführt worden. Die Jahre nach 2007 haben gezeigt, dass eine Erschütterung, die ihren Ausgangspunkt im Finanzwesen findet, die Weltwirtschaft versenken kann. Dieser Text zeigt, was Finanzmärkte sind, wie sie funktionieren und warum sie so störungsanfällig sind. Zudem gilt es, ihre Bedeu­ tungszu­nahme seit den 1980er-Jahren zu erklären, ebenso wie die Gefahren, die aus dieser Entwicklung entstehen. Mögliche A ­ lternativen werden aufgezeigt.

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XINHUA / Action Press / picturedesk.com

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JUSTIN LANE / EPA / picturedesk.com

Frankfurter Börse: Der DAX im Aufwind

Protest gegen die Auswüchse der Finanzmärkte

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Funktion von Finanzmärkten Bevor eine genauere Analyse von Finanzmärkten stattfinden kann, muss man sich ihre grundlegende Funktion vor Augen halten: Finanzmärkte stellen eine Verbindung her zwischen jenen, die Kapital benötigen, und jenen, die im ­Augenblick zu viel davon haben. Das sind die beiden Grundfunktionen des ­Finanzsektors: Einerseits handelt es sich um Einrichtungen, bei denen Unternehmen, Regierungen und Privatpersonen Geld leihen können, um damit ihre Ausgaben zu finanzieren. Andererseits ermöglicht der Finanzsektor die Veranlagung von flüssigen Mitteln, also Geld, für das derzeit keine konsumtive oder investive Verwendung besteht. Zwischen jenen, die Kapital benötigen, und ­jenen, die auf überschüssigen Mitteln sitzen, stehen die „Finanzintermediäre“, die zwischen den beiden Gruppen vermitteln – und die sich dafür natürlich auch bezahlen lassen. Finanzintermediäre sind etwa das Bankensystem, Börsen oder ein Investmentfonds. Ohne Finanzmärkte ist dabei eine moderne Wirtschaft nicht vorstellbar, das beginnt schon mit der Entstehung des industriellen Kapitalismus: Ohne vorangegangene Entwicklung des Bankensystems hätte es wohl keine Industrielle Revolution gegeben. Auch heute ist es kaum möglich, ohne Finanzierung von außen ein Unternehmen zu gründen oder in einem Mittelbetrieb zu investieren. Finanzmärkte dienen dabei aber auch zur Finanzierung von Staaten und Staatsschulden, und gerade in den Jahren nach der Jahrtausendwende für Immobilienkäufe von privaten Haushalten. Finanzmärkte haben im 19. Jahrhundert die Eisenbahnen finanziert, in den 1990er-Jahren Internet-Startups mit Geld überschüttet und in den 2000erJahren Billionen in den amerikanischen, spanischen oder britischen Immobilien­ sektor gepumpt. Auf Finanzmärkten wird dabei entschieden, wer Kapital bekommt und welcher Preis (etwa in der Höhe der Zinsen) dafür bezahlt werden muss. Damit sind Finanzmärkte an der Steuerung einer modernen Marktwirt­ schaft beteiligt: Wofür wird das gesparte Geld verwendet? Welche Inves­ titionen werden ermöglicht? Wer kann sich billig verschulden, wer geht pleite, weil niemand mehr Geld borgt?

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MICHAEL REYNOLDS / EPA / picturedesk.com

Immobilienkrise in den USA

Finanzmärkte entscheiden dabei niemals allein über die Richtung wirt­ schaftlicher Entwicklung, auch in der liberalsten Marktwirtschaft gibt es staatliche Planung, die ein Wort mitredet. Und die Tatsache, dass in einer Marktwirtschaft der Finanzsektor Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen trifft, bedeutet nicht, dass diese Entscheidungen automatisch richtig sind: Die meisten Internet-Startups der 1990er-Jahre haben nie ein vernünftiges Geschäftsmodell besessen und sind inzwischen pleite. Und die Entscheidung, in den USA oder Spanien Millionen von Häusern über Kredite zu finanzieren, war eine der Grundlagen der großen Finanzkrise. „Der Markt hat recht“ – unter diesem Schlagwort ist allerdings seit den 1970erJahren eine weitgehende Liberalisierung der Finanzmärkte vorangetrieben worden. Der Glaube, dass Finanzmärkte die Aufgabe der Zuteilung von Ressourcen grundsätzlich dann am besten regeln, wenn es keinen (oder einen möglichst geringen) staatlichen Eingriff gibt, hat die global entfesselten Finanzmärkte der letzten Jahrzehnte erst ermöglicht. Es ist wohl nicht vermessen zu behaupten, dass sich diese ideologische Annahme als falsch herausgestellt hat. Während zumindest in den Industriestaaten die Wachstumsraten der Wirtschaft seit den 1970er-Jahren abgenommen haben, und in der ganzen Welt die Unterschiede zwischen Arm und Reich größer geworden sind (beides liegt sicher nicht ausschließlich an der Deregulierung der Finanzmärkte), steigt die Schwankungsanfälligkeit des Finanzsektors. Die Zahl von systemischen Finanzkrisen hat seit 1973 deutlich zugenommen. Zwischen dem Zweiten Weltkrieg und bis zum Beginn der 1970er-Jahre gab es staatlich regulierte und relativ stabile Finanzmärkte, praktisch ohne größere Finanzkrisen. Dann folgten – wir präsentieren nur eine Auswahl: Die Schuldenkrise der Entwicklungsländer (Anfang der 1980er), die „Savings and Loans“Bankenkrise in den USA (1980er), skandinavische Bankenkrisen (1990er), große Finanzkrisen in Mexiko, der Türkei (2 Mal), Argentinien und Russland (1990er und 2000er-Jahre), die Asienkrise 1997. Sowie die große Finanzkrise ab 2007, die bei Verfassung dieses Artikels 2011 in ihr fünftes Jahr geht und bis zu diesem Zeitpunkt 13 Millionen Jobs in den Industrieländern vernichtet hat. (Quelle: OECD; zusammenfassende geschichtliche Darstellung: Carmen Reinhart, Kenneth Rogoff: This Time is Different. Princeton 2009)

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Funktion von Finanzmärkten Wenn man private Haushalte, Unternehmen und den Staat zu volkswirtschaftlichen Sektoren zusammenfasst, dann wird üblicherweise der Sektor der Haushalte einen Finanzierungsüberschuss ausweisen, weil die Haushalte in Summe mehr sparen, als sie für den Konsum und für Immobilieninvestitionen ausgeben. Diese überschüssige Sparleistung wird dann – von Finanzmärkten vermittelt – vom Sektor der Unternehmen und dem Staat aufgenommen (die dann ein Defizit der Finanzierung aufweisen). Das ist grundsätzlich vernünftig, da ein moderates staatliches Defizit in einer wachsenden Wirtschaft kein Problem darstellt und die Unternehmen die aufgenommenen Mittel für Investitionen verwenden, die dann in der Regel Einnahmen auslösen, mit denen die Zinsen bezahlt werden können. Dieses Modell funktioniert aber nur mehr mit Einschränkungen. Der Umfang der Finanzmärkte ist seit den 1980er-Jahren rasant gewachsen. Aber trotz dieses Wachstums und der immer größeren Beachtung, die den Börsen in der Öffentlichkeit geschenkt wird, hat die Bedeutung der Finanzmärkte zur Finanzie­ rung von Unternehmensinvestitionen abgenommen. Demgegenüber hat die Eigen­finanzierung der Unternehmen aus Gewinnen und Abschreibungen (Cash-flow) zugenommen. Erklärt werden kann dies mit der schwachen Investitionsdynamik seit Mitte der 1970er-Jahre bei gleichzeitigem Anstieg der Gewinne als Ergebnis neoliberaler Politik (Senkung von Unternehmenssteuern, sinkender Anteil der Löhne an der Wirtschaftsleistung) seit den 1980er-Jahren. Dagegen hat der Finanzierungsbedarf von Haushalten (vor allem zum Kauf von Immobilien, aber auch für Konsumkredite) und der ­Finanzierungsbedarf von Staaten (Staatsverschuldung) deutlich zugenommen. In wichtigen Volkswirtschaften (etwa den USA oder Großbritannien) weist der Unternehmenssektor seit der Jahrtausendwende in der Regel Über­ schüsse aus (nach Investitionen und Gewinnausschüttungen bleibt noch Geld in der Kasse), während im Haushaltssektor ein Finanzierungsdefizit entsteht. Über Finanz­märkte wird damit eine Zunahme der Privatver­ schuldung finanziert.

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SKRIPTEN ÜBERSICHT WIRTSCHafT

PolITIK uNd ZEITGESCHICHTE

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Einführung in die Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftswissenschaften

PZG-1 Sozialdemokratie (in Vorbereitung)

WI-2

Konjunktur

WI-3

Wachstum

WI-4

Einführung in die Betriebswirtschaftslehre

WI-5

Beschäftigung und Arbeitsmarkt

WI-6

Lohnpolitik und Einkommensverteilung

WI-7

Der öffentliche Sektor (Teil 1) – in Vorbereitung

WI-8

Der öffentliche Sektor (Teil 2) – in Vorbereitung

WI-9

Investition

PZG-15 Die christliche Arbeiterbewegung von ihren Anfängen bis zur Gegenwart

WI-10

Internationaler Handel und Handelspolitik

PZG-16 Bildungspolitik

WI-12

Steuerpolitik

WI-13

Bilanzanalyse

PZG-17 Neutralität und europäische Sicherheits­ politik

WI-14

Der Jahresabschluss

WI-16

Standort­, Technologie­ und Industriepolitik

PZG-2 Christliche Soziallehre PZG-3 Die Unabhängigen im ÖGB PZG-4 Liberalismus/Neoliberalismus PZG-5 Consulting PZG-6 Rechtsextremismus PZG-7 Faschismus PZG-8 Staat und Verfassung PZG-9 Finanzmärkte

Die einzelnen Skripten werden laufend aktualisiert.

SoZIalE KomPETENZ

SK-1

Sprechen ­ frei sprechen

SK-5

Moderation

SK-2

Teamarbeit

SK-6

Kommunizieren und Werben mit System

SK-3

NLP ­ ein Überblick

SK-7

Web 2.0

SK-4

Konfliktmanagement

SK-8

Führen im Betriebsrat

Anmeldungen zum Fernlehrgang des ÖGB:

ÖGB-Referat für Bildung, freizeit, Kultur

1020 Wien, Johann-Böhm-Platz 1 • Telefonische Auskunft 01 / 534 44 / 39235 Dw.


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Struktur der Finanzmärkte Der Begriff „Finanzmarkt“ wird gewöhnlich als Oberbegriff für Kapital- und Geldmarkt benutzt. Am Kapitalmarkt werden in der Regel langfristig angelegte private und öffentliche Investitionen finanziert (z. B. über Kredite, Anleihen, Wertpapiere). Der Geldmarkt dient vor allem der kurzfristigen Liquiditätssicherung zwischen den Banken. Der Oberbegriff der Finanzmärkte ist jung und erst seit rund 20 Jahren im Gebrauch. Er signalisiert zum einen, dass die Trennung zwischen Kapital- und Geldmarkt unscharf wird: Kurzfristige Finanzierungen von langfristigen Investitionen nehmen zu, der Geldmarkt steht mittlerweile auch Nichtbanken zur Verfügung. Zum anderen entwickeln Finanzunternehmen eine Vielzahl von neuen „Finanzinstrumenten“ und „Finanzinnovationen“, die keinem der beiden klassischen Märkte zugeordnet werden können: Futures, ­Optionen, Derivate, Notes, Swaps etc. Heute können fünf Teilmärkte des Finanzsektors unterschieden werden: xx Kreditmarkt: Banken vergeben an Unternehmen, Regierungen oder Privatpersonen Kredite, die damit ihre Geschäftstätigkeit (vor-)finanzieren. xx Primärmarkt für Wertpapierfinanzierung: Unternehmen und Regierungen finanzieren sich durch die Ausgabe von Aktien oder die Auflage von Anleihen über die Börse, Finanzunternehmen treten als Vermittler auf. xx Sekundärmarkt für Wertpapierhandel: Handel mit Aktien und Anleihen sowie Papieren mit kurzer Laufzeit (z. B. Notes, Geldmarktpapiere) zwischen Anlegern, die ihr Finanzkapital kurzfristig verwerten möchten. xx Währungsmarkt: Handel mit Währungen zur Abwicklung des internationalen Handels und von Direktinvestitionen (z. B. Kauf von Fremdwährung zur Finanzierung von Importen), aber auch zunehmend Spekulationsmarkt ­(Nutzung kurzfristiger Wechselkursschwankungen). xx Markt für abgeleitete Finanzinstrumente (Derivate): Er dient zum einen zur Absicherung gegen künftige Preisänderungen, zum anderen zur Finanzspekulation mit hohen Gewinnaussichten. Diese verschiedenen Teilmärkte haben sich teils nacheinander, teils gleichzeitig entwickelt und bilden zusammen ein komplexes, unüberschaubares Gemenge. Die Kombination einzelner Teile kann zu der atemberaubenden Akrobatik, den

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3 märchenhaften Gewinnen und den systemgefährdenden Abstürzen führen, die meist im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion um Finanzmärkte stehen. Geld verdienen auf Finanzmärkten: Woher kommt die Finanzmarktrendite? Wenn auf Kapitalmärkten so viel Geld verdient (oder auch verloren) wird: Wo kommt diese Rendite eigentlich her? Wohin verschwindet das Geld, wenn die Kurse fallen? Die Kapitalmarktrendite (die Verzinsung des eingesetzten Kapitals) hat drei Quellen: xx Zinsen: Wenn Geld verborgt wird, gibt es dafür Zinsen. Aktionäre erhalten eine „Dividende“ - einen Anteil am Gewinn des Unternehmens, an dem sie beteiligt sind. Zinsen oder Dividenden sind dabei ein Anspruch auf einen Teil des Einkommens oder den Cash-Flow anderer Wirtschaftsteilnehmer – jener, die sich das Geld ausgeborgt haben. Damit ist natürlich auch ein Risiko ­verbunden. Die Schuldner können ausfallen, dann ist das Geld (ganz oder teilweise) weg. xx Bewertungsgewinne: Wertpapiere (Aktien, Anleihen oder Derivate) können nach der ursprünglichen Ausgabe weiterverkauft werden – es gibt so genannte Sekundärmärkte. Die weltweiten Aktienmärkte durchschritten eine Phase der Kursgewinne von 1982 bis zum Jahr 2000, danach kamen größere Einbrüche (2000-2003, 2008-2009, 2011). Am Sekundärmarkt für Anleihen gibt es jetzt schon seit 1980 Bewertungsgewinne, zumindest was die Staatsschulden der großen Industriestaaten betrifft. Wenn Wertpapiere Bewertungsgewinne erzielen, dann steigt das Finanzvermögen der Wertpapierbesitzer. Fallen die Bewertungen, löst sich dieses Vermögen auf. Es ist nicht so, als wäre jemand mit dem Geld durchgebrannt – im eigentlichen Sinne war da gar kein Geld, sondern einfach die Bewertung eines Vermögensgegenstandes. Diese kann schwanken. xx Glück, Können und Insiderinformationen: Die Summe der eingegangenen Zinsen und Dividenden und die Summe der Bewertungsverschiebungen, ergeben zusammen eine durchschnittliche Kapitalmarktrendite. Es gibt ­ ­Anleger (oder Spekulanten), die Marktbewegungen besser lesen können, Überbewertungen und zukünftige Trends rechtzeitiger erkennen, über Insiderinformationen verfügen (und damit Betrug begehen) oder einfach Glück

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Struktur der Finanzmärkte haben. Diese erzielen dann eine Finanzmarktrendite, die über dem Durchschnitt liegt. Per Definition müssen dabei andere unterhalb dieser Durchschnittsrendite liegen, tatsächlich sind das die meisten. Wenn wir diese Punkte zusammenfassen, dann sehen wir, dass Kapitalmarktrenditen langfristig nicht in den Himmel wachsen können: Bei Punkt 3 verlieren die einen (meist die Kleinanleger und die schwerfälligen Pensionsfonds), was andere gewinnen. Die in Punkt 1 besprochenen Zinsen und Dividenden müssen in der Realwirtschaft erwirtschaftet werden, ihre Summe kann daher nicht dauerhaft schneller wachsen als das BIP - wenn auch durchaus für eine ganze Weile. Und die in Punkt 2 angesprochene Bewertung von Wertpapieren muss sich letztlich auf deren Möglichkeit, Zinsen und Dividenden abzuwerfen, beziehen – und kann daher langfristig auch nicht schneller wachsen als die Wirtschaftsleistung.

Die scheinbare „Entkopplung“ der Finanzmärkte von der Realwirtschaft, ihre Fähigkeit rasant zu expandieren und teilweise atemberaubende Ren­ diten abzuwerfen, erweist sich seit 2007 als Illusion. Der volkswirtschaftliche Sinn von Finanzmärkten ist die Finanzierung re­ alwirtschaftlicher Investitionen. Und nur realwirtschaftliches Wachstum kann eine entsprechende Finanzmarktrendite sichern.

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Caro / Caro / picturedesk.com

XINHUA / Action Press / picturedesk.com

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Frankfurter Bรถrse: Der DAX im Aufwind

Derivatehandel in Singapur

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Kreditmarkt und ­Kreditschöpfung Der Kreditmarkt ist die traditionelle Grundlage und Hauptabteilung der Finanz­ märkte. Kredite sind für Staat, Unternehmen und Haushalte die wichtigste ­Quelle zur Finanzierung von größeren Ausgaben. Für die allermeisten Unternehmen ist der Bankkredit praktisch die einzige Quelle der Außenfinanzierung. Grundlage für die Kreditvergabe ist einerseits die Weitergabe von Ersparnissen, die bei Banken eingezahlt wurden, an Kreditnehmer. Banken fungieren dabei als Dienstleister, die zwischen Sparern und Schuldnern „vermitteln“ und aus der Differenz zwischen den an den Sparern gezahlten Zinsen und den von den Schuldnern erhaltenen Zinsen ihre Kosten abdecken und Gewinn erzielen. Andererseits können Banken durch Kreditschöpfung die Vergabe von Krediten finanzieren. Dies ist ein prinzipiell anderer Vorgang, der die Dynamik des gesamten Bankensystems ausmacht: Bargeld, das bei einer Bank eingezahlt wurde, wird zum größten Teil als Kredit an Schuldner weitergegeben. Dieses Geld landet durch Überweisung an Lieferanten oder Arbeitnehmer wieder auf Bankkonten und dient als Grundlage für die Gewährung neuer Kredite, d. h., vergebene Kredite finanzieren zum Teil erneut Kredite.

❮❯ Dazu ein einfaches Beispiel: Eine Regionalbank im Waldviertel vergibt 100.000 Euro Kredit an einen Bauern. Der lässt dafür ein neues Wirtschaftsgebäude errichten – die 100.000 Euro werden also auf die Bankkonten einer Baufirma überwiesen. Dort müssen sie nicht bleiben, die Baufirma gibt einen Teil als Löhne an die Mitarbeiter weiter und bezahlt Lieferanten, eine der Mitarbeiterinnen gibt ihren Lohn für einen neuen Fernseher aus, so dass sich 500 Euro des Kredits schließlich am Konto eines Elektrohändlers befinden… Egal wie oft dieses Geld noch ausgegeben wird, letzten Endes findet es sich immer auf irgendeinem Konto. Über Kreditvergabe entsteht dadurch neues Geld („Buchgeld“, weil es in Büchern von Banken steht) und die neuen Einlagen können auch neue Kredite finanzieren. Die Geldschöpfung durch Kreditvergabe bedeutet daher letztlich, dass die Banken mehr Geld für Investitionen zur Verfügung stellen können, als zuvor von der

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4 Gesellschaft durch Verzicht auf Konsum angespart wurde. Das heißt, nicht das Sparen ist die Voraussetzung für Investitionen, sondern umgekehrt: Investitionen führen zu einer Steigerung des Volkseinkommens und zu einer Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Sparsumme. Ob Unternehmen investieren, hängt somit nicht von einem zuvor geschaffenen Fonds an Ersparnissen ab, sondern von ihren Absatz- und Gewinnerwartungen. Das gilt zumindest für eine Wirtschaft, in der Unterbeschäftigung herrscht und produktive Kapazitäten ungenutzt sind. Bei Hochkonjunktur, raschem Wachstum und ausgelasteten Kapazitäten kann zu hohe Kreditvergabe die Preise nach oben treiben, wenn die Kredite für Nachfrage sorgen, die nicht mehr befriedigt werden kann. Werden Kredite nicht in der Realwirtschaft investiert, sondern damit in erster Linie Häuser oder Aktien gekauft, steigen die Preise dieser Vermögensgüter. Damit kann Kreditvergabe auch zu einer Blase von Vermögenspreisen führen. Auch eine solche Vermögenspreisblase finanziert sich dabei selbst: Werden über­ teuerte Immobilien auf Kredit gekauft, schafft dieser Vorgang neue Einlagen im Banksystem und damit die Grundlage für noch mehr Kredite für noch teurere Immobilien. Beim Platzen einer solchen Blase gibt es natürlich ernste Konsequenzen (mehr dazu später). In den entwickelten kapitalistischen Ländern besteht der weitaus größte Teil der in der Wirtschaft umlaufenden Zahlungsmittel aus Buchgeld und nur ein sehr geringer Teil aus Bargeld. Im Mai 2011 befanden sich im Euroraum Banknoten für 834 Mrd € im Umlauf, die Bilanzsumme der Europäischen Zentralbank be­lief sich auf 1.900 Mrd € - im Wesentlichen ist das die Summe des Geldes, dass direkt durch die Zentralbank geschaffen wird. Durch Kreditschöpfung ist dadurch aber eine weit größere Geldmenge entstanden: Werden nur Bargeld und jederzeit verfügbare Sichteinlagen (etwa ein Kontoguthaben) gezählt, kommt man auf 4.708 Mrd €. Verwendet man eine weitere Definition des Geldes, und zählt etwa auch Anleihen mit einer Laufzeit bis zu zwei Jahren dazu, kommt man auf 9.675 Mrd. (Quelle: ECB, Geldmengenaggregate M1 und M3) Die Grenzen der Kreditschöpfung werden in der Theorie durch zwei Faktoren gezogen: erstens durch den Umfang, in dem Bankkunden ihre Guthaben als Bargeld abheben, und zweitens durch das Ausmaß, in dem Banken verpflichtet sind, einen Teil der auf Konten eingezahlten Beträge als „Mindestreserve“ bei der

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Kreditmarkt und ­Kreditschöpfung Zentralbank zu hinterlegen, d. h. als Reserve für plötzliche Forderungswellen. In der Realität spielen beide Faktoren heute eine untergeordnete Rolle: Durch die Einführung von Kreditkarten und dem bargeldlosen Zahlungsverkehr nimmt die Bedeutung des Bargeldes immer weiter ab. Sollte es doch zu einem Mehrbedarf an Bargeld kommen, wäre die Zentralbank wohl gezwungen, die entsprechende Menge zur Verfügung zu stellen. Auch die „Mindestreservesätze“, die die Zentralbank den Geschäftsbanken verordnet, sind in der Regel so niedrig, dass sie heute keine Bedeutung mehr haben, weil die Geschäftsbanken auch von selbst eine gewisse Liquidität halten (also nicht alle Mittel sofort als Kredit weiterleiten). Nur in einigen Ländern wird versucht, eine unkontrollierte Expansion der Kreditmenge durch das Anheben von Mindestreservesätzen zu verhindern. Etwa in der Türkei, besonders aber in China, wo die Mindestreservesätze im März 2011 bei 20,5% liegen. (Quelle: Peoples Bank of China) Das bedeutet, dass Banken von aufgenommenen Einlagen eben diese 20,5% als Liquidität halten müssen (bei der Zentralbank deponieren), und nur die anderen 79,5% als Kredit weiterleiten dürfen. In der Euro-Zone, aber praktisch auch in allen andern entwickelten Volkswirtschaften, wird die unkontrollierte Kreditexpansion von zwei Faktoren ein­ geschränkt: xx Zum Ersten sind das die Risikoabwägungen der Banken: Sollten Kredite ausfallen, möchten die Halter von Einlagen natürlich trotzdem ihr Geld zurück – die Bank macht Verluste und diese müssen dann von jenem Kapital aufgefangen werden, das der Bank selbst gehört - dem „Eigenkapital“. Vor allem in wirtschaftlich schlechten Zeiten sind Banken daher oft nicht gewillt, Kredite zu vergeben, aus Angst, ihr Geld nicht mehr zurückzuerhalten. Am Höhepunkt der Finanzkrise (2008 und 2009) haben deswegen gerade mittelständische Unternehmen über eine „Kreditklemme“ geklagt, die ihnen Inves­ titionen schwierig machen würde. In wirtschaftlich besseren Zeiten sind Banken bereit, so viele Kredite wie irgend möglich zu vergeben. Und hier werden sie nur von staatlichen regulatorischen Vorschriften ­gebremst. So zwingt der Staat das Bankensystem, jeden Kredit mit Eigen­ kapital zu unterlegen. Vereinfacht gesprochen darf nicht nur fremdes Geld

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4 als Kredit vergeben werden, ein Teil der verborgten Summe muss der Bank selbst gehören. Viel ist das übrigens nicht: Vor der Finanzkrise waren lediglich 2% echtes Eigenkapital gefordert. Zusätzlich wurden viele Positionen ganz aus der Bilanz ausgelagert – um noch weniger Eigenkapital ­halten zu müssen. Durch das „Basel III“-Regelwerk sollen es jetzt immerhin 5 bis 7,5% werden. Anfang des 20. Jahrhunderts waren 20% Eigenkapital üblich. Diese Regulierung gilt aber in erster Linie für den Sektor der Geschäftsbanken. Tatsächlich existiert aber auch so etwas wie ein Sektor von „Schattenbanken“, die noch weniger Regulierung kennen: Investmentvehikel, die von Banken aus der Bilanz ausgelagert wurden. Investmentbanken. Spezielle Hedge-Fonds, Versicherungen… Auch wenn die Größe dieses Sektors der Schattenbanken seit der Finanzkrise gefallen ist, entspricht in den USA ihre Bilanzsumme in etwa jener der voll regulierten Geschäftsbanken. (Quelle: Federal Reserve) xx Die zweite Möglichkeit, die Kreditvergabe zu beeinflussen, läuft über den Zinssatz. Gerade kurzfristige Zinsen sind von der Zentralbank eines Währungsraums relativ leicht zu verändern, mit etwas größerer Anstrengung können auch langfristige Zinssätze von der Notenbank verschoben werden. Zinsen werden gesenkt, um die Aufnahme von Krediten leichter zu machen, damit zusätzliche Investitionen und auch zusätzliche Konsumausgaben zu ermöglichen und so die Wirtschaft zu beleben. In der großen Finanzkrise haben etwa die US-amerikanische Federal Reserve oder die Europäische Zentralbank kurzfristige Zinsen nahe null gedrückt. Wenn die Notenbank ein „Überhitzen“ der Wirtschaft fürchtet, zu viele Investitionen, zu hohen Konsum und damit verbunden Gefahren einer Inflation (steigende Preise und Geldentwertung), dann werden Zinsen erhöht, die Kreditaufnahme wird schwieriger, Investitionen und Konsum werden gedämpft. Das Problem der letzten Jahre ist es, dass dieser Steuerungsmechanismus nur mehr teilweise funktioniert. Lange Niedrigzinsphasen haben die Wirtschaft nur unzureichend belebt, dafür aber zur Bildung von Vermögenspreisblasen beigetragen.

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Wertpapiermarkt: Finan­ zierung abseits der Banken Anstatt Bankkredite aufzunehmen, können sich Unternehmen auch an den Wertpapiermärkten verschulden, d. h. externe Mittel direkt bei den Sparern beschaffen, indem sie Aktien oder Schuldscheine verkaufen. Dadurch werden Sparer zu Miteigentümern oder direkten Gläubigern der Unternehmen. Voraussetzung ist, dass die privaten Anleger ausreichend Vertrauen in die Schuldner haben. Dies ist vor allem beim Staat und bei großen, wirtschaftlich starken Unternehmen der Fall. Der Handel mit Wertpapieren findet traditionell an ­Börsen statt, in den letzten Jahren hat deren Bedeutung aber zunehmend ­abgenommen.

Wertpapierbörsen Ein großer Teil des weltweiten Wertpapierhandels wird auf 52 Börsen abgewickelt, die Mitglieder der 1961 gegründeten World Federation of Exchanges (WFE) sind. Im Bereich des Finanzmarktes können drei Hauptgruppen von Börsen unterschieden werden: Aktienbörsen, Börsen für festverzinsliche Wert­ papiere und Termin- oder Derivatbörsen. Die meisten Börsen sind rechtlich selbstständige Gesellschaften, die überwiegend ihren Mitgliedern und Nutzern gehören: Maklern, Händlern, Wertpapierhäusern und Banken. Alle Börsen unterliegen einer öffentlichen Regulierung, meist durch staatliche Aufsicht über ein eigenständiges Selbstverwaltungsregime. In der EU gibt es mehrere Richtlinien, die Mindestanforderungen für den Wertpapierhandel festlegen. Ein wesentliches Merkmal des weltweiten Börsenhandels ist die starke regionale Konzentration in den verschiedenen Marktsegmenten: xx Aktienhandel: Der größte Börsenbetreiber ist die NYSE-Euronext, die Börsen in New York, Amsterdam, Mailand und Paris betreibt. Insgesamt werden dabei 8000 Titel gehandelt. Die größte Einzelbörse ist die Börse in New York (NYSE Euronext) mit einer Marktkapitalisierung von 13.394 Mrd. $ (2010). Auf den Plätzen folgen die Technologiebörse NASDAQ, die Börse Tokyo und als Nummer vier die Aktienbörse in London (alle zwischen 3 und 4 Billionen $ Marktkapitalisierung im Jahr 2010).

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Wertpapierbörsen Aktien

5.1 5.2

xx Anleihen: Die weltgrößte Börse für Anleihen und andere (kurzfristige) Schuldpapiere ist die BME in Madrid mit einem Umsatz von 10.834 Mrd. US-$ (2010). Nummer zwei ist die Börse in London, Nummer drei ein Zusammenschluss skandinavischer Börsen, welche wiederum von der NASDAQ kontrolliert werden. xx Terminbörsen: Hier findet Handel mit Derivaten statt. Die größte Terminbörse ist die Chicago Mercantile Exchange (CME), zu der auch seit 2007 die Chicago Board of Trade (CBoT) gehört. In Europa gehören die deutschschweizerische EUREX und die London International Financial Futures Exchange (LIFFE) zu den wichtigsten. Der größte Teil des Derivatehandels findet aber nicht mehr an Börsen statt. (Quelle: WFE)

Aktien Die Ausgabe von Aktien ist uralt und mit dem Aufstieg des europäischen Kapitalismus verbunden. Der Kauf einer Aktie sichert dabei einen Anteil an einem Unternehmen – mit einer entsprechenden Gewinnbeteiligung. Unternehmensgewinne können teilweise (oder auch vollständig) an die Aktionäre ausgeschüttet werden, man spricht von einer „Dividende“. Die Ausgabe von Aktien kann dabei zur Aufnahme von Kapital verwendet werden. Wenn ein Unternehmen an einer Börse frische Aktien ausgibt oder das erste Mal einen Börsengang unternimmt („IPO: Initial public offering“), dann spülen die Verkaufserlöse frisches Kapital in die Kassa. Für die ursprünglichen Eigentümer ist das freilich mit dem Nachteil verbunden, dass sie jetzt einen geringeren Teil des Unternehmens besitzen, ihre Anteile werden verwässert. Gegenüber einem Bankkredit oder der Ausgabe einer Anleihe hat die Aktienausgabe den Vorteil, dass für das aufgenommene Kapital keine Zinsen fällig werden – es handelt sich um echtes Eigenkapital. Die neuen Besitzer wollen natürlich an Gewinnen beteiligt werden und können über die Verwendung dieser Gewinne in der jährlichen Versammlung der Aktionäre auch mitentscheiden. Aber in einer wirtschaftlich schwierigen Situation

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Wertpapiermarkt: Finan­ zierung abseits der Banken kann eine Dividende auch einmal ausfallen, während Banken nicht auf ihre Zinsen verzichten. Die Ausgabe von Aktien kann natürlich auch ein Weg sein, wie die ursprünglichen Eigentümer ihre Anteile an einem Unternehmen ganz oder teilweise verkaufen können. 2010 wurden international 1.012 Mrd. $ Kapital durch die Ausgabe von neuen Aktien aufgenommen, 300 Mrd. davon entfielen auf neue Börsengänge, der Rest auf Kapitalerhöhungen bereits börsennotierter Aktiengesellschaften. Angesichts einer weltweiten Marktkapitalisierung von 54.000 Mrd. $ (Ende 2010) ist das kein gewaltiger Wert. Man muss außerdem bedenken, dass auch Flüsse in die andere Richtung stattfinden, etwa bei Dividenden, oder wenn ein Unternehmen eigene Aktien auf der Börse zurückkauft. Gerade für die Finanzierung riskanterer Unternehmen, etwa im Bereich neuer Technologien, haben Börsengänge aber eine große Bedeutung. Eine Aktie kann gekauft und gehalten werden, oder aber es wird versucht, das Papier weiterzuverkaufen, möglichst mit Gewinn. Das ist der so genannte ­„Sekundärmarkt“, auf dem Wertpapiere den Besitzer wechseln. Die Börsenkurse, die Tag für Tag in den Nachrichten präsentiert werden, bilden sich auf dem Sekundärmarkt – denn der Preis einer Aktie ist nicht fixiert. Wollen viele kaufen, dann steigt er; wollen alle verkaufen, kann er blitzschnell verfallen.

Anleihen und Verbriefungen Bei der Ausgabe von Anleihen verschulden sich Unternehmen und vor allem Staaten unmittelbar bei Anlegern. Eine Anleihe ist ein Schuldschein mit einer fixierten Laufzeit (etwa zwei, fünf, zehn oder 30 Jahre) und meist auch einem fixen Zinssatz. Je länger die Laufzeit und je höher das (wahrgenommene) Risiko eines Ausfalls des Schuldners, desto höher der Zinssatz. Die Ausgabe und der Handel mit Staatsanleihen war in der frühen Neuzeit der Beginn der modernen Finanzmärkte. Die Ausgabe von Anleihen steht dabei nur größeren Spielern auf den Finanzmärk­ ten offen, denn nur bei diesen können Anleger das Ausfallrisiko einschätzen. Sehr häufig verlangen etwa Pensionsfonds auch die Prüfung der Schuldner durch eine Ratingagentur und verborgen dann nur Geld an Schuldner mit hoher

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Anleihen und Verbriefungen

5.3

Bonität. Kleinere Kreditnehmer sind auf Bankkredite angewiesen, wobei die ­Kreditabteilung der Bank eine Bonitätsprüfung durchführt. In den letzten Jahren spielt auch das Verpacken von traditionellen Bankkrediten zu einem handelbaren Wertpapier eine immer größere Rolle. Das Prinzip gibt es bei deutschen Pfandbriefen schon sehr lang, seit den 1980er-Jahren, besonders aber im neuen Jahrtausend ist das Verbriefungsgeschäft („Securiti­sation“) aber explodiert – um in der Finanzkrise zusammenzubrechen und sich seither nur langsam wieder zu beleben. Das hat mit den großen Immobilienblasen zu tun, deren Finanzierung zunehmend in das Zentrum der Aktivität der Finanzmärkte gerückt ist – und deren Platzen seit 2007 eine gewaltige Katerstimmung verbreitet. Die geschaffenen Papiere tragen Namen wie ABS (Asset Backed ­Securities), MBS (Mortgage Backed Securities) oder CDO (Collateralized Debt Obligation). Das Verbriefen funktioniert am ehesten mit Hypothekarkrediten, weil diese mit Immobilien besichert sind, die auch bei Ausfall des Schuldners einen gewissen Wert darstellen. Es wurden aber auch Kreditkartenschulden, Autokredite oder Darlehen für Studierende verbrieft. Da die Käufer des Papiers die individuellen Kredite natürlich nicht prüfen können, ist in so einem Fall der Stempel einer Ratingagentur unabdingbar. Banken hat die Verbriefung den Vorteil gebracht, Kredite rasch wieder aus den Büchern zu bekommen, um somit neue Kredite vergeben zu können – und an den Gebühren kräftig zu verdienen. Die Probleme dabei sind allerdings gewaltig. In einem CDO werden etwa unterschiedliche Kreditbündel zusammengefasst, in unterschiedliche Tranchen eingeteilt, wobei die nachrangigen Tranchen (die auch die höchsten Zinsen abwerfen) das größte Ausfallrisiko zu tragen haben. Für vorrangige Tranchen gab es vor der Finanzkrise das begehrte AAA-Rating einer Ratingagentur. Das Problem war ein Doppeltes: Einerseits wurde das Ausfallrisiko von den Rating­agenturen viel zu niedrig eingeschätzt – später sprachen die Banken bei zuvor angeblich sicheren Wertpapieren von „Giftmüll“. Andererseits sind die ­Papiere so komplex, dass die Verbindung zwischen Kreditnehmer und Gläubiger praktisch zerschnitten ist. Das macht eine Restrukturierung von Schulden fast unmöglich.

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6

Der Sekundärmarkt für Wertpapiere Börsen sind nicht nur Einrichtungen, auf denen sich Unternehmen und Regierungen Finanzmittel beschaffen können. Sie sind gleichzeitig Märkte, auf denen mit Wertpapieren gehandelt wird. Beide Funktionen hängen zwar zusammen, sie sind aber keineswegs miteinander identisch. Während früher die Finanzierungsfunktion im Vordergrund stand, sind die modernen Finanzmärkte vom Finanzinvestment als treibender Kraft geprägt. Dieser Wechsel hat Struktur und Funktionsweise von Wertpapiermärkten wesentlich verändert und zu dem geführt, was oft als „Herrschaft der Finanzmärkte“ bezeichnet wird. Dadurch, dass Aktien und Anleihen am Wertpapiermarkt ge- und verkauft werden können, werden auch 30-Jahres-Anleihen zu liquiden Wertpapieren. Die Zeitperspektive zwischen realer Investition und ihrer Finanzierung entkoppelt sich. Der Geldgeber ist nicht vom Risiko einer bestimmten Investition abhängig und daher eher bereit, sein Geld bereitzustellen. Sein Risiko ist lediglich auf ein Sinken der Verkaufspreise für seine Aktien oder Anleihen begrenzt. Diese Kapital mobilisierende Wirkung von Wertpapiermärkten ist eine gesellschaftlich vorteilhafte Funktion. Die tatsächliche Liquidität von Finanzanlagen hängt wesentlich von Umfang und Situation auf den Wertpapiermärkten ab. Je größer der Markt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass angebotene Papiere auch auf Nachfrage stoßen. Seit den 1990er-Jahren trat die Handelsfunktion der Wertpapiermärkte in den Vordergrund. Der weltweite Börsenhandel entsprach im Jahr 1980 nur einem Zehntel des Börsenwerts aller weltweit registrierten Aktiengesellschaften, heute übertrifft der jährliche Börsenumsatz die Marktkapitalisierung. Ein sehr ähnliches Bild zeigt sich auch bei den Anleihen. (Quelle: WFE). Tatsächlich sind die heutigen Umsätze noch höher, denn im Gegensatz zu den 1980er-Jahren erfolgt auch Aktienhandel zunehmend außerbörslich über elektronische Plattformen. Der Handel mit Aktien und Anleihen hat grundsätzlich eine wichtige Funktion für die Finanzierung wirtschaftlicher Aktivitäten: Er erlaubt es, dass das Kapital, das in langfristige Projekte (z. B. Infrastrukturinvestiti­ onen, Fabrikanlagen) gesteckt wurde, für den Geldgeber unabhängig von der Laufzeit oder dem Erfolg des jeweiligen Projekts verfügbar ist.

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6 Die Liquidität der Wertpapiermärkte fördert die Bereitschaft, Kapital in Wertpapieren anzulegen, sie führt aber auch zu Instabilitäten. Während es für ein Unternehmen nicht möglich ist, sein physisches Kapital kurzfristig zwischen verschiedenen Anlagemöglichkeiten hin- und herzuschieben, ist dies für Finanzkapitalbesitzer kein Problem. In diesem Zusammenhang ist der extrem verkürzte Anlagehorizont der letzten Jahre ein Problem geworden. Aktien werden im Schnitt immer kürzer gehalten. Durchschnittswerte können dabei ein wenig täuschen, aber wenn wir im Jahr 1980 eine durchschnittliche Haltefrist einer Aktie von 10 Jahren annehmen (eine sehr grobe Ableitung aus den obigen Angaben zu Marktkapitalisierung und ­Börsenumsatz), dann kommen heute oft auch strategische Investoren nicht mehr auf solche Werte. Hedgefonds oder Pri­ vate-Equity-Gesellschaften (die „Finanzheuschrecken“ der öffentlichen Debatte) haben Anlagehorizonte unterhalb dieser Frist. Innerhalb von wenigen Jahren wollen sie eine rasche Steigerung des Börsenwerts, um sich danach wieder zurückzuziehen. Wenn die Geschäftsführung einer Aktiengesellschaft einer solche Gruppe von Eigentümern die Frage stellt, ob man heute investieren soll, um in 10 und 20 Jahren die Früchte zu ernten – oder ob statt dessen eine sofortige Sonderdividende gewünscht wird: Dann ist die Antwort klar, alle schreien nach dem Geld. Die Orientierung läuft in erster Linie auf die nächsten Quartalszahlen, danach auf den Jahresprofit. Eine Studie der Bank of England zeigt, dass ein 30 Jahre in der Zukunft liegender Cash-flow durch eine heutige Investition (von einem neuen Flugzeugmodell oder einem Kraftwerk kann das durchaus erwartet werden) für den Wert einer Aktie kaum Bedeutung hat. Solche Investitionen werden daher oft verworfen. (Andrew Haldane, Richard Davies: The Long Short, Bank of England Publications 2011) Nicht nur Hedgefonds machen Probleme, die Finanzmärkte werden allgemein schwankungsanfälliger: Automatische Algorithmen beginnen bei Kursverlusten sofort zu verkaufen, wobei der automatisierte Handel in vielen Ländern schon 50 % der Aktienumsätze ausmacht. Solche Handelssysteme lösten auf der New Yorker Börse am 6. Mai 2010 einen Verlust von neun Prozent innerhalb von ein paar Minuten aus. Dazu kommen Total Return Fonds und Kleinanleger, die ebenfalls jeden Verlust vermeiden wollen und in Kursrutsche hineinverkaufen.

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Der Sekundärmarkt für Wertpapiere Oder Leerverkäufer, die von sinkenden Kursen profitieren und dafür oft gezielt Gerüchte streuen: Euphorie und Panik, die Börsen seit jeher geprägt haben, scheinen sich in den letzten Jahren immer schneller abzulösen und produzieren gewaltige Kursschwankungen. Damit steigt das Geschäftsrisiko für die produzierenden Unternehmen, die sich über den Wertpapiermarkt finanzieren. Sie müssen sich nicht nur um die zukünftigen Gewinne ihrer Investitionen bemühen, sondern auch darum kümmern, dass die Geldgeber ihr Geld nicht plötzlich – aus möglicherweise gar nicht von den betroffenen Unternehmen zu verantwortenden Gründen – abziehen. Das würde die Situation der Unternehmen zwar nicht unmittelbar beeinträchtigen, da sie den monetären Gegenwert ihrer Aktien oder Anleihen unwiderruflich erhalten und in der Regel für Investitionen verwendet haben. Massive Aktienverkäufe und Anleihenverkäufe würden aber zu Kursverlusten führen, die eine weitere Finanzierung viel schwieriger und teurer machen. Außerdem steigt die Gefahr, dass ein Konkurrenzunternehmen das eigene Unternehmen billig aufkaufen und vom Markt verdrängen kann. Liquide Wertpapiermärkte zwingen Aktiengesellschaften daher zu permanenter Kurspflege. Im Fall von Kriseneinbrüchen versiegt Finanzierung sofort und für alle, die nicht mit der höchsten Bonität ausgestattet sind (Staaten wie die USA oder Deutschland). Bei Ausbruch von Turbulenzen im August 2011 konnte in Europa in diesem Monat keine einzige riskantere Unternehmensanleihe auf den Finanzmärkten platziert werden.

Das permanente Schielen auf den Aktienkurs bedeutet ferner, dass Mit­ arbeiter und Kunden für die Entscheidungen eines Unternehmens keine Rolle mehr spielen. Dieser Vorrang des kurzfristig orientierten Sharehol­ der-Values kann leicht zu Lasten langfristiger strategischer Weichenstel­ lungen gehen, führt zu tendenzieller Unterinvestition und steigert den Druck auf die Mitarbeiter.

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Derivate

6.1

Der am schnellsten wachsende und hektischste Teil der internationalen Finanzmärkte ist der Markt für Derivate. Nach der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich existieren im März 2011 offene börsengehandelte Futures mit einem Nennwert (notional amount) von 27 Billionen $, börsengehandelte Optionen mit einem Nennwert von 57 Billionen $ und OTC Derivate (Over The Counter – nicht börsengehandelt) mit einem atemberaubenden Nennwert von 601 Billionen $. 601.000 Milliarden entsprechen etwa dem zehnfachen der weltweiten Wirtschaftsleistung. Verblüffend ist die Entwicklung: So stand der Nennwert der OTC Derivate 2004 erst bei 220.000 Mrd $, 1998 waren es 65.000 Mrd. $, 1992 10.000 Mrd. und 1987 1.600 Mrd. Der Marktwert liegt im März 2011 bei 21.148 Mrd. $ - etwas weniger atemberaubend, aber immer noch bei ein Drittel der weltweiten Wirtschaftsleistung. Während der Nennwert die Summe der durch Derivate möglichen Zahlungsverpflichtungen beschreibt, ist der Marktwert jener Preis, zu dem die Derivate selbst gehandelt werden. Ein Beispiel: Wer am 5. Juli 2011 einen Credit Default Swap (CDS) auf 1 Mio € italienische Staatsschulden gekauft hat, hat dafür € 19.400 bezahlt. Bis zum 11. Juli ist der Marktpreis des Credit Default Swaps auf € 30.000 gestiegen – man hätte das Papier also mit Gewinn weiter verkaufen können. Würde Italien Pleite gehen, dann werden 1 Mio. ausbezahlt – von demjenigen, der den CDS ursprünglich ausgegeben hat. Eine Million Euro: Das ist der Nennwert des Kreditderivats, 19.400 sein Marktwert. Als Derivate werden im Allgemeinen solche Finanzinstrumente bezeichnet, deren eigener Wert aus dem Marktpreis bzw. einem Index von einem oder mehreren originären Basisinstrumenten (Aktienkurse etc.) abgeleitet ist. Sie gründen sich erstens auf Termingeschäfte, beziehen sich also auf Ereignisse in der ­Zukunft. Termingeschäfte werden – zweitens – dann zu Derivaten, wenn die Ansprüche und Verpflichtungen aus diesen Geschäften selbst in Wertpapierform gebracht und gehandelt werden. Käufer von Derivaten schließen keinen Vertrag über ein Geschäft in der Zukunft, sondern sie kaufen einen Anspruch für die Zukunft, der vor Fäl­ ligkeit auch weiterveräußert werden kann.

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6

Der Sekundärmarkt für Wertpapiere Der Zweck solcher Geschäfte liegt drittens darin, entweder bestimmte Erwartungen an Einkommen abzusichern (Hedging) oder von der Unsicherheit über die Zukunft zu profitieren (Spekulation) (siehe „Grundarten der Finanzspeku­ lation“). Derivate haben sich aus dem Bemühen zur Absicherung von Einkommen aus dem Handel mit Gütern entwickelt, deren Preise stark schwanken und deren Herstellung oder Beschaffung zeitaufwändig ist, wie z. B. Rohstoffe, Getreide, Vieh. Produzenten und Verkäufer möchten sich gegen das Risiko absichern, dass die Preise zwischen Beginn und Ende der Produktion sinken, Einkäufer möchten sich vor unerwarteten Preissteigerungen schützen. Diese gegenläufigen Risiken lassen sich dadurch ausschließen, dass Verkäufer und Käufer einen Kaufvertrag im Voraus schließen, in dem Menge, Preis und (künftiger) Zeitpunkt des Handels festgelegt sind (Termingeschäft). Der Ursprung der Derivate ist eigentlich der Erwerb einer Versicherung.

Die vier Grundarten der Finanzspekulation xx Einfache oder naive Spekulation Der Spekulant kauft mit eigenem Kapital ein Wertpapier in der Erwartung, dass dessen Preis steigt. Wenn diese Erwartung zutrifft, kann er das Papier mit Gewinn verkaufen. Seine Gewinnrate (Rendite: Gewinn in Prozent des eingesetzten Kapitals) entspricht der Kurssteigerung minus der Transaktions­ kosten (Kaufgebühr, Verkaufsgebühr, Depotgebühr) in Relation zum Kaufpreis des Wertpapiers. Kommt es dagegen nicht zum Kursanstieg, macht der Spekulant einen Verlust in Höhe der Kursdifferenz plus der Transaktionskosten. xx Erste Variante der hebelverstärkten Spekulation Der Spekulant nimmt einen Kredit auf und setzt ihn zum Kauf der Papiere ein, von denen er eine Kurssteigerung erwartet. Wenn die Kurssteigerung (abzüglich Transaktionskosten) größer ist als der für den Kredit zu zah­ lende Zins, macht er Gewinn. Der Zins hängt ab vom Zinssatz für den Kredit und der Kreditlaufzeit, d. h. von dem Zeitraum, innerhalb dessen die Kurssteigerung stattfindet (Spekulationsperiode). Je kürzer dieser Zeitraum ist,

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Die vier Grundarten der Finanzspekulation

6.2

desto geringer ist der zu zahlende Zins und desto höher der Gewinn. Ist der Kredit inklusive Zins erst nach Ablauf der Spekulationsperiode zu zahlen, ist die Rendite unendlich, da der S­ pekulant kein eigenes Kapital eingesetzt hat. Sinkt der Kurs, macht der Spekulant einen Verlust in Höhe der Kursdifferenz plus Transaktionskosten plus ­Kreditzinsen. xx Zweite Variante der hebelverstärkten Spekulation Der Spekulant kauft mit seinem Eigenkapital nicht das Papier, sondern eine sehr viel größere Zahl von Call-Optionen. Bei dieser Option erwirbt er das Recht, zu einem künftigen Zeitpunkt jene Papiere zu kaufen, von denen er einen Kursanstieg vermutet – und zwar zum derzeitigen Kurs. Er muss diese Option aber nicht einlösen. Wenn der Kurs tatsächlich wie erwartet steigt, löst er die Option ein und macht für jedes Papier, das er zum Ausgangspreis kaufen und sofort wieder verkaufen kann, einen Gewinn. Sein Gesamtgewinn hängt von der Zahl der P­ apiere und vom Kaufpreis (Gebühren) der Call-Optionen ab, die meist einen bestimmten Prozentsatz des Ausgangspreises der Papiere ausmachen. Die Rendite ist das Verhältnis von Nettogewinn zum Kaufpreis der Call-Optionen. Steigt der Preis der Papiere nicht, so braucht der Spekulant seine Option nicht einzulösen, sein Verlust ist auf die gezahlten Gebühren für die Call-Optionen beschränkt. xx Doppelt hebelverstärkte Spekulation Anstelle von Eigenkapital wird ein Kredit für den Kauf der Call-Optionen eingesetzt. Im Fall eines Kursanstiegs ist der Nettogewinn die Kursdiffe­ renz mal der gehandelten Papiere abzüglich der Gebühren für die CallOptionen und abzüglich der Kreditzinsen. Die Rendite ist unendlich, da kein Eigenkapital eingesetzt werden musste. Bei Ausbleiben eines Kursanstiegs ist der Verlust gleich der Summe aus Kaufpreis (Gebühren) der Call-Optionen und Kreditzinsen. Mit Hilfe von Put-Optionen kann der Spekulant in gleicher Weise auch auf fallende Kurse spekulieren: Mit einer Put-Option erwirbt er das Recht, zu einem künftigen Zeitpunkt Wertpapiere zu jenem Preis verkaufen zu dürfen, der zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses gilt. Fallen die Kurse, so kann er die Papiere billiger einkaufen und sofort teurer weiterverkaufen und macht so einen Gewinn.

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Der Sekundärmarkt für Wertpapiere Diese Termingeschäfte zogen sehr schnell einen Geschäftszweig nach sich, der darauf abzielt, von eben jenen Preisschwankungen zu profitieren. Dies ist die Spekulation. Spekulanten schließen Termingeschäfte ab, ohne selbst die Produkte herzustellen oder zu verwenden. Als Terminkäufer setzen sie darauf, dass die Preise zwischen dem Zeitpunkt des Vertragsabschlusses und der Fälligkeit des Vertrags über den vereinbarten Preis steigen, weil sie dann die zum vereinbarten Preis gelieferte Ware sofort mit Gewinn wieder verkaufen können. Terminverkäufer setzen dementsprechend auf fallende Preise. Entwickeln sich die Preise gegen die Erwartungen der Spekulanten, machen diese allerdings Verluste. Das ist in der Landwirtschaft eine seit langem bestehende Spekulationsform, die schon für den holländischen Tulpenhandel im 17. Jahrhundert nachgewiesen ist. Der heute riesige Markt für Derivate entwickelte sich jedoch erst in den 1970erund 1980er-Jahren, und er hat sich in vielfacher Hinsicht von den Anfängen entfernt. Sowohl was die Gegenstände, die Art und Abwicklung des Handels als auch was den Umfang betrifft. Heute bezieht sich nur ein kleiner Teil des Derivathandels auf stoffliche Gegenstände, die ganz überwiegende Masse betrifft Finanzprodukte: xx Übertragbare Finanzvermögen wie Währungen, Aktien, Anleihen, kurzfris­ tige Wertpapiere, Ansprüche auf Zinszahlungen, Kreditrisiken und überhaupt alle finanziellen Gegenstände, auf die Eigentumsanspruch bestehen kann. xx Künstliche (synthetische) Finanzprodukte wie z. B. Aktienkurse, Aktien­ indizes, Zinssätze, Renditedifferenzen, Kursdifferenzen etc. Den Deutschen Aktienindex (DAX) kann man nicht besitzen, also auch nicht verkaufen oder kaufen. Dennoch kann man einen Terminkontrakt auf den Kauf des DAXIndex schließen. Derivatgeschäfte sind also nichts anderes als Wetten darüber, ob ein be­ stimmtes Ereignis eintritt. Ursprünglich als Versicherung gedacht, macht die explosionsartige Entwicklung der Derivate die Finanzmärkte instabiler und weniger transparent: Heute ist es kaum mehr nachzuvollziehen, wel­ che Risiken von Finanzmarktakteuren eigentlich gehalten werden.

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Xinhua / Eyevine / picturedesk.com

Der Spekulant George Soros, geb. 1930

Bis Ende der 1970er-Jahre waren die USA der einzige Platz für Finanztermin­ geschäfte. In den 1980er-Jahren wurden zahlreiche Finanzterminbörsen in ­Europa gegründet. In den 1990er-Jahren kam es zu einem Konzentrationsprozess: deutsche und Schweizer Terminbörsen sowie französische und spanische schlossen sich zusammen. Heute existieren etwa 30 bis 40 Terminbörsen. Der Handel an den Terminbörsen ist standardisiert, d. h. die Verträge haben bestimmte Größen, Laufzeiten und Gebühren. Das erleichtert den Handel, weil er sich auf eine bestimmte Stückzahl von Finanztiteln bezieht, deren Ausstattung feststeht. Während ihrer Laufzeit werden börsengehandelte Derivate vielfach umgeschlagen (weiterverkauft). Börsengehandelte Derivatgeschäfte sind jedoch die Ausnahme. Mehr als vier Fünftel des Derivathandels werden außerhalb von Terminbörsen, „over the counter“ (OTC) abgewickelt. Bei OTC-Geschäften handeln die Partner – von denen einer in der Regel eine Bank ist – alle Konditionen frei aus. Risiko wie Gewinnchancen sind größer. Die häufigsten OTC-Derivate sind Zinsinstrumente – mit einem Nennwert von über 400.000 Mrd. $ im Dezember 2010. Der Grund dafür ist, dass in Zeiten, in denen Kredite zunehmend mit variablen Zinssätzen ausgestattet sind, Kreditnehmer sich gegen steigende und Kreditgeber gegen fallende Zinsen absichern und Spekulanten auf Zinsbewegungen wetten. Die gefährlichsten Derivate heißen CDS (Credit Default Swap). Von George Soros, dem möglicherweise berühmtesten Spekulanten der Welt, wurden sie einmal als „Massenvernichtungswaffen“ bezeichnet. In etwa seit der Jahrtausendwende kann man sich mittels CDS gegen den Ausfall eines Schuldners versichern, etwa einer Bank oder eines Staates. Was als Versicherung begann, wurde sofort zur Wette umfunktioniert: Der CDS wird gekauft, ohne die Schuldtitel selbst zu besitzen. Das macht Probleme: Die amerikanische Versicherung AIG hat mit der Ausgabe zahlreicher CDS vor der Finanzkrise gute Gewinne gemacht: Die Papiere sind ja nicht gratis, und größere Pleiten waren rar, der Versicherungsfall trat also nicht ein. Bis dann im Herbst 2008 die Investmentbank Lehman-Brothers zusammenbrach und Auszahlungen fällig waren. AIG wurde vom amerikanischen Steuerzahler auf­ gefangen.

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Der Sekundärmarkt für Wertpapiere Die CDS haben dazu geführt, dass Risken im Finanzsystem noch unwägbarer geworden sind, weil niemand genau weiß, wer bei größeren Pleiten eigentlich wie viel zahlen muss, und ob derjenige dann vielleicht auch zahlungsunfähig wird. Im Dezember 2010 waren CDS mit einem Nennwert von knapp 30.000 Mrd. $ ausständig. Zusätzlich ermöglichen diese Derivate die einfache Spekulation auf die Pleite eines Finanzmarktteilnehmers oder eines Staates. Grundsätzlich war eine solche Spekulation immer schon möglich: Auch ohne CDS kann man sich z. B. eine 10jährige italienische Staatsanleihe ausborgen (gegen eine Leihgebühr) und diese dann auf dem Sekundärmarkt verkaufen. Oder eine Anleihe verkaufen, die man gar nicht besitzt, und erst später nachliefert. Falls zwei Wochen später die Finanzmärkte die Aussicht Italiens, seine Schulden zu bedienen, schlechter einschätzen (oder eine größere Menge von Spekulanten eine Panik auslösen), dann werden andere ebenfalls verkaufen. Der Kurs der Anleihen sinkt. Da sich Italien am Primärmarkt jetzt nur mehr zu höheren Risikoaufschlägen verschulden kann, steigt auch die Last der zu zahlenden Zinsen. Ein Staatsbankrott wird dadurch wahrscheinlicher, das könnte neue Verkäufe auslösen. Irgendwann kauft man die jetzt billigere Anleihe zurück, retourniert sie an den ursprünglichen Halter und streift den Profit ein – „short selling“ in der Fachsprache. Das funktioniert nicht nur mit Anleihen. Für das klassische short selling braucht man Zugang zu den Wertpapieren. Falls die Wette nicht aufgeht und sich plötzlich haufenweise Spekulanten in einem möglicherweise wenig liquiden Markt mit den entsprechenden Papieren eindecken müssen, kann das teuer werden (und nennt sich dann „short-squeeze“).

Wenn aber heute eine größere Gruppe Spekulanten gegen Italien speku­ lieren wollen, dann kaufen sie einfach CDS-Kontrakte, was deren Preis in die Höhe treibt. Weil diese genau beobachtet werden, lässt sich damit wieder die oben beschriebene Panik auslösen. Vielleicht hilft noch eine Ratingagentur, und stuft Italien zum richtigen Zeitpunkt herab – damit kann man ganz Länder ruinieren.

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Spekulation mit Rohstoffen

6.3

„Was wir hier sehen, ist ausgelöst durch einen Angriff der Finanz­märk­ te auf Italien und Spanien über die Kreditausfallversicherungen [CDS]. Das ist losgelöst von jeder sachlich fundamentalen Analyse. Aber wenn sich die Politik das gefallen lässt ... Die Lage ist sehr ernst.“ (Der Chefvolkswirt der Bremer Landesbank in der Financial Times, 5. 8. 20011)

Spekulation mit Rohstoffen Seit dem Jahr 2007 kommt es zu vermehrten Zuflüssen von Finanzkapital auf die Rohstoffmärkte, und seit dieser Zeit kann man auch eine steigende Korrelation zwischen Aktienkursen und Rohstoffpreisen feststellen – die Rohstoffmärkte werden zunehmend von der Stimmung der Finanzmärkte abhängig. Derivate sind dabei das entscheidende Instrument, um einer Vielzahl von Finanzmarktakteuren Zugang zu den Rohstoffmärkten zu verschaffen. Finanz­märkte können Rohstoffpreise auf unterschiedliche Weise beeinflussen und dabei auch für steigende Preise etwa bei Lebensmitteln sorgen: xx Der Kauf von Aktien von Unternehmen aus der Rohstoffbranche: In diesem Fall treiben die Aktienkäufe nur den Kurs dieser Aktien nach oben, nicht jenen des Öls oder Kupfers. Im Gegenteil: Durch die höhere Bewertung auf dem Finanzmarkt können in diesem Bereich höhere Investitionen finanziert werden. Hohe Mittel sind etwa in die Erschließung von Schiefergas in den USA geflossen oder in eine Kapitalerhöhung der brasilianischen Erdöl­ gesellschaft (Petrobras hat im September 2010 70 Mrd. $ aufgenommen). xx Kauf und Lagerung von physischen Rohstoffen. Wenn Kupfer aufgekauft und in eine Lagerhalle gesteckt wird, dann sorgt das für zusätzliche Nachfrage, der Preis steigt. Da der Spekulant mit dem Kupfer aber selbst nichts anfangen kann, wird es zu einem zukünftigen Zeitpunkt wieder verkauft – dann sinkt der Preis. xx Kauf von Derivaten. Über den Erwerb von Futures, Optionen oder Swaps lassen sich Ansprüche auf eine zukünftige Lieferung von Rohstoffen erwerben. Da viele Spekulanten aber gar nicht die Möglichkeit haben, die Dinge physisch in Empfang zu nehmen, müssen diese vor Ende der Laufzeit wieder

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Der Sekundärmarkt für Wertpapiere verkauft und neue (weiter in der Zukunft liegende) Terminkontrakte gekauft werden. Wenn aber eine große Menge an zusätzlichem Kapital auf die Rohstoff­ märkte drängt und auf steigende Kurse gesetzt wird (eine „long“-Position), dann treibt das auch die Preise auf den Terminmärkten nach oben. Das zieht den augenblicklichen Handelspreis mit nach oben – etwa weil ein Anreiz für physische Lagerhaltung entsteht. Grundsätzlich muss Spekulation kein Problem sein. Die Spekulanten sorgen für Liquidität auf dem Markt. Wenn sich die staatliche mexikanische Erdölgesellschaft gegen einen Verfall des Ölpreises absichern will, kann sie Optionen kaufen, die einen gewissen Mindestpreis garantieren. Als Verkäufer würde etwa ein Hedgefonds in Frage kommen, der von steigenden Ölpreisen ausgeht. Auch in ökonomischen Lehrbüchern kommt Spekulation meist ganz gut weg: Der Spekulant kennt die Preisbewegung der Zukunft, kauft die Rohstoffe, wenn die Preise niedrig sind und verkauft, wenn die Preise hoch liegen. Dadurch werden Preisschwankungen gedämpft, niedrige Preise stabilisiert und hohe gesenkt.

Tatsächlich passiert im Allgemeinen das genaue Gegenteil: Gekauft wird, wenn die Preise steigen, um bei weiteren Preissteigerungen dabei zu sein. Verkauft wird, wenn die Preise zu fallen beginnen. Spekulation verteuert Rohstoffe in Hochpreisphasen und sorgt dann für einen überzogenen Preisverfall. Beides ist ungünstig, zu niedrige Preise führen zu Unterinves­ tition (und damit erst recht wieder zu neuen Preisanstiegen).

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Währungsmarkt

6.4

An sich kommt dem Währungsmarkt die Funktion der Geldbrücke zwischen Ländern, die durch internationalen Handel, Direktinvestitionen und inter­ nationale Finanzanlagen in Verbindung stehen, zu. Das nationale Geld als Zahlungsmittel und Vermögensgegenstand eines Landes wird auf dem Währungsmarkt zu anderem nationalen Geld in Beziehung gesetzt. Diese Wechselkurse wurden ursprünglich durch wirtschaftliche Kräfteverhältnisse zwischen Volkswirtschaften sowie durch politische Vereinbarungen bestimmt, die zusammen das Währungsregime bildeten. Seit den 1970er-Jahren entwickelte sich der Währungsmarkt zu der Adresse für Spekulations­geschäfte.

❮❯ Devisenhandel 1980–2010 (in Mrd. US-$) 1980 1989 1992 1995 1998 2001 2004 2007 2010 Durchschnittlicher täglicher Umsatz im April, in Milliarden US-$

120

590

820 1.190 1.527 1.239 1.934 3.324 3.981

Quelle: BIZ

Währungsreserven (in Mrd. US-$)

Quelle: IWF

7000 6000 5000

Währungsreserven Industriestaaten

4000

Entwicklungs- und Schwellenländer

3000 2000 1000 0 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010

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6

Der Sekundärmarkt für Wertpapiere Die Weltwährungsreserven aller Zentralbanken (Gold, Sonderziehungsrechte, IWF-Reservepositionen, Devisen) stiegen von 413 Mrd. US-$ 1980 auf 1.636 Mrd. US-$ 1998 und auf 9.258 Mrd. US $ 2010. Der Handel mit Währungen erhöhte sich von etwa 120 Mrd. US-$ pro Arbeitstag im Jahr 1980 auf rund 3.981 Mrd. US-$ im Jahr 2010, also um mehr als das 33-Fache. Da der Handel mit Gütern im Jahr 2010 etwa 15 Bio. US-$ betrug, hätten also knappe vier Arbeitstage genügt, um den gesamten internationalen Handel auf den Währungsmärkten abzuwickeln. Daran ist zu erkennen, dass das Spekulationsmotiv heute die Transaktionen auf den Währungsmärkten dominiert. Diese Transaktionen sind dabei in Bezug auf die gehandelten Währungen, die Handelsplätze und die Akteure stark konzentriert: Beim Tausch von Währungen war der Dollar 2010 in 85% der Fälle eine der gehandelten Währungen, der Euro in 39% der Fälle und der japanische Yen in 19% der Transaktionen. Gehandelt wird dabei in erster Linie in London (37% des Währungshandels), dann in New York (18%).

Die Entwicklung auf den Währungsmärkten ist im letzten Vierteljahrhun­ dert wesentlich durch den Übergang des Währungsregimes vom System fester, politisch gestützter Wechselkurse, das auf der Konferenz von Bret­ ton Woods 1944 festgelegt wurde, zu einem System frei schwankender Kurse geprägt. Dies hat eine erhebliche Zunahme der Weltwährungsreser­ ven und des Devisenhandels bewirkt.

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Währungsmarkt

6.4

Drei Entwicklungen sind für die Zunahme des spekulativen Währungs­ handels verantwortlich: xx Die Beendigung des Festkurssystems von Bretton Woods 1973 führte dazu, dass die nunmehr freigegebenen Wechselkurse starken Schwankungen ausgesetzt waren. Um sich gegen das Wechselkursrisiko abzusichern, waren international Handel treibende und international investierende Unternehmen gezwungen, Wechselkurssicherungsgeschäfte zu betreiben, die die Devisenumsätze in mehrfacher Weise in die Höhe trieben und den Banken neue Möglichkeiten der Währungsspekulation eröffneten. xx Die Liberalisierung des internationalen Kapitalverkehrs (Aufhebung von Kapitalverkehrskontrollen) hat dazu geführt, dass das Anlage suchende ­Kapital sich jetzt ohne Schwierigkeiten – und mit Hilfe der neuen Informations- und Kommunikationstechniken auch fast ohne Kosten und Zeitverlust – auf allen Märkten der Welt nach profitablen Verwendungen umsehen kann. Diese Möglichkeiten wachsen umso mehr, je mehr Anlageformen einen kurzfristigen Charakter bekommen und je mehr der Sekundärmarkt für Wertpapiere an Umfang gewinnt. Wesentliche Triebkraft sind dabei Investmentfonds und andere Großanleger, die auf der Suche nach kurzfristigen Gewinnmöglichkeiten sind. xx Erwartungen über Preisänderungen einzelner Währungen (Wechselkursveränderungen) werden ein wichtiges Spekulationsmotiv und versprechen beim günstigen Kauf von aufwertungsverdächtigen bzw. dem rechtzeitigen Verkauf von abwertungsverdächtigen Währungen große Gewinne. Dabei können spekulationsgeleitete Verkäufe und Käufe von Währungen bei ausreichender Höhe diese erwartete Entwicklung selbst auslösen und zur „Self-fulfilling Prophecy“ werden. Vor allem die 1990er-Jahre waren ein Jahrzehnt massiver Währungsspekula­ tion und schwer wiegender Währungskrisen. Den Auftakt machten die institutionellen Spekulanten – allen voran der Quantum-Fonds von George Soros – mit einem Angriff auf das Europäische Währungssystem (EWS). Zunächst katapultierten sie Großbritannien und Italien im September 1992 aus dem EWS (auch weil sich die Deutsche Bundesbank weigerte, Stützungs­ -

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Der Sekundärmarkt für Wertpapiere käufe durchzuführen), im August 1993 erreichten sie die faktische Aufhebung des EWS. Danach kam es zu einer größeren Zahl an spekulativen Attacken gegen Dritte-Welt-Länder, die regelmäßig mit Abwertungen und Wirtschaftskrisen endeten: Mexiko 1994/95, Südostasien 1997, Russland 1998, Brasilien und Kolumbien 1998/99, Türkei, Indonesien und Argentinien 2001. Die Folgen der starken Steigerung des Devisenhandels infolge von Liberalisierung und Deregulierung zeigen sich auf zwei Ebenen: xx Erstens steigen die Kosten des internationalen Handels und der Direktinves­ titionen, denn die Sicherungsgeschäfte müssen von den Unternehmen bezahlt werden. xx Zweitens geraten der internationale Handel und die internationale Arbeitsteilung in eine Situation zunehmender Unsicherheit und Labilität. Denn einerseits bestimmt der Umfang des internationalen Handels immer weniger den Wechselkurs zwischen den Währungen der Handel treibenden Länder, andererseits bestimmen aber die Wechselkursrelationen unmittelbar die Perspektiven für Handel und Beschäftigung: Eine Aufwertung verteuert Exporte, eine Abwertung macht sie dagegen billiger und stellt einen Wettbewerbsvorteil dar. Umgekehrtes gilt natürlich für die Importseite. Die starke Fluktuation von Wechselkursen verändert so die kurzfristigen internationalen Wettbewerbsverhältnisse, an die sich die Produktionsstrukturen nicht im gleichen Tempo anpassen können.

Der Währungsmarkt ist heute nicht mehr Hilfsmittel zur reibungslosen Abwicklung von Handel und internationalen Investitionen, sondern ein besonders instabiler Bestandteil der internationalen Finanzmärkte. Seine Funktion als Dienstleister für die Realwirtschaft, der den internationalen Handel und internationale Investitionen in Sachkapital erleichtert, geht zusehends verloren.

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SKRIPTEN ÜBERSICHT SozIAlRECHT

ARBEITSRECHT

SR-1

Grundbegriffe des Sozialrechts

SR-2

Geschichte der sozialen Sicherung

SR-3

Sozialversicherung – Beitragsrecht

SR-4

Pensionsversicherung I: Allgemeiner Teil

SR-5

Pensionsversicherung II: Leistungsrecht

SR-6

Pensionsversicherung III: Pensionshöhe

AR-1 AR-2A AR-2B AR-2C AR-3 AR-4 AR-5 AR-6 AR-7 AR-8A

SR-7

Krankenversicherung I: Allgemeiner Teil

AR-8B

SR-8

Krankenversicherung II: Leistungsrecht

SR-9

Unfallversicherung

SR-10

Arbeitslosenversicherung I: Allgemeiner Teil

SR-11

Arbeitslosenversicherung II: Leistungsrecht

SR-12

Insolvenz-Entgeltsicherung

SR-13

Finanzierung des Sozialstaates

SR-14

Pflegesicherung

SR-15

Mindestsicherung

Die einzelnen Skripten werden laufend aktualisiert.

AR-9 AR-10 AR-11 AR-12 AR-13 AR-14 AR-15 AR-16 AR-17 AR-18 AR-19 AR-20 AR-21 AR-22

Kollektive Rechtsgestaltung Betriebliche Interessenvertretung Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates Rechtstellung des Betriebsrates Arbeitsvertrag Arbeitszeit Urlaubsrecht und Pflegefreistellung Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall Gleichbehandlung im Arbeitsrecht ArbeitnehmerInnenschutz I: Überbetrieblicher ArbeitnehmerInnenschutz ArbeitnehmerInnenschutz II: Innerbetrieblicher ArbeitnehmerInnenschutz Beendigung des Arbeitsverhältnisses Arbeitskräfteüberlassung Betriebsvereinbarung Lohn(Gehalts)exekution Berufsausbildung Wichtiges aus dem Angestelltenrecht Betriebspensionsrecht I Betriebspensionsrecht II Betriebspensionsrecht III Abfertigung neu Betriebsrat – Personalvertretung Rechte und Pflichten Arbeitsrecht in den Erweiterungsländern Atypische Beschäftigung Die Behindertenvertrauenspersonen

GEwERKSCHAfTSKuNdE

GK-1 GK-2 GK-3

Was sind Gewerkschaften? Struktur und Aufbau der österreichischen Gewerkschaftsbewegung Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1945 Die Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung in der Zweiten Republik

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Statuten und Geschäftsordnung

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Vom 1. bis zum 17. Bundeskongress

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Die Kammern für Arbeiter und Ange stellte

Anmeldungen zum Fernlehrgang des ÖGB:

ÖGB-Referat für Bildung, freizeit, Kultur

1020 Wien, Johann-Böhm-Platz 1 • Telefonische Auskunft 01 / 534 44 / 39235 Dw.


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Sollbruchstellen: Die Krisen­ anfälligkeit des Finanzsystems Wir haben uns jetzt die Struktur von Finanzmärkten angesehen und sind dabei auch auf einige Problemstellungen eingegangen. Jetzt werden Finanzmärkte noch einmal spezifisch vom Aspekt ihrer Krisenanfälligkeit her untersucht.

Euphorie und Ansteckungsgefahr Der amerikanische Ökonom Hyman P. Minsky hat in den 1970er-Jahren das ­Finanzsystem untersucht und herausgearbeitet, welche von dessen Mechanismen zu mehr Instabilität führen. Seiner Meinung nach sind es gerade die stabilen Phasen wirtschaftlicher Entwicklung, die den Ausgangspunkt für künftige Instabilität darstellen. Da Menschen dazu neigen, die Erfahrungen der letzten paar Jahre linear in die Zukunft fortzuschreiben, wecken Jahre der Stabilität die Erwartung weiterer Stabilität in den folgenden Jahren. Unter solchen Voraus­ setzungen wird gerade auf dem Finanzmarkt das Risikoprofil vieler Akteure immer höher. Fremdkapitalhebel steigen, und die Verschuldung wird immer kurz­ fristiger. Irgendwann wird Verschuldung und Risiko insgesamt zu hoch, und einzelne Schuldner beginnen auszufallen. Es ist einleuchtend, dass eine Bank irgendwann pleite geht, wenn zu viele der vergebenen Kredite nicht mehr zurückbezahlt werden. Das Gleiche kann auch anderen Akteuren auf dem Kapitalmarkt passieren, wenn Verluste zu hoch werden, ein bekanntes Beispiel ist etwa die Pleite des Hedgefonds LTCM (1998). Das Problem dabei ist, dass Finanzinstitutionen nicht nur mit eigenem Geld arbeiten (Eigenkapital), sondern mehr oder weniger große Fremdkapitalhebel verwenden. Das Spiel des gesamten Banken- und Schattenbankensektors (Versicherungen, Investmentbanken, außerbilanzielle Zweckgesellschaften, spezialisierte Hedgefonds) heißt Fristen- und Liquiditätstransformation: Kurzfristige Schulden werden aufgenommen, um damit langfristige und relativ wenig ­liquide Investitionen zu finanzieren. Mit der Explosion der Finanzmärkte seit den 1980er-Jahren werden große Pleiten dabei immer gefährlicher. Einmal weil die Summen größer geworden sind, die auf dem Spiel stehen (auch in Relation zur Wirtschaftsleistung, siehe Einleitung). Aber auch weil die Liberalisierung des Kapitalmarktes und die folgenden grenzüberschreitenden Investitionen und Kapitalflüsse intensive Ansteckungs-

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Euphorie und Ansteckungsgefahr Kultur des Risikos

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gefahr über die Landesgrenzen bedeutet. Noch 1972 konnte US-Präsident Nixon über mögliche Turbulenzen der italienischen Währung sagen: „I don´t give a shit about the lira“. So etwas ist nicht mehr möglich: Die Investmentbank Lehman-Brothers hatte bei ihrem Zusammenbruch im September 2008 Schulden von 600 Milliarden Dollar offen. Dem standen natürlich auch Vermögenswerte gegenüber (die 600 Milliarden wurden ja investiert), dennoch bekommen nicht alle Gläubiger ihr Geld zurück. Abgesehen davon dauert die Liquidation dieser Vermögenswerte Jahre. Aus diesem Grund hat die Lehman-Pleite gewaltige Schockwellen durch das ­Finanzsystem gezogen – und aus diesem Grund haben international Staaten eingegriffen, um das Finanzsystem aufzufangen. Ebenso bezeichnend sind die Sorgen, die im Sommer 2011 eine Pleite Griechenlands aufkommen lässt. Weniger wegen der direkt involvierten Summen, sondern w ­ egen befürchteter Schockwirkungen auf das Finanzsystem. Eine Großpleite kann tatsächlich das internationale Finanzgebäude zum Einsturz bringen, so groß sind die Fremdkapitalhebel und so intensiv sind die unterschiedlichen Institutionen miteinander verbunden. Im Wesentlichen, weil sie sich alle gegenseitig Geld borgen.

Kultur des Risikos Schon vor der Finanzkrise war man im Grunde davon überzeugt, dass der Staat keine systemwichtige Finanzinstitution zusammenbrechen lassen würde. „Too big to fail“ heißt das Stichwort. Auch in der letzten Finanzkrise ging diese Rechnung im Wesentlichen auf. Tatsächlich wurden praktisch nur bei den Lehman Brothers die Gläubiger zur Kassa gebeten, während die Liste der Pleite-Banken, -Investmentbanken und -Versicherungen sehr lang ist: Die deutsche Hypo Real Estate (den deutschen Staat hat allein das 150 Mrd. gekostet), die österreichische Hypo Alpe Adria und die Kommunalkredit, Northern Rock (GB), Lloyds (GB), AIG (USA) … Im völlig bankrotten irischen Bankensystem wurden nicht einmal die nachrangigen Anleihen völlig ausgelöscht. Erst nach großem politischem Gezerre mussten diese harte Abschläge („haircuts“) hinnehmen.

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Sollbruchstellen: Die Krisen­ anfälligkeit des Finanzsystems Damit ist es praktisch risikolos, einer großen Finanzinstitution Geld zu borgen, egal wie riskant diese veranlagt, egal wie dünn die Decke des Eigenkapitals ist. Sollte etwas schief gehen, springt der Staat ein. Das führt zu einer perversen Anreizstruktur, weil sich grundsätzlich auch riskant aufgestellte Institutionen billig verschulden können – was diesen ermöglicht, noch höhere Risiken einzugehen. Einen Teil des Risikos trägt eben der Steuerzahler. Man spricht von ­„moral hazard“. Ein Finanzsystem, das ohnehin dazu neigt, hohe Risiken einzugehen und diese dann zu unterschätzen (wir erinnern uns an Minsky) erhöht durch solche Überlegungen sein Risikoprofil zusätzlich. Ergänzt wird diese Risikobereitschaft auch von der Anreizstruktur im Inneren von Finanzinstitutionen. Jérôme Kerviel, Investmentbanker der Société­ Général, ist vielleicht das beste Beispiel. Er hat beim Aufbau einer nicht autorisierten Handelsposition über 50 Mrd. € einen Verlust von über vier Milliarden eingefahren und musste schließlich ins Gefängnis. Was, wenn der Handel funktioniert hätte? Dann wäre Kerviel der große Held gewesen und wohl auch reich geworden. Am Jahresende erhalten Investmentbanker Boni, die sich auch an der Höhe der von ihnen erwirtschafteten Gewinne orientieren – unabhängig davon, ob die eingegangenen Positionen im nächsten Jahr (oder in fünf Jahren) sich als doch weniger brillant erweisen. Jene, die wenig Rendite machen (immer auf Jahresbasis), haben ein Problem. Traditionell werden im Investmentbanking jedes Jahr die fünf Prozent „Underperformer“ entlassen. Die frohe Botschaft kommt dabei rechtzeitig vor Weihnachten. Viel Geld für hohe Risiken gilt besonders für die Vorstandetage: Stanley O´Neil erhielt 2006 91 Mio. Dollar, als er die Investmentbank Merril Lynch Richtung Desaster steuerte. Martin Sullivan kassierte für die vier Jahre an der Spitze von AIG 107 Millionen Dollar, danach musste der US-Steuerzahler mit 180 Milliarden einspringen. Tom Maheras verdiente allein 2006 34 Millionen als Chef des Investmentbankings bei der Citigroup: Die Citigroup bastelte damals für 33 Mrd. Dollar CDOs (siehe Verbriefung) aus Hauskrediten und erhielt dafür eine Gebühr von einem Prozent – ein Teil davon fand sich auf Herrn Maheras Konto. Allerdings konnte die Bank nicht genügend Käufer für alle Tranchen dieser Papiere finden (gerade die etwas riskanteren waren nicht so gut verkäuflich) und behielt

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Der Bankrun und das staatliche ­Sicherheitsnetz

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diese daher in den Büchern – wo sie bei Beginn der Finanzkrise dann zu großen Teilen abgeschrieben werden mussten. Seine Boni hat Tom Maheras natürlich behalten. In der Finanzkrise wurde diese Kultur der Boni massiv kritisiert, passiert ist wenig. Der neue Chef der Citigroup, Vikram Pandit, bekommt seine Bonus­ zahlung (mindestens 6 Mio. Dollar), sobald der Bankprofit 2011 bei 12 Mrd. liegt. Er hat damit einen Anreiz, hohe Risken zu nehmen, sollte die Citigroup 2013 zusammenbrechen, muss er nichts zurückgeben. (Quelle: Financial Times)

Panik, Bankrun und staatliches Sicherheitsnetz Bei der Besprechung des Kreditmarktes haben wir festgestellt, dass jederzeit verfügbare Einlagen (zum Beispiel Kontoguthaben oder Sparbücher) als lang­ fris­tige Kredite weitergereicht werden. Was, wenn eine größere Gruppe von ­Sparern ihr Geld abheben wollen oder an eine andere Bank überweisen? Zuerst greift die Bank auf ihre Liquiditätsreserven zurück - das sind zum ­Beispiel leicht verkäufliche kurzfristige Staatsanleihen oder Einlagen bei der Notenbank. Wenn diese Liquidität zu niedrig wird, holt sie sich frisches Geld, dafür benützt sie den Geldmarkt, der sich vom restlichen Kapitalmarkt durch die geringere Fristigkeit (maximal ein Jahr) unterscheidet. Wenn Geld von einer Bank an eine andere Bank überwiesen wird, dann hat diese Bank möglicherweise genau jene Liquidität zu viel, die der anderen fehlt. Liquidität kann nämlich auch zu viel sein. Was man nicht braucht, kann verborgt werden – das bringt Zinsen. Auf dem Geldmarkt borgen sich Banken dann untereinander Geld, für eine Nacht, einen Monat, drei Monate … Für den Euro gilt dabei der EURIBOR (European Interbank Offered Rates) als Referenzzinssatz. Den gibt es in unterschiedlichen Varianten, je nach Laufzeit. Kreditnehmer mit variablen Zinsen, die sich quartalsweise einem Marktzinssatz anpassen, kennen vielleicht den „EURIBOR 3M“, den Dreimonats-Interbankzinssatz, weil sich daran ihre Kreditzinsen orientieren. Auf dem Geldmarkt spielen aber noch andere Spieler eine Rolle: Unternehmen, die kurzfristige Anleihen aufnehmen, Geldmarktfonds, die Geld kurzfristig verleihen und Pensionsfonds, die mit Geldmarktinstrumenten handeln.

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Sollbruchstellen: Die Krisen­ anfälligkeit des Finanzsystems Was aber, wenn eine Bank vom Geldmarkt abgeschnitten wird, oder sich nur noch zu sehr hohen Zinsen refinanzieren kann? Etwa weil andere Banken und große Geldmarktfonds befürchten, sie könnte zusammenbrechen? Dann gibt es ein Problem. Wenn die Einlagen abfließen und die Positionen nicht anders refinanziert werden können, wird die Bank zahlungsunfähig. Die Sparguthaben wurden ja verwendet, um einen langfristigen Kredit zu vergeben. Theoretisch kann man Kredite fällig stellen (falls es im Kreditvertrag solche Klauseln gibt), aber das führt oft zum Zusammenbruch des Kreditnehmers. Etwas sinnvoller ist der Verkauf von Kreditpaketen an eine andere Bank, aber auch das macht Probleme. Der Käufer müsste jeden einzelnen Kredit erneut überprüfen, das kostet Zeit und Geld. Außerdem wird man immer befürchten, dass die notleidende Bank zuerst jene Kredite abstoßen möchte, von denen sie befürchtet, dass sie möglicherweise ausfallen könnten. Kreditpakete kann man verkaufen – aber nur mit Abschlägen, vor allem, wenn es schnell gehen soll. Die Bank macht also Verluste. Aus einem ursprünglichen Liquiditätsproblem wird jetzt die Gefahr einer Insolvenz: Wenn zu hohe Verluste auflaufen, schwindet das Eigenkapital. In größerem Maßstab passiert genau das Gleiche, wenn das Vertrauen in das gesamte Finanzsystem zusammenbricht. Geschäftsbanken, Investmentbanken und viele Fonds (etwa Hedgefonds) hebeln ihre Investitionen mit Krediten: Alle nehmen kurzfristige Verbindlichkeiten auf, um diese längerfristig und weniger liquide wieder anzulegen. Wenn die Sparer die Banken stürmen und ausbezahlt werden wollen, steht das gesamte Bankensystem vor dem Kollaps – unabhängig davon, ob die Panik einer Überreaktion entspricht oder durchaus begründet war. Von einer ganzen Serie solcher Bankruns („Sturm auf die Bank“) war die Welt­ wirtschaftskrise der 1930er-Jahre gekennzeichnet. Und in der großen Finanzkrise des Jahres 2008 waren es die Manager von Geldmarkt- und Pensionsfonds, die ihre Mittel abgezogen haben. Die letzte Rettung ist dann der Staat.

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Der Bankrun und das staatliche ­Sicherheitsnetz

7.3

Nach der Weltwirtschaftskrise wurde die staatliche Einlagensicherung geschaffen. In allen Industriestaaten garantiert heute der Staat (beziehungsweise ein Einlagensicherungsfonds, in den Banken einzahlen müssen) die Einlagen der kleineren und der etwas größeren Sparer. Das verhindert einen Bankrun. Relativ erfolgreich: In der Krise von 2008 gab es mit wenigen Ausnahmen keine langen Schlangen vor den Bankschaltern, weil Sparer in Panik ihre Guthaben auflösen wollten. Der Nachteil dieser (unverzichtbaren) Maßnahme liegt darin, dass der Staat automatisch für einen Teil der Schulden des Bankensystems haftet. Die Einlagensicherung beruhigt dabei nur die „kleinen Sparer“, Geldmarktfonds und andere, die auf dem Geldmarkt kurzfristige Liquidität zur Verfügung stellen, werden davon nicht geschützt. Ein wichtiger Spieler auf dem Geldmarkt ist die Notenbank, bei der sich Geschäftsbanken mit Notenbankgeld versorgen können. Manchmal mehr, manchmal weniger, immer nur für eine bestimmte Frist – langfristige Kredite gibt es keine. Die Banken müssen dafür Zinsen bezahlen – durch das Festlegen eines Zinssatzes für Notenbankgeld kann die Zentralbank das allgemeine Zinsniveau beeinflussen, man spricht deswegen auch von „Leitzinsen“. Die Zentralbank verleiht üblicherweise nur gegen entsprechende Sicherheiten, nämlich Staatsanleihen. Bei diesen Geldmarktoperationen der Notenbank geht es üblicherweise um Preisstabilität. In einer allgemeinen Panik agiert die Notenbank als Kreditgeber letzter Ins­ tanz. Seit dem Beginn der Finanzkrise bis zur Verfassung dieses Artikels stellt etwa die EZB Notenbankgeld in beliebiger Menge zur Verfügung. Weil aus Angst vor einer Staatspleite und dem folgenden Zusammenbruch der Banken 2011 nur die wenigsten griechischen oder auch portugiesischen Banken Geld borgen wollen, hängt die Refinanzierung der Bankensysteme ganzer Länder am Tropf der Zentralbank. Die Federal Reserve hat in der Finanzkrise ab 2007 ganz außergewöhnliche Maßnahmen ergriffen: Nicht nur Banken bekamen Zentralbankgeld, die Liquiditätshilfen umfassten auch Hedgefonds und nichtfinanzielle Unternehmen (etwa General Motors). Insgesamt 1,2 Billionen Dollar wurden von der Zentralbank als Kredit verteilt und dann in zwei Runden noch einmal für Hunderte Milliarden Staatsanleihen gekauft. Bis 2011 ist die Federal Reserve der größte Spieler am amerikanischen Hypothekenmarkt.

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Sollbruchstellen: Die Krisen­ anfälligkeit des Finanzsystems Viele befürchten bei einem solchen Verhalten der Notenbank eine steigende Inflation, weil das viele Notenbankgeld die Geldmenge steigern würde. Eine Verbindung zwischen Geldmenge und Inflation ist vorhanden, aber die Verbindung läuft über steigende Nachfrage. Wenn in einer Krisensituation die Gesamtnachfrage ohnehin zu niedrig ist, führt auch mehr Notenbankgeld nicht zur totalen Preissteigerung. Und wenn das Bankensystem und andere Unternehmen auf großen Geld-Pols­ tern sitzen möchten, kaum Kredite vergeben und nicht investieren, befriedigt mehr Notenbankgeld einfach dieses Liquiditätsbedürfnis. Bei einem dauerhaften Aufschwung gibt es auch keine unüberwindlichen Schwierigkeiten, überschüssiges Notenbankgeld wieder vom Markt zu nehmen. Ein ernsthaftes Problem ist aber, dass die Rettungspakete der Notenbanken sich nur mehr teilweise von staatlichen Rettungspaketen unterscheiden. Wer beginnt, an Unternehmen Geld zu verleihen, oder auf dem Hypothekenmarkt interveniert, kann Geld verlieren. Wenn die Sicherheiten, die die Banken für ihre Refinanzierung verpfänden, nicht mehr die höchste Qualität haben, dann kann die Notenbank ebenfalls Geld verlieren – und im Endeffekt müssen diese Verluste vom Steuerzahler aufgefangen werden. Gemeinsam haben in der letzten Finanzkrise Staat und Notenbanken ein so enges Sicherheitsnetz um das Finanzsystem gezogen, dass ein Großteil von ­dessen Risiken auf die Staatshaushalte übergegangen ist. Das kann gut gehen. Etwa im Fall Österreichs. Die massiven Staatsgarantien haben 2008 das Bankensystem stabilisiert. Wegen der hohen Kreditvergabe in Osteuropa galten die österreichischen Banken als gefährdet, dadurch wurde die Refinanzierung immer teurer – und wer zu viel für seine Schulden bezahlen muss, geht irgendwann tatsächlich pleite. 100 Mrd. Staatsgarantien für die Bankschulden haben das Vertrauen der Märkte wieder hergestellt, und die Garantien wurden im Endeffekt nicht schlagend, größere Kosten sind nur für die Rettung der Hypo-Alpe-Adria und der Kommunalkredit aufgelaufen. Ein Zusammenbruch des Bankensystems hätte mit Sicherheit eine Katastrophe bedeutet, auch für die öffentlichen Haushalte. (Ohne Kredite brechen Unternehmen zusammen, die Arbeitslosigkeit steigt, für die Einlagensicherheit hätte man dennoch aufkommen müssen…).

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Vermögenspreisblasen und deren Platzen

7.4

Dennoch bleibt natürlich die Frage, ob die Banken für ihre Rettung genug bezahlt haben. Retten kann der Staat nämlich zweierlei: Einmal die Fähigkeit der Banken, ihren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen, damit es keinen dominoartigen Zusammenbruch des Finanzsystems gibt. Das bedeutet aber nicht, dass, wie in den letzten Jahren üblich, die Aktionäre der Banken ebenso gerettet werden müssen. Andere Staaten waren auch weniger glücklich als Österreich und haben sich bei der Bankenrettung übernommen: In Spanien oder Irland führte die Banken­ rettung zu Problemen der Staatsverschuldung (Irland erhielt 2010 umfangreiche Kredite von der EU, um einer Pleite zu entgehen). Beide Länder waren vor der Finanzkrise jene mit den geringsten Staatsschulden der Euro-Zone, sowie laufenden Budgetüberschüssen. Für das Krisenjahr 2008 zählt der Internationale Währungsfonds staatliche Hilfen im Ausmaß von 1.500 Mrd. $ an das Finanzsystem – etwa ein Viertel konnte danach wieder zurückgeholt werden. Diese Summe berücksichtigt aber nicht die Risiken, die in den Büchern der Notenbanken schlummern.

Vermögenspreisblasen und deren Platzen Jede Investition beruht auf Annahmen über eine unsichere Zukunft. Wer heute in ein neues Hochspannungsnetz investiert, benötigt Annahmen über den erwarteten Cash-flow über Jahrzehnte. Es gibt keinerlei Garantie dafür, dass diese Annahmen stimmen: Der Stromverbrauch kann sich unterschiedlich entwickeln. Neue Technologien könnten lokale Energiespeicherung möglich machen – damit wird ein Hochleistungsnetz überflüssig. Wer ein neues Stahlwerk baut, benötigt unter anderem Annahmen über die Entwicklung der Weltkonjunktur (davon ist die Nachfrage abhängig), wer wissen will, ob eine Eigentumswohnung nicht zu teuer ist, benötigt Annahmen über das künftige Zinsniveau (niedrige Zinsen rechtfertigen höhere Preise) oder die Bevölkerungsentwicklung. Solche Annahmen über die Zukunft haben oft das Problem, sich im Gleichklang zu entwickeln, was dazu führt, dass bestimmte wirtschaftliche Sektoren und Aktivitäten als besonders gewinnbringend und zukunftsträchtig angesehen werden und hohe Investitionen in diese Richtung fließen. Das können dann auch

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Sollbruchstellen: Die Krisen­ anfälligkeit des Finanzsystems insgesamt zu hohe Investitionen werden und ein paar Jahre später gibt es Überkapazitäten und Preisverfall. Nicht jede Überinvestition muss von Vermögenspreisblasen begleitet sein, aber die optimistischen Zukunftserwartungen spiegeln sich auf Finanzmärkten wider, die dann auch einen großen Teil der Finanzierung zur Verfügung stellen. Ein Beispiel der letzten Jahre ist der New-Economy-Boom der 1990er-Jahre. Aber es gibt auch ältere Beispiele, in den 1860er-Jahren wurde der Ausbau des US-amerikanischen Eisenbahnnetzes über „railway bonds“ (Eisenbahnanleihen) ­finanziert, aufgekauft oft von europäischen Investoren. Solch ein Boom geht dann üblicherweise schief, die Börsenkurse der Technologieunternehmen begannen nach der Jahrtausendwende zu verfallen, die railway bonds wurden nicht mehr zurückbezahlt - was zur Auslösung der „Gründerkrise“ 1873 beitrug. Was genau ist eine Vermögenspreisblase? Davon spricht man bei einer übertriebenen Steigerung der Preise für Vermögenswerte wie Aktien oder Immobilien (oder Gold oder Impressionistische Malerei …). Es ist dabei grundsätzlich schwer möglich, einem Vermögensgegenstand einen richtigen „rationalen“ Preis zuzuordnen, dafür bräuchte man keine Annahmen über die Zukunft, sondern absolute Gewissheit. Letzten Endes kann eine Vermögenspreisblase nur im Nach­ hinein mit Sicherheit bestimmt werden, zu dem Zeitpunkt, zu dem sie schließlich platzt und sich die angesprochenen kollektiven „Annahmen über eine unsichere Zukunft“ als falsch herausstellen. Preisübertreibungen sind aber schon zuvor auffällig: Am amerikanischen breiten Aktienindex S&P500 erreichte Anfang 2000 die Bewertung der Unternehmen ein Niveau, das dem 44-fachen jährlichen Gewinn entsprach (im langjährigen Schnitt liegt dieses bei dem 15-fachen). In der Euphorie des Börsenhöhenfluges haben die Anleger aber an eine gänzlich neue Wirtschaft geglaubt, in der das Internet für gewaltig steigende Produktivität und unglaubliche Gewinne in der Zukunft sorgen würde. Diese Annahmen waren nicht vollständig schwachsinnig (das Internet ist tatsächlich praktisch, und Google verdient wirklich Geld), wurden aber völlig übertrieben. Die Herausbildung von Vermögenspreisblasen (zu teure Aktien) und realwirtschaftlichen Überinvestitionen (zu viele Glasfaserleitungen durch den Atlantik) kennzeichnet kapitalistische Entwicklung. Sie sind Teil der Krisenanfälligkeit des

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Vermögenspreisblasen und deren Platzen

7.4

Kapitalismus, aber auch Teil seiner Dynamik. Problematisch werden Vermögenspreisblasen, wenn sie eine ganze Wirtschaft erfassen oder einen sehr bedeutenden Sektor einer Wirtschaft. Nach dem Platzen der New-Economy-Blase im Jahr 2000 folgte 2001 eine Rezession. Noch problematischer wird das Ganze, wenn die Investitionen über Kredit finanziert werden und nach platzen der Blase das Bankensystem unter Druck kommt – etwa die Gründerkrise des Jahres 1873. Aber auch bei der Gründerkrise hat der vorhergegangene Eisenbahnboom immerhin für Infrastruktur gesorgt (die Eisenbahnlinien), die nach der Pleite der Eisenbahngesellschaften nicht verschwunden ist. Wirtschaftsliberale können auch hier Wettbewerb und Dynamik des Kapitalismus am Werk sehen. Auch wenn die hungernden Arbeitslosen der 1870er-Jahre ihren Enthusiasmus möglicherweise nicht teilen. Es gibt auch Vermögenspreisblasen, wo reine Spekulation mit Vermögenswerten viel wichtiger ist als die daraus abgeleiteten Investitionen in die Realwirtschaft. Der Börsenboom der 1990er-Jahre hat Billionen Dollar an Marktkapitalisierung geschaffen, nur kleinste Teile davon wurden tatsächlich in den Ausbau von Internetfirmen gesteckt. Wenn dann der Kauf von Vermögenswerten über Kredite gehebelt wird, kommt eine gefährliche Melange heraus: Ein Bankensystem, das zu viele Kredite vergeben hat – und diese Kredite mit überbewerteten Vermögenswerten besichert hat. Banken, die Investitionen in neue Technologie oder Infrastruktur finanzieren, erhöhen die langfristigen Wachstumsaussichten einer Wirtschaft, auch wenn sie danach Pleite gehen. Banken, die nur den Kauf von Vermögenswerten finanzieren, ermöglichen maximal höheren Privatkonsum auf Pump. Historisch haben sich solche Vermögenspreisblasen auch auf Immobilienmärkten abgespielt. Der Immobilienmarkt gehört im engern Sinn nicht zu den Finanzmärkten, ist aber mit ihnen verbunden: Einmal weil Finanzierung oft in Immobilienmärkte fließt (in Deutschland waren 2008 55 Prozent aller Kredite mit Immobilien besichert). Aber auch weil Immobilien eine Anlageklasse darstellen (genauso wie Aktien oder Anleihen) und eine ähnliche spekulative Dynamik zulassen. Sie stellen obendrein den wichtigsten Teil der Privatvermögen. In Österreich schätzt die Österreichische Nationalbank 2009 670 Mrd. Euro Immobilienvermögen als Untergrenze - das macht durchschnittliche 250.000 Euro

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Sollbruchstellen: Die Krisen­ anfälligkeit des Finanzsystems pro Haushalt. Eine spekulative Preisblase auf Aktien- und Immobilienmärkten ist der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre in den USA vorangegangen, die groteskesten Auswüchse fanden sich vielleicht im Japan der 1980er-Jahre. 1989 kostete in Tokios Finanzdistrikt ein einziger m² Bürofläche eine Million Dollar. Eigentlich zum Schmunzeln, aber das Platzen dieser Preisblase hat den gesam­ten Finanzsektor mitgerissen, und dieser die Realwirtschaft. Zwei Jahrzehnte später ist der Einbruch immer noch nicht überwunden, und die zur Stabilisierung der Wirtschaft aufgenommenen Staatsschulden betragen mittlerweile über 200 Prozent des BIP – wieder werden aus Problemen der Banken Probleme der Steuerzahler. Auf den Immobilienmärkten finden sich die auffälligsten Vermögenspreisblasen: Die US-Hauspreise haben zwischen 2000 und 2006 90 Prozent zugelegt. In Dänemark haben sich die Preise von Eigentumswohnungen pro m² von 1995 bis 2006 fast verfünffacht, in Estland in nur vier Jahren (2003-2007) fast verdreifacht. Ein Hintergrund dabei ist immer die relativ leichte Verfügbarkeit von Krediten. Gemeinsam mit vielen anderen sind diese Immobilienblasen in der Finanzkrise geplatzt und haben teilweise großen Schaden im Bankensektor angerichtet und die Realwirtschaft in eine tiefe Rezession gestürzt. Case-Shiller Index 250,00 200,00 150,00 100,00

Case-Shiller Index amerikanischer Hauspreise, 2000 = 100, nicht inflationsbereinigt. Quelle: Standard & Poor´s

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Vermögenspreisblasen und deren Platzen

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Durchschnittliche Immobilienpreise in Dänemark 30000 25000 20000

Einfamilienhäuser

15000

Eigentumswohnungen

10000 5000 4. qtr. 2008

3. qtr. 2007

2. qtr. 2006

1. qtr. 2005

4. qtr. 2003

3. qtr. 2002

2. qtr. 2001

1. qtr. 2000

4. qtr. 1998

3. qtr. 1997

2. qtr. 1996

1. qtr. 1995

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Dänemark: Durchschnittliche Immobilienpreise, dänische Kronen pro m² Quelle: Association of Danish Mortgage Banks

Diesen Mechanismus betrachten wir uns kurz noch einmal genauer: Banken vergeben Kredite an Hauskäufer – vergleichsweise höhere als für ein neues Auto. Sie tun das deswegen, weil die Immobilie selbst als Sicherheit für den Kredit dient. Ein Hypothekarkredit: die Bank steht im Grundbuch. Falls der Schuldner ausfällt, verkauft sie das Haus. Bei der Analyse des Kreditmarktes haben wir gesehen, dass sich Kreditvergabe die eigene Liquidität schafft, damit können neue Kredite vergeben werden, die die Vermögenswerte noch weiter in die Höhe treiben. Bei steigenden Preisen verbessert sich die Nettovermögensposition der Schuldner, ihren Schulden ­stehen höhere Vermögenswerte gegenüber, die Bank muss sich also weniger Sorgen um einen Ausfall der Schuldner machen. Je länger das gut geht, um so eher wird riskant finanziert: Vor der Finanzkrise war es in den USA möglich, Häuser vollständig auf Kredit zu kaufen. Das Problem tritt in dem Moment auf, zu dem die Risikoneigung der Investoren dreht. Das kann aus unterschiedlichen Gründen geschehen, die Finanzkrise in den USA wurde beispielsweise ausgelöst (nicht verursacht), weil steigende ­Zinsen zur Zahlungsunfähigkeit einer Reihe von Schuldnern geführt haben. Mit den aufkommenden Sorgen der Finanzmärkte stockt die Kreditvergabe, die

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Sollbruchstellen: Die Krisen­ anfälligkeit des Finanzsystems Nachfrage und die Preise gehen langsam zurück. Jetzt versuchen Immobilienspekulanten, leer stehende Einheiten schnell loszuwerden, die Banken beginnen mit Zwangsversteigerungen. Nur: Wenn viele verkaufen wollen, sinkt der Wert der Häuser immer weiter, die Schulden werden aber nicht weniger. Den offenen Krediten steht immer weniger Vermögen gegenüber. Die Zahlungsausfälle nehmen dabei immer weiter zu, sind sie zahlreich genug, kommt das Bankensystem in Schwierigkeiten. Irgendwann löst das eine Finanzmarktpanik und einen Bank­run aus – eine Finanzkrise. Die Zeit der Vermögenspreisblasen ist aber keineswegs abgelaufen, im Gegenteil scheinen sich in vielen Schwellenländern, besonders in Asien, neue aufzubauen. In Schanghai geht der chinesische Immobiliendienstleister eHomeday von einer Immobilienpreissteigerung um den Faktor 2,5 zwischen 2003 und 2011 aus. Teilweise wird im Frühjahr 2011 von bis zu 62 Mio. leer stehenden Wohn­ einheiten in China berichtet. (Eine spekulative Blase in der Endphase: in Erwartung weiter steigender Preise werden Wohnungen einfach von Spekulanten gehalten, wenn die Preise aber zu rutschen beginnen, wollen diese alle auf einmal verkaufen) Chinesische Daten sind etwas mit Vorsicht zu genießen, aber auch in Singapur steigen die Immobilienpreise vom dritten Quartal 2009 bis zum 1. Quartal 2011 um unglaubliche durchschnittliche sechs Prozent pro Vierteljahr, und liegen damit im Sommer 2011 höher als vor der Asienkrise 1997. Und in Österreich? In Wien sind die Preise für Eigentumswohnungen von 2004 bis 2011 um 50 Prozent gestiegen. Das ist wohl noch keine spekulative Blase, die mit Rückwirkungen auf die gesamte Volkswirtschaft platzen muss, dafür fehlt die begleitende erhöhte Kreditvergabe. Dennoch sieht man auch in Wien den Preis für Wohnraum als Spielball der Stimmung von Investoren. Ob es jetzt ein Steigen von Bodenpreisen und Immobilien ist, oder Rohstoffpreise in die Höhe gehen: Spekulation und Vermögenspreisblasen machen nicht nur das Finanzsystem instabiler. Sie verändern auch die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu Gunsten der Halter der Vermögenswerte.

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Zahlungsbilanzkrisen

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Immobilienpreisindex Wien

Indexwert 1 60 1 40 1 20 1 00 80 60 40 20 0 2000

2001

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2009

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Quelle: Österreichische Nationalbank

Zahlungsbilanzkrisen Zahlungsbilanzkrisen hängen mit den Außenbeziehungen einer Volkswirtschaft und mit dem Wechselkurs der Währung zusammen. Solche gibt es dabei schon ziemlich lange, früher verstand man darunter in erster Linie die Unfähigkeit eines Landes, einen fixen Wechselkurs zu halten. Etwas breiter kann man eine Zahlungsbilanzkrise als plötzlichen Mittelabfluss aus dem Finanzmarkt eines Landes definieren, der schließlich eine drastische Abwertung der Währung erzwingt. Jüngste Zahlungsbilanzkrisen waren etwa die spekulative Attacke auf das europäische Währungssystem Anfang der 1990er-Jahre (die unter anderem das britische Pfund aus einem fixen Wechselkurs gezwungen hat), weit dramatischer die Asienkrise 1997, oder die Finanzkrisen in der Türkei und Argentinien. Auch in der großen Finanzkrise von 2008 mussten einige, vor allem osteuropäische Länder, mit Zahlungsbilanzkrisen kämpfen.

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Sollbruchstellen: Die Krisen­ anfälligkeit des Finanzsystems Zahlungsbilanzkrise ist dabei nicht gleich Zahlungsbilanzkrise. Und auch nicht jede plötzliche Abwertung muss schlecht sein. Ein niedrigerer Wechselkurs­ stärkt die Konkurrenzfähigkeit der Industrie (relativ zur ausländischen Konkurrenz kann sie jetzt billiger produzieren). Als das britische Pfund und die ­italienische Lira Anfang der 1990er den zu hohen fixen Wechselkurs nicht halten konnten und unter dem Druck der Währungsspekulanten einbrachen, hat sich diese Episode schon relativ bald als günstig für beide Volkswirtschaften erwiesen. Gefährlich wird die Sache, wenn Probleme der Zahlungsbilanz auf ein fragiles Finanzwesen treffen. Warum? Ein Mittelabfluss aus dem thailändischen Bath bedeutet, dass Bath in eine andere Währung getauscht werden müssen (meist in Dollar). Wenn viele Bath verkaufen und Dollar kaufen wollen, aber wenige Bath kaufen wollen, dann sinkt der thailändische Währungskurs – eine Abwertung. Aber das ist nicht alles: Damit ein reicher thailändischer Geschäftsmann oder die Managerin eines Schweizer Pensionsfonds ihre Bath in sicherere Dollar tauschen können, müssen sie erst einmal von einem Konto abgehoben werden. Und wenn sehr viele auf einmal tauschen wollen, dann werden auch sehr viele Einlagen aufgelöst – eine Variation zum Thema „bankrun“. Natürlich: je widerstandsfähiger ein Bankensystem, je höher die Liquiditäts- und Eigenkapitalreserven, um so eher kann es so etwas überleben. Je fragiler, desto schneller folgt der Zusammenbruch.

Das Ganze wird verschärft, wenn viele Wirtschaftsteilnehmer in Fremd­ währung verschuldet sind. Gerade in Ländern mit langer Geschichte er­ höhter Inflation (und daher auch höheren Zinsen) sind das oft nicht we­ nige. Schon bevor österreichische Banken den privaten Haushalten im Inland und in Osteuropa die Segnungen des Fremdwährungskredits schmackhaft machten, verschuldeten sich in Schwellen- und Entwick­ lungsländern sowohl Unternehmen als auch der Finanzsektor in Fremd­ währung. Eine Abwertung erhöht den Wert dieser Schulden.

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Zahlungsbilanzkrisen

7.5

Schulden in Fremdwährung bringen noch ein zusätzliches Problem: Einem Bank­ run auf Bath-Einlagen könnte die thailändische Notenbank durch die Ausgabe von frischem Notenbankgeld kontern, solches kann sie theoretisch in beliebiger Menge schaffen. Für die Refinanzierung von kurzfristigen Dollar-Verbindlichkeiten werden Devisenreserven benötigt. Das ist übrigens ein Grund, warum die Devisenreserven der Schwellen- und Entwicklungsländer in den letzten Jahren förmlich explodiert sind. Als Vorgeschichte von Zahlungsbilanzkrisen gibt es dabei immer eine Liberali­ sierung des Finanzmarktes und eine Abschaffung von Kapitalverkehrskon­ trollen. In Mexiko geschah das Anfang der 1980er-Jahre (Zahlungsbilanzkrise 1994), in Osteuropa mit dem Ende des Realsozialismus (Russlandkrise 1998, ­einige Probleme während der Finanzkrise 2008, etwa in Rumänien oder der Ukraine.) In Asien wurden die Finanzmärkte Anfang der 1990er liberalisiert, die Krise folgte 1997. Nur die chinesische Volkswirtschaft segelte relativ unbeschadet durch die Verwerfungen. Aber China hat seine Finanzmärkte bis heute nicht vollständig geöffnet und der Renminbi ist nicht frei handelbar. Die geöffneten Finanzmärkte führen zu einem Zustrom von Kapital (nicht ­immer, aber dort, wo hohe Profite erwartet werden.) Das bringt dann eine Über­ versorgung mit Kapital, den Einstieg in immer riskantere Projekte und das ­Aufblähen von Aktien- und Immobilienblasen. Der Kapitalzustrom führt aber auch zu einer Aufwertung der Währung (entweder durch steigende Wechselkurse, oder weil das viele Geld Inflation auslöst). Das bedeutet dann Verlust an Wettbewerbsfähigkeit der Industrie. Langsam erscheint den Investoren die Lage immer riskanter: Hohe Importe und wenig Exporte, heroisch bewertete Aktienkurse und Immobilien, eine wirtschaftliche Struktur, die sich von der Produktion Richtung Immobilien und Konsum verschiebt, ein fragiles Finanzwesen. Ein beliebiges Ereignis löst eine Panik aus, es folgt der Kapitalabfluss (dieser betrug in Asien 1997 rund 84 Mrd. US-$, davon 73 Mrd. an kurzfristigen Krediten), danach die Krise des Banksystems und der Wirtschaft. Die Ärmsten trifft das dann am härtesten: Die Armut nahm als Folge der Krise in Indonesien um 100 % zu, in Thailand und Südkorea um mehr als 75 %. In absoluten Zahlen sind das alleine in diesen drei Ländern 22 Mio. Menschen, die zusätzlich in die Armut geworfen wurden.

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8

Die Politik der Finanzmarktöffnung Unkontrollierte Finanzmärkte neigen zu manischen Übertreibungen, in denen wirtschaftliche Überhitzung und Vermögenspreisblasen entstehen, dann zu plötzlichen Panikattacken, die das Kreditsystem zerlegen. Sie überschwemmen einzelne Länder mit Geld, was die Währung nach oben treibt und die Konkurrenzfähigkeit verringert, nur um danach die Flucht zu ergreifen und Zahlungsbilanzkrisen auszulösen. Wenn Banken und andere Finanzmarktteilnehmer in der Krise gerettet werden, wird das teuer. Lässt man sie fallen, kostet der Zusammenbruch der Kreditvergabe wahrscheinlich noch mehr. Je undurchsichtiger Finanzmärkte werden, desto weniger kalkulierbar sind die Risken. Eigentlich Grund genug für eine enge staatliche Aufsicht und Regulierung des Finanzsektors. Wer am Ende bezahlen muss, sollte auch ein wenig mitreden können. Statt dessen wurden seit den 1970er-Jahren die Finanzmärkte weit­ gehend dereguliert (zwischen dem 2. Weltkrieg und den 1970er-Jahren gab es übrigens kaum systemische Finanzkrisen), erst seit der Finanzkrise von 2008 gibt es zaghafte Schritte, die Regulierung wieder engmaschiger zu gestalten. Die „Befreiung“ der Finanzmärkte war von Anfang an ein politisches Projekt, das einen grundsätzlichen Politikwechsel in der Nachkriegszeit markiert – von der Reformpolitik der ersten Nachkriegsjahrzehnte zur neoliberalen Wende der 1980er- und 1990er-Jahre. Dabei handelt es sich um die Demontage der historisch einzigartigen Reform­ konstellation, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Druck der Konkurrenz mit der Sowjetunion und der stärker gewordenen Arbeiterbewegung ­zu Stande gekommen war. Wirtschaftspolitisch zielte diese Reform auf die Stärkung des binnenwirt­ schaftlichen Wachstums, auf Vollbeschäftigung und den Ausbau der sozi­ alen Sicherheit. Damit verbunden war die Stärkung des Privatkonsums sowie die Förderung von Investitionen in die Realwirtschaft. Um diese Ausrichtung nach außen abzusichern, einigten sich die Regierungen der großen Industrieländer auf ein umfassendes internationales Kooperati­ onssystem, das eine rasche Liberalisierung des Welthandels und ein Re­ gime fester Wechselkurse umfasste.

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8 Die Beschränkungen der internationalen Kapitalbewegungen wurden als Bedingung für eine erfolgreiche nationale Wirtschaftspolitik beibehalten und zum Teil ausgebaut. Diese Gesamtkonstellation hielt ein Vierteljahrhundert lang und war mit hohem ökonomischem Wert verbunden: Das Wachstum des weltweiten BIP/ Kopf lag zwischen 1960 und 1980 bei drei Prozent, zwischen 1980 und dem Jahr 2000 bei 2,3 Prozent und im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausend bei 2,5 Prozent, die Auswirkungen der Finanzkrise werden im nächsten Jahrzehnt das Wachstum weiter drücken. Die Abschwächung des absoluten Wachstums ist aber nur ein Teil des Bildes, der andere ist die explodierende Ungleichverteilung. Das Medianeinkommen der US-Haushalte stagniert praktisch seit dem Beginn des neoliberalen Umbaus 1980, mit nur einer kurzen Steigerung Ende der 1990er-Jahre. (Medianeinkommen = Einkommen eines durchschnittlichen Haushalts). Nach innen hatte die Reformkonstellation der Nachkriegszeit den Unternehmen erhebliche wirtschaftliche (Lohnerhöhung über dem Produktivitätsanstieg) und politische Zugeständnisse (betriebliche Mitbestimmung, Optimierung der Gewinnsituation nicht erstes wirtschaftspolitisches Ziel) abverlangt, die für die kapitalistische Entwicklung in den letzten Jahrhunderten einmalig waren. Dennoch war diese Nachkriegsordnung weder harmonisch noch widerspruchsfrei. International handelte es sich um eine Kooperation unter der Hegemonie der USA, deren nationales Geld zugleich als Weltgeld fungierte. Dies war praktisch für die USA, da sie sich so günstig verschulden konnten. Die fixen Wechselkurse machten allerdings einen Ausgleich der Ungleichgewichte im internationalen Handel schwierig. Als die wirtschaftliche Dynamik der Nachkriegszeit erschöpft war, brachen die inneren und äußeren Gegensätze wieder verstärkt auf, und die Gegenreform setzte ein. Die historische Alternative zur Gegenreform, nämlich die Fortführung und Vertiefung der Reformschritte der Nachkriegszeit, wurde zu Gunsten eines verschärften Wettbewerbs zwischen den Staaten ersetzt. Nach innen wurde die internationale Wettbewerbsfähigkeit zur obersten Orientierung für alle Bereiche der Wirtschafts- und viele Bereiche der sonstigen Politik. In diesen Prozess der Gegenreform war der Finanzsektor führend eingespannt:

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8

Die Politik der Finanzmarktöffnung Um die Möglichkeiten des Finanzinvestments auch auf internationaler Ebene nutzen zu können, wurden die Beschränkungen der Kapitalmobilität aufgehoben. Die Freiheit des Devisenverkehrs beschränkte sich im Bretton-Woods-System ausschließlich auf die Funktion des Geldes als Zahlungs- und Schmiermittel für den realen Güter- und Dienstleistungsverkehr, nicht jedoch auf den Kapitalund noch weniger auf den reinen Währungsverkehr. Wenn die Aufhebung des Systems fester Wechselkurse nur dem Zweck gedient hätte, den Ausgleich des Außenhandels und der Leistungsbilanzen zu erleichtern, hätte es keiner Kapitalverkehrsliberalisierung bedurft. Tatsächlich wurden aber ab Mitte der 70er-Jahre – ausgehend von den USA und der Schweiz – in fast allen OECD-Ländern bestehende Beschränkungen für die Ein- und Ausfuhr von Finanzkapital abgeschafft. Die Gründe hierfür lagen einerseits in den Notwendigkeiten der Unternehmen, zur Absicherung gegenüber dem nunmehr privatisierten Wechselkursrisiko diversifizierte Währungsportfolios zu halten. Zum anderen liegen sie in den besonderen Interessen der großen Finanzmarktakteure an neuen Möglichkeiten der internationalen Expansion. Damit entstanden die heutigen globalisierten Finanzmärkte – mit gewaltigen Folgen. Erstens: Die neue Bewegungsfreiheit für das Kapital ist ein Hebel, um sich nationalen Regulierungen und nationaler Besteuerung zu entziehen. Die am wenigsten regulierten und mit den geringsten Steuern ausgestatteten Finanzplätze konnten am meisten Geschäft anziehen. Das setzte nicht nur eine Massenflucht in Steueroasen in Gang, es begann auch eine Spirale nach unten: Die Regierungen reagierten auf die Standortkonkur­ renz der Finanzplätze mit der Lockerung bzw. Aufhebung von Regulierungen und der Senkung der Steuern auf Kapitalerträge. Begonnen hatte dies bereits mit der Entwicklung des Euromarktes in den 1960erJahren, wo in London Besitzer von US-$ mit US-$ Geschäfte machen konnten (Vergabe von Dollarkrediten, Führung von Dollarkonten) und damit den USamerikanischen Zinsverboten und -höchstgrenzen entgingen. So wurden z. B. in den USA ab 1980 diese Regulierungen aufgehoben, und auch in Japan, Großbritannien und Frankreich verschwanden die meisten Zins­ regulierungen. In Deutschland wurde der ohnedies wenig regulierte Finanz­

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8 sektor durch drei „Finanzmarktförderungsgesetze“ in den 1990er-Jahren weiter dereguliert. Wenn auch die Regulierung des Sektors der Geschäftsbanken nicht völlig aufgegeben wurde, so ignorierten die Aufsichtsbehörden doch das Auftreten eines Sektors von Schattenbanken aus Investmentbanken, Versicherungen, besonderen Hedgefonds und speziellen Investmentvehikeln der Geschäftsbanken, die einfach Aktivitäten aus ihren Bilanzen herausverlagerten. Dieser wurde dann zum Zentrum der Finanzkrise (auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht, denn beim Auftreten von Schwierigkeiten mussten die Investmentvehikel wieder in die Bankbilanzen integriert werden.) Zweitens: Die Mobilität des Kapitals ermöglicht Druck auf Geschäftsfüh­ rungen und Belegschaften und damit die Herausbildung der Ideologie des „Shareholder-Value“. Das Interesse an hohen Profiten ist nichts Neues für ­kapitalistische Unternehmen, die heutige Entwicklung stellt aber eine Verschiebung im Kräfteverhältnis zwischen den Interessensgruppen in der Unternehmensführung zu Gunsten der Eigentümerinteressen an maximalem Profit dar. Deren ausschließliche Geltung war im Lauf der Entwicklung des Kapitalismus in Europa durch die Arbeiterbewegung und eine demokratische und soziale Gesetzgebung teilweise eingeschränkt worden. Dadurch konnte eine Unternehmenskonzeption einen gewissen Einfluss gewinnen, in der Unternehmen – zumindest ab einer bestimmten Größenordnung – als gesellschaftliche Organisation aufgefasst wurden, die gesellschaftliche Verantwortung tragen und in deren Führung ein Mindestmaß an Demokratie und Berücksichtigung verschiedener gesellschaftlicher Interessen gelten sollte. Hinter der Shareholder-Value-Orientierung steht der Angriff auf diese Reformkonzeption und der Anspruch auf die Alleinherrschaft des Profitinteresses der Kapitaleigentümer. Gleichzeitig ist die Konzeption des „Shareholder Value“ gemäß der Schnelllebigkeit der Finanzmärkte auf die kurze Frist ausgerichtet und verhindert somit im Zweifelsfall längerfristige Investitionen. Der „Shareholder Value“ und die damit verbundene Standortkonkurrenz führt zu sinkenden Lohnquoten und sinkenden Sozialausgaben, das schwächt die Gesamtnachfrage (wer wenig hat, kann auch nicht viel kaufen).

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Die Politik der Finanzmarktöffnung Drittens: Das Ende von Kapitalverkehrsbeschränkungen bedeutet größeren Einfluss von Finanzmärkten auf staatliche Politik und eine gesteigerte ­Krisenanfälligkeit. Wo zu hohe staatliche Defizite oder eine zu laxe Geldpolitik befürchtet wird, dort fließen Mittel ab, treiben damit die Zinsen für die Staatsverschuldung in die Höhe – und damit das gesamte langfristige Zinsniveau einer Volkswirtschaft. Von den Vertretern der neoliberalen Gegenreformation ist dieser Effekt gewünscht, man spricht von der „Disziplinierung“ durch die Finanzmärkte. Dabei ist die „Disziplin der Finanzmärkte“ ein unberechenbarer Zeit­genosse. Das Herdenverhalten der Finanzmärkte kann Länder, an deren Kreditwürdigkeit zuvor nur leichte Zweifel bestanden haben, über Nacht in die Knie zwingen. Zwei Beispiele: Nachdem „der Markt“ jahrelang kaum Risiko in irischen oder italienischen Staatsanleihen gesehen hat, setzen 2010 (Irland) und im Sommer 2011 (Italien) plötzlich panikartige Absetzbewegungen ein. Dann folgen ebenso panische staatliche Sparpakete, die die betroffenen Wirtschaften in die Krise stürzen und damit die Bedienung der Schulden erst recht zweifelhaft machen. Bei der Obsession über möglichst niedrige öffentliche Schulden und den notwendigen Rückbau des Sozialstaates bleibt anzumerken, dass die öffentliche Verschuldung der Industriestaaten in den letzten Jahrzehnten allgemein weiter steigt – was regelmäßig als Hinweis dafür gesehen wird, dass die Dosis der bereits gescheiterten neoliberalen Arznei erhöht werden muss. Theoretisch könnte man allerdings auch den etwas logischeren Schluss ziehen, zu einer wachstumsund nachfrageorientierten Politik zurückzufinden. In der öffentlichen Darstellung erscheint die Entwicklung der Finanzmärk­ te in ihrer Abfolge oft wie ein von außen auferlegter und unbeeinfluss­ barer Zwang des Weltmarktes: Zuerst haben die Märkte die Freigabe der Wechselkurse erzwungen, danach musste zwangsläufig der internationale Kapitalverkehr liberalisiert werden, und schließlich ließ der freie Kapital­ verkehr den Regierungen bei Strafe massenhafter Kapitalflucht keine andere Wahl, als die nationalen Vorschriften zu lockern oder abzuschaf­ fen. Diese Sicht ist jedoch zu revidieren.

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8 Die Abschaffung der festen Wechselkurse geht auf die politische Entscheidung der US-amerikanischen Regierung zurück, ihren Vorteil in der Währungskonkurrenz zu suchen, statt die in der Tat untragbar gewordene Führungsrolle des US-$ durch ein kooperatives Währungssystem abzulösen. Die Liberalisierung des Kapitalverkehrs geht auf den Druck von Interessen und Verbänden zurück, dem Anlage suchenden Kapital neue Expansionsmöglichkeit zu bieten. Dies zog politische Konsequenzen im Inneren nach sich: Um das Kapital im Land zu halten, müssen ihm zumindest ebenso günstige Verwertungsbedingungen geboten werden wie im Ausland. Begleitet wurden diese politischen Entscheidungen von ideologischen Aus­ einandersetzungen. Mit dem neoliberalen Umbau gewannen auch Auffassungen des Marktradikalismus an Boden, nach denen Märkte in allen Belangen bei der Entscheidungsfindung überlegen seien. Zumindest was die großen Länder und Wirtschaftsblöcke wie die EU angeht, handelte es sich nicht um Sachzwänge, sondern um politische Entscheidungen, die natürlich unter dem Druck bestimmter Interessen zu Stande gekommen, ­jedoch weder logisch zwingend noch unausweichlich waren. Unter anderen politischen Kräfteverhältnissen hätten auch andere Entscheidungen mit anderen Konsequenzen gefällt werden können – ebenso wie einmal getroffene ­Entscheidungen wieder revidiert werden können. Das es grundsätzlich auch anders geht, zeigt nicht nur die Nachkriegszeit, sondern auch China heute: Weil den Anlegern auf Grund von Kapitalverkehrs­ kontrollen die Alternativen fehlen, erlauben diese relativ niedrige Zinssätze, diese wiederum begünstigen Investitionen in die Realwirtschaft, den Aufbau von Arbeitsplätzen und den Abbau von Staatsschulden. Das chinesische Wirtschaftswunder ist dabei mit großen Problemen behaftet (für die hier der Platz fehlt) und auch die nach Abzug der Inflationsrate negativen Zinsen für die Sparer sind nicht ohne Schwierigkeiten. Dennoch: hunderte Millionen haben die Armut hinter sich gelassen, bei einer totalen Öffnung der Kapitalmärkte würden wir so ein Ergebnis ausschließen.

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9

Ein Wachstumsmodell und seine Grenzen Ungleiche Einkommensverteilung und struktureller Unterkonsum Seit den 1980er-Jahren können wir eine umfassende Verschärfung der Ungleichverteilung von Einkommen feststellen. In der Volkswirtschaftslehre werden dafür unterschiedliche Erklärungen angeboten, eine der beliebtesten ist der technologische Wandel, aber tatsächlich lassen sich diese Dinge schwer ohne Rücksichtnahme auf die neoliberale Politikwende begreifen. Die Liberalisierung von Finanzmärkten und der Wegfall der Kapitalverkehrskontrollen spielt dabei eine Rolle (siehe letztes Kapitel), kombiniert wird das mit der Möglichkeit der Auslagerung von Produktion in andere Länder. Beides hat die Arbeitsmärkte grundlegend verändert und Gewerkschaft wie Belegschaften stark unter Druck gesetzt. Die Standortkonkurrenz ist das entscheidende Merkmal des internationalen Wirtschaftssystems geworden. Konkurrieren können Standorte über unterschiedliche Dinge: Infrastruktur, die Qualität von Zulieferern oder die Qualität der Ausbildung der MitarbeiterInnen spielten eine Rolle. Das Vorhandensein von anderen Unternehmen der gleichen Branche kann ausgespielt werden. Aber im Endeffekt ist es auch wichtig, dass die MitarbeiterInnen nicht zu viel verdienen. Auf den Arbeitsmärkten haben in der Folge Gewerkschaften an „Marktmacht“ verloren und an der Fähigkeit, ihre Preisvorstellungen durchzusetzen. International sieht man seit Mitte der 1970er sinkende Lohnquoten, also sinkende Anteile der Löhne und Gehälter am Brutto-Inlands-Produkt. (Der andere Teil sind Einkommen aus selbstständiger Arbeit, Zinsen, Miet- und Pachteinnahmen, sowie Unternehmensgewinne.) Das gilt für die ganze Welt, mit einigen bemerkenswerten Beispielen: In Deutschland ist die Summe aller Löhne und Gehälter nach Abzug der Inflation von 1993 bis 2009 um kaum merkbare 2,1 Prozent gestiegen, von 2000 bis 2007 (vor der Finanzkrise) gar um 5 Prozent gefallen. Unternehmensgewinne und Einkommen aus Vermögen legten 20002007 übrigens 42 Prozent zu (ebenfalls inflationsbereinigt.) (Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland) Die fallenden Lohnquoten spiegeln dabei nicht die gesamte Ungleichverteilung wider, denn Löhne erhalten viele, von der leitenden Managerin bis zum Reinigungspersonal. Und deren Löhne gehen weiter auseinander. In Großbritannien haben 1998 die Vorstandsvorsitzenden der großen an der Börse in London no-

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9 tierten Unternehmen das 40-Fache des Durchschnittsverdienstes in ihren Unternehmen mit nach Hause genommen. 2010 war es das 120-Fache. (Quelle: Hutton Review of Fair Pay). In den USA hat das Einkommen eines durchschnittlichen Haushalts in den letzten 30 Jahren praktisch stagniert. (Das „Medianeinkommen“: Die Hälfte der Haushalte verdient mehr, die andere weniger). Auf der anderen Seite sind die Einkommen an der Spitze der Einkommens­ pyramide gewaltig gewachsen. Zufall oder nicht: 2008 hat die Ungleichverteilung wieder das Niveau vor der Weltwirtschaftskrise erreicht. 46 Prozent gehen an die Top 10 Prozent der Einkommensbezieher (siehe Graphik).

Einkommensverteilung in den USA 50,00 45,00 40,00 35,00 30,00 25,00 20,00 15,00 10,00

Top 10% Top 5% Top 1% Top 1/2% Top 0,1% Top 0,01%

5,00

19 13 19 18 19 23 19 28 19 33 19 38 19 43 19 48 19 53 19 58 19 63 19 68 19 73 19 78 19 83 19 88 19 93 19 98 20 03 20 08

0,00

Anteil der höchsten Einkommen am Gesamteinkommen US-amerikanischer Familien, 1913-2008 Quelle: Saez, Piketty, Income Inequality in the United states

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9

Ein Wachstumsmodell und seine Grenzen Bereinigte Lohnquoten ausgewählter europäischer Länder 75 70 65 60 55

Deutschland Frankreich Österreich Schweden

50 45

19 62 19 66 19 70 19 74 19 78 19 82 19 86 19 90 19 94 19 98 20 02 20 06 20 10

40

Quelle: AMECO Datenbank

Was hat das mit den Finanzmärkten zu tun? Einerseits sind die liberalisierten Finanzmärkte eine Quelle dieser Ungleichverteilung, wenn sie wie erwähnt den Druck auf die Belegschaften steigern und gleichzeitig die Kapitalsteuern immer niedriger werden. Auf der anderen Seite haben die letzten Jahrzehnte ein wirtschaftliches Entwicklungsmodell gesehen, in dem Finanzmärkte eine entscheidende Rolle spielen. Dieses Entwicklungsmodell wird in der Folge in seinen Grundzügen nachgezeichnet – eine gewisse Vereinfachung ist nicht zu vermeiden. Waren die 1970er-Jahre von starken Gewerkschaften, steigenden Gehäl­ tern, aber auch einer Tendenz zur Inflation gekennzeichnet, dreht sich diese Situation mit der neoliberalen Wende um.

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Expansion des Finanzsektors

9.1

Die allgemein schleppende Entwicklung der Lohneinkommen (und vor allem der niedrigeren Lohneinkommen) bringt eine strukturelle Schwäche des privaten Konsums und gleichzeitig sinkende Inflations­raten. Löhne sind auch Kosten, sinkende Löhne nehmen den Druck zu Preissteigerungen. Diese Tendenz wird durch immer neue auf den Weltmarkt drängende (meist asiatische) Schwellenländer verstärkt, die in der Regel exportorientierte Entwicklungsmodelle verfolgen und noch niedrigere Löhne aufweisen. In einem nächsten Schritt führt der strukturelle Unterkonsum zum Ausbleiben realwirtschaftlicher Investitionen. Die sinkenden Lohnquoten haben in den letzten Jahrzehnten zwar die Gewinne anschwellen lassen, gesättigte Märkte haben aber verhindert, dass in eine besondere Ausweitung von Kapazitäten investiert worden wäre. In der EU sind die Investitionsquoten (Investitionen in Prozent des BIP) mit einigen Schwankungen von 22-23 Prozent in den 1970er-Jahren auf knapp 20 Prozent im neuen Jahrtausend gefallen.

Expansion des Finanzsektors Gleichzeitig nimmt die Liquidität der Finanzmärkte gewaltig zu, es kommt zur Zunahme finanzieller Vermögen in Prozent der Wirtschaftsleistung (siehe Ein­ leitung). In den Dekaden des Neoliberalismus scheint der Finanzsektor zum Zentrum der Wirtschaft aufgestiegen: Während die alten Industriegebiete Nordenglands und des Ruhrgebiets seit Jahrzehnten Krisenregionen darstellen, verkörpern die Glastürme in Frankfurt und London auch nach der Finanzkrise noch wirtschaftliche Prosperität. Während die „Realwirtschaft“ (außerhalb des Finanzsektors) seit Jahren stagnierende Löhne bietet, lebt es sich als Investmentbanker relativ gut: Goldman Sachs hat jedem seiner Angestellten 2010 durchschnittlich 544.000 Dollar an Gehältern und Boni bezahlt. Und die 25 best­ bezahlten Hedge-Fonds-Manager 2009 haben gemeinsam 25,3 Mrd. Dollar verdient – David Tepper allein hat vier Milliarden Dollar mit nach Hause genommen, George Soros 3,3 (New York Times, 1.4.2010). Finanzdienstleistungen und Versicherungen trugen in den USA 1950 2,8 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei, 1970 war dieser Wert dann 4,2 Prozent, 2010 wurde trotz Finanzkrise das Allzeithoch von 8,4 Prozent erreicht (Bureau of eco-

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Ein Wachstumsmodell und seine Grenzen nomic analysis). In Österreich liegt dieser Wert bei vernünftigeren 4,4 Prozent (Statistik Austria), andere Länder kommen aber auf noch höhere Anteile als die USA – etwa Irland vor der Finanzkrise. Selbstverständlich fallen bei Finanzintermediären wichtige Tätigkeiten an (etwa die Risikobewertung von Kreditnehmern), die Arbeit kosten und natürlich auch bezahlt werden müssen. Aber es ist dennoch nicht unbedingt ein Zeichen des Erfolges, wenn eine Vermittlungstätigkeit immer größere Teile der Wirt­ schaftsleistung beansprucht und gleichzeitig die Schwankungen des Finanzsektors die Weltwirtschaft in Atem halten. Erst 2011 kam es zu einer nennenswerten Kontraktion der Finanzinstitutionen: Die Banken bemerkten, dass die Profite von vor der Krise nicht mehr zurückkehren würden und begannen Personal abzubauen – besonders im Investmentbanking. Ungleiche Einkommensverteilung und Finanzmarktexpansion hängen ­dabei eng zusammen: xx Die zunehmende Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen ist auch Quelle für einen gehörigen Zustrom an Mitteln in die Finanz­ märkte. Wer viel hat, ist in der Lage, einen größeren Teil anzulegen und – was bedeutender ist – legt riskanter an. So steigt etwa die Bereitschaft, ­Aktien zu halten, mit der Höhe des Einkommens. xx Steigende Unternehmensgewinne und stagnierende Investitionen in die ­Realwirtschaft lenken Mittel aus dem Cash-flow von Unternehmen auf die Finanzmärkte um. Teilweise für Aktienrückkäufe, teilweise für Unternehmensübernahmen, manchmal auch für reine Finanzanlagen oder riskante Spekulationsgeschäfte. Mit einigen extremen Beispielen, wie dem Autobauer als Hedge-Fonds: Im Jahr 2008 hatte Porsche einen Umsatz aus dem Verkauf von Autos von 8,6 Mrd. Euro – und einen Gewinn aus Optionsgeschäften von 11 Mrd. Euro (Der Vollständigkeit halber: Die Optionsgeschäfte sind im nächsten Jahr ­gefloppt und das Unternehmen wäre beinahe zusammengebrochen). In Ländern wie den USA oder Großbritannien hat der Unternehmenssektor seit der Jahrtausendwende praktisch ununterbrochene Finanzierungsüberschüsse, die Gewinne liegen höher als die Summe aus Investitionen und Gewinn­

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Expansion des Finanzsektors

9.1

ausschüttungen – die Differenz fließt auf die Finanzmärkte. Ende 2010 ­sitzen etwa die US-Unternehmen auf einem Berg an Einlagen und kurz­ fristigen Finanzinstrumenten von 2.000 Mrd. Dollar. Würde dieses Geld ­verwendet, um zu investieren und Beschäftigte einzustellen, müsste über staatliche Konjunkturpakete nicht geredet werden. xx Die exportorientierten Entwicklungsmodelle einiger Volkswirtschaften, mit noch niedrigeren Löhnen oder sehr geringen Lohnsteigerungen - die wichtigsten sind China und Deutschland –, haben zu gewaltigen Ungleichge­ wichten im Außenhandel geführt. Wobei die Überschussländer gezwungen sind, ihre Überschüsse in die Defizitländer zu verborgen. Wir haben schon den gewaltigen Anstieg internationaler Devisenreserven gesehen, dabei handelt es sich nicht um Geldscheine in Tresoren. Die chinesischen Devisenreserven im Wert von etwa 3.000 Mrd. Dollar (2011) werden in erster Linie im US-amerikanischen Finanzmarkt investiert. Die Ungleichgewichte des ­Außenhandels verstärken damit die Überliquidität von Finanzmärkten. xx Die Finanzmarktexpansion könnte theoretisch durch eine restriktive Geld­ politik (hohe Leitzinsen) verhindert werden. Theoretisch: Denn in einer ­Situation strukturellen Unterkonsums und im Schnitt niedriger Inflations­ raten bedeuten höhere Zinsen nicht nur ein Ende der Finanzmarktparty, sondern auch einen Einbruch der Realwirtschaft. Die Notenbanken haben daher niemals Gegenmaßnahmen ergriffen, teilweise die Herausbildung von Vermögenspreisblasen auch aktiv gefördert. Über die Höhe der Inflationsraten darf man sich nicht täuschen: In Ausnahmefällen haben diese im neuen Jahrtausend mehr als drei Prozent erreicht, aber auch solche Werte sind eigentlich recht niedrig. Das Problem schwin­ dender Kaufkraft liegt nicht bei der hohen Inflation, sondern bei ­ungenügenden Lohnerhöhungen. Punkt drei wird außerhalb von Deutschland und China (die dabei eher schlecht wegkommen) von vielen Ökonominnen und Ökonomen als „global imbalan­ ces“ bezeichnet, als gewaltiges Problem gesehen und mit für die große Finanzkrise verantwortlich gemacht.

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9

Ein Wachstumsmodell und seine Grenzen Die sozialen Ungleichgewichte spielen unserer Auffassung nach eine mindes­ tens ebenso wichtige Rolle. Gemeinsam haben sie in den letzten Jahrzehnten zur ungeheuren Aufblähung des Finanzsektors geführt.

Überschuldung Die Geschichte ist damit noch nicht zu Ende, denn die Überliquidität der Finanzmärkte hat weitere Folgen: Die Anlagemöglichkeiten sind begrenzt, weil der Unternehmenssektor als traditioneller Abnehmer der überschüssigen Ersparnisse ausfällt. Wenn viel Geld eine begrenzte Anzahl von Vermögenswerten kaufen will, dann steigt deren Preis. Eine Vermögenspreisinflation. Wenn diese gewisse Ausmaße annimmt, können wir von einer Vermögenspreisblase sprechen. In den letzten Kapiteln haben wir festgestellt, dass solche in den letzten Jahrzehnten allgegenwärtig waren. Überliquidität und fallende Inflationsraten lassen auch die Zinsen sinken, und stellen Mittel für eine steigende Verschuldung bereit. Tatsächlich ist die Zunahme finanzieller Vermögen in den letzten Jahrzehnten mit einer Zunahme von Schulden verbunden. Das ist auch rein technisch gar nicht anders möglich, denn Finanzvermögen ist ja zumeist (mit Ausnahme von Aktien oder Geldscheinen in einem Kopfpolster) irgendeine Form von verzinstem Schuldtitel.

Besondere Dynamik hat dabei die Ausweitung von Schulden privater Haushalte, die in praktisch allen Ländern gestiegen sind – angesichts der Überschüsse des Unternehmenssektors ergießen sich die Finanzmarkt­ mittel in den privaten Hauskauf. Nach 2007 stieg dann die staatliche Verschuldung.

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Überschuldung

9.2

❮❯ Schulden Privater in Prozent des BIP 2009 (Vergleichsjahre in Klammer) Länder Japan

Private Haushalte, Verschuldung in Prozent des BIP 69% (1990:60%)

GB

103% (1990:62%)

Spanien

87% (1990: 30%)

Südkorea

78% (1990: 35%)

Frankreich

44% (1994: 29%)

Italien

41% (1994: 18%)

Schweiz

118% (2000: 112%)

USA

97% (1990: 59%)

Deutschland

64% (1990: 50%)

Kanada

88% (1990: 59%)

Österreich

57,6% (1990: 41%)

Quelle: Mc Kinsey Institute, OeNB

Vorsicht: Auch Volkswirtschaften mit größeren Defiziten des Außenhandels verschulden sich dabei hauptsächlich bei sich selbst. Wenn in den Medien behauptet wird, „wir“ hätten „über unsere Verhältnisse gelebt“, dann ist das schlicht falsch. Eine Volkswirtschaft kann nicht über ihre Verhältnisse leben, es kann im­ mer nur verkonsumiert werden, was zuvor hergestellt wurde. (Das Gegenteil ist schon möglich: bei Arbeitslosigkeit lebt eine Wirtschaft unter ihren Verhältnissen). Die Zunahme der Schulden bedeutet, dass sich einige Wirtschaftsteilnehmer (und ganze Sektoren, wie der Staat) vor allem bei den Haltern der großen Geldvermögen verschulden. Gerade die Schulden des Haushaltssektors wurden lange nicht als Problem erkannt: Haushalte verschulden sich in allererster Linie zum Kauf von Immobilien, deren Wert den Wert des Kredits in der Regel übersteigt. Das ist auch der

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Ein Wachstumsmodell und seine Grenzen ­ intergrund, warum die Finanzierungen überhaupt gewährt werden, denn die H Banken nehmen die gekauften Immobilien als Sicherheit. Ein Problem für die Kreditgeber entsteht, wenn die Vermögenspreise zu fallen beginnen, und die Sicherheiten eben nicht mehr ausreichen. Die Ausweitung von Kredit und Schulden ist dabei nicht auf den Sektor der Privathaushalte oder des Staates beschränkt. Vor allem im Finanzsektor sind jene, die das Geld ausborgen, auch jene, die es wieder verleihen oder in Finanztitel investieren. Aber auch das ist nicht unproblematisch, wird doch die Struktur der Finanzierung einer Wirtschaft immer komplizierter und riskanter. Mit den schon erwähnten Schwierigkeiten, wenn größere Finanzmarktakteure ausfallen. Dann bricht die Pyramide aus gegenseitigen Zahlungsversprechungen zusammen. Am Beispiel der USA: Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchsen die Schulden kaum schneller als das BIP. In den 1960er-Jahren brauchte es 1,53 Dollar neue Kreditinstrumente pro zusätzlichem Dollar BIP, in den 1970ern 1,68. Dann die neoliberale Wende: ein Dollar zusätzliches Wachstum braucht an zusätzlichen Kreditinstrumenten 2,93 Dollar in den 1980ern; 3,12 Dollar in den 1990ern und schließlich mehr als 6 Dollar im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausend.­ (Quelle: Federal Reserve, Flow of Funds Account) Keine Frage, dass die Kreditsause der letzten Jahre mit einem aufgeblähten Finanzsektor einhergeht, keine Frage, dass Vermögenspreisblasen unvermeidlich sind und keine Frage, dass das nicht ewig gut geht. Als letzter Schritt für ein finanzmarktgetriebenes Wachstumsmodell: Die wiederkehrenden Vermögenspreisblasen und die leichte Verfügbarkeit von Krediten stabilisieren dabei den Privatkonsum. Statt steigenden Löhnen gibt es steigende Hauspreise und höhere Kredite. Das ermöglicht einen Rückgang privater Sparquoten auf sehr niedriges Niveau – man spricht vom „Vermögens­ effekt“. Und damit kann mehr Geld in den Konsum gesteckt werden. Nicht überall, aber überall dort, wo größere Vermögenspreisblasen am Werk sind oder waren, etwa in GB, den US oder Dänemark vor der Finanzkrise. In anderen Ländern gab und gibt es keine (oder keine großen) Vermögenspreisblasen, dort kann Wachstum über eine Hyperkonkurrenzfähigkeit der Exportin-

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Überschuldung

9.2

dustrie erreicht werden. Allerdings um den Preis noch weiter zurückbleibender Masseneinkommen und um den Preis einer zunehmenden Außenabhängigkeit der Wirtschaft. In Europa ist Deutschland das beste Beispiel für eine solche Entwicklung.

Wir sehen ein Wachstumsmodell, bei dem steigende Löhne durch stei­ gende Schulden ersetzt werden. Die Stabilität dieser Schulden baut dabei auf steigende Vermögenspreise – und gerät in die Krise, wenn die Vermö­ genspreise zu rutschen beginnen. Ob dieses Wachstumsmodell mit der großen Finanzkrise endgültig am Ende ist oder neue Vermögenspreisbla­ sen einen neuen Schulden getriebenen Aufschwung auslösen können, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Wir würden aber eher ersteres vermuten. 2011 leiden eigentlich alle Industriestaaten unter der schieren Höhe der aufgelaufenen Schulden, einem durch das Platzen der Vermö­ genspreisblasen ausgefallenen Privatkonsum und einem mehr oder weni­ ger unterkapitalisierten Finanzsystem. Lange Jahre schleppender Wirt­ schafts­ ent­ wicklung, unterbrochen von größeren Turbulenzen, scheinen mehr als wahrscheinlich.

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Reform des Finanzsystems Man mag über viele Einzelmaßnahmen streiten. Eines ist aber gewiss: Anders als auf die Finanzkrise in Japan oder die Asienkrise 1997 wurde auf die große Finanzkrise des Jahres 2007/2008 ausreichend richtig reagiert, um das Abgleiten in eine Depression zu verhindern (zumindest bis Sommer 2011). Die Staaten haben Schulden aufgenommen, um die Nachfrage zu stabilisieren, die Notenbanken haben Liquidität in den Markt gepumpt, das Finanzsystem konnte vor dem Zusammenbruch bewahrt werden. Auf der anderen Seite wurden die grundlegenden Probleme bisher kaum an­ gegangen. Der Finanzsektor ist immer noch überdimensioniert, unterregu­ liert und bereit zum nächsten Amoklauf. Wieder werden Dividenden und gigantische Boni ausbezahlt. Dabei sind die Altlasten nicht beseitigt, die Schuldenberge immer noch gigantisch. Die problematische Einkommensverteilung (die Grundlage der Probleme im ­Finanzsektor) hat sich nicht verändert, wodurch die grundlegende Konsumschwäche nicht behoben wird. Mit dem Jahr 2010 begannen die Staaten (vor allem in Europa) die Neuverschuldung wieder zurückzufahren – aber mangels Privatkonsum ist nicht klar, wie denn die staatliche Nachfrage ersetzt werden soll. Jahre des unterdurchschnittlichen Wachstums werden die unvermeidliche Folge sein – wobei dieses schwache Wachstum den Finanzsektor noch einmal störungsanfälliger macht und große Konvulsionen damit ausgesprochen wahrscheinlich werden. In diesem Zusammenhang wäre es empfehlenswert, kein „weiter wie bisher“ zu betreiben. Die Finanzkrise war kein Zufall, sondern hatte strukturelle Ursachen. In der Folge finden sich von verschiedenen Seiten vorgebrachte Vorschläge für die Lösung dieser grundlegenden Probleme.

Regulierung des Finanzsektors xx Eigenkapital: Eine Erhöhung des Eigenkapitals wäre der wohl wichtigste Schritt zur Stabilisierung des Bankensystems. Die wichtigste nach der Finanzkrise gesetzte Maßnahme ist das 2010 vereinbarte Basel III-Regelwerk, das nun in nationale Gesetze umgesetzt wird. Stark vereinfacht erzwingt Basel III eine stärkere Eigenkapitalausstattung der Banken sowie zusätzliche

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Regulierung des Finanzsektors

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liquide Mittel – um einen Bankrun abwehren zu können. Für die EU werden 600 Mrd. Euro zusätzlicher Kapitalbedarf der Banken geschätzt (Quelle: Bloomberg). Aber schon 2011 werden die Eigenkapitalanforderungen durch unermüdliche Lobbyingaktivitäten des Finanzsektors wieder verwässert. Ob das Ausmaß der Eigenkapitalpölster letztlich ausreichend ist und die Übergangsfristen nicht zu lange, darf bezweifelt werden – jede neue Runde von wirtschaftlichen Verwerfungen zieht eine neue Runde des Vertrauensverlustes im Bankensystem mit sich. Viele Seiten (etwa der IWF) fordern daher eine möglichst schnelle Reparatur der Eigenkapitalschwäche. xx Too big to save: Das enorm gewachsene Finanzsystem der letzten Jahre kennt nicht mehr nur Institutionen, die „too big to fail“ sind; viele sind auch zu groß, um gerettet zu werden. Oft haben wir es mit international täti­ gen Riesenkonzernen zu tun, die aber darauf bauen, im Krisenfall von einzelnen Nationalstaaten gestützt zu werden. Island wurde 2008 von einem Bankensektor versenkt, dessen Bilanzsumme dem sechsfachen BIP der Insel entsprochen hatte. Ein Blick auf Österreich: Aufgrund der Osteuropa-Aktivitäten lag die Bilanzsumme der Erste Bank 2010 bei 205 Mrd. Euro, die Bank Austria brachte es auf 193 Mrd., die Raiffeisen Zentralbank auf 136 Mrd. (Geschäftsabschlüsse 2010). Das BIP Österreichs betrug 2010 296 Mrd. Euro. Ein größerer Unfall des Bankenwesens könnte also zu ernsten Schwierigkeiten für das ganze Land führen. In diesem Zusammenhang werden drei Möglichkeiten der Lösung zur Debatte gestellt: zusätzliche Eigenkapital­ forderungen für international tätige Institutionen (wie sie etwa von der Schweiz erhoben werden), ein internationaler (oder europäischer) Haftungsverbund oder die Aufsplitterung der Finanzinstitute auf ein handhabbares Maß. xx Transparenz: Starinvestor und Kapitalismus-Ikone Warren Buffet meinte 2004, dass er auch nach tagelangem Studium der Derivativpositionen einer größeren Finanzinstitution keinerlei Ahnung habe, welche Risiken tatsächlich in den Bilanzen stehen. Derivate, die der Theorie nach zur Absicherung hätten dienen sollen, machen das Finanzsystem völlig unberechenbar.

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Reform des Finanzsystems Zur Lösung dieses Problems werden verschiedene Schritte vorgeschlagen: Bekannt ist vor allem die Einschränkung von OTC-Derivaten und die Abwicklung des Derivate-Handels über zentrale Stellen („Clearinghouses“). Ungesichert ist dabei allerdings, ob damit nicht andere Probleme verbunden sind, etwa wenn ein Clearinghouse zusammenbricht. Eine etwas radikalere Möglichkeit ist das Verbot wenigstens bestimmter Gruppen von Derivaten. xx Tobin-Steuer: Eine Steuer aus Finanztransaktionen im Wert von 0,05 bis maximal einem Prozent. Vom amerikanischen Nobelpreisträger James Tobin in den 1970er-Jahren entwickelt, in den 1990er-Jahren von der globalisierungskritischen Organisation Attac aufgegriffen und heute auch von Ökonomen wie Paul Krugman oder der Europäischen Kommission gefordert: Die Tobin-Steuer soll ultrakurze Spekulationsfristen zum Verschwinden bringen. Sie könnte etwa auf alle Finanzgeschäfte oder auch nur für grenzüberschreitende Devisentransaktionen eingeführt werden. Allheilmittel ist das natürlich keines – am gefährlichsten sind Finanzmärkte, wenn sie in Euphorie oder Panik einseitige und langfristige Wetten eingehen und damit zu länger anhaltenden Über- oder Untertreibungen der Preise führen. Die schlimmste Quelle der Instabilität waren in den letzten Jahren die Immobilienmärkte. Dort gibt es aufgrund hoher Transaktionskosten ohnehin keine ultrakurzen Spekulationsfristen. xx Keine Bank ohne Regulierung: Der Sektor der Schattenbanken (Außer­ bilanzielle Vehikel der Geschäftsbanken, Investmentbanken, Versicherungen, Hedgefonds) darf sich nicht weiter einer effektiven Regulierung entziehen. xx Besondere Maßnahmen gegen Vermögenspreisblasen: Staatliche Regulierung kann exzessive Kreditvergabe in bestimmte Bereiche zumindest erschweren. In China gelten etwa Einschränkungen für den Erwerb von Immobilien sowie strenge Auflagen für das Gewähren von Hypothekarkrediten. Damit kann das Überhitzen einzelner wirtschaftlicher Sektoren gebremst werden, ohne gleich durch Zinserhöhungen der Notenbank die gesamte Volkswirtschaft abzukühlen. Kapitalverkehrskontrollen oder besondere Steuern können auch spekulative Zuflüsse von Kapital in einzelne Volkswirtschaften bremsen.

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Ende der Ungleichgewichte und mehr soziale Gerechtigkeit

10.2

xx Einschränkung der Rohstoffspekulation: Vorschläge gibt es hier zu genüge. Einzelne Produkte könnten verboten werden (etwa Rohstofffonds, die das Anlegen in Rohstoffen erleichtern). Auch gefordert wird ein Verbot des Haltens von Terminkontrakten, ohne die Möglichkeit, die Güter physisch in Empfang zu nehmen. Letzteres würde reine Finanzinvestoren aus dem Markt drängen. Eine weitere Möglichkeit ist der Aufbau staatlicher Reserven sowie deren bewusster Einsatz, um zu einseitige Markterwartungen zu brechen. xx Regulierung muss allgemein sein – oder die Kapitalverkehrsfreiheit muss eingeschränkt werden: Strengere Regeln können international und für alle eingeführt werden. Sollte das aber nicht möglich sein (und das ist angesichts der herrschenden Kräfteverhältnisse die wahrscheinlichere Variante), droht bei strengerer Regulierung (oder bei der Einführung von Finanztransaktionssteuern) eine einfache Verlagerung der Aktivitäten. Finanzakteuren, die von unregulierten Offshore-Plätzen aus agieren, muss der Marktzugang gesperrt werden. Das ist eine erste notwendige Einschränkung von Kapitalverkehrsfreiheit und Marktöffnung.

Ende der Ungleichgewichte und mehr soziale Gerechtigkeit Es stellt sich die Frage: Was wäre passiert, wenn Anfang des neuen Jahrtausends der Kreditexzess wegreguliert oder die entstehenden Immobilienblasen durch Leitzinserhöhungen abgestochen worden wären? Mit Sicherheit hätte man sich die schwersten Verwerfungen der Jahre 2007 bis 2009 erspart. Tatsächlich ist das Wirtschaftswachstum, gerade in den Industriestaaten, aber seit längerem niedrig, die Arbeitslosigkeit durchgehend erhöht, die Inflationsraten relativ niedrig und die kreditgestützte Immobilienwirtschaft war ein wichtiger Teil der globalen Gesamtnachfrage. Ohne Vermögenspreisblase wäre der Kriseneinbruch wohl vorverlegt worden – sicherlich weniger problematisch, aber doch unangenehm. Regulierung hilft nur in Zusammenhang mit dem Beseitigen der fundamentalen Ursachen der Überliquidität der Finanzmärkte. Wenigstens ein Teil muss abgebaut werden.

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Reform des Finanzsystems xx Lohnerhöhungen: Angesichts der teilweise immensen Profitabilität der Unternehmen, die ohnehin zu wenig für Investitionen genützt wird, gibt es durchaus Spielraum für kräftige Lohnerhöhungen. Damit könnte die Gesamtnachfrage gestärkt werden, ohne überzogen Verschuldung auszulösen. Abgesehen davon, dass Wirtschaftswachstum relativ sinnlos wird, wenn die Mehrheit wenig bis gar nichts davon hat. In Ländern mit Problemen der internationalen Konkurrenzfähigkeit (in der Eurozone etwa Griechenland, Spanien oder Italien) bereitet ein solcher Kurs gewisse Schwierigkeiten. In Ländern mit größeren Überschüssen der Außenwirtschaft (in der Eurozone etwa Deutschland, die Niederlande oder auch Österreich) gibt es kein volkswirtschaftliches Argument gegen substan­ tielle Lohnerhöhungen. Es muss sich endlich die etwas banale Erkenntnis durchsetzen: Wer will, dass Wirtschaft dauerhaft wächst, muss auch für Lohnerhöhungen sorgen. Ohne diese kommt zusätzliche Nachfrage aus steigender Verschuldung oder aus steigenden Exportüberschüssen. Da die Exporte des einen Landes die Importe eines anderen sind, müssen sich bei steigenden Exportüberschüssen andere Länder noch schneller verschulden. xx Ein Abbau der Ungleichgewichte des Welthandels: Lohnerhöhungen in den Überschussländern können dann auch zu einem Abtragen der Ungleichgewichte des internationalen Handels führen. Das müsste durch eine internationale (oder wenigstens europäisch) koordinierte, nachfrageorientierte staatliche Politik ergänzt werden. Wobei in den Überschussländern wie Österreich oder Deutschland wieder der größte Handlungsbedarf besteht. Eine solche Politik stünde im Gegensatz zur aktuellen Standortkonkurrenz, die bei einer ständig drohenden Wirtschaftskrise lediglich eine Spirale nach unten auslösen kann. Außenhandelsüberschüsse sind kein Qualitätsmerkmal eines Wirtschaftsraumes, sondern ein Zeichen von zu geringen Löhnen und der Stabilisierung der heimischen Wirtschaft auf Kosten der Handelspartner. Wir vermuten, dass dieser Punkt ohne Alternative ist: Entweder gelingt eine international koordinierte Stärkung der Nachfrage oder die Handelsschranken werden über kurz oder lang nach oben gehen.

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xx Herstellung von Steuergerechtigkeit, Austrocknen von Steueroasen: Für nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik braucht es auch entsprechende Mittel. Sinkende Unternehmenssteuersätze, sinkende Kapitalsteuern und die (legale wie illegale) Kapitalflucht in Steueroasen macht das Aufbringen dieser Mittel aber schwierig. Das Tax Justice Network schätzt, dass durch Steueroasen allein die Entwicklungsländer 245 Mrd. Dollar an Einnahmen verlieren und weltweit 11 Billionen Dollar Vermögen in solche Finanzplätze verschoben wurden. Aber dies ist nicht naturgegeben. Steueroasen können durchaus zu etwas Kooperation bewegt werden, wenn der politische Druck hoch genug ist – das zeigt das Beispiel Schweiz. Die Schweiz ist zwar immer noch die wichtigste Steueroase, aber der Diebstahl von ein paar Datenträgern durch den BND und Klagsdrohungen durch die USA haben zumindest etwas Bewegung gebracht. Österreich könnte übrigens auch selbst für mehr Transparenz sorgen, auf der Liste der Steueroasen des Tax Justice Networks hält die Republik ob des Bankgeheimnisses Platz 17. Aber es geht nicht nur um Steuerflucht, sondern auch um die Höhe der Steuersätze für Gewinne und Kapitalerträge. Diese können international (oder zumindest in Europa) vereinheitlicht werden, was den Wettlauf nach unten stoppen würde. Die bisherige Linie der Politik war es, den „Steuerwettbewerb“ zu fördern, weil er die Staaten „verschlanken“ und die Wirtschaft dynamischer machen sollte. Das offensichtliche Versagen des neoliberalen Wachstumsmodells sollte diese Annahme entkräften. xx Finanzmärkte und Staatsfinanzierung: Viele Kommentatoren verlangen außerdem die Befreiung der Finanzierung von Staaten aus der Geiselhaft der Finanzmärkte – zumindest in Krisenperioden, in denen die Finanzmärkte wieder einmal in Panik ausbrechen. Malaysia führte während der Asienkrise 1997 kurzfristige Kapitalverkehrskontrollen ein und konnte damit einen Absturz der Wirtschaft verhindern. Unter dem Eindruck der Eurokrise bringen kritische französische Wirtschaftswissenschaftler (im „Manifest bestürzter Ökonomen“) weitere Vorschläge: Das Bankensystem könne gezwungen werden, Staatsanleihen zu

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Reform des Finanzsystems kaufen, Einschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit und Zwangsanleihen sind möglich. Und letztlich wird die Unabhängigkeit der Notenbank hinterfragt sowie deren Mandat, welches sich auf das Aufrechterhalten der Geldwertstabilität beschränkt. Glücklicherweise hat die EZB dieses Mandat seit der Finanzkrise wiederholt recht weit ausgelegt. Die Europäische Zentralbank konnte im August 2011 durch den Aufkauf von italienischen und spanischen Schuldscheinen eine massive Finanzkrise verhindern, dennoch agiert sie dabei zaghaft und kämpft gegen interne Widerstände. Das ist gefährlich, es schafft Unsicherheit. Grundsätzlich kann man die ­Notenbank dazu ermächtigen Staatsschulden im Notfall zu „monetarisie­ ren“ – Geld zu drucken, um die Finanzierung des Staates sicher zu stellen. Ohne unangenehme Nebenwirkungen ist das nicht, aber wohl besser als ein unkontrollierter Absturz.

Letztlich ist ein grundlegender Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik und ein anderer Typ der wirtschaftlichen Entwicklung gefordert. Dessen Eck­ punkte sollten um Vollbeschäftigung, soziale Sicherheit und Gerechtigkeit sowie ökologische Nachhaltigkeit kreisen. Im Rahmen einer solchen Wirt­ schaft und Wirtschaftspolitik spielt natürlich auch der Finanzsektor eine Rolle als Medium der Finanzierung und Vermögensbildung. Die erbar­ mungslose Standortkonkurrenz und der aufgeblähte Finanzsektor sind aber das Rezept für eine Dauerkrise.

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VÖGB-/AK-Fernlehrgang

Der Fernlehrgang ist für alle, die nicht an gewerkschaftlichen Seminaren teilnehmen können, gedacht. Durch den Fernlehrgang bietet der ÖGB die Möglichkeit, sich gewerkschaftliches Grundwissen im Selbststudium anzueignen. Teilnehmen können gewerkschaftliche FunktionärInnen der Arbeitnehmervertretung und interessierte Gewerkschaftsmitglieder. Die Skripten können auch als Schulungsmaterial für Seminare und Vorträge verwendet werden. ● Wie nehme ich teil? Es sind keine besonderen Vorkenntnisse nötig, einfach anrufen oder E-Mail senden. Die Abwicklung erfolgt per Post oder E-Mail, Anpassung an individuelles Lerntempo – ständige Betreuung durch das ÖGB-Referat für Bildung, Freizeit und Kultur. Die Teilnahme ist für Gewerkschaftsmitglieder kostenlos. Nach Absolvierung einer Skriptenreihe erhält der Kollege/die Kollegin eine Teilnahmebestätigung. ● Was sind Themen und Grundlagen? Über 100 von SpezialistInnen gestaltete Skripten, fachlich fundiert, leicht verständlich, zu folgenden Themenbereichen: • Gewerkschaftskunde • Politik und Zeitgeschehen • Sozialrecht • Arbeitsrecht • Wirtschaft–Recht–Mitbestimmung • Internationale Gewerkschaftsbewegung • Wirtschaft • Praktische Gewerkschaftsarbeit • Humanisierung–Technologie–Umwelt • Soziale Kompetenz

Zudem übermitteln wir gerne einen Folder mit dem jeweils aktuellen Bestand an Skripten und stehen für weitere Informationen zur Verfügung.

Auf der ÖGB-Homepage findet sich ebenfalls eine Übersicht der Skripten: www.voegb.at/skripten

● Informationen und Bestellung der VÖGB-/AK-Skripten Für die Bestellung ist Kollegin Karin Muhsil (ÖGB-Referat für Bildung, Freizeit, Kultur, 1020 Wien, Johann-Böhm-Platz 1) zuständig: Tel. 01/534 44/39235 Dw. Fax: 01/534 44/100444 Dw. E-Mail: karin.muhsil@oegb.at


Glossar Aktie: Wertpapier, das einen Eigentumsanteil an einem Unternehmen (Aktiengesellschaft) darstellt. Dient dem Unternehmen zur Finanzierung (Eigen­ kapitalbeschaffung). Aktien werden an der Börse gehandelt. Der Aktien­ besitz schließt das Recht auf eine Beteiligung am Unternehmensgewinn (Dividende) ein. Aktienindex: Zusammenfassung der Aktienkurse der größten an einer Börse gehandelten Unternehmen, wobei jedes Unternehmen mit einem bestimmten Gewicht eingeht, das an seinem Börsenwert orientiert ist. Call: Kaufoption bei einem Optionsgeschäft. Deregulierung: Abschaffung von Gesetzen, Verordnungen und Vorschriften auf den Märkten (z. B. Arbeitsmarkt, Kapitalmarkt, Gütermarkt, Aktienmarkt), um dem „freien Spiel der Marktkräfte“ das Feld zu überlassen. Derivat: Wertpapier, dessen Wert von einem anderen Wert (underlying) abhängt. Underlyings können Aktienkurse, Warenpreise, Wechselkurse, Indizes, aber auch alles andere sein, auf das man wetten kann. Forward: Grundform eines Derivats: Termingeschäft, bei dem zu einem vorab festgelegten Preis ein bestimmtes Objekt zu einem künftigen, festgelegten Zeitpunkt ver- bzw. gekauft wird. Future: Bezeichnung für an Börsen gehandelte Forwards. Hebeleffekt: Finanzierung einer Finanzspekulation durch Kredite, wodurch der Spekulant kein Eigenkapital einzusetzen braucht. Der Kredit wird aus den Spekulationsgewinnen oder – falls diese ausbleiben – durch neue Kreditaufnahme zurückgezahlt. Hedge-Fonds: Kapitalsammelstelle, die kaum einer Regulierung unterliegt und ihren Sitz oft in Offshorezentren hat. Hedge-Fonds setzen sehr hohe, oft kreditfinanzierte, Geldsummen für eine kurzfristige Finanzspekulation ein. Institutionelle Anleger: Unternehmen, die auf den Finanzmärkten als Inves­ toren und Spekulanten auftreten und in der Regel über ein hohes Kapital-

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volumen verfügen, wie z. B. Versicherungen, Pensionsfonds, Investmentfonds, Investmentbanken, Hedge-Fonds. Investmentfonds: Unternehmen, das sich auf die Kapitalanlage auf Finanzmärkten (in Form von Aktien, Anleihen, Währungen, Derivaten etc.) spezialisiert hat. Zwei Grundformen sind zu unterscheiden: Publikumsfonds fassen das Kapital vieler kleiner Sparer zusammen, während Spezialfonds liquide Mittel von einigen wenigen oder einem einzelnen Großvermögenden (superreiche Einzelpersonen, Banken, Versicherungen) verwalten. Kapitalverkehrskontrolle: Wirtschaftspolitisches Instrument, um den Zu- und Abfluss von Kapital in ein bzw. aus einem Land zu kontrollieren, etwa durch eine Anmeldepflicht von Kapitaltransaktionen, durch eine Hinterlegungspflicht eines Teils des Kapitals bei der Zentralbank oder durch die Beschränkung der maximal zulässigen Menge an Kapital, die ein- oder ausgeführt werden darf. Kreditschöpfung: Prozess, bei dem Geld geschaffen wird, indem die Banken mehr an Geldern in Form von Krediten vergeben. Die Kreditschöpfung basiert auf der Annahme, dass nur ein Teil der bei Banken eingezahlten Gelder auch in Form von Bargeld von ihren Eigentümern in Anspruch genommen wird. Würden alle Sparer und Kontoinhaber zum gleichen Zeitpunkt ihre eingelegten Gelder von den Banken abheben, würde das Bankensystem zusammenbrechen. Liberalisierung: Bezeichnung für die politisch durchgesetzte Öffnung von Märkten, um die Konkurrenz auf diesen Märkten zu erhöhen. Liberalisierung kann innerhalb eines Landes erfolgen (z. B. Liberalisierung des Postwesens durch Aufhebung des Postmonopols und Zulassung weiterer Anbieter) oder sie kann sich auf die Öffnung eines Landes für ausländische Unternehmen beziehen. Liquidität: Einerseits Bezeichnung für die Zahlungsfähigkeit von Unternehmen, Privatpersonen oder Regierungen, andererseits Bezeichnung für Kapital, das zur Investition zur Verfügung steht. Ein liquider Markt bedeutet,

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Glossar dass viele Akteure als Käufer und Verkäufer auftreten, der Umsatz hoch ist und dadurch das Zustandekommen von Markttransaktionen (Kauf-VerkaufVorgänge) erleichtert wird. Neoliberalismus: Wirtschaftspolitisches Dogma, das sich seit Anfang der 1980er-Jahre allmählich durchgesetzt hat. Seine Eckpfeiler sind: Deregulierung und Liberalisierung von Märkten, um den „Marktkräften“ zum Durchbruch zu verhelfen, Privatisierung öffentlichen Eigentums, Rückzug des Staates aus der Steuerung gesellschaftlicher Prozesse und der Festlegung gesellschaftlicher Ziele, Umverteilung zu Gunsten des Kapitals durch Steuersenkungen für Unternehmen, Reallohnkürzungen für unselbstständig Beschäftigte. Offshorezentren: Standorte, an denen keine reguläre Bankenaufsicht existiert und keine Steuerpflicht besteht, in der Regel Territorien, die zu einer früheren Kolonialmacht (vor allem Großbritannien) gehören. Option: Eine Grundform des Derivats: Geschäft, bei dem der Optionskäufer gegen Bezahlung einer Optionsgebühr das Recht erwirbt, zu einem künftigen Zeitpunkt ein bestimmtes Objekt zu einem vorab festgelegten Preis zu kaufen (Call) oder zu verkaufen (Put). Der Optionskäufer ist nicht gezwungen, die Option einzulösen, der Optionsverkäufer muss jedoch seiner Verpflichtung, wenn es der Optionskäufer verlangt, nachkommen (asymmetrisches Geschäft). OTC: Over the Counter: Wertpapierhandel außerhalb von Börsen, d. h. er unterliegt keiner Regulierung durch Aufsichtsbehörden. Portfolio: Zusammensetzung einer Wertanlage nach der Art der Vermögensgüter (Wertpapiere, Immobilien, Bargeld). Put: Verkaufsoption bei einem Optionsgeschäft. Sekundärmarkt: Kauf und Verkauf von Wertpapieren, die bereits auf dem Wertpapiermarkt platziert wurden (im Gegensatz zum Kauf von Wertpapieren bei ihrer Erstausgabe).

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Shareholder-Value: Wert eines Unternehmens aus Sicht der Aktionäre; dieser orientiert sich an wenigen Parametern: ein in jedem Jahr steigender Gewinn, eine steigende Profitabilität (= Gewinn je eingesetztem Kapital), eine Darstellung des Unternehmenserfolgs nach international einheitlichen Richtlinien und eine „Pflege“ des Börsenkurses des Unternehmens, u. a. durch Aktienrückkäufe durch das Unternehmen selbst. Spekulation: Kauf oder Verkauf von Vermögensgegenständen zur Erzielung von Gewinnen, die sich aus erwarteten Kursveränderungen der Vermögensgegenstände (Aktien, Anleihen, Währungen, Derivate) ergeben. Termingeschäft: Wirtschaftliche Transaktion, die in der Gegenwart getätigt wird, die aber zu einem künftigen Zeitpunkt abgewickelt wird; sie enthält daher stets das Element der Spekulation, da die Zukunft ungewiss ist. Volatilität: Bezeichnung für das Ausmaß der Schwankung von Kursen von Wertpapieren während eines bestimmten Zeitraums. Wertpapier: Urkunde, die ein privates Vermögensrecht verbrieft und die auf Börsen gehandelt wird, wie z. B. Aktien, Anleihen, Derivate.

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Literatur Dieter, Heribert: Die Asienkrise – Ursachen, Konsequenzen und die Rolle des Internationalen Währungsfonds. Marburg, 1998. Gut verständlich geschriebenes Buch zur großen Finanz- und Wirtschaftskrise 1997/98 in den südostasiatischen Ländern. Fessler, Pirmin/ Hinsch, Stefan: Wie funktioniert Wirtschaft. Eine kritische Einführung. Wien: Promedia: 2011. Allgemeine Einführung, langer Abschnitt zur Krisentheorie. Huffschmid, Jörg: Politische Ökonomie der Finanzmärkte. Hamburg: VSA, 1999. Darstellung der Veränderungen in den politischen Rahmenbedingungen, die zur Herausbildung der heutigen Finanzmärkte geführt haben, Wege und Möglichkeiten zur Kontrolle der Finanzmärkte. Autor war im wissenschaftlichen Beirat von Attac. Stiglitz, Joseph: Im Freien Fall. Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft. München: Pantheon, 2010. Zusammenfassung zur Weltwirtschaftskrise seit 2007. Der Autor ist Nobelpreisträger und gehört zu den kritischen Teilen des Mainstream. Zeise, Lucas: Geld – der vertrackte Kern des Kapitalismus. Versuch über die politische Ökonomie der Finanzmärkte. Köln: Papyrossa Verlagsges., 2010. Marxis­ tisch inspirierte Untersuchung der Finanzmärkte. Der Autor ist Kolumnist der Financial Times Deutschland.

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Zum Autor Stefan Hinsch (Jahrgang 1976), Studium der Geschichte und der Geographie und Wirtschaftskunde (Lehramt) in Wien. Arbeitet als Mittelschullehrer in Wien, langjährige Erfahrung in der Erwachsenenbildung. Letzte Publikationen: „Die große Finanzkrise“ im Rahmen der Schriftenreihe der kritischen Geographie (2009) „Wie funktioniert Wirtschaft. Eine kritische Einführung“ zusammen mit Pirmin Fessler (2011)

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Zu dieser Skriptenreihe gibt es für Gewerkschaftsmitglieder die Möglichkeit, einen kostenlosen Fernlehrgang zu absolvieren. Für die Anmeldung zum Fernlehrgang gibt es zwei Möglichkeiten: ➔  entweder übers Internet unter www.voegb.at/fernlehrgang ➔  oder telefonisch unter 01/534 44-39235 Dw.

Fernlehrgang – so funktioniert‘s Bei dieser Skriptenreihe befinden sich Fragen am Ende der Skripten, die zur Absolvierung des Fernlehrgangs durchzuarbeiten sind. Die Antworten auf diese Fragen können entweder per E-Mail oder per Post an den VÖGB (Verband Österreichischer Gewerkschaftlicher Bildung) geschickt werden: E-Mail: bildung@oegb.at Adresse: Fernlehrgang des Österreichischen Gewerkschaftsbundes Johann-Böhm-Platz 1 1020 Wien Die Antworten werden von den AutorInnen korrigiert und an die AbsenderInnen retourniert, daher bitte unbedingt Namen und Adresse/E-Mail-Adresse angeben. Wenn alle Fragen einer Skriptenreihe entsprechend beantwortet wurden, wird ein Zertifikat für die Absolvierung des Fernlehrgangs ausgestellt und per Post zugeschickt. Die Fragen zu diesem Skriptum befinden sich auf Seite 87.

Viel Erfolg!

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Allgemeine Fragen Wir ersuchen Sie, folgende Fragen zu beantworten: ➔  Erklären Sie die Funktion von Finanzmärkten. ➔  Geben Sie einen Überblick über die Entwicklung der Finanzmärkte seit den 1980er-Jahren. Gehen Sie dabei kurz ein auf die Menge des investierten Kapitals, die Veränderung der Handelsgeschwindigkeit und die Entwicklung neuer Finanzprodukte und die Entwicklung der staatlichen Aufsicht (Regulierung) über die Finanzmärkte. ➔  Warum sind Finanzmärkte besonders krisenanfällig? ➔  Versuchen Sie das im Skriptum vorgestellte Finanzmarktgetriebene Wachstumsmodell nachzuzeichnen. Welche Schritte zu dessen Reform sind denkbar?

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