WI-06_Lohnpolitik_und_Einkommensverteilung

Page 1

Michael Mesch

Lohnpolitik und Einkommensverteilung

6

Wirtschaft


Wirtschaft 6

Lohnpolitik und E足 inkommensverteilung


Michael Mesch

Lohnpolitik und ­Einkommensverteilung

Dieses Skriptum ist für die Verwendung im Rahmen der Bildungsarbeit des Österreichischen G ­ ewerkschaftsbundes, der Gewerkschaften und der Kammern für Arbeiter und Angestellte bestimmt.


Inhaltliche Koordination: Markus Marterbauer

Zeichenerklärung

Hinweise

❮❯

Beispiele Zitate

Wissenschaftliche Beratung: Günther Chaloupek

Stand: Jänner 2015 Impressum: Layout/Grafik: Dietmar Kreutzberger, Walter Schauer Layoutentwurf/Umschlaggestaltung: Kurt Schmidt Medieninhaber: Verlag des ÖGB GmbH, Wien © 2013 by Verlag des Österreichischen Gewerkschaftsbundes GmbH, Wien Herstellung: Printservice Verlags- und Herstellungsort: Wien Printed in Austria

4


Inhalt Rechtsgrundlagen der Lohnsetzung

6

Kollektivverträge 6 Betriebsvereinbarungen 11 Einzelverträge 15 Koordination der Kollektivvertragsverhandlungen

16

Interessen an kollektiven Lohnregelungen

20

Die Bedeutung kollektiver Lohnregelungen für ArbeitnehmerInnen

20

Kollektive Lohnregelungen aus der Sicht der ArbeitgeberInnen

22

Die Bedeutung von Kollektivverträgen für den Staat bzw. die Allgemeinheit 25 Grundsätze der Lohnpolitik

28

Lohnentwicklung 36 Tariflöhne 36 Effektivverdienste 38 Einkommensverteilung 48 Funktionelle Einkommensverteilung

48

Lohnquote 48

5


1

Rechtsgrundlagen der Lohnsetzung Löhne können durch Kollektivverträge, Satzung, Mindestlohntarif, Betriebsvereinbarungen und Einzelverträge festgelegt werden. Grundlage für die genannten Formen der kollektiven Lohnsetzung bietet das Arbeitsverfassungs­ gesetz (ArbVG) vom 14. Dezember 1973, BGBl. Nr. 22/1974. (Zu den Rechtsgrundlagen siehe im Einzelnen: Skriptum Arbeitsrecht 1: Walter Gagawczuk, Die kollektive Rechtsgestaltung im Arbeitsrecht.)

Kollektivverträge Definition: Kollektivverträge (KV) sind Vereinbarungen, die zwischen kollektivvertragsfähigen Körperschaften der Arbeitgeber einerseits und der Arbeitnehmer andererseits schriftlich abgeschlossen werden (§ 2 Abs. 1 ArbVG). Teil I des ArbVG, welcher die Bestimmungen über den KV enthält, gilt für Arbeitsverhältnisse aller Art, die auf einem privatrechtlichen Vertrag beruhen. Gesonderte Regelungen gelten für die Arbeitsverhältnisse der ArbeiterInnen in der Land- und Forstwirtschaft, jene der HeimarbeiterInnen sowie jene der öffentlich Bediensteten: Für den Bereich der Land- und Forstwirtschaft wurde eine den Prinzipien des ArbVG gleichlautende Regelung im Landarbeitsgesetz getroffen. Für die Heimarbeit wurde durch das Heimarbeitsgesetz eine dem KV nach­ gebildete Regelung zum Abschluss von Heimarbeitsgesamtverträgen einge­führt. Für öffentlich Bedienstete finden aufgrund eines Gesetzes Vorschriften Anwendung, die den wesentlichen Inhalt des Arbeitsvertrages zwingend festlegen. Diesen Regelungen gehen allerdings jeweils Verhandlungen zwischen den betreffenden ArbeitgeberInnen und Gewerkschaften voraus. Kollektivvertragsfähigkeit: Gemäß § 4 ArbVG sind die gesetzlichen Interessenvertretungen der ArbeitnehmerInnen und der ArbeitgeberInnen und die auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhenden Berufsvereinigungen derselben kollektivvertragsfähig. Während Ersteren die KV-Fähigkeit von Gesetzes wegen allein aufgrund ihres Bestandes zukommt, wird sie den freiwilligen Berufsvereinigungen (und bestimmten Vereinen) unter gewissen Bedingungen auf Antrag durch das Bundeseinigungsamt zuerkannt.

6


Kollektivverträge

1.1

Der ÖGB hat durch Beschluss des Obereinigungsamtes (jetzt Bundeseinigungsamt) vom 14. September 1947 die KV-Fähigkeit zuerkannt erhalten. Auf ArbeitgeberInnenseite sind ferner für Arbeitsverhältnisse zu öffentlichrecht­lichen Körperschaften oder zu von diesen geführten Betrieben, Unternehmungen, Anstalten, Stiftungen oder Fonds, soweit sie keiner kollektivvertrags­ fähigen Berufsvereinigung oder gesetzlichen Interessenvertretung angehören, die öffentlich-rechtlichen Körperschaften selbst kollektivvertragsfähig (§ 7 ArbVG). In der Praxis werden die KV auf ArbeitgeberInnenseite fast ausschließlich durch die gesetzliche Interessenvertretung, die Wirtschaftskammer Österreich (bzw. ihre Sektionen, Fachverbände oder andere Teilorganisationen), abgeschlossen. Die Wirtschaftskammern sind die bedeutendsten gesetzlichen Interessenvertretungen auf Seiten der UnternehmerInnen. Ihre Rechtsstellung basiert auf dem Wirtschaftskammergesetz 1998. Sie sind bundesländerweise gegliedert. Auf Bundesebene wurde die WKÖ eingerichtet, die ebenso wie die einzelnen Landeskammern eine Körperschaft öffentlichen Rechts ist. Organisationsdomäne der Wirtschaftskammern ist jeweils – mit Ausnahme von landwirtschaftlichen Betrieben und FreiberuflerInnen – der gesamte privatwirtschaftliche Bereich. ­Aufgrund der gesetzlich geregelten Pflichtmitgliedschaft gehören den Wirtschaftskammern innerhalb der jeweiligen Domäne alle Unternehmen an. Ihr Organisationsgrad liegt daher bei 100 %. Um die besonderen Interessen einzelner Unternehmensgruppen wahrnehmen und vertreten zu können, sind die Landeskammern und die WKÖ jeweils nach fachlichen Gesichtspunkten in sieben Sparten gegliedert. Die Sparten sind wiederum in Fachorganisationen (Landesebene) bzw. Fachverbände (Bundesebene) unterteilt. Nur in einigen kleineren Bereichen werden freiwillige Berufsvereinigungen tätig: der Verband Österreichischer Zeitungsherausgeber und Zeitungsverleger, der Verband der Versicherungsunternehmungen Österreichs, der Hauptverband der österreichischen Sparkassen, der Hauptverband der grafischen Unternehmungen Österreichs, der Österreichische Apothekerverband sowie der Verband der Privatkrankenanstalten Österreichs. Auf ArbeitnehmerInnenseite werden KV ausschließlich vom ÖGB abgeschlossen. Nach der Rechtsform handelt es sich beim ÖGB um einen privat-

7


1

Rechtsgrundlagen der Lohnsetzung rechtlichen Verein im Sinne des Vereinsgesetzes 2002. Die Verhandlungsführung delegiert der ÖGB (Ausnahme: GeneralKV) an die sieben Fachgewerkschaften (bzw. deren Sektionen, Fachgruppen): xx xx xx xx xx

GPA-djp (Privatangestellte, Druck, Journalismus, Papier); GÖD (Öffentlicher Dienst); GdG-KMSfB (Gemeindebedienstete, Kunst, Medien, Sport, freie Berufe); GBH (Bau, Holz); vida (soziale Dienste, private Dienstleistungen, Gesundheits-, Heil- und Pflegeberufe, Verkehr); xx GPF (Post- und Fernmeldebedienstete); xx PRO-GE (Metall, Textil, Papier, Glas, Chemie, Agrar/Nahrungs-/Genussmittel). Rechtlich sind die Einzelgewerkschaften keine eigenen Vereine, sondern nur Teilorganisationen des ÖGB, sodass formell der Abschluss eines KV durch den Dachverband erfolgt. Der ÖGB ist es mithin auch, der die Finanzen der Einzelgewerkschaften und den Streikfonds kontrolliert. Streiks müssen vom ÖGB genehmigt werden. KV für einzelne Unternehmungen stellen in Österreich die Ausnahme dar. ­Einzelnen juristischen Personen wie etwa dem Österreichischen Rundfunk, der Bundesarbeitskammer oder der Bundesorganisation des Arbeitsmarktservice wird in Sondergesetzen die KV-Fähigkeit für den Bereich ihrer Beschäftigten zuerkannt. Verhandlungsebenen: Der Großteil der KV wird bezüglich einzelner Branchen, Branchengruppen oder Berufsgruppen jeweils für das gesamte Bundesgebiet abgeschlossen. Die Existenz einer eigenständigen Privatangestelltengewerkschaft (GPA-djp) innerhalb des ÖGB, aber auch arbeitsrechtliche Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten, bedingen getrennte KV-Abschlüsse für die beiden Beschäftigtengruppen in vielen Bereichen des privaten Sektors der Wirtschaft. Unter welchen Branchen-KV eine Arbeitnehmerin bzw. ein Arbeitnehmer fällt, das hängt von der Zuordnung des betreffenden Betriebs in der Fachverbandsgliederung der Wirtschaftskammer Österreich ab.

8


Kollektivverträge

1.1

Für bestimmte sozialrechtliche Materien (z.B. Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle) kamen zwischen WKÖ bzw. BWK und ÖGB so genannte Generalkollektivverträge zum Abschluss, welche für die Gesamtheit der Mitgliedsunternehmungen und deren ArbeitnehmerInnen Geltung haben. Laufzeit: In der Regel haben KV eine Laufzeit von 12 Monaten. Inhalte: Zu den möglichen Inhalten von KV zählen seit 1973 (ArbVG) die Festsetzung von Mindestlöhnen sowie Lohnschemata, Sonderzahlungen, Zulagen, Aufwandsentschädigungen, Arbeitszeit- und Akkordfragen, Freizeitansprüche bei Dienstverhinderung, Kündigungsfristen, kollektivvertragliche Pensions- und Ruhegenussansprüche, Mitwirkungsbefugnisse der Belegschaft bei der Durchführung von Betriebsvereinbarungen über Sozialpläne und über Arbeitsgestaltung, gemeinsame Einrichtungen der KV-Parteien (z.B. Sozialfonds). In einigen KV werden auch Zuwachsraten für die Istlöhne (effektiv ausgezahlten Löhne) festgelegt. Rechtswirkungen: Die normativen (inhaltlichen) Bestimmungen (aus dem Dienstverhältnis entspringenden Rechte) sind für alle Arbeitsverhältnisse innerhalb des fachlichen, räumlichen und persönlichen Geltungsbereichs des KV unmittelbar rechtsverbindlich (§ 11 Abs. 1 ArbVG). Der normative Teil eines KV wirkt als objektives Recht und ist daher wie ein Gesetz auszulegen (§§ 6 und 7 ABGB). Die ArbeitnehmerInnen können Rechte aus dem KV unmittelbar gegenüber dem/ der ArbeitgeberIn geltend machen und nötigenfalls beim Arbeits- und Sozial­ gericht einklagen. Bei der Auslegung des obligatorischen Teils eines KV, der die Rechtsbeziehung zwischen den KV-Parteien regelt (schuldrechtliche Bestimmungen), ist nach den Vorschriften zur Auslegung von Verträgen (§§ 914 und 915 ABGB) vorzugehen. Die Rechtswirkungen eines KV bleiben nach seinem Erlöschen so lange aufrecht, bis ein neuer KV wirksam oder eine neue Einzelvereinbarung abgeschlossen wird (§ 13 ArbVG). Ein späterer KV löst also einen früheren ab, und zwar gleichgültig, ob er für die ArbeitnehmerInnen günstiger ist oder nicht. Für das Verhältnis zwischen KV und anderen Rechtsquellen (Betriebsverein­ barung, Einzelvertrag) bestimmend sind das Prinzip der Unabdingbarkeit und das Günstigkeitsprinzip:

9


1

Rechtsgrundlagen der Lohnsetzung Die normativen Bestimmungen in KV können durch Betriebsvereinbarung oder Arbeitsvertrag weder aufgehoben noch eingeschränkt werden (§ 3 Abs. 1 ArbVG). Dies bedeutet u.a., dass kollektivvertragliche Mindestbedingungen nicht unterschritten werden dürfen, selbst wenn der Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin einer Unterschreitung zustimmt; ein Verzicht wäre unwirksam. Und vom KV abweichende Betriebs- oder Einzelvereinbarungen sind nur gültig, soweit sie für die Arbeitnehmerin bzw. den Arbeitnehmer günstiger sind oder Angelegenheiten betreffen, die im KV nicht geregelt sind (§ 3 ArbVG). Geltungsbereich: Kollektivvertragsangehörig sind zum einen alle ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen, die Mitglieder der am KV beteiligten Körperschaften sind. Zum anderen dehnt § 12 Abs. 1 ArbVG die Rechtswirkungen des KV auch auf jene ArbeitnehmerInnen eines/einer kollektivvertragsangehörigen Arbeitgebers/Arbeitgeberin aus, die nicht Mitglied der am KV beteiligten Körperschaft – also des ÖGB – sind (so genannte Außenseiterwirkung). Satzung: Schließt auf ArbeitgeberInnenseite nicht die WKÖ, sondern eine auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhende Berufsvereinigung einen KV ab, gilt dieser nur für die Mitgliedsbetriebe dieser Vereinigung. Außenseiterfirmen werden vom KV mithin nicht erfasst. Die Erklärung eines KV zur Satzung ermöglicht es, den Geltungsbereich des KV auch auf jene Arbeitsverhältnisse auszudehnen, die mangels KV-Angehörigkeit des Arbeitgebers/der Arbeitgeberin nicht von einem KV erfasst sind. Die Satzungserklärung erfolgt durch das Bundeseinigungsamt, und zwar nur auf Antrag einer Partei, die an dem zu satzenden KV beteiligt ist. Die Rechtswirkungen der Satzung entsprechen im Wesentlichen jenen des KV. Mindestlohntarif: Durch die behördliche Festsetzung von Mindestlohntarifen soll ArbeitnehmerInnen, deren Lohnbedingungen wegen des Fehlens einer kollektivvertragsangehörigen Körperschaft auf ArbeitgeberInnenseite nicht durch KV geregelt werden können, hinsichtlich der Lohngestaltung ein dem KV entsprechender Schutz gewährt werden. Gegenstand eines Mindestlohntarifs können gemäß § 22 Abs. 1 ArbVG „Mindestentgelte und Mindestbeträge für den Ersatz von Auslagen“ sein. Die Festsetzung eines Mindestlohntarifs erfolgt durch das Bundeseinigungsamt auf Antrag einer kollektivvertragsfähigen Körperschaft der ArbeitnehmerInnen. Die Rechtswirkungen des Mindestlohntarifs entspre-

10


Kollektivverträge Betriebsvereinbarungen

1.1 1.2

chen im Wesentlichen jenen des KV. Jeder nach Erlassung eines Mindestlohntarifs abgeschlossene KV und jede Satzung setzen für ihren Geltungsbereich den Mindestlohntarif außer Kraft. Da kollektivvertragsfähige Körperschaften der ArbeitgeberInnen für den weitaus überwiegenden Teil der Arbeitsverhältnisse bestehen, kommt die behördliche Festsetzung von Mindestlohntarifen nur für wenige Berufsgruppen in Betracht, z.B. für HausgehilfInnen, HausbesorgerInnen, PrivatlehrerInnen. Erfassungsgrad von Kollektivverträgen: Die kollektivvertragliche Deckungsquote misst das Ausmaß, in dem Beschäftigte von Kollektivverträgen erfasst werden. Infolge der Pflichtmitgliedschaft der Unternehmen des privaten Sektors in der WKÖ bzw. anderen Kammern decken in Österreich Kollektivverträge nahezu alle Beschäftigten dieses Bereichs ab. Die korrigierte Deckungsquote (Anteil der Beschäftigten, die von einem KV erfasst werden, an der Gesamtzahl der Beschäftigten, korrigiert um Beschäftigtengruppen, die von Kollektivverhandlungen ausgeschlossen sind) lag 2007-2009 bei rund 98 %. Damit rangiert Österreich seit der Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft in der Wirtschaftskammer Sloweniens (2006) an der Spitze der EU. Die durchschnitt­ liche korrigierte Deckungsrate der Kollektivverträge belief sich in den „alten“ EU-Ländern (EU-15) 2008 auf etwa 75 %, in der gesamten EU (EU-27) auf 66 %.

Betriebsvereinbarungen Betriebsrat: Der Betriebsrat ist gemäß §§ 39 und 40 ArbVG ein „Organ der Arbeitnehmerschaft“: Die dieser zustehenden Befugnisse werden durch Betriebsräte ausgeübt. Dem Betriebsrat kommt weder volle noch teilweise Rechtspersönlichkeit zu, sondern er stellt ein „kollegiales Vertretungsorgan“ dar. Einzurichten ist gemäß § 40 ArbVG ein Betriebsrat in jedem Betrieb, in dem dauernd mindestens fünf ArbeitnehmerInnen beschäftigt werden. Um die Vertretung von Gruppeninteressen zu ermöglichen, ist beim jeweiligen Erreichen der Fünf-Personen-Schwelle sowohl ein Angestellten- als auch ein Arbeiterbetriebsrat zu bilden. Die Mitglieder des Betriebsrats werden von der gesamten Belegschaft (ausgenommen Jugendliche) aufgrund des gleichen, unmittelbaren und geheimen Wahlrechts gewählt.

11


1

Rechtsgrundlagen der Lohnsetzung Überwiegend sind es Gewerkschaftsmitglieder, die als gewählte Belegschafts­ vertreterInnen tätig werden. Diese Tatsache erleichtert die Zusammenarbeit ­zwischen der betrieblichen Interessenvertretung und der zuständigen kollektivvertragsfähigen Körperschaft der ArbeitnehmerInnen, die im § 39 Abs. 2 ArbVG verankert ist. Das Betriebsrätegesetz 1947 regelt Aufgaben und Befugnisse der Betriebsräte. Gemäß § 38 ArbVG haben die Organe der ArbeitnehmerInnenschaft die Aufgabe, die wirtschaftlichen, sozialen, gesundheitlichen und kulturellen ­Interessen der ­ArbeitnehmerInnen im Betrieb wahrzunehmen und zu fördern. Mitwirkungsrechte: Die innerbetrieblichen Befugnisse der ArbeitnehmerInnenschaft können in Alleinbestimmungsrechte (zur autonomen Regelung eigener Angelegenheiten) und Mitwirkungsrechte gegliedert werden. Mit Letzteren steht der Betriebsrat in einem gewissen Bezug zum Betriebsinhaber bzw. zur -inhaberin und wirkt zumindest überwachend an der Planung und Führung des Betriebs mit. Nach dem Grad der Einflussnahme der Belegschaftsvertretung auf Entscheidungen des Betriebsinhabers bzw. der -inhaberin können mehrere betriebsverfassungsrechtliche Mitwirkungsstufen unterschieden werden: Überwachungs-, Interventions-, Informations- und Auskunfts-, Beratungs- und (imparitätische [Mitwirkung im Aufsichtsrat u.a.] sowie paritätische) Mitentscheidungsrechte, wobei Letzt­genannte insbesondere auch die Aushandlung von Betriebsvereinbarungen einschließen. Der Betriebsrat überwacht, ob der/die BetriebsinhaberIn die für die ArbeitnehmerInnen des Betriebs wesentlichen Rechtsvorschriften einhält, interveniert beim/bei der BetriebsinhaberIn, macht sein Beratungsrecht geltend oder verhandelt mit dem/der BetriebsinhaberIn als gleichberechtigter Partner bei der Einführung gewisser Maßnahmen. Definition: Betriebsvereinbarungen (BV) sind gemäß § 29 ArbVG schriftliche Vereinbarungen, die vom/von der BetriebsinhaberIn einerseits und dem Betriebsrat (Betriebsausschuss, Zentralbetriebsrat oder der Konzernvertretung) ­andererseits in Angelegenheiten abgeschlossen werden, deren Regelung durch Gesetz oder KV der BV vorbehalten ist. Während dem KV die wesentliche Aufgabe zukommt, den Inhalt des Arbeits­ vertrags zu gestalten und Arbeits-, insbesondere Lohnbedingungen festzulegen,

12


Betriebsvereinbarungen

1.2

ist die BV ihrer Funktion nach primär ein Instrument der Mitbestimmung im Betrieb. Inhalte: Beispielsweise bedarf die Einführung und Regelung von Akkordlohn der Zustimmung des Betriebsrats, nämlich des Abschlusses einer so genannten notwendigen Betriebsvereinbarung. Von dieser unterscheidet sich die fakultative (freiwillige) Betriebsvereinbarung dadurch, dass die Einführung der entsprechenden Maßnahmen bei Nichteinigung zwischen BetriebsinhaberIn und Betriebsrat nicht zur Gänze versperrt ist. Angelegenheiten, über die fakultative BV geschlossen werden können, sind u.a. die Einführung von Systemen der Gewinnbeteiligung s­ owie von leistungs- und erfolgsbezogenen Prämien und Entgelten nicht nur für einzelne ArbeitnehmerInnen. Wie bereits oben angeführt, legt das ArbVG bezüglich der Regelung der Lohn­ bedingungen ausdrücklich den Vorrang des KV gegenüber BV fest: Es liegt somit in der autonomen Entscheidung der KV-Partner, ob sie derartige Regelungs­inhalte an die Verhandlungspartner in den Betrieben delegieren. Sofern die KV-Partner ausdrücklich die BV zur Regelung von Lohnangelegenheiten ermäch­tigen, kann eine so genannte freiwillige (fakultative) BV mit den besonderen Rechts­wirkungen des ArbVG (§ 97 Abs. 1) darüber abgeschlossen werden. Ihr Abschluss ist, wie die ­Bezeichnung sagt, freiwillig und nicht via Schlichtungsstelle durchsetzbar. In der Praxis übertragen einige KV die Regelung der betrieblichen Lohnstruktur und der Lohntafeln auf die freiwilligen Betriebsvereinbarungen. Beispielsweise überließ der im November 2006 abgeschlossene KV für die Metallindustrie im Rahmen der so genannten Verteiloption die Aufteilung eines kleinen Teils der zusätzlichen Lohnsumme den Verhandlungen auf Betriebsebene. Rechtswirkungen: Regelungen aus BV, die geeignet sind, auf den Arbeits­ vertrag einzuwirken, sind für jedes Arbeitsverhältnis im Geltungsbereich der BV unmittelbar rechtsverbindlich (Normwirkung). Ansprüche aus einer normativ wirkenden BV können von ArbeitnehmerInnen mittels Klage beim Arbeits- und Sozialgericht durchgesetzt werden. Die Bestimmungen einer gesetzlich oder kollektivvertraglich vorgesehenen BV sind – ebenso wie jene der KV – unab­ dingbar. Im Verhältnis zwischen BV und Einzelvereinbarung gilt das Günstigkeitsprinzip.

13


1

Rechtsgrundlagen der Lohnsetzung Freie Betriebsvereinbarungen: Neben den durch das ArbVG geregelten BV sind so genannte freie BV über Angelegenheiten, deren Regelung weder durch Gesetz noch durch KV der BV lt. ArbVG vorbehalten ist, möglich. Derartige freie BV ­haben nicht die Rechtswirkungen einer BV nach dem ArbVG. Sie sind sowohl hinsichtlich ihres Zustandekommens als auch hinsichtlich ihrer Rechtswirkung nach ABGB-Grundsätzen zu beurteilen. Gemäß OGH-Urteilen kommt einer freien BV insofern rechtliche Bedeutung zu, als sie die Grundlage für einzelvertragliche Ergänzungen abgeben kann. Eine solche Ergänzung eines Einzelarbeitsvertrags kommt dadurch zustande, dass die Parteien des Arbeitsvertrags den Inhalt der freien BV ausdrücklich oder stillschweigend zur Kenntnis nehmen oder tatsächlich beachten (§ 863 ABGB). Am häufigsten kommen derartige Vereinbarungen im Zusammenhang mit Remunerationen, Zulagen, Abfertigungen oder sonstigen Entgeltbestandteilen vor. Erfolgen beispielsweise in Bereichen, wo der Kollektivvertrag nur Mindestlöhne regelt, Überzahlungen, so beruhen diese auf freien Betriebsvereinbarungen bzw. auf Einzelverträgen. Zum Ausmaß der Überzahlungen siehe unten das Kapitel 5 „Lohnentwicklung“. Europäischer Vergleich: Österreich zählt gemeinsam mit Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und einigen anderen Staaten zu jenen EU-Ländern mit einer dualen betrieblichen Interessenvertretung der ArbeitnehmerInnen (Betriebsrat und betriebliche Gewerkschaftsvertretung in je unterschiedlicher Form). Gemäß dem „Europäischen Unternehmensbericht“ 2010 gab es 2009 in 37 % aller Betriebe mit zehn oder mehr Beschäftigten in den EU-27 eine formalisierte betriebliche Interessenvertretung der ArbeitnehmerInnen. Das bedeutet, dass rund 60 % der Beschäftigten dieser Betriebe eine formal verankerte betriebliche Interessenvertretung hatten. Nimmt man eine Korrektur für die Beschäftigten in Mikrobetrieben (<10 Beschäftigte) vor, so ergibt sich eine Deckungsquote betrieblicher Arbeitnehmerinteressenvertretungen von etwa 50 %. Die letzt­ genannte Deckungsrate ist in den EU-27 ungefähr doppelt so hoch wie der ­gewerkschaftliche Organisationsgrad (23,4 %). Formelle Gremien der betrieb­ lichen Interessenvertretung ermöglichen es den Gewerkschaften somit, ihren

14


Betriebsvereinbarungen Einzelverträge

1.2 1.3

betrieblichen Einfluss beträchtlich auszuweiten. Der korrigierte Erfassungsgrad betrieblicher Arbeitnehmerinteressenvertretungen ist allerdings deutlich geringer als jener der Kollektivverträge (66 %), was vor allem auf die Schwellenwerte der Betriebsgröße zurückzuführen ist (meist 50 Beschäftigte), wonach Interessenvertretungen eingerichtet werden können bzw. müssen. Mit einer Deckungsrate der betrieblichen Arbeitnehmerinteressenvertretung von 58 % liegt Österreich nahe dem entsprechenden (unkorrigierten) Durchschnittswert der EU-27.

Einzelverträge Individuelle Arbeitsbedingungen der ArbeitnehmerInnen werden in Arbeitsverträgen geregelt. Gemäß 26. Hauptstück des ABGB ist der Arbeitsvertrag ein zweiseitiger schuldrechtlicher Vertrag, der auf dem Prinzip von Leistung (Arbeit) und Gegenleistung (Lohn und andere Entgeltbestandteile) beruht. Nach den allgemeinen Regeln des Vertragsrechts kann der/die ArbeitgeberIn nicht einseitig eine Änderung der Vertragsbedingungen verfügen: Eine Änderung des Arbeitsvertrags bedarf der Zustimmung sowohl des Arbeitgebers/ der Arbeitgeberin als auch des Arbeitnehmers bzw. der Arbeitnehmerin.

15


2

Koordination der Kollektiv­ vertragsverhandlungen In nahezu allen westeuropäischen Ländern findet eine gesamtwirtschaftliche Koordination der Lohnverhandlungen statt, wenngleich auf sehr unterschiedliche Art und Weise. In Österreich erfolgt die gesamtwirtschaftliche Koordination der Branchen-KV-Verhandlungen indirekt: Die jährliche Lohnrunde wird eröffnet durch die Verhandlungen in der Metallindustrie, dem bedeutendsten und stark auf den Export ausgerichteten Bereich der verarbeitenden Industrie Österreichs. Die dort vereinbarten Zuwachsraten für die Mindest- und die Istlöhne bilden Orientierungspunkte für die übrigen Verhandlungsbereiche im Zuge der jeweiligen Lohnrunde. Nachdem der größte Fachverband, nämlich jener für den Maschinenbau und die Metallwarenindustrie (FMMI), die freiwillige Verhandlungsgemeinschaft der Arbeitgeber in der Metallindustrie verlassen hatte, wurden im Herbst 2012 erstmals seit vierzig Jahren die dortigen KV-Verhandlungen nicht gemeinsam geführt, sondern in sechs separaten Bereichen jeweils zwischen PRO-GE und GPA-djp auf Gewerkschaftsseite und dem betreffenden Fachverband auf Arbeitgeberseite (Maschinenbau und Metallwarenindustrie, 120.000 Beschäftigte; Fahrzeugindustrie, 30.000 Beschäftigte; Bergbau und Stahlindustrie, 17.000 Beschäftigte; Nichteisenmetallindustrie, 6.500 Beschäftigte; Gießereiindustrie, 7.000 Beschäftigte; Gas- und Wärmeunternehmungen, 6.000 Beschäftigte). Mitte Oktober einigten sich die Arbeitergewerkschaft PRO-GE und die Angestelltengewerkschaft GPA-djp mit dem FMMI auf einen neuen KV, die übrigen fünf Verhandlungsbereiche folgten in der zweiten Monatshälfte mit dem jeweils exakt gleichen Abschluss. Somit erreichten PRO-GE und GPA-djp ihre Ziele eines einheitlichen KV mit allen sechs Fachverbänden der Metallindustrie und eines einheitlichen Lohn- und Gehaltsabschlusses für die über 180.000 Beschäftigten. Weitere wichtige KV-Verhandlungen im Herbst sind jene für die ArbeiterInnen und Angestellten des Metallgewerbes, für die ArbeiterInnen der Arbeitskräfteüberlassung, für die Angestellten des Allgemeinen Gewerbes und für die Handelsangestellten. Der Handel ist, was die Zahl der betroffenen ArbeitnehmerInnen anbelangt, der mit Abstand größte Verhandlungsbereich. Mit Jahresbeginn erfolgt die gesetzlich geregelte Besoldungserhöhung im öffentlichen Dienst. Im Winter werden u.a. die KV-Verhandlungen für die Gesundheits- und Sozialberufe sowie jene für die Bankangestellten geführt.

16


2 Im dritten Abschnitt der Lohnrunde (Anfang Mai) schließlich werden KV u.a. für die ArbeiterInnen und Angestellten des Baugewerbes und der Bauindustrie sowie der Bauhilfs- und –nebengewerbe, für die ArbeiterInnen und Angestellten der Chemischen Industrie und für die ArbeiterInnen und Angestellten im Hotelund Gastgewerbe wirksam. (Die jeweils aktuellen Kollektivverträge der einzelnen Fachgewerkschaften können auf der Webseite des ÖGB http://www.oegb.at bzw. jenen der Fachgewerkschaften eingesehen und heruntergeladen werden.) Vor der Aufnahme von KV-Verhandlungen wird jeweils die Zustimmung des ­Lohnunterausschusses der Paritätischen Kommission, dem zentralen Gremium der österreichischen Sozialpartnerschaft, eingeholt. Durch ein Hinauszögern der Freigabe von KV-Verhandlungen hätte dieser paritätisch besetzte Ausschuss prinzipiell die Möglichkeit, den zeitlichen Ablauf der Lohnverhandlungen – aber nicht deren Inhalte! – zu beeinflussen. Tatsächlich machte der Lohnunterausschuss in den letzten Jahren von dieser Möglichkeit allerdings keinen Gebrauch. Die Tabellen 1 bis 3 führen das Ausmaß der gesamtwirtschaftlichen Abstimmung der Tariflohnzuwachsraten vor Augen. Tabelle 1 zeigt die Entwicklung der Tariflöhne zwischen 2006 und 2011, wobei die Gesamtheit der unselbstständig Beschäftigten auch nach dem sozialrechtlichen Status (ArbeiterInnen, Angestellte, öffentlich Bedienstete) untergliedert wird. Im Durchschnitt stieg der Tariflohn (kollektivvertraglich vereinbarte Monatslohn) im genannten Zeitraum um 13,1 %. Den stärksten Zuwachs verzeichneten die Tariflöhne der ArbeiterInnen (13,9 %). Die kollektivvertraglichen Monatsgehälter der Angestellten erhöhten sich leicht überdurchschnittlich (13,3 %). Die Gehaltsentwicklung der öffentlich Bediensteten blieb infolge der Sparpolitik der Regierung in den Jahren 2010 und 2011 (jährliche Zuwachsrate von jeweils 1,1 %) etwas zurück. Aus Tabelle 2 ist die Veränderung der kollektivvertraglichen Monatslöhne der ArbeiterInnen nach ausgewählten Wirtschaftsbereichen (Fachbereichsgliederung der WKÖ) seit 2006 zu entnehmen. Für den Bereich der Industrie wurden zudem drei Qualifikationsgruppen (FacharbeiterInnen, angelernte und Hilfs­ arbeiterInnen) unterschieden. Tabelle 3 schließlich zeigt die Entwicklung der kollektivvertraglich vereinbarten Monatsgehälter der Angestellten nach ausgewählten Wirtschaftsbereichen (Fachbereichsgliederung der WKÖ) im Zeitraum 2006 bis 2011.

17


2

Koordination der Kollektiv­ vertragsverhandlungen Tabelle 1: Entwicklung der Tariflöhne nach sozialrechtlichem Status der Beschäftigten Jahresdurchschnitt der kollektivvertraglichen Monatslöhne bzw. -gehälter 2006 = Indexwert 100 Gesamt

ArbeiterInnen

Angestellte

Öffentl. Bedienstete

absolut

%

absolut

%

absolut

%

absolut

%

2007

102,5

2,5

102,5

2,5

102,5

2,5

102,4

2,4

2008

105,6

3,0

105,8

3,2

105,7

3,1

105,2

2,7

2009

109,2

3,4

109,4

3,4

109,2

3,3

108,9

3,5

2010

110,9

1,6

111,3

1,7

110,9

1,6

110,1

1,1

2011

113,1

2,0

113,9

2,3

113,3

2,2

111,3

1,1

Tabelle 2: Entwicklung der Tariflöhne der ArbeiterInnen 2006-2011 Jahresdurchschnitt der kollektivvertraglichen Monatslöhne 2006 = Indexwert 100 Gesamt Gewerbe Industrie Transp. Fremden- Land- u. Handel u Handw. u. Verk. verkehr Forstwi. Gesamt Facharb. angel. A. Hilfsarb. 2009

109,4

109,5

109,5

109,6

109,5

108,9

109,7

109,8

108,6

109,2

2010

111,3

111,4

111,4

111,5

111,4

110,8

111,5

111,1

110,7

110,6

2011

113,9

114,0

114,3

114,4

114,2

113,5

114,0

113,8

112,8

112,9

Tabelle 3: Entwicklung der Tarifgehälter der Angestellten 2006-2011 Jahresdurchschnitt der kollektivvertraglichen Monatsgehälter 2006 = Indexwert 100 Gesamt Gewerbe Industrie Handel u. Handw. 2009

109,2

109,4

109,5

Transp. Fremden­ Inform. u. Verk. verkehr u. Berat.

Freie Berufe

109,1

109,0

108,0

108,3

109,9

2010

110,9

111,1

111,3

111,3

110,9

110,3

111,5

110,1

110,0

2011

113,3

113,6

114,4

113,7

113,2

112,4

113,8

112,4

111,6

Quelle der Tabellen 1-3: Statistik Austria.

18

109,5

Banken u. Vers.


SKRIPTEN ÜBERSICHT SOZIALRECHT

SR-1

Grundbegriffe des Sozialrechts

SR-2

Sozialpolitik im internationalen Vergleich

SR-3

Sozialversicherung – Beitragsrecht

SR-4

Pensionsversicherung I: Allgemeiner Teil

SR-5

Pensionsversicherung II: Leistungsrecht

SR-6

Pensionsversicherung III: Pensionshöhe

SR-7

Krankenversicherung I: Allgemeiner Teil

SR-8

Krankenversicherung II: Leistungsrecht

SR-9

Unfallversicherung

SR-10

Arbeitslosenversicherung I: Allgemeiner Teil

SR-11

Arbeitslosenversicherung II: Leistungsrecht

SR-12

Insolvenz-Entgeltsicherung

SR-13

Finanzierung des Sozialstaates

SR-14

Pflege und Betreuung

SR-15

Bedarfsorientierte Mindestsicherung

Die einzelnen Skripten werden laufend aktualisiert.

ARBEITSRECHT

AR-1 AR-2A AR-2B AR-2C AR-3 AR-4 AR-5 AR-6 AR-7 AR-8A AR-8B AR-9 AR-10 AR-11 AR-12 AR-13 AR-14 AR-15 AR-16 AR-18 AR-19 AR-21 AR-22

Kollektive Rechtsgestaltung Betriebliche Interessenvertretung Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates Rechtstellung des Betriebsrates Arbeitsvertrag Arbeitszeit Urlaubsrecht Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall Gleichbehandlung im Arbeitsrecht ArbeitnehmerInnenschutz I: Überbetrieblicher ArbeitnehmerInnenschutz ArbeitnehmerInnenschutz II: Innerbetrieblicher ArbeitnehmerInnenschutz Beendigung des Arbeitsverhältnisses Arbeitskräfteüberlassung Betriebsvereinbarung Lohn(Gehalts)exekution Berufsausbildung Wichtiges aus dem Angestelltenrecht Betriebspensionsrecht I Betriebspensionsrecht II Abfertigung neu Betriebsrat – Personalvertretung Rechte und Pflichten Atypische Beschäftigung Die Behindertenvertrauenspersonen

GEWERKSCHAFTSKUNDE

GK-1 GK-2 GK-3

Was sind Gewerkschaften? Struktur und Aufbau der österreichischen Gewerkschaftsbewegung Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1945 Die Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung von 1945 bis heute

GK-4

Statuten und Geschäftsordnung des ÖGB

GK-5

Vom 1. bis zum 18. Bundeskongress

GK-7

Die Kammern für Arbeiter und Angestellte

Die VÖGB-Skripten online lesen oder als Gewerkschaftsmitglied gratis bestellen: www.voegb.at/skripten


3

Interessen an kollektiven Lohnregelungen Die Arbeitsmarktparteien (Beschäftigte, ArbeitgeberInnen) und die Regierung haben jeweils überwiegend unterschiedliche und nur zum Teil deckungsgleiche Interessen an kollektiven Lohnregelungen (Kollektivverträge für eine Branche; betriebliche Vereinbarungen). Das stärkste Interesse an kollektiven Lohnregelungen haben ArbeitnehmerInnen:

Die Bedeutung kollektiver Lohnregelungen für ArbeitnehmerInnen xx Schutz: Auf dem Arbeitsmarkt haben die ArbeitgeberInnen aus folgenden Gründen einen Machtvorsprung gegenüber einzelnen ArbeitnehmerInnen: Erstens verfügen ArbeitgeberInnen bei einzelvertraglicher Lohnregelung über vielfältigere Handlungsmöglichkeiten als die Beschäftigten: Zum einen steht hinter dem/der einzelnen ArbeitgeberIn eine Unternehmung, deren finanzielle Mittel jene des/der einzelnen Beschäftigten bei Weitem übertreffen. Dieser Vorsprung bedeutet einen Handlungsvorteil, z.B. im Hinblick auf die verfügbaren Informationen. Zum anderen ist der/die ArbeitgeberIn vom/von der einzelnen Beschäftigten weniger abhängig als umgekehrt: Einzelne Beschäftigte können durch Arbeit suchende Personen ersetzt werden. Der sich daraus ergebende Machtvorteil des Arbeitgebers/der Arbeitgeberin ist umso größer, je höher die Arbeitslosigkeit ist. Innerhalb gewisser Grenzen und auf mittlere Sicht besteht für den/die ArbeitgeberIn ferner die Möglichkeit, Beschäftigte durch den Einsatz von Maschinen zu ersetzen. Zweitens ist Kapital mobiler als Arbeit. Mit anderen Worten: Es ist für viele, insbesondere große Unternehmen leichter, einen Produktionsstandort zu

Aus ArbeitnehmerInnensicht kommt kollektiven Lohnregelungen somit die Aufgabe zu, den aus den oben genannten Bedingungen resultierenden Machtvorsprung der ArbeitgeberInnen einzudämmen und den Beschäftigten angemessene Löhne und Arbeitsbedingungen zu sichern.

20


Die Bedeutung kollektiver Lohn­ regelungen für ArbeitnehmerInnen

3.1

wechseln, als für eine Arbeitnehmerin bzw. einen Arbeitnehmer, den Wohnort. Mit der Mobilität nehmen die Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen VertragspartnerInnen zu, woraus sich ein Verhandlungsvorteil für den/ die ArbeitgeberIn ergibt. xx Verteilung: Kollektive Lohnregelungen sollen den Beschäftigten die Teilhabe am wachsenden Wohlstand, der sich aus dem Produktivitätsfortschritt ergibt, sichern. xx Teilnahme: Kollektive Vereinbarungen ermöglichen den VertreterInnen der Beschäftigten die Teilnahme an der Regelung der Arbeitsbedingungen, also bezüglich der Löhne z.B. an der Festlegung der Lohnunterschiede zwischen verschiedenen Verwendungsgruppen. Überbetriebliche Lohnregelungen, also KV, erfüllen für die Beschäftigten folgende Aufgaben: xx Verallgemeinerung: KV sollen allen Beschäftigten eines bestimmten Wirtschaftsbereichs Schutz, Teilhabe am Produktivitätsfortschritt und Teilnahme an der Regelung der Lohnstruktur und der Arbeitsbedingungen ermöglichen. Diese Verallgemeinerung entspricht dem Solidaritätsprinzip der Gewerkschaften. xx Gesellschaftspolitische Rolle der Gewerkschaften: Die Aufgabe der Verallgemeinerung von Schutz, Verteilung und Teilnahme begründet die Stellung der Gewerkschaften als gesellschaftspolitisch bedeutsame Organisationen.

21


3

Interessen an kollektiven Lohnregelungen Kollektive Lohnregelungen aus der Sicht der ArbeitgeberInnen Das Interesse der ArbeitgeberInnenseite an kollektiven Lohnregelungen ergibt sich aus folgenden Aufgaben derselben: xx Stabilität: Um möglichst viele Unsicherheiten im Zusammenhang mit Investitionsentscheidungen auszuschließen oder zumindest zu begrenzen, sind für die Unternehmungen stabile Arbeitsbeziehungen in den Betrieben und vorhersehbare Lohnentwicklungen von Vorteil. Durch einvernehmliche Regelungen können UnternehmerInnen die Leitung im Betrieb mit mehr Legitimität und deshalb effektiver ausüben. xx Befriedung: Kollektive Regelungen sollen während der Geltungsdauer der betreffenden Vereinbarung den ungestörten Betriebsablauf gewährleisten. xx Motivation: Der tatsächliche Arbeitseinsatz der einzelnen Beschäftigten kann mittels Arbeitsvertrag nicht genau festgeschrieben werden. Einvernehmlich getroffene, als „fair“ angesehene kollektive Regelungen von Löhnen und Arbeitsbedingungen motivieren die Beschäftigten zu höherem Arbeitseinsatz, z.B. zur Einbringung aller im Berufsleben gesammelten Erfahrungen, zu steten Verbesserungen der betrieblichen Abläufe, zur Mitwirkung an Produktinnova­ tionen usw. so genannte „Produktivitätskoalitionen“ zwischen ArbeitgeberInnen und Belegschaft erhöhen daher die Wettbewerbsfähigkeit der betreffenden Unternehmungen. Auch überbetriebliche Lohnregelungen durch KV bieten den Arbeitgebern Vorteile: xx Entschärfung der Preiskonkurrenz: KV setzen Mindeststandards für Löhne und Arbeitsbedingungen in einem bestimmten Wirtschaftsbereich und schränken somit die (Preis-)Konkurrenz zwischen den betreffenden Betrieben ein. In Rezessionsphasen und in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit bieten sie arbeitsintensiven Betrieben Schutz gegen

22


Kollektive Lohnregelungen aus der Sicht der ArbeitgeberInnen 3.2 unter Umständen bestandsgefährdende Preissenkungswettläufe. In Hochkonjunkturphasen und in Zeiten von Arbeitskräfteknappheit wiederum leisten sie einen Beitrag zur Vermeidung von inflationstreibenden Lohn-Lohnund Lohn-Preis-Lohn-Spiralen. Und in noch größerem Maße als betriebliche Regelungen reduzieren Branchen-KV Unsicherheiten für den/die UnternehmerIn und machen die Lohnentwicklung kalkulierbarer. xx Fernhalten von Verteilungskonflikten: Die Friedensfunktion des KV besteht darin, dass die von den Vertragspartnern ausgehandelten Arbeitsbedingungen für einen gewissen Zeitraum außer Streit gestellt und Arbeitskampfmaßnahmen hintangehalten werden. Weil KV-Verhandlungen auf der Branchenebene stattfinden, werden Konflikte von den einzelnen Betrieben ferngehalten. xx Senkung der Regelungskosten: Die für alle ArbeitgeberInnen eines bestimmten Wirtschaftsbereichs entstehenden Kosten der Regelung der Löhne und Arbeitsbedingungen (Informationskosten, Verhandlungskosten, Konfliktkosten usw.) sind im Falle überbetrieblicher Regelung geringer als im Falle betrieblicher oder ausschließlich einzelvertraglicher Regelung. xx Schutz vor Lohneskalation: In Hochkonjunkturphasen und generell in Zeiten von Arbeitskräfteknappheit schützen Branchen-KV die betreffenden ArbeitgeberInnen davor, dass gut organisierte Gewerkschaften einen Betrieb nach dem anderen unter Druck setzen und die Lohnkonkurrenz verschärfen. xx Koordinierung der Lohnentwicklung: Wie die gegenwärtige Wirtschaftskrise in Europa zeigt, ist gerade innerhalb der Europäischen Währungsunion die Kontrolle über die makroökonomische Lohnentwicklung sehr wichtig: Eine mittelfristig an der Teuerung und am gesamtwirtschaftlichen Fortschritt der Arbeitsproduktivität ausgerichtete Lohnpolitik (siehe unten: „Produktivitätsorientierte Lohnpolitik“) sichert einerseits die Entwicklung der Binnennachfrage (d.h. vor allem der Konsumnachfrage der privaten Haushalte), bewirkt andererseits aber keine Beein-

23


3

Interessen an kollektiven Lohnregelungen trächtigung der Exportchancen der ausfuhrorientierten Industriebranchen, bleibt deren preisliche Wettbewerbsfähigkeit doch (zumindest) gewahrt. Die derzeit zu beobachtenden makroökonomischen Ungleichgewichte ­innerhalb der Eurozone sind unter anderem auch darauf zurückzuführen, dass die ­gesamtwirtschaftliche Lohnentwicklung in einigen Ländern hinter der produktivitätsorientierten Lohnleitlinie zurückgeblieben, in anderen Ländern aber darüber hinausgegangen sind. (Wechselkursanpassungen, welche derartige Ungleichgewichte beseitigen, sind innerhalb einer Währungsunion ja nicht mehr möglich.) Das Interesse der ArbeitgeberInnen an überbetrieblichen Lohnregelungen hat sich allerdings in den letzten beiden Jahrzehnten verringert. Aus­schlaggebend dafür war vor allem, dass erstens infolge der Internationalisierung im Allgemeinen und der europäischen Integration (Binnenmarkt) im Besonderen KV ihrer Aufgabe, die Preiskonkurrenz zwischen Unternehmungen einer Branche durch die Setzung von Mindeststandards für Löhne zu entschärfen, gar nicht mehr oder nur noch in geringerem Maße gerecht werden. Und zweitens ist der Schutz vor Lohneskalation durch KV derzeit wegen der höheren Arbeitslosigkeit für die ArbeitgeberInnen weniger bedeutsam. Aus den anderen Gründen lässt sich dennoch weiterhin ein Interesse der ArbeitgeberInnen am Fortbestand von Branchen-KV ableiten: Die wettbewerbsverzerrenden Effekte einer Umstellung auf eine betriebliche Regelung der Löhne würden die Unsicherheiten für die UnternehmerInnen verstärken. Im Systemvergleich erweist sich der Branchen-KV keineswegs als hemmend für die wirtschaftliche Leistung eines Landes. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass insbesondere unter den Bedingungen der gemeinsamen europäischen Währung die Kontrolle der gesamtwirtschaftlichen Lohnentwicklung wesentlich ist. Eine Anpassung der Lohnregelungen an die jeweiligen betrieblichen Erfordernisse ist auch innerhalb eines Branchen-KV bis zu einem gewissen Grad möglich. Und angesichts der – technisch und organisatorisch bedingten – steigenden Kosten von Arbeitskonflikten für vielfältig vernetzte Unternehmungen dürfte die Befriedungsfunktion von überbetrieblichen Regelungen an Bedeutung gewinnen.

24


Bedeutung von Kollektivverträgen für Staat bzw. Allgemeinheit

3.3

Die Bedeutung von Kollektivverträgen für den Staat bzw. die Allgemeinheit Auch aus der Perspektive der Regierung bzw. der Allgemeinheit bieten kollektive Lohnregelungen eine Reihe von Vorteilen, und zwar solche politischer, sozialer und wirtschaftlicher Art: xx Entlastung: Geregelte Arbeitsbeziehungen im Allgemeinen und kollektive Lohnregelungen im Besonderen entlasten die Regierung von konfliktträchtigen und heiklen Regelungsaufgaben. KV stellen ein nichtstaatliches Regulierungs­ system dar, welches sich in der Regie der autonomen Tarifpartner (Gewerkschaften, ArbeitgeberInnenverbände) befindet und staatliche Eingriffe in die Lohnbestimmung außerhalb des öffentlichen Sektors unnötig macht. xx Legitimation: Eine als „gerecht“ empfundene Einkommensverteilung, die zu einem erheblichen Teil auf Verhandlungskompromissen zwischen den Kollektivverhandlungspartnern beruht, trägt auch zur Legitimation der jeweiligen Regierung bei. xx Gesamtwirtschaftliche Steuerung: Die Ergebnisse der KV-Verhandlungen für große Wirtschaftsbereiche sind bedeutsam für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, d.h. für Inflation, Beschäftigungslage und Wirtschaftswachstum. Gesamtwirtschaftliche Steuerung, also die Abstimmung zwischen Budgetpolitik, Geldpolitik, Beschäftigungspolitik und Lohnpolitik, setzt den Bestand von kollektiven Lohnregelungen und die gesamtwirtschaftliche Koordinierung Letzterer voraus. Makroökonomisch sehr bedeutsam ist die Funktion der KV als automatische Stabilisatoren: Aufgrund der längerfristigen Geltung (einschließlich seiner Nachwirkung) tragen Kollektivverträge in Rezessionen zur Stabilisierung der nominellen Konsumnachfrage bei. Die vom ÖGB verfolgte produktivitätsorientierte Lohnpolitik vermeidet übermäßige Inflation ebenso wie Deflation (Absinken des Preisniveaus) und bietet somit Gewähr für ein hohes Maß an Preisstabilität.

25


3

Interessen an kollektiven Lohnregelungen xx Wirtschaftlicher Strukturwandel: Lohnverhandlungen auf der Branchenebene beschleunigen die Modernisierung der Wirtschaft: Während eher unproduktive Betriebe durch branchenweit einheitliche Lohnzuwachsraten unter Druck geraten, werden hoch produktive Betriebe durch diese begünstigt und in die Lage versetzt, hohe Investitionen in modernere Maschinen und Anlagen, in Forschung und Entwicklung, in die Weiterbildung der MitarbeiterInnen usw. zu tätigen. xx Sozialer Friede: Gut funktionierende kollektive Arbeitsbeziehungen leisten einen wesentlichen Beitrag zum sozialen Frieden. Durch die Festlegung von branchenspezifischen Mindestlöhnen erfolgt eine Art lohnrechtlicher ArbeitnehmerInnenschutz und gleichzeitig ein überbetrieblicher Interessenausgleich zwischen ArbeitnehmerInnen und Unternehmen. (Es gibt in Österreich keine gesetzlichen Mindestlöhne.) xx Weiterentwicklung des Arbeitsrechts: Der KV hat schließlich einen ganz wesentlichen Anteil an der Fortentwicklung des Arbeitsrechts, da er ausgehend von den konkreten Bedürfnissen am Arbeitsmarkt eine Vorreiterrolle einnimmt und Weichenstellungen für zukünftige Gesetzesvorhaben vornimmt.

26


SKRIPTEN ÜBERSICHT WIRTSCHAFT

POLITIK UND ZEITGESCHICHTE

WI-1

Einführung in die Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftswissenschaften

PZG-1A Sozialdemokratie und andere politische Strömungen der ArbeiterInnenbewegung bis 1945

WI-2

Konjunktur

WI-3

Wachstum

WI-4

Einführung in die Betriebswirtschaftslehre

WI-5

Beschäftigung und Arbeitsmarkt

PZG-3 Die Unabhängigen im ÖGB

WI-6

Lohnpolitik und Einkommensverteilung

PZG-4 Liberalismus/Neoliberalismus

WI-7

Der öffentliche Sektor (Teil 1) – in Vorbereitung

PZG-6 Rechtsextremismus

WI-8

Der öffentliche Sektor (Teil 2) – in Vorbereitung

WI-9

Investition

WI-10

Internationaler Handel und Handelspolitik

WI-12

Steuerpolitik

WI-13

Bilanzanalyse

WI-14

Der Jahresabschluss

WI-16

Standort-, Technologie- und Industriepolitik

PZG-1B Sozialdemokratie seit 1945 (in Vorbereitung) PZG-2 Christliche Soziallehre

PZG-7 Faschismus PZG-8 Staat und Verfassung PZG-10 Politik, Ökonomie, Recht und Gewerkschaften

Die einzelnen Skripten werden laufend aktualisiert.

SOZIALE KOMPETENZ

SK-1

Sprechen – frei sprechen

SK-5

Moderation

SK-2

Teamarbeit

SK-6

Kommunizieren und Werben mit System

SK-3

NLP

SK-8

Führen im Betriebsrat

SK-4

Konfliktmanagement

Die VÖGB-Skripten online lesen oder als Gewerkschaftsmitglied gratis bestellen: www.voegb.at/skripten


4

Grundsätze der Lohnpolitik In der Folge werden die wichtigsten Grundsätze der Lohnpolitik des ÖGB wiedergegeben, wie sie der 16. Bundeskongress im Jänner 2007 bzw. der ­ 17. Bundeskongress von 30. Juni bis 2. Juli 2009 beschlossen hat. Wo es ­an­gebracht erscheint, werden einzelne Grundsätze und ihre wirtschaftliche ­Bedeutung ­näher erläutert.

Sicherung der Kaufkraft Zur Aufgabe der Gewerkschaften, über die KV-Verhandlungen den Erhalt der Kaufkraft der Löhne bzw. Gehälter der Beschäftigten zu sichern, heißt es im Grundsatzprogramm, dass der 17. ÖGB-Bundeskongress 2009 beschlossen hat, unter dem Punkt 4.2 „Einkommensverteilung und Lohnpolitik“: „Regelmäßige KV- bzw. Ist-Lohnerhöhungen sind ein unverzichtbares Instrument, um ein schleichendes Sinken des Lohn- und Einkommensniveaus und damit eine Verschlechterung des Lebensstandards der Beschäftigten zu ver­hindern.“

Produktivitätsorientierung „Der ÖGB bekennt sich in seiner Lohnpolitik zu einer Orientierung der Lohnsteigerungen an der gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsentwicklung. Die Orientierung an der gesamtwirtschaftlichen und weniger der branchenspezifischen Produktivitätsentwicklung ist dabei Ausdruck der solidarischen Lohnpolitik. In Bereichen mit hohen Produktivitätssteigerungen ermöglicht die Ausrichtung an der gesamtwirtschaftlichen Produktivität eine Kostenentlastung, die in die Preise weitergegeben werden kann und damit in Branchen mit geringer Produktivitätsentwicklung höhere Reallohnsteigerungen erlaubt.“ (Bundeskongress 2007) Worin bestehen die gesamtwirtschaftlichen Vorteile einer Lohnpolitik, die sich an der (von der Europäischen Zentralbank tolerierten) Teuerung und am mittelfristigen Trend der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität orientiert? xx Produktivitätsorientierte Lohnpolitik berücksichtigt sowohl die Kosten- als auch die Nachfrageeffekte von Lohnänderungen. Sie gewährleistet, dass die nominellen Ansprüche das zur Verfügung stehende reale Sozialprodukt nicht übersteigen und die realen Lohnstückkosten unverändert bleiben. Somit trägt eine derartig ausgerichtete Lohnpolitik weder zur Entstehung von In-

28


4 flation noch von Deflation bei, und die geldpolitischen Beschränkungen (Preisstabilitätsziel der Europäischen Zentralbank) in der Europäischen Währungsunion werden nicht verletzt. xx Die Einhaltung der Produktivitätsorientierung über einen längeren Zeitraum reduziert Unsicherheiten von Unternehmungen und KonsumentInnen. Dies wiederum begünstigt Realkapitalinvestitionen, Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum. xx Der Anteil der Arbeitseinkommen am Sozialprodukt wird stabilisiert. xx Lohnpolitik, die sich am jeweiligen gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsfortschritt orientiert, begünstigt den Strukturwandel und dient daher dem längerfristigen Wirtschaftswachstum. Unter diesen Umständen erzielen jene Unternehmungen, die bei der Durchsetzung neuer Produkte und Verfahren erfolgreich sind und ihre Produktivität überdurchschnittlich erhöhen, Pioniergewinne bzw. gewinnen Marktanteile. Dies schafft Anreize für die Konkurrenten, dem Pionier zu folgen. Der Kapitalstock wird rascher erneuert. Erfolgt hingegen die Lohnsetzung auf betrieblicher Ebene und ohne gesamtwirtschaftliche Koordination, so orientieren sich die Lohnzuwächse stärker an der jeweiligen betrieblichen Leistungsfähigkeit, und ein erheblicher Teil der Pioniergewinne wird durch überdurchschnittlich steigende Löhne abgeschöpft. Dies schwächt die Anreize zur Nachahmung. Zudem erleichtert eine derartige Lohnverhandlungsweise Betrieben mit relativ schwachem Produktivitätswachstum das Überleben. Beide Effekte bremsen den Strukturwandel und den Produktivitätsfortschritt. Die wünschenswerte Geschwindigkeit des wirtschaftlichen Strukturwandels (d.h. der Veränderung der betriebsbezogenen und branchenweisen Zusammensetzung der Gesamtwirtschaft) ist allerdings nicht unabhängig von den Anpassungsmöglichkeiten der Unternehmungen bezüglich des Kapitalstocks (Maschinen und Anlagen) und jenen der Arbeitskräfte: Zumeist sind mit der Einführung neuer Produkte und neuer Herstellungsverfahren auch veränderte Anforderungen an die Qualifikationen der Arbeitskräfte verbunden. Kann sich das Arbeitsangebot trotz hohem Mitteleinsatz für die aktive Arbeitsmarktpolitik

29


4

Grundsätze der Lohnpolitik (­ Weiterbildungs- und Umschulungsmaßnahmen etc.) nicht schnell genug an die veränderte Nachfrage anpassen, nimmt die so genannte ‚strukturelle‘ Arbeits­ losigkeit zu. Je größer die Unterschiede zwischen schrumpfenden und wachsenden ­Branchen in Bezug auf die Zusammensetzung der Beschäftigung nach ­Berufen, Tätigkeiten und Qualifikation sind, umso schwieriger ist für die betroffenen ­Arbeitskräfte der Branchenwechsel. Kosten und Grenzen bezüglich der beruf­lichen, qualifikatorischen und regionalen Mobilität der Arbeitskräfte bilden somit Schranken für das Tempo des Strukturwandels. Finden die KV-Verhandlungen auf der Branchenebene statt, so hat dies den Vorteil, dass in gewissem Maße auch Besonderheiten der jeweiligen­ Branche bei der Lohnsetzung berücksichtigt werden. In dieser Verhandlungsform kann die im Vergleich zur Mobilität zwischen Betrieben derselben Branche geringere Mobilität der Arbeitskräfte zwischen verschiedenen Branchen in ­Betracht gezogen werden, sodass die Geschwindigkeit des Strukturwandels die Reaktionsfähigkeit der Unternehmungen und der Arbeitskräfte nicht überfordert. Tabelle 4: Wirtschaftswachstum, Produktivitätsfortschritt und Reallohnentwicklung Reale Veränderung zum Vorjahr in % BIP

BIP je Erwerbstätigen

Bruttolöhne pro Kopf

2004

2,6

1,6

–0,9

2005

2,4

1,6

0,2

2006

3,7

2,9

2,5

2007

3,7

2,0

0,9

2008

1,4

–0,4

0,1

2009

–3,8

–2,5

1,7

2010

2,1

1,7

–0,5

2011

2,7

1,7

–1,0

Quelle: Statistik Austria.

30


4 Die realen Einkommenszuwächse (Veränderung der Bruttolöhne und -gehälter pro Kopf) blieben – wie aus der obigen Tabelle 4 ersichtlich wird – mittelfristig hinter dem Fortschritt der realen Arbeitsproduktivität (Bruttoinlandsprodukt [BIP] je Erwerbstätigen real) zurück. Nicht übersehen werden darf dabei, dass die geringen Lohnabschlüsse im öffentlichen Sektor nicht unwesentlich zu dieser schwachen Lohnentwicklung beigetragen haben. Der ÖGB-Bundeskongress 2009 stellte dazu fest: „In der Einkommensverteilung ist seit mehr als 20 Jahren in den meisten Ländern eine Verschiebung von den Löhnen zu den Gewinnen zu beobachten. Dass die Lohnerhöhungen hinter der Produktivitätssteigerung zurückbleiben und die Lohnquote tendenziell sinkt, ist einerseits eine Folge der gestiegenen Arbeitslosigkeit, andererseits durch die enorm hohen Erträge der Unternehmen bedingt. Es war vor allem die zunehmende Finanzmarktorientierung der Industrie- und Dienstleistungsunternehmen, die zu einem immer schärferen Lohndruck geführt hat. Die steigenden Kapitalerträge kamen überwiegend den Vermögenden zugute, die Masseneinkommen stagnierten oder nahmen nur schwach zu. Die Dämpfung des privaten Konsums wirkte sich negativ auf Wachstum und Beschäftigung aus. Die sinkende Lohnquote hat auch dazu geführt, dass die Sozialversicherungssysteme weniger Beiträge eingenommen haben, die überwiegend von der Entwicklung der Lohnsumme abhängen.“ Österreich war in dieser Hinsicht also keineswegs ein Einzelfall. Auch in den meisten EU-Ländern war ein mittelfristiges Zurückbleiben der Lohnentwicklung hinter dem Produktivitätstrend festzustellen. Es bildete eine wichtige Ursache für die schwache Entwicklung der Binnennachfrage in diesen Staaten.

Europaweite Koordinierung der Lohnpolitik Eine so genannte „wettbewerbsorientierte“ Lohnpolitik, die versucht, die preis­ liche Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Unternehmungen auf inländischen und ausländischen Märkten durch die Senkung der Lohnstückkosten zu stärken, stellt für die EU insgesamt keine zielführende längerfristige Strategie dar: Sie würde unter Umständen die Preisstabilität in der Europäischen Währungsunion untergraben, den Zuwachs der Kaufkraft der Löhne und damit der Massenkaufkraft dämpfen oder diese sogar senken, die Investitionsbereitschaft der Unter-

31


4

Grundsätze der Lohnpolitik nehmungen verringern und daher das Wachstum bremsen. Die ersten Ansätze einer grenzüberschreitenden Koordination der Lohnpolitik in der EU von Seiten der europäischen Gewerkschaften sehen daher die Orientierung der nationalen Branchenkollektivverhandlungen an der jeweiligen gesamtwirtschaftlichen Produktivität und am Inflationsziel der Europäischen Zentralbank als Leitprinzip vor. Unter dem Punkt „Europäisches Handeln notwendig“ wurde dazu vom ÖGBBundeskongress 2007 festgestellt: „Der ÖGB begrüßt europäische Initiativen, die die Kooperation und Vernetzung von Gewerkschaften und Belegschaftsvertretungen in der EU fördern. Auch eine engere Verzahnung von Gewerkschaften und europäischen Betriebsräten ist notwendig. Der von der Kommission geplante ‚optionale Rahmen für transnationale Kollektivvertragsverhandlungen‘ darf jedoch keinesfalls zu einer Schwächung nationaler Kollektivvertragsverhandlungen führen oder Forderungen nach einer Verlagerung von Kompetenzen der Kollektivvertragsparteien auf Unternehmensebene Vorschub leisten. Europäisches Handeln darf funktionierende, gewachsene Strukturen im Bereich der Arbeitsverfassung nicht gefährden, sondern muss diese Strukturen europaweit absichern. Dementsprechend kommt der europäischen Koordinierung der Kollektivvertragspolitik im Rahmen des EGB und der europäischen Branchenverbände eine immer wichtigere Rolle zu, um dem zunehmend aggressiveren Standortwettbewerb zu begegnen. Der ÖGB setzt sich dafür ein: xx das Prinzip der Mitbestimmung als Kennzeichen der partizipativen Demokratie zu einem Leitmotiv europäischer Politik zu machen; xx durch europäisches Handeln hohe Mitbestimmungsstandards und Beteiligungsrechte der ArbeitnehmerInnen als Kernelemente des europäischen Sozialmodells zu sichern; xx die Beteiligung der ArbeitnehmerInnen zu unverzichtbaren Bestandteilen zukünftiger Initiativen der Kommission zum Gesellschaftsrecht, z.B. einer Sitzverlegungsrichtlinie, zu machen; xx auch im Rahmen des Europäischen Gewerkschaftsbundes den herausragenden Stellenwert der Mitbestimmung sicherzustellen und auf deren Verwirklichung in bevorstehenden Initiativen der Kommission zu bestehen;

32


4 xx die Stellung und Rechte der europäischen Betriebsräte aufzuwerten; xx die Koordinierung der Kollektivvertragspolitik innerhalb des EGB und der europäischen Branchenverbände zu stärken.“ Unter dem unmittelbaren Eindruck der Wirtschafts- und Finanzkrise formulierte der 17. ÖGB-Bundeskongress 2009: „Unter allen Umständen muss verhindert werden, dass es in der EU oder weltweit zu einem Lohnsenkungswettbewerb wie in der Depression der Zwischenkriegszeit kommt, der unausweichlich in eine allgemeine Deflation führen würde.“

Solidarische Lohnpolitik „Der ÖGB bekennt sich zu einer solidarischen Lohnpolitik, die das Ziel verfolgt, alle Beschäftigten am Produktivitätszuwachs und am Wachstum des Wohl­ standes teilhaben zu lassen. Eine solidarische Lohn- und Einkommenspolitik hat zum Ziel, auch für schwächere Gruppen durch die Kraft starker Gewerkschaften eine positive Einkommensentwicklung zu garantieren.“ (ÖGB-Bundeskongress 2007)

Mindestlohnpolitik „In Österreich gibt es ein Kollektivvertragssystem, das für fast alle ArbeitnehmerInnen Mindestlöhne und Arbeitsbedingungen festlegt. Das System zeichnet sich durch Sachnähe aus, da die VertreterInnen der unmittelbar Betroffenen verhandeln, und durch klare politische Verantwortlichkeiten.“ (ÖGB-Bundeskongress 2007) Zur Sicherung von Mindestlöhnen auch für jene Beschäftigtengruppen, die noch nicht von einem Kollektivvertrag erfasst sind, beschloss der 17. Bundeskongress des ÖGB 2009 im Grundsatzprogramm: „Ein gesetzliches Mindestentgelt sollte nicht in absoluter Höhe betragsmäßig festgelegt werden, sondern das Gesetz muss die Angemessenheit, Branchenüblichkeit und Ortsüblichkeit der Entlohnung auch für den Fall vertraglicher Vereinbarungen garantieren. Der Vorrang des Kollektivvertrages bei der Festlegung von Mindestentgelten muss aber auf jeden Fall bestehen bleiben.“

33


4

Grundsätze der Lohnpolitik Gleicher Lohn für gleiche Arbeit unabhängig vom Geschlecht Zu den im europäischen Vergleich hohen Unterschieden zwischen Männer- und Frauenlöhnen bzw. -gehältern stellte der ÖGB-Bundeskongress 2009 fest: „Trotz aller Bemühungen ist der Unterschied in der Bezahlung von Männern und Frauen nicht geringer geworden. Es müssen neue Lösungen gesucht werden, wobei auch den ArbeitgeberInnen eine hohe Verantwortung zukommt. Das Einstiegseinkommen von Männern und Frauen, die in dieselbe Lohn-/Gehaltsgruppe im Kollektivvertrag eingestuft werden, muss unabhängig von der verrichteten Tätigkeit gleich hoch sein. Lohn- und Gehaltsunterschiede sind vielfach erst deshalb möglich, weil Entlohnung, Zulagen und Einstufungen in vielen Betrieben nicht transparent geregelt sind. Zur Erleichterung bei Gehaltsverhandlungen muss ein laufend aktualisierter Gehaltsrechner erstellt werden, der Einblicke in die übliche Entlohnung der verschiedenen Berufe und Tätigkeiten in den jeweiligen Branchen gibt. Es braucht hier eine konsequente Mitwirkung der Betriebe unter Einbindung der BetriebsrätInnen. Betriebe müssen sich aktiv mit dem Thema Lohn- und Gehaltsunterschied auseinandersetzen. Notwendig sind Berichte der Betriebe nach dem Vorbild Schwedens über die Gehaltsstruktur nach Geschlecht, die auch die geschlechtsspezifische Verteilung hinsichtlich Teilzeit, Vollzeit, nach Lehrberufen und führenden Positionen offenlegen. Vorhandene Benachteiligungen müssen beseitigt werden.“ Der ÖGB forderte daher u. a. diskriminierungsfreie Arbeitsbewertung: „In der Kollektivvertragspolitik muss ein Schwerpunkt auf diskriminierungsfreie Arbeitsbewertung gelegt werden. Tätigkeiten, die als typisch weiblich angesehen werden, wie z.B. Pflegeberufe oder Kinderbetreuung, müssen, gemäß ihrer außerordentlich wichtigen gesellschaftspolitischen Stellung, besser bewertet und besser bezahlt werden.“

34


VÖGB/AK-SKRIPTEN Die Skripten sind eine Alternative und Ergänzung zum VÖGB/AK-Bildungsangebot und werden von ExpertInnen verfasst, didaktisch aufbereitet und laufend aktualisiert.

UNSERE SKRIPTEN UMFASSEN FOLGENDE THEMEN:

Lucia Bauer/Tina Brunauer-Laimer

Damit wir uns verstehen OEA 1

Tipps und Konzepte für Öffentlichkeitsarbeit im Betrieb

1

Damit wir uns verstehen

› Arbeitsrecht › Sozialrecht › Gewerkschaftskunde › Praktische Gewerkschaftsarbeit › Internationale Gewerkschaftsbewegung › Wirtschaft › Wirtschaft – Recht – Mitbestimmung › Politik und Zeitgeschehen › Soziale Kompetenz › Humanisierung – Technologie – Umwelt › Öffentlichkeitsarbeit SIE SIND GEEIGNET FÜR:

› Seminare › ReferentInnen › Alle, die an gewerkschaftlichen Themen interessiert sind. und Nähere InfosBes tellung: kostenlose kripten www.voegb.at/s ten@oegb.at E-Mail: skrip Adresse: öhm-Platz 1, Johann-Bien 1020 W534 44-39244 Tel.: 01/

Die Skripten gibt es hier zum Download:

www.voegb.at/skripten

Leseempfehlung: Reihe Zeitgeschichte und Politik

Öffentlichkeitsarbeit


5

Lohnentwicklung Die Entwicklung der Effektivverdienste resultiert zum einen aus den in KV festgelegten Anhebungen von tariflichen Mindest- bzw. Istlöhnen, außerdem aus den im Anschluss an einen KV-Abschluss getroffenen lohnbezogenen Betriebsvereinbarungen sowie aus Veränderungen der übertariflichen Zuschläge, welche die ArbeitgeberInnen einseitig zugestehen. Steigen die Effektivverdienste wegen überproportional erhöhter übertariflicher Zuschläge rascher als die Tariflöhne, so spricht man von positiver Lohndrift. Nehmen die Effektivverdienste langsamer zu als die Tariflöhne, so wird das als negative Lohndrift bezeichnet. Bei der Bewertung von Daten über die Entwicklung des durchschnittlichen Effektivverdienstes in einem bestimmten Wirtschaftsbereich oder in der Gesamtwirtschaft ist zum anderen zu berücksichtigen, dass sich darin auch Änderungen in der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit (z.B. Schwankungen in der Überstundenleistung) je ArbeitnehmerIn und Änderungen in der Zusammensetzung der Beschäftigung (der so genannten „Beschäftigungsstruktur“) des betreffenden Bereichs widerspiegeln: Verschiebungen in der Zusammensetzung der Beschäftigung nach Wirtschaftszweigen, nach dem Geschlecht, nach dem sozialrechtlichen Status (Arbeiter/Angestellte/Beamte), nach dem Alter, nach Berufsgruppen und Tätigkeiten, nach Qualifikationen.

Tariflöhne Einen Maßstab für die Entwicklung der kollektivvertraglich vereinbarten Löhne und Gehälter bietet der Tariflohnindex, der, gewichtet nach den im Jahr 2006 in den jeweiligen Beschäftigtengruppen ausgezahlten Lohnsummen, eine durchschnittliche Erhöhung der Mindestlöhne und -gehälter für einzelne Wirtschaftsbereiche bzw. Beschäftigtensegmente angibt. Durch diese Methode werden Auswirkungen von Änderungen in der Zusammensetzung der Beschäftigung auf den Tariflohnindex ausgeschaltet.

36


Tariflรถhne

5.1

Tabelle 5: Tariflohn- und Verbraucherpreisindex 2006=100

Tariflohnindex

VPI

absolut

%

%

1990

61,4

5,5

3,3

1991

65,7

7,0

3,3

1992

69,3

5,5

4,1

1993

72,8

5,1

3,6

1994

75,3

3,4

3,0

1995

77,9

3,5

2,2

1996

79,8

2,4

1,9

1997

81,2

1,8

1,3

1998

83,0

2,2

0,9

1999

85,1

2,5

0,6

2000

86,8

2,0

2,3

2001

89,1

2,6

2,7

2002

91,3

2,5

1,8

2003

93,3

2,2

1,3

2004

95,2

2,0

2,1

2005

97,4

2,3

2,3

2006

100,0

2,7

1,5

2007

102,5

2,5

2,2

2008

105,6

3,0

3,2

2009

109,2

3,4

0,5

2010

110,9

1,6

1,9

2011

113,1

2,0

3,3

Quelle: Statistik Austria. Tariflรถhne: Werte vor 2006 auf Basis des Tariflohnindex 1986; Revision der Zeitreihe ab 2010.

37


5

Lohnentwicklung Aus dem Vergleich in Tabelle 5 geht hervor, dass der mittlere Tariflohnzuwachs in fünf der zehn letzten Jahre deutlich über der Teuerungsrate lag, in zwei Jahren entsprach die Tariflohnerhöhung etwa der Inflationsrate, und in drei Jahren blieb die Tariflohnzuwachsrate mehr oder weniger hinter der Teuerungsrate zurück. Von den Gewerkschaften des ÖGB werden jährlich über 400 KV abgeschlossen bzw. angepasst. Österreich weist im internationalen Vergleich eine sehr hohe Rate der Erfassung durch KV auf (siehe oben Kapitel 1.1). Die korrigierte ­Deckungsquote (Anteil der Beschäftigten, die von einem KV erfasst werden, an der Gesamtzahl der Beschäftigten, korrigiert um Beschäftigtengruppen, die von Kollektivverhandlungen ausgeschlossen sind) lag 2007 bis 2009 bei rund 98 %. Es ist den Fachgewerkschaften des ÖGB trotz schwieriger wirtschaftlicher Rahmenbedingungen in den letzten Jahren auch gelungen, neue Gruppen in den KV zu erfassen. Hier seien beispielsweise die KV für die Arbeitskräfteüberlassung, die Sozialberufe und die EDV-Dienstleister genannt.

Effektivverdienste Tabelle 6 enthält erstens Daten zum Niveau und zur Veränderung des durchschnittlichen monatlichen Arbeitseinkommens der unselbstständig Beschäftigten (Vierzehntel des Jahreseinkommens, Vollzeitäquivalente) in den Jahren 1990 bis 2011 (Spalten „Bruttolöhne und -gehälter“). Dabei ist zu beachten, dass sich die ausgewiesenen Änderungsraten teilweise auch aus Verschiebungen in der Beschäftigungsstruktur ergeben. Das solcherart berechnete Bruttomonatseinkommen erhöhte sich von € 830,– im Jahr 1976 auf € 2.580,– im Jahr 2001 und € 3.270,– im Jahr 2011.

38


Tariflöhne Effektivverdienste

5.1 5.2

Tabelle 6: Nominelle und reale Entwicklung der monatlichen Löhne und Gehälter (brutto/netto, je Vollzeitäquivalent)

1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011

Bruttolöhne und -gehälter

Nettolöhne und -gehälter

in € 1.790 1.920 2.030 2.120 2.190 2.260 2.280 2.310 2.390 2.450 2.520 2.580 2.650 2.690 2.720 2.790 2.900 2.990 3.090 3.160 3.200 3.270

in € 1.360 1.440 1.510 1.550 1.610 1.640 1.630 1.620 1.680 1.720 1.780 1.800 1.850 1.870 1.890 1.950 2.020 2.080 2.140 2.230 2.250 2.290

Änd. % 5,3 7,3 5,7 4,4 3,3 3,2 0,9 1,3 3,5 2,5 2,9 2,4 2,7 1,5 1,1 2,6 3,9 3,1 3,3 2,3 1,3 2,2

Änd. % 4,6 5,9 4,9 2,6 3,9 1,9 –0,6 –0,6 3,7 2,4 3,5 1,1 2,8 1,1 1,1 3,2 3,6 3,0 2,9 4,2 0,9 1,8

reale Bruttolöhne reale Netto­löhne und -gehälter und -gehälter (76=100) (76=100) Änd. % Index Änd. % Index Änd. % 3,3 126,7 2,0 117,5 1,3 3,3 131,5 3,8 120,4 2,5 4,0 133,6 1,6 121,3 0,8 3,6 134,7 0,8 120,2 –0,9 3,0 135,2 0,3 121,3 0,9 2,3 136,4 0,9 120,8 –0,4 1,9 135,1 –1,0 117,9 –2,4 1,3 135,2 0,0 115,7 –1,9 1,0 138,5 2,5 118,8 2,7 0,5 141,2 2,0 121,0 1,8 2,3 141,9 0,5 122,4 1,1 2,7 141,5 –0,3 120,5 –1,5 1,8 142,9 0,9 121,7 1,0 1,4 143,0 0,1 121,4 –0,3 2,0 141,7 –0,9 120,2 –0,9 2,3 142,1 0,2 121,2 0,8 1,4 145,6 2,5 123,8 2,1 2,2 146,9 0,9 124,7 0,8 3,2 147,1 0,1 124,3 –0,3 0,5 149,7 1,7 128,9 3,7 1,8 148,9 –0,5 127,8 –0,9 3,2 147,3 –1,0 125,9 –1,4

VPI 1976 = 100 Index 170,2 175,9 183,0 189,6 195,2 199,6 203,3 205,9 207,9 209,0 213,9 219,6 223,5 226,6 231,2 236,6 240,0 245,2 253,1 254,4 259,0 267,4

Quelle: Statistik Austria, VGR 1976-2011.

39


5

Lohnentwicklung Ein Vergleich mit Tabelle 5 über den Tariflohnindex zeigt, dass die Tariflöhne zeitweilig (zuletzt 2003 und 2004, 2009 und 2010) etwas stärker stiegen als die Effektivverdienste. Eine wichtige Ursache für den Unterschied in den Zuwachsraten ist die geringere Zunahme der übertariflichen Lohnbestandteile ­(negative Lohndrift; siehe dazu unten Kapitel 5.3 „Effektivverdienste in der Sachgüterproduktion“). Um zweitens die Entwicklung der Kaufkraft des durchschnittlichen Effektivverdienstes einschätzen zu können, ist zunächst die Teuerung (Anstieg des Verbraucherpreisindex: Spalte „VPI“) in Rechnung zu stellen. Dabei ergibt sich, dass der Brutto-Realverdienst zuletzt v. a. in den Jahren 2004, 2010 und 2011 gefallen ist (Spalte „reale Bruttolöhne und -gehälter“). Drittens kann bei der Ermittlung der Kaufkraftentwicklung des durchschnitt­ lichen Effektivverdienstes die Veränderung der Belastung mit Steuern (Lohnsteuer) und Abgaben (Sozialabgaben) berücksichtigt werden. Beispielsweise stieg zuletzt infolge der Maßnahmen zur Eindämmung der Neuverschuldung der ö­ffentlichen Haushalte der nominelle Nettoverdienst 2010 und 2011 deutlich schwächer als der nominelle Bruttoverdienst (Spalten „Netto­ löhne und ­-gehälter“). Das durchschnittliche Nettomonatseinkommen erhöhte sich von € 680,– im Jahr 1976 auf € 1.800,– im Jahr 2001 und € 2.290,– im Jahr 2011. Durch die Einbeziehung von Teuerung und Steuerbelastung kann viertens die Entwicklung des real verfügbaren Arbeitseinkommens geschätzt werden (Spalte „reale Nettolöhne und -gehälter“). Demzufolge nahm der durchschnittliche Netto-Realverdienst in den Jahren 2003 und 2004, 2008 sowie 2010 und 2011 jeweils ab. Beispielsweise wurden 2009 die positiven Auswirkungen einer Lohnsteuerreform wirksam, aber in der Folge kamen die Effekte der Sparpakete zum Tragen.

Effektivverdienste in der Sachgüterproduktion Angaben über Niveau und Veränderung der Effektivverdienste (Brutto-Monatsverdienste pro Kopf ohne Sonderzahlungen und ohne Abfertigungen) von ArbeiterInnen und Angestellten in der Sachgüterproduktion (verarbeitende ­

40


Effektivverdienste in der Sachgüterproduktion

5.3

I­ndustrie, produzierendes Gewerbe, Bauwirtschaft) liegen aus der Konjunktur­ erhebung vor (Tabellen 7 und 8). Bei der Bewertung dieser Daten über Durchschnittsverdienste ist zu berücksichtigen, dass Anstiege jeweils nicht nur aus höheren Tariflöhnen und/oder Überzahlungen resultieren können, sondern auch aus Änderungen in der Zusammensetzung der Beschäftigung nach Wirtschaftszweigen, Unternehmungen, Betrieben, Qualifikationen, Berufen, Tätigkeiten, Geschlecht und Alter. Die Lohnanstiege in der Sachgüterproduktion lagen etwas höher als in der Gesamtwirtschaft, wobei dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auch auf Änderungen in der Zusammensetzung der Beschäftigung zurückgeht: Wenn niedrig bezahlte Arbeitsplätze in höherem Ausmaß verlorengehen als besser entlohnte, so kommt es zu einem höheren Anstieg des Durchschnittseinkommens. Das war in der Sachgüterproduktion sicherlich der Fall, nicht zuletzt infolge der Ostöffnung: Aus der Industriestatistik ist beispielsweise bekannt, dass der Anteil der HilfsarbeiterInnen sank, während jener der qualifizierten ArbeiterInnen stieg. Die wenigen Fälle negativer jährlicher Veränderungsraten der monatlichen Bruttoverdienste beispielsweise bei den ArbeiterInnen der Mineralölindustrie 2010/11 (Tab. 7) und bei den Angestellten der Gießereiindustrie 2010/11 (Tab. 8) sind ­jeweils nicht auf Nominallohnsenkungen, sondern auf Verschiebungen in der betreffenden Beschäftigungsstruktur zurückzuführen.

41


5

Lohnentwicklung Tabelle 7: Brutto-Monatsverdienste der ArbeiterInnen pro Kopf in ­Industrie und Gewerbe 2009 Bergwerke Eisen- u. Stahlerzeugung Mineralölindustrie Stein- u. keramische Ind. Glasindustrie Chemische Industrie Papierindustrie Papierverarb. Industrie Holzindustrie Nahrungs- u. Genussm.ind. Textilindustrie Bekleidungsindustrie Lederverarb. Industrie Ledererzeug. Industrie Gießereiindustrie NE-Metallindustrie Masch.- u. Stahlbauind. Metallwarenind. Fahrzeugindustrie Elektro- u. Elektronikind. Gas- u. Wärmeversorgung Industrie insgesamt Baugewerbe Bauindustrie Bauwirtschaft insgesamt Gewerbe insgesamt

2.854,1 2.831,5 4.366,1 2.362,7 2.174,6 2.338,2 2.793,1 2.258,1 2.050,6 2.120,6 1.708,5 1.286,9 1.572,5 1.330,7 2.466,4 2.576,9 2.574,7 2.201,2 2.520,1 2.222,4 nv 2.329,0 2.262,1 2.680,3 2.377,9 1.999,6

2010 Euro 2.914,8 3.003,8 4.677,6 2.419,6 2.272,6 2.370,5 2.878,7 2.314,4 2.114,9 2.149,4 1.831,1 1.301,7 1.570,9 1.370,9 2.676,6 2.720,5 2.718,3 2.308,1 2.684,2 2.242,1 nv 2.419,8 2.270,2 2.696,8 2.387,7 2.021,1

2011 2.947,7 3.093,6 4.533,9 2.497,3 2.296,4 2.424,4 2.952,1 2.348,6 2.171,6 2.193,7 1.838,6 1.356,1 1.588,6 1.423,3 2.684,9 2.832,3 2.853,6 2.383,9 2.785,3 2.291,2 3.200,8 2.490,2 2.285,8 2.759,7 2.414,6 2.073,9

2010 2011 jährl. Veränd. in % 2,1 1,1 6,1 3,0 7,1 –3,1 2,4 3,2 4,5 1,0 1,4 2,3 3,1 2,5 2,5 1,5 3,1 2,7 1,4 2,1 7,2 0,4 1,2 4,2 –0,1 1,1 3,0 3,8 8,5 0,3 5,6 4,1 5,6 5,0 4,9 3,3 6,5 3,8 0,9 2,2 nv nv 3,9 2,9 0,4 0,7 0,6 2,3 0,4 1,1 1,1 2,6

Quelle: Statistik Austria, Konjunkturerhebung für Industrie und Gewerbe, Sonderauswertung. Jahresdurchschnittswerte; Verdienste ohne Sonderzahlungen und Abfertigungen, ohne Sondererstattung im Bauwesen.

42


Effektivverdienste in der Sachgüterproduktion

5.3

Tabelle 8: Brutto-Monatsverdienste der Angestellten pro Kopf in Industrie und Gewerbe 2009 Bergwerke Eisen- u. Stahlerzeugung Mineralölindustrie Stein- u. keramische Ind. Glasindustrie Chemische Industrie Papierindustrie Papierverarb. Industrie Holzindustrie Nahrungs- u. Genussm.ind. Textilindustrie Bekleidungsindustrie Lederverarb. Industrie Ledererzeug. Industrie Gießereiindustrie NE-Metallindustrie Masch.- u. Stahlbauind. Metallwarenind. Fahrzeugindustrie Elektro- u. Elektronikind. Gas- u. Wärmeversorgung Industrie insgesamt Baugewerbe Bauindustrie Bauwirtschaft insgesamt Gewerbe insgesamt

4.147,1 4.050,6 5.687,1 3.669,4 3.330,2 3.702,0 4.277,7 3.602,4 3.104,1 3.344,9 2.952,7 2.214,6 3.304,1 2.682,6 3.917,8 3.748,4 3.792,7 3.579,4 4.048,3 4.078,3 nv 3.730,9 3.259,7 4.504,7 3.755,7 2.877,9

2010 Euro 4.142,0 4.240,7 5.869,4 3.686,6 3.459,6 3.768,3 4.293,4 3.680,8 3.168,0 3.476,1 3.056,5 2.245,8 3.511,0 2.744,7 4.082,1 3.978,9 3.855,7 3.671,5 4.140,9 4.104,5 nv 3.807,3 3.313,8 4.588,8 3.820,3 2.926,2

2011 4.229,7 4.444,0 6.014,7 3.778,6 3.484,5 3.861,5 4.487,3 3.707,4 3.287,6 3.476,6 3.116,5 2.271,7 3.594,3 2.813,1 4.052,7 4.079,9 3.991,9 3.720,8 4.262,6 4.087,1 3.827,6 3.873,9 3.351,8 4.615,0 3.844,6 2.986,5

2010 2011 jährl. Veränd. in % -0,1 2,1 4,7 4,8 3,2 2,5 0,5 2,5 3,9 0,7 1,8 2,5 0,4 4,5 2,2 0,7 2,1 3,8 3,9 0,0 3,5 2,0 1,4 1,2 6,3 2,4 2,3 2,5 4,2 -0,7 6,1 2,5 1,7 3,5 2,6 1,3 2,3 2,9 0,6 -0,4 nv nv 2,0 1,7 1,7 1,1 1,9 0,6 1,7 0,6 1,7 2,1

Quelle: Statistik Austria, Konjunkturerhebung für Industrie und Gewerbe, Sonderauswertung. Jahresdurchschnittswerte; Verdienste ohne Sonderzahlungen und Abfertigungen.

43


5

Lohnentwicklung Für den Bereich der Industrie liegen aus den Erhebungen der Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ) noch detailliertere Daten vor. Diese bieten auch Aufschlüsse über die Differenz zwischen den durchschnittlichen Effektivverdiensten (Effektivlöhnen der ArbeiterInnen pro Stunde bzw. Effektivgehältern der Angestellten pro Monat) und den durchschnittlichen Kollektivvertragslöhnen bzw. -gehältern, also über das Ausmaß der Überzahlung (siehe Tabellen 9 und 10). Dazu ist zu bemerken, dass bei den Angestellten die Entlohnung regelmäßig geleisteter Überstunden bzw. von pauschal abgegoltenen Überstunden in die Überzahlung eingerechnet wird und bei den ArbeiterInnen die regelmäßig bezahlten Zulagen sowie die Folgen von Akkord- und Prämienentlohnung. Aus Tabelle 9 wird ersichtlich, dass 2011 die Überzahlung der IndustriearbeiterInnen (Differenz zwischen Effektivlohn und KV-Lohn, ausgedrückt in Prozent des KV-Lohns) in der Mehrzahl der Industrie-Fachverbände zwischen zehn und zwanzig Prozent betrug.

44


Effektivverdienste in der Sachgüterproduktion

5.3

Tabelle 9: Stundenlöhne nach Industrie-Fachverbänden 2011 Fachverband Bergwerke, eisenerz. Ind. Mineralölindustrie Stein- u. keramische Ind. Glasindustrie Chemische Industrie Papierindustrie Papier- u. pappeverarb. Ind. Bauindustrie Holzverarb. Industrie Nahrungs- u. Genussm.ind. Lederverarbeit. Industrie Gießereiindustrie NE-Metallindustrie Maschinen- u. Metallwarenind. Fahrzeugindustrie Textilindustrie Bekleidungsindustrie Gas- u. Wärmeversorgung

Stundenlohn (a) 13,87 18,43 12,11 12,39 12,77 14,11 11,43 12,48 11,04 10,74 9,45 12,40 13,20 12,87 14,48 10,57 7,66 15,89

KV-Lohn€ (b) 12,32 15,66 10,72 10,90 11,18 11,96 10,48 11,98 9,80 9,90 6,89 11,32 11,22 11,56 12,23 7,74 6,60 14,60

Überzahlung % 12,7 17,8 13,0 13,7 14,3 18,0 9,2 4,2 12,7 8,5 37,3 9,6 17,8 11,4 18,5 36,7 16,0 8,9

(a) durchschnittlicher Effektivlohn pro Stunde (b) durchschnittlicher Kollektivvertragslohn pro Stunde Quelle: WKÖ/Bundessparte Industrie.

45


5

Lohnentwicklung Tabelle 10: Monatsgehälter nach Industrie-Fachverbänden 2011 Fachverband Bergwerke, eisenerz. Ind. Mineralölindustrie Stein- u. keramische Ind. Glasindustrie Chemische Industrie Papierindustrie Papier- u. pappeverarb. Ind. Audiovisions- u. Filmind. Bauindustrie Holzverarb. Industrie Nahrungs- u. Genussm.ind. Lederverarbeit. Industrie Gießereiindustrie NE-Metallindustrie Maschinen- u. Metallwarenind. Fahrzeugindustrie Textilindustrie Bekleidungsindustrie Gas- u. Wärmeversorgung

Monatsgeh.€ (a) 3.911 5.278 3.568 3.413 3.670 3.801 3.295 2.638 3.506 3.148 3.274 3.116 3.728 3.729 3.582 3.999 3.065 2.393 3.780

KV-Gehalt€ (b) 3.352 4.302 2.876 2.824 2.967 3.285 2.579 1.866 3.194 2.285 2.428 1.933 2.955 2.957 2.757 3.158 2.288 1.931 3.233

Überzahlung % 16,7 22,7 24,1 20,9 23,7 15,7 27,8 41,4 9,8 37,8 34,8 61,2 26,2 26,1 30,0 26,7 34,0 23,9 17,0

Anmerkung: österreichweit ohne Vorarlberg. (a) durchschnittliches Effektivgehalt pro Monat (b) durchschnittliches Kollektivvertragsgehalt pro Monat Quelle: WKÖ/Bundessparte Industrie.

Tabelle 10 zeigt, dass die durchschnittliche Überzahlung im Bereich der Indus­ trieangestellten höher war als bei den IndustriearbeiterInnen. In der Mehrzahl der Industrie-Fachverbände lag 2011 die Überzahlung der Angestellten zwischen zwanzig und dreißig Prozent.

46


Notizen

47


6

Einkommensverteilung xx Unter Verwendung von Beiträgen von Alfred Kraus, Thomas Delapina, Günther Chaloupek und Reinhold Russinger.

Funktionelle Einkommensverteilung Das Thema Einkommensverteilung kann von den verschiedensten Seiten analysiert werden. Die personelle Verteilung untersucht, wie die Einkommen den einzelnen StaatsbürgerInnen zugeordnet sind (unabhängig von sozialen Merkmalen wie Beruf, Geschlecht, Familiengröße etc.) Die primäre Verteilung bezieht sich auf die Einkommen, wie sie unmittelbar am Markt erzielt werden, die sekundäre Verteilung bezieht dagegen Steuern und staatliche Transferleistungen wie Beihilfen mit ein. Von besonderem Interesse für Gewerkschaften ist traditionell die Frage nach der funktionellen Einkommensverteilung, wobei die Einkommen den einzelnen Produktionsfaktoren (Arbeit einerseits, Kapital und Boden andererseits) zugeordnet werden.

Lohnquote Das Nettoinlandsprodukt (NIP) setzt sich aus dem gesamten volkswirtschaftlichen Einkommen der ArbeitnehmerInnen, den so genannten Arbeitnehmerentgelten, und den restlichen Einkommen, bezeichnet als [Brutto-]Betriebsüberschuss und Selbstständigeneinkommen, zusammen. Die Lohnquote stellt – vereinfacht ausgedrückt – den Anteil der ArbeitnehmerInneneinkommen (Löhne, Gehälter) am gesamten Einkommen (Nettoinlandsprodukt) dar. Meistens werden dabei die Einkommen ohne Steuer- und Sozialversicherungsabzüge berücksichtigt. Lohnquote =

Arbeitnehmerentgelte x 100 Nettoinlandsprodukt

Eine Zunahme der ArbeitnehmerInnenzahl wegen Wechsels von selbstständiger zu unselbstständiger Tätigkeit hat selbst ohne Lohn-/Gehaltserhöhung einen Anstieg der Lohnquote zur Folge. Um eine Veränderung der Lohnquote allein aus Gründen des Wechsels zwischen den Selbstständigen und Unselbstständigen

48


Funktionelle Einkommensverteilung 6.1 Lohnquote 6.2 auszuschalten, wird eine so genannte „bereinigte“ Lohnquote errechnet. Die bereinigte Lohnquote nimmt die Beschäftigtenzahl eines Basisjahrs und hält sie konstant, sodass allein die Einkommensänderungen zum Ausdruck kommen. Seit 1995 hat sich die Lohnquote in Österreich folgendermaßen entwickelt: Tabelle 11: Lohnquoten in Österreich 1995-2011 Jahr 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011

bereinigte Lohnquote unbereinigte Lohnquote in % des NIP 86,2 72,7 85,8 71,7 85,4 71,5 84,5 70,7 84,7 70,8 83,7 69,9 83,1 69,5 82,5 68,8 82,4 68,7 80,4 67,0 79,5 66,2 78,0 65,1 77,2 64,6 78,9 66,1 82,6 69,2 80,9 68,0 79,3 67,0

Quelle: Statistik Austria, VGR; AK Wien.

Grundsätzlich zeigt sich, dass – mit einigen Ausnahmen – die bereinigte Lohnquote tendenziell sinkt, wenn das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) relativ stärker zunimmt (sowie umgekehrt). Der deutliche Anstieg der Lohnquote in der Wirtschaftskrise 2008/09 entspricht daher durchaus den Erwartungen.

49


6

Einkommensverteilung Seit Ende der Siebzigerjahre ist in der Entwicklung der funktionalen Einkommensverteilung eine Trendwende eingetreten. Der Anteil der Löhne und Gehälter am österreichischen Nettoinlandsprodukt (unbereinigte Lohnquote) erreichte 1978 einen historischen Höchstwert und weist seither tendenziell eine fallende Tendenz auf. Die über drei Viertel des 20. Jahrhunderts langfristig beobachtbare Zunahme der Lohnquote endete damit und verkehrte sich ins Gegenteil.

Zur Interpretation der Lohnquote Änderungen dieser Lohnquote werden in der öffentlichen Diskussion vielfach als Indikator für Verschiebungen der relativen Verteilungspositionen von ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen interpretiert, also als Ergebnis der Lohnpolitik bzw. von Kollektivvertragsabschlüssen. Eine solche Interpretation von Lohnquotenveränderungen greift allerdings zu kurz und führt zu voreiligen Schlüssen. Die Selbstständigeneinkommen setzen sich aus mehreren, doch sehr unterschiedlichen Einkünften zusammen (siehe dazu die Diskussion der Einkunfts­ arten im Skriptum „Steuerpolitik“): xx nicht ausgeschüttete Gewinne der Kapitalgesellschaften, xx Einkommen aus Vermietung und Verpachtung, xx Einkommen der freien Berufe (Ärzte/Ärztinnen, RechtsanwältInnen, NotarInnen, WirtschaftstreuhänderInnen, SchauspielerInnen, JournalistInnen usw.), xx Einkünfte des Staates aus Besitz und Unternehmen, xx Dividenden (ausgeschüttete Gewinne von Kapitalgesellschaften), xx Zinsen. In den Mieteinkünften stecken so genannte fiktive Mieten, also Mieten, die für EigentümerInnen von Eigentumswohnungen und Eigenheimen sowie eigen­ genutzten Garagen angesetzt werden, ohne dass diese überhaupt Miete erhalten. GeschäftsführerInnen und SpitzenmanagerInnen mit Unternehmerfunktionen sowie im Unternehmen tätige UnternehmerInnen beziehen auch Gehalt, und diese Einkommen werden den Arbeitseinkommen hinzugezählt.

50


Langfristige, strukturelle ­Betrachtung der Lohnquote

6.4

Ganz allgemein muss betont werden, dass die erhobenen Einkommensdaten mit Unsicherheitsfaktoren behaftet sind. Im so genannten vierten Sektor („Schwarzarbeit“) entstandene Einkommen sind im Nettoinlandsprodukt nicht vollständig enthalten. Seit der Revision durch das ESVG 95 (Europäisches System der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung) wurde zumindest ein Teil des vierten Sektors in das BIP aufgenommen (Schätzungen!). Darüber hinaus existiert keine einheitliche Datengrundlage; es werden unterschiedliche Quellen zur Einkommensermittlung herangezogen (Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung [VGR], Steuerstatistik, Lohnstufenstatistik etc.).

Langfristige, strukturelle Betrachtung der Lohnquote Strukturell hängt die Höhe der Lohnquote einer Volkswirtschaft von der sektoralen Struktur, der Wettbewerbsintensität und der Investitionsquote bzw. der Wachstumsrate ab: In Ländern mit hohem Staatsanteil, niedrigem Landwirtschaftsanteil, niedriger Wettbewerbsintensität und niedriger Investitionsquote ist die Lohnquote strukturell hoch; in Ländern mit hoher Wettbewerbsintensität und hoher Investitionsquote dagegen niedrig. Langfristig kann somit die funktionelle Verteilung (und damit die Lohnquote) nur indirekt von Seiten der Lohnpolitik beeinflusst werden. So kann etwa die Lohnpolitik darauf Bedacht nehmen, dass sich die Investitionsquote günstig entwickelt. Dies ist die Voraussetzung für höheres Wirtschafts- und Produktivitätswachstum, welches eine raschere Steigerung der Realeinkommen ermöglicht. Eine kurzfristige Betrachtung von Lohnquotenveränderungen, etwa im Jahresabstand, ist somit praktisch ohne Aussagekraft über die Ergebnisse der Lohnpolitik. Dies auch deshalb, weil die Lohnquote üblicherweise im Konjunkturaufschwung sinkt und im Abschwung steigt („antizyklische“ Lohnquote). Dieses auf den ersten Blick paradoxe Phänomen ergibt sich dadurch, dass die Einkommen der Unselbstständigen für einen längeren Zeitraum (in der Regel ein Jahr) kollektivvertraglich fixiert sind und erst nach Ablauf des Kollektivvertrages an die neue Situation angepasst werden können. Genau umgekehrt verhält es sich bei einer Wachstumsverlangsamung: Die Kollektivverträge aus der Zeit der Hochkonjunktur wirken noch länger, wenn die Gewinne bereits zurückgehen, und die

51


6

Einkommensverteilung Lohnquote steigt. Der Sinn einer Analyse der Entwicklung der funktionellen Einkommensverteilung liegt demzufolge nicht in einer Betrachtung der kurzfristigen Veränderungen der Lohnquote, sondern in einer genaueren Auseinandersetzung mit mittel- und längerfristigen Veränderungen sozialer und ökonomischer Merkmale, die sich insbesondere in der Entwicklung einzelner Bestandteile der Selbstständigeneinkommen niederschlagen, aber auch – wenn auch in deutlich geringerem Maße – in den Einkommen der Unselbstständigen. Der nach dem Zweiten Weltkrieg über drei Jahrzehnte beobachtbare Anstieg des Lohnanteils am Volkseinkommen endete, wie oben gezeigt wurde, um 1980. Seither hat die Lohnquote eine zunächst langsam fallende Tendenz, die sich ab Mitte der Neunzigerjahre akzentuierte. Bei Bereinigung der Lohnquote um die Veränderung in der Struktur der Erwerbstätigen war die Lohnquote bis 1980 konstant, danach ist sie markant gesunken, obwohl die Zahl der Unselbstständigen im Verhältnis zu jener der Selbstständigen weiterhin zugenommen hat. (Die statistische Erfassung der Erwerbstätigkeit ist seit 1980 zunehmend problematisch [Interpretation der Selbstständigenzahl, Teilzeitarbeit]. Es werden daher seit Längerem Vollzeitäquivalente berechnet.) Die Frage, ob Veränderungen der Branchenstruktur der österreichischen Wirtschaft seit den 1990er-Jahren einen Beitrag zur Erklärung des Trendbruchs in der Lohnquotenentwicklung leisten, ist zu verneinen. Im internationalen Vergleich entspricht die Entwicklung der Lohnquote in Österreich in der Tendenz derjenigen in den anderen EU-Staaten (EU-15). Wie entwickelten sich einzelne Kategorien der Gewinn- und Vermögenseinkommen? Die in den Kapitalgesellschaften verbliebenen Gewinne stiegen gemäß Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung von 1995 bis 2011 um 147 %. Während der starken Rezession 2009 fielen diese Gewinneinkommen stark, doch 2010 und 2011 lagen sie bereits wieder erheblich über jenen des Jahres 2008. Die primären Selbstständigeneinkommen (Gewinne der Einzelunternehmen und kleineren Personengesellschaften) nahmen von 1995 bis 2011 um 88 % zu. Auch hier erfolgte in der Rezession ein Rückgang, der jedoch weit schwächer ausgeprägt war als jener der in den Kapitalgesellschaften verbliebenen Gewinne. Die primären Selbstständigeneinkommen übertrafen 2011 jene des letzten Vor­ krisenjahres 2007 schon wieder deutlich.

52


Langfristige, strukturelle ­Betrachtung der Lohnquote

6.4

Der steigende Ausschüttungsanteil bei den Kapitalgesellschaften schlug sich in einer außerordentlich großen Steigerung der Vermögenseinkommen der privaten Haushalte nieder (1995-2008 +137 %). Seit Ausbruch der Finanzkrise sind diese Vermögenseinkommen stark rückläufig. Dennoch ergibt sich für 1995 bis 2011 immer noch ein Zuwachs der Vermögenseinkommen der privaten Haushalte von 70 %. Alle drei Gewinn- bzw. Vermögenseinkommenskategorien – in den Kapitalgesellschaften verbliebene Gewinne, primäre Selbstständigeneinkommen, Vermögens­ einkommen der privaten Haushalte – stiegen von 1995 bis 2011 stärker oder weit stärker als die ArbeitnehmerInnenentgelte (+58 %).

53


Notizen

54


55



Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.