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Oktober 2015 Deutschland € 14,50 Erweiterte deutsche Ausgabe der Harvard Business Review www.harvardbusinessmanager.de

INNOVATION Der Blick auf andere Branchen bringt oft die besten Ideen SELBSTMANAGEMENT Wie Sie sich vor digitalen Ablenkungen schützen LEITBILDER So finden Sie das passende Mission Statement für Ihr Unternehmen

JETZT REICHT’S!

Langsam, bürokratisch, keine Ahnung vom Geschäft: Warum sich Personalabteilungen grundlegend ändern müssen Österreich: € 15,90; Schweiz: sfr 24,50; Italien: € 17,50; Luxemburg: € 16,20



EDITORIAL

Banking auf dem Boden der Tatsachen.

FOTO: OLAF BALLNUS

HR-MANAGEMENT NEU DENKEN

CHRISTOPH SEEGER CHEFREDAKTEUR

DAS DIGITALE HEFT Jede Ausgabe des Harvard Business Managers erscheint auch als digitale Version für Tablet, Smartphone und PC/Mac. Weitere Informationen: www.harvardbusiness manager.de/digital

Es hat beinahe den Anschein, als hätten wir uns beim Harvard Business Manager auf das Personalwesen eingeschossen. In der Mai-Ausgabe forderten die Autoren unserer Titelgeschichte, die beliebte Praxis des 360-Grad-Feedbacks abzuschaffen; vor rund einem Jahr verlangte der US-Berater Ram Charan in seinem Kommentar („Und tschüss, HR!“) gar, die ganze Personalabteilung aufzulösen. Und nun heißt es auf dem Titel dieser Ausgabe „Langsam, bürokratisch, ahnungslos“. Doch unseren Autoren geht es nicht darum, Häme auszuschütten oder einen ganzen Unternehmensbereich zu diskreditieren. Sie sind von dem Gedanken getrieben, die HR-Abteilung der Zukunft zu entwerfen. Den Anfang macht Wharton-Professor Peter Cappelli. Er drängt Human-Resources-Manager, nutzlose Programme und Initiativen zu beenden, und zeigt neue Wege auf. Der Beitrag „Die PersonalAgenda“ beginnt auf Seite 20. Im zweiten Artikel definieren Ram Charan, McKinsey-Chef Dominic Barton und Korn-Ferry-Mann Dennis Carey, was von einem Chief Human Resources Officer (CHRO) verlangt wird. Ihren Text „Eine neue Rolle für den Personalchef“ lesen Sie ab Seite 30. Anschließend skizzieren drei Praktiker und ein Wissenschaftler ihren Wunschpersonalchef – als Talentmanager, Transformator und Topmanager. „Die HR-Debatte aus deutscher Sicht“ finden Sie ab Seite 41. Ein Erfahrungsbericht aus dem US-Unternehmen Juniper Networks rundet unseren Schwerpunkt ab. Der Netzwerkausrüster holt immer wieder neue HR-Ideen ins Haus und prüft diese in einem ausgeklügelten vierstufigen Prozess. Mehr über „Die innovative HR-Abteilung“ erfahren Sie ab Seite 46.

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www.helaba.de


TRENDS

SCHWERPUNKT HUMAN RESOURCES 20

DIE PERSONAL-AGENDA PETER CAPPELLI STRATEGIE: Sie ist unser liebstes Hassobjekt im Unternehmen: die Personalabteilung. Eine Analyse zeigt, was dort falsch gemacht wird, und erklärt, was sich ändern muss.

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DIE INNOVATIVE HR-ABTEILUNG JOHN BOUDREAU, STEVEN RICE ORGANISATION: Der Netzwerkausrüster Juniper holt sich regelmäßig neue HR-Ideen ins Haus. Geprüft werden sie in einem vierstufigen Prozess.

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MEHR ZUM THEMA Weiterführende Bücher, HBM-Beiträge und Links.

HARVARD BUSINESS MANAGER MONAT 2011

ERST DER PLAN, DANN DIE FIRMA ENTREPRENEURSHIP: Gründer werben leidenschaftlich für ihre Ideen. Studien zeigen jedoch: Das Wichtigste für den Erfolg von Start-ups ist nicht Enthusiasmus, sondern etwas ganz anderes.

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VERMEINTLICH SCHLAU MATTHEW FISHER IM GESPRÄCH VERTEIDIGEN SIE IHRE FORSCHUNG: Wir ahnten es ja schon immer: Internetnutzer halten sich für klüger, als sie sind. Wissenschaftler haben das nun auch empirisch bewiesen.

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DIE HR-DEBATTE AUS DEUTSCHER SICHT CHRISTINA KESTEL, MICHAEL LEITL UMFRAGE: Businesspartner oder Transformator – was muss der Personalchef der Zukunft leisten? Vier Experten skizzieren ihre Lösungsansätze.

QUERDENKEN MIT SYSTEM INNOVATION: Helfen Ihnen die Ideen aus der eigenen Branche nicht weiter? Dann sollten Sie Lösungsvorschläge aus anderen Fachgebieten einholen. Bei der Auswahl der Experten gilt es aber einiges zu beachten.

EINE NEUE ROLLE FÜR DEN PERSONALCHEF RAM CHARAN ET AL. FÜHRUNG: Es ist Zeit, das Personalwesen zur zentralen Funktion zu machen. Dafür müssen CHRO, CFO und CEO ein Topdreierteam bilden.

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ILLUSTRATION: HARVARD BUSINESS MANAGER

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ZAHLE, WER WILL MARTIN SPANN PRICING: Pay-What-You-Want-Modelle, bei denen die Kunden selbst den Preis festlegen, können funktionieren – wenn die Umstände stimmen.

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SPRECHENDE HÄNDE BRITTA DOMKE AUF EINEN BLICK: Witzig und respektlos war die Zeichensprache der Parketthändler an Terminbörsen. Nun wird sie wohl aussterben.


INHALT

STRATEGIEN

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LEITBILDER RICHTIG ENTWICKELN STEFAN KÜHL ET AL.

MEINUNGEN

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UNTERNEHMENSKULTUR I: Die Leitbilder vieler Firmen gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Doch Mitarbeiter wie Kunden reagieren zunehmend mit Heiterkeit oder gar Zynismus auf solch einen hehren Wertekanon. So vermeiden Sie sieben typische Fehler beim Entwurf Ihres Code of Ethics.

FALLSTUDIE: Nach einem Hackerangriff auf einen E-Payment-Dienstleister verlangt der Board ein Bauernopfer vom CEO: Einer aus dem Führungsteam soll gehen. Aber wer? Womöglich er selbst?

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AUF DER SPUR DES GRAFEN PETER GERSTMANN IM GESPRÄCH

98 UNTERNEHMER MIT PRINZIPIEN FISK JOHNSON NACHHALTIGKEIT: Umweltschutz und das Vertrauen der Kunden sind für SC Johnson zentrale Werte. Der CEO des Haushaltsprodukteherstellers nimmt sogar deutliche Umsatzeinbußen bei der marktführenden Frischhaltefolie in Kauf – weil einer ihrer harmlosen Inhaltsstoffe so ähnlich heißt wie ein gesundheitsschädlicher.

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WIE SIE EINE DIGITALE PLATTFORM STARTEN BENJAMIN EDELMAN WACHSTUM: Wer Onlineplattformen aufbaut, kann schnell scheitern – vor allem wenn mehrere Nutzertypen miteinander in Kontakt kommen sollen. Eine Analyse der Strategien von erfolgreichen Anbietern wie Paypal, Google und Skype liefert wertvolle Tipps.

KAMPF GEGEN DIE DIGITALE ABLENKUNG LARRY ROSEN, ALEXANDRA SAMUEL SELBSTMANAGEMENT: Wie gehen wir mit der Reizüberflutung durch digitale Medien um? Regelmäßig abschalten, empfiehlt ein Psychologieprofessor. Professioneller steuern, sagt dagegen eine Expertin für soziale Medien.

UNTERNEHMENSKULTUR II: Der Baumaschinenhändler Zeppelin hat sein Leitbild aus Werten des Gründers abgeleitet. Als Handlungsmaxime, erklärt CEO Peter Gerstmann, dienen jetzt zehn „Grafensätze“. Die kennt heute jeder im Unternehmen.

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EINER MUSS RAUS JANA SEIJTS

KLARTEXT STATT KUSCHELKURS MICHAEL CHRIST KOMMENTAR: Führungskräfte scheuen sich allzu oft, schwache Leistungen von Mitarbeitern anzusprechen und zu sanktionieren.

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MÜHELOSE MEISTERSCHAFT HOLGER RUST KOLUMNE: Sprezzatura im herbstlichen Regen.

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FÜNF MINUTEN MIT ... KEN BURNS Der preisgekrönte Dokumentarfilmer im Gespräch.

EDITORIAL

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IMPRESSUM/SERVICE

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VORSCHAU

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TRENDS INNOVATION

QUERDENKEN MIT SYSTEM

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Helfen Ihnen die Ideen aus der eigenen Branche nicht weiter? Dann sollten Sie in anderen Fachgebieten Lösungsvorschläge einholen. Bei der Auswahl der Experten gilt es allerdings einige Regeln zu beachten.

ILLUSTRATION: STEPHANIE WUNDERLICH FÜR HARVARD BUSINESS MANAGER

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enn Sie Ideen suchen, wie Sie Ihr Geschäft voranbringen können, sollten Sie Leute fragen, die nicht aus Ihrem Fachgebiet kommen. Warum? Das folgende Experiment spricht Bände: Wissenschaftler haben Tischler, Dachdecker und Inlineskater gefragt, wie sie die Schutzkleidung für alle drei Bereiche verbessern würden. Alle waren wesentlich besser darin, sich neuartige Lösungen für die fremden Felder auszudenken als für ihr eigenes. Mehr noch: Je weniger Ähnlichkeiten ihr Bereich mit einem anderen aufwies, desto innovativer waren ihre Ideen. So hatten die Inlineskater bessere Vorschläge als die Dachdecker, wenn es darum ging, den Komfort und die Bequemlichkeit der Schutzausrüstung für Tischler zu optimieren. Studien haben gezeigt, dass es sich lohnen kann, Wissen aus sogenannten analogen Gebieten anzuzapfen, um neue Ideen hervorzubringen. Das sind Bereiche, die von außen betrachtet unterschiedlich aussehen, auf tieferer struktureller Ebene aber Gemeinsamkeiten aufweisen. Wie das Crowdsourcing gehört diese Methode zur breit angelegten Disziplin der verteilten Problemlösung, dem „Distributed Problem Solving“. Ein Rolltreppenhersteller fand auf diese Weise etwa einen Weg, wie er seine Anlagen in den obe-

ren Stockwerken von Gebäuden installieren konnte (siehe Interview Seite 9). Ein Unternehmen, das Software zur Lagerverwaltung verkauft, verbesserte so seine Produktnachverfolgung. Und ein Zulieferer in der Lebensmittelindustrie entwickelte so eine bessere Hähnchenfritteuse. Die Forschung liefert nicht nur eine solide Begründung, warum Sie in entfernten Gebieten Ihr Glück versuchen sollten, sondern zeigt auch, wie Sie dabei am besten vorgehen. Das ist wichtig: Denn ohne ein System, mit dem sie verstreute Experten finden können, werden Manager unweigerlich mit den Leuten reden müssen, die sich ohnehin in ihrer Nähe befinden. Das sind die Mitarbeiter ihres eigenen Unternehmens – etwa aus der Forschungs- und Entwicklungsabteilung, dem Marketing oder dem Produktdesign – oder ihre Kunden und Zulieferer.

DIE PYRAMIDENSUCHE Zum Autorenteam der eingangs erwähnten Studie gehört Marion Poetz von der Copenhagen Business School. Sie hat Möglichkeiten untersucht, analoge Felder zu identifizieren. Gemeinsam mit Reinhard Prügl von der Zeppelin Universität hat sie den Nutzen des Pyramidings belegt, eine Technik, die der Ökonom Eric von Hippel vom Massachusetts Institute of Technology und andere bekannt gemacht haben.

Bei der Pyramidensuche machen Sie zuerst Leute ausfindig, die sich gut mit dem Thema auskennen, für das Sie sich interessieren (siehe Grafik Seite 8). Diese fragen sie, wer in ihrem Gebiet noch mehr Expertise besitzt als sie selbst, wer in dem Feld also an der Spitze der Wissenspyramide steht. So gelangen Sie an meist extrem neugierige, sachkundige Personen, die Sie dann an Experten in analogen Gebieten weiterverweisen können. Dort arbeiten Sie sich erneut bis zur Spitze der Wissenspyramide vor und lassen sich wiederum an einen Fachmann in einem analogen Feld weiterleiten. Das wiederholen Sie so oft, bis Sie sich eine Auswahl kenntnisreicher Leute aus unterschiedlichen Feldern zusammengestellt haben. Poetz und ihre Kollegen haben die Pyramidenmethode eingesetzt, um analoge Expertise für einen Gabelstaplerhersteller zu finden. Dieser suchte nach einem besseren Weg, Mitnahmestapler an Lkw zu befestigen und wieder abzusetzen. Einer der Ansprechpartner, die sie in einem Brainstorming ausmachten, war der Eigentümer einer Logistikfirma, die oft Mitnahmestapler nutzte. Über ihn gelangten sie an einen Hersteller von Systemen, mit denen sich Maschinen an Traktoren anbringen lassen. Schließlich führte sie die Suche zu jemandem, der sich mit Events in der Unterhaltungsbranche auskannte. Er hatte lange Erfahrung OKTOBER 2015 HARVARD BUSINESS MANAGER

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TRENDS INNOVATION

che Berufe sich mit ähnlichen funktionalen Fragen beschäftigen“, sagt Bart Barthelemy, der Direktor des Idea Labs am Institut.

AUF IDEENJAGD Bei der Pyramidensuche identifizieren Sie zunächst Personen, die sich auf einem Gebiet gut auskennen. Diese fragen Sie, wer über noch mehr Wissen verfügt als sie selbst. So gelangen Sie zu Leuten, die sich an der Spitze des Fachgebiets befinden. Diese können Sie dann mit großer Wahrscheinlichkeit an Experten in analogen Feldern weiterleiten. Das sind Tätigkeitsfelder, die von außen betrachtet unterschiedlich aussehen, auf tieferer struktureller Ebene aber Ähnlichkeiten aufweisen. Wissens- TOPEXPERTE niveau

Weiterleitung 1

TOPEXPERTE

Weiterleitung 2

Weiterleitung 3

Weiterleitung 4

EXPERTE

EXPERTE EXPERTE Ausgangsfeld

Analoges Feld 1

Analoges Feld 2 Distanz zum Ausgangsfeld

Quelle: Marion Poetz und Reinhard Prügl; Journal of Product Innovation Management

damit, bei Konzerten schnell das Equipment auf die Bühne zu bringen. Es stellte sich heraus, dass sich sein Wissen direkt auf das Staplerproblem anwenden ließ, woraus eine innovative Lösung entstand. Eine alternative Methode, nach analoger Expertise zu suchen, ist ein sogenannter Broadcast Search – das heißt, ein Problem zu veröffentlichen und darauf zu hoffen, dass potenzielle Problemlöser darauf aufmerksam werden. Poetz und Prügl haben jedoch festgestellt, dass die Pyramidentechnik einen entscheidenden Vorteil bietet: Während Sie mit Ihrer Suche voranschreiten, lernen Sie ständig dazu. Sie können Ihre ursprüngliche Frage anpassen, verfeinern oder sogar ersetzen, wenn Sie Feedback von Experten aus anderen Wissensgebieten erhalten. 8

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Das Wright Brothers Institute in Dayton im US-Bundesstaat Ohio hat einen ähnlichen Ansatz gewählt, um Teilnehmer für seine Divergent-Collaboration-Initiativen zu finden. Dabei handelt es sich um Workshops, die das Ziel verfolgen, Innovationsprobleme von Kunden zu lösen. Sie beruhen auf der Annahme, dass die besten Ideen dann entstehen, wenn Menschen möglichst unterschiedlicher Herkunft zusammenkommen. Es ist nicht leicht, die passenden Leute ausfindig zu machen: Die Teilnehmer müssen sich in Wissensgebieten auskennen, die zwar unterschiedlich, gleichzeitig aber relevant für die jeweilige Aufgabenstellung sind. „Wir brechen das Problem funktional herunter, um den Kern der Herausforderung zu verstehen. Dann legen wir fest, wel-

HILFE VON DER KRIPO Hier ist ein Beispiel aus einem zweitägigen Workshop, dem ein Redaktionsmitglied der Harvard Business Review vor Kurzem beiwohnte. Der Kunde kam aus einem bestimmten Bereich des amerikanischen Militärs. Er wollte herausfinden, wie er wichtige Daten aus einer Flut verwirrender Informationen herausfiltern könnte. Zu den Teilnehmern gehörten ein Kriminalbeamter, ein Brandmeister, ein Börsenmakler, ein Romanautor, ein Flugunfallermittler, ein Historiker und ein Scout der Profibaseball-Liga. Jeder von ihnen beschrieb, wie er Informationen sammelt und das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheidet. Es war beeindruckend, wie schnell sehr viele unkonventionelle Ideen zusammenkamen. Aus den Erfahrungen von Poetz und ihren Kollegen sowie des Wright Brothers Institute lassen sich folgende Regeln ableiten, wie Sie Erkenntnisse von unterschiedlichen Experten einholen und für sich verwenden. FORMULIEREN SIE DIE KERNFRAGE Bevor Sie sich auf die Suche machen, sollten Sie nebensächliche Details entfernen, damit Sie die strukturellen Elemente des Problems erkennen können. Dann sollten Sie herausfinden, wie Sie die Aufgabe so beschreiben können, dass auch Leute aus gänzlich anderen Tätigkeitsfeldern sie verstehen. So könnten Sie eine Herausforderung bei der Steuerung des Verkehrsflusses darauf reduzieren, dass sie „einen reibungslosen Fluss der Elemente in einem komplexen System koordinieren“ wollen – dazu könnten vielleicht auch Ärzte und Experten für Kreislaufsysteme Kenntnisse beisteuern. Seien Sie sich auch über Ihre Ziele im Klaren: Suchen Sie eine radikale Lösung oder liegt der Schwerpunkt auf einer ein-


DIE KUNST DER KOSTENSENKUNG: KYOCERA DOCUMENT SOLUTIONS

„DIE NEINSAGER WIDERLEGEN“ Thomas Novacek leitet die Abteilung für Forschung und Entwicklung im Bereich Fahrtreppen bei der SchindlerGruppe, einem Schweizer Hersteller von Aufzügen und Rolltreppen. Novacek hat Erfahrungen damit gesammelt, Innovationen in entfernten Branchen ausfindig zu machen und für sein Unternehmen zu nutzen. Im folgenden Gespräch (Auszüge) erläutert er, wie er bei der Ideensuche in analogen Feldern vorgeht.

FOTO: SCHINDLER GROUP

Erklären Sie anhand eines Beispiels, wie Ihre Methode funktioniert. NOVACEK Im Jahr 2006 haben wir nach einer Lösung gesucht, wie wir während der Montage riesige vorgefertigte Fahrtreppen um Ecken transpor tieren und sie auf engem Raum unterbringen können. Marion Poetz hat uns bei der Suche nach Spezialisten aus analogen Feldern geholfen. Wir haben dann 14 Experten – darunter jemand aus einem Skiort und ein Hersteller von Spielzeugeisenbahnen – eingeladen, uns ihre Ideen zu schildern. Einige davon haben wir direkt umgesetzt. Noch heute nutzen wir einen Vorschlag, der aus der Bergbaubranche kam. Dabei geht es um Komponenten mit einer geringeren Höhe, Breite und Länge, die sich bei der Montage wie Lego-Bausteine einfach miteinander verbinden lassen. Widersetzen sich Manager manchmal Lösungsvorschlägen, die auf diese Weise zustande gekommen sind? NOVACEK Manager haben aus verschiedenen Gründen Probleme

damit, radikale Ideen umzusetzen: Sie verstehen sie nicht, oder niemand weiß, wie sie sich anwenden lassen. Wenn wir also auf jemanden mit einer guten Idee stoßen, dann heuere ich die Person oder deren Unternehmen an, eine Zeit lang an unserem Projekt mitzuwirken. Wenn das nicht möglich ist, suche ich andere Akteure aus dem Feld. Das ist entscheidend: Sie brauchen jemanden in Ihrem Unternehmen, der weiß, wie sich die Idee umsetzen lässt. Damit können Sie die Neinsager widerlegen, die behaupten, das sei nicht möglich. Suchen Sie auch heute noch in analogen Feldern nach Ideen? NOVACEK Ja. Wir nutzen die Methode kontinuierlich, um die Sicherheit und Verlässlichkeit von Komponenten wie Rolltreppenstufen, Handläufe und Balustraden zu verbessern. Die Ergebnisse beweisen, dass das Konzept funktioniert. Ich setze mich ununterbrochen dafür ein, die Ideen von Spezialisten aus analogen Feldern bei uns anzuwenden. Wir beherrschen die Kunst, Ihre Kosten für Dokumentenerstellung, -bearbeitung und -archivierung deutlich zu senken. Machen Sie sich selbst ein Bild vom Einsparpotenzial in Ihrem Unternehmen.

fachen Umsetzung? Geht es um Letzteres, dann sollten Sie das Wissen, das Sie sich aneignen, in erster Linie als Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung von Ideen verwenden. SUCHEN SIE KREATIVE Halten Sie Ausschau nach Personen, die ein hohes

Maß an Kreativität aufweisen oder in ihrem Fachgebiet vor außergewöhnlichen Herausforderungen stehen, bei denen sie ähnliche Probleme lösen müssen. Ein Romanautor, der an dem Divergent-Collaboration-Workshop teilnahm, brachte tief gehende Erkenntnisse ein, wie er Hinweise über OKTOBER 2015 HARVARD BUSINESS MANAGER

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KYOCERA Document Solutions Deutschland GmbH Infoline 0800 187 187 7 www.kyoceradocumentsolutions.de

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TRENDS INNOVATION

die Motive und das Denken von Menschen interpretiert. LIEBEN SIE DAS VAGE Ein Schlüsselelement der Divergent-CollaborationMethode ist, dass die Teilnehmer oft bis zum Ende nicht wissen, wer der Kunde oder was genau das Problem ist. Bart Barthelemy erklärt, dass sie sich dann eingehender mit der „unklaren Ausgangslage“ des Problems beschäftigen würden. Er will auf diese Weise erreichen, dass sie sich in ihrer Meinungsäußerung nicht beeinflussen lassen. Es ist dann Aufgabe des Kunden, ihre Erkenntnisse so zu nutzen, dass sie zur Lösung seines Problems beitragen. FÖRDERN SIE INTERAKTION Wie Sie vielleicht vermuten, lassen sich Lösungen aus analogen Feldern oft nicht eins zu eins auf den Zielmarkt übertragen. Daher kann es nützlich sein, wenn Sie an irgendeinem Punkt Ihres Prozesses die Denker aus den analogen Feldern mit Problemlösern aus dem Zielmarkt in Kontakt bringen, damit sie sich mit der dortigen Situation vertraut machen können. Sie werden auf diese Weise immer noch radikale Innovationen erhalten. Aber die Ideen werden durch das Wissen der Experten über die Eigenheiten des Problems in die richtigen Bahnen gelenkt. WÄHLEN SIE FORTSCHRITTLICHE BEREICHE Zielen Sie auf Gebiete ab, die weiter fortgeschritten sind als das Ihre – also solche, die technologisch zur Spitzenklasse gehören oder in denen viel auf dem Spiel steht. Dort ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass Sie auf viele bereits gut erprobte Ideen stoßen werden. Ein Hersteller von Schutzausrüstung etwa könnte Ideen von Ärzten einholen, die Patienten behandeln, die an der Glasknochenkrankheit leiden. Wenn Sie sich in analogen Feldern umschauen, sollten Sie darauf gefasst sein, auf unerwartete Antworten zu stoßen – und dass Sie Ihre vorgefassten Ansichten möglicherweise anpassen müssen. 10

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SERVICE LITERATUR OLIVER GASSMANN, FIONA SCHWEITZER (HRSG.): Management of the Fuzzy Front End of Innovation, Springer 2013. OLIVER GASSMANN, SASCHA FRIESIKE: 33 Erfolgsprinzipien der Innovation, Carl Hanser 2012. HBM ONLINE SCOTT D. ANTHONY ET AL.: Ein 90Tage-Plan für Innovationen, in: Harvard Business Manager, März 2015, Seite 24, Nachdrucknummer 201503024. MARK RANDALL: Innovationen aus der Box, in: Harvard Business Manager, November 2014, Seite 58, Nachdrucknummer 201411058. INTERNET Webseite von Marion Poetz mit Links zu den Studien: bit.ly/Marion_Poetz Webseite von Eric von Hippel mit Links zu Journalartikeln über Methoden der verteilten Problemlösung, darunter auch das Pyramiding: evhippel.mit.edu/papers/section-7 Blog-Beitrag von Marion Poetz et al. auf der Webseite der Harvard Business Review: bit.ly/Poetz_HBR KONTAKT mp.ino@cbs.dk reinhard.pruegl@zu.de NACHDRUCK Nummer 201510006, siehe Seite 102 oder www.harvardbusinessmanager.de © 2015 Harvard Business Publishing

ERST DER PLAN, DANN DIE FIRMA Gründer werben meist mit Leidenschaft für ihre Ideen. Neue Untersuchungen zeigen jedoch: Enthusiasmus spielt für den Erfolg von Start-ups keine Rolle. Entscheidend ist vielmehr die Vorbereitung.


TRENDS ENTREPRENEURSHIP

ILLUSTRATION: MARIE ASSÉNAT

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iele angehende Unternehmer sehen in ihrer Leidenschaft den Schlüssel zum Erfolg. Auf Crowdfunding-Webseiten ist dies gut zu beobachten. Dort überbieten sich die Anbieter gegenseitig darin, den Enthusiasmus, mit dem sie ihre Projekte verfolgen, hervorzuheben. Wenn es darum geht, Geld einzuwerben, kann das funktionieren: Privatpersonen, die auf der Suche nach der nächsten bahnbrechenden Idee sind, lassen sich so am ehesten von einer Investition überzeugen. Ein Garant für langfristigen Erfolg ist das allerdings nicht. Eine neue Untersuchung von Hunderten Gründungsvorhaben hat gezeigt, dass Leidenschaft keinen Einfluss darauf hat, wie ein Start-up nach einigen Jahren dasteht. Was zählt, ist die Vorbereitung – ob die Gründer ihre Ideen gründlich ausgearbeitet haben, ob sie verstanden haben, wie der Markt im Detail funktioniert, und ob sie Pläne gemacht haben, wie sie Hindernisse überwinden und auf künftige unvorhergesehene Ereignisse reagieren wollen. Marketingprofessor Utpal M. Dholakia von der Rice University in Houston im US-Bundesstaat Texas hat dazu mit seinem Team eine Reihe von bisher unveröffentlichten Studien durchgeführt. Die Forscher analysierten Projekte, die Studenten beim größten universitären Gründerwettbewerb der Vereinigten Staaten eingereicht hatten. Die Veranstaltung, die an der Rice University stattfand, umfasste Businesspläne aus unterschiedlichen Branchen, von Pharma und Biotechnologie über Konsumgüter bis hin zum Einzelhandel. Als die Teilnehmer zu Beginn die Erfolgsaussichten ihres Vorhabens einschätzen sollten, führten sie Leidenschaft als einen entscheidenden Faktor auf. Drei Jahre später stellten die Forscher den wenigen erfolgreichen Jungunternehmern aus dieser Gruppe rückblickend dieselbe Frage. Die Antwort war dieselbe. Doch die Analyse der Wissenschaftler ergab, dass die Leidenschaft der Gründer in keinem Zusam-

menhang mit dem Erfolg ihrer Projekte stand. Vielmehr war es die Vorbereitung, die den Unterschied machte. Das Forscherteam untersuchte überdies 522 Projekte, die auf der weltweit größten Fundraising-Webseite Indiegogo um Gelder warben. Die Wissenschaftler analysierten, ob die Videos und Beschreibungen Aussagen enthielten, die Ausdruck von Leidenschaft waren, wie „sehr enthusiastisch“, „hingebungsvoll“ oder „engagiert“ – und natürlich auch „Leidenschaft“ selbst. Sie schauten gleichzeitig nach Belegen für eine gute Vorbereitung. Dazu gehörten etwa Erklärungen, dass die Projektinitiatoren bereits die nötigen Ressourcen für die Umsetzung ihres Konzepts beschafft hatten. Das Ergebnis: Sehr leidenschaftliche Entrepreneure erreichten mit einer ungefähr dreimal höheren Wahrscheinlichkeit ihre Finanzierungsziele als andere, während eine offenkundig gute Vorbereitung keinen Effekt hatte. Eine weitere Studie ergab, dass professionelle Investoren ganz andere Prioritäten setzen. Sie messen der Leidenschaft von Gründern in der Regel keinen Wert bei. Stattdessen achten sie am meisten auf die Vorbereitung. Wie sollten Entrepreneure also vorgehen – angesichts der Tatsache, dass viele von ihnen heute nicht mehr auf professionelle Investoren zugehen, sondern sich direkt an die Crowd wenden, die von ihnen vor allem leidenschaftliches Engagement verlangt? Die Wissenschaftler schlagen nicht etwa vor, dass Gründer die Begeisterung für ihr Vorhaben herunterspielen. Schließlich werden sie kaum Gelder einwerben können, wenn sie ihre Idee nicht mit Enthusiasmus vorbringen. Aber Leidenschaft kann auch negative Folgen haben, wenn sie zu viel Raum einnimmt – entweder im Kopf des Gründers oder bei Gesprächen mit möglichen Geldgebern. Angehende Unternehmer sollten in ihrer Kommunikation stattdessen für Balance sorgen: Statements, die von Enthusiasmus zeugen, und solche, die

auf eine gute Vorbereitung hindeuten, sollten sich die Waage halten. Sie sollten signalisieren, dass sie wissen, wie sie die passenden Leute finden und einstellen können, und dass sie auch die anderen Details im Griff haben, die für ihren Erfolg wichtig sind. Sowohl Unternehmensgründer als auch ihre Ansprechpartner sollten sich darüber im Klaren sein, dass Leidenschaft wenig bringt, wenn man keinen ordentlichen Plan hat.

SERVICE LITERATUR GUY KAWASAKI: The Art of the Start 2.0, Portfolio 2015. MICHAEL FASCHINGBAUER: Effectuation: Wie erfolgreiche Unternehmer denken, entscheiden und handeln, Schäffer-Poeschel 2013. HBM ONLINE STEVE BLANK: Schneller gründen, in: Harvard Business Manager, Juli 2013, Seite 22, Nachdrucknummer 201307022. UWE GROSS ET AL.: Person statt Produkt, in: Harvard Business Manager, Juli 2013, Seite 46, Nachdrucknummer 201307046. INTERNET Informationen über den BusinessplanWettbewerb an der Rice University: http://alliance.rice.edu/about_rbpc Webseite von Utpal M. Dholakia: dholakia@web.rice.edu KONTAKT dholakia@rice.edu NACHDRUCK Nummer 201510010, siehe Seite 102 oder www.harvardbusinessmanager.de © 2015 Harvard Business Publishing

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VERTEIDIGEN SIE IHRE FORSCHUNG

VERMEINTLICH SCHLAU DIE STUDIE: Die Yale-Wissenschaftler Matthew Fisher, Mariel Goddu und Frank Keil stellten Probanden Fragen, die auf den ersten Blick leicht, tatsächlich aber schwierig zu beantworten waren – etwa warum es Mondphasen gibt oder wie Glas hergestellt wird. Manche Teilnehmer durften die Antworten online nachschlagen, andere nicht. Danach befragten die Forscher sie zu anderen Themen. Diejenigen, die zuvor das Internet zurate ziehen durften, überschätzten ihr Wissen nun erheblich. DIE THESE: Internetnutzer halten sich für klüger, als sie sind.

Herr Fisher, sind wir nicht in der Lage zu unterscheiden, was in unseren Köpfen und was im Netz gespeichert ist? FISHER Wir haben uns darauf konzentriert zu untersuchen, ob der Zugang zu dieser riesigen Onlinedatenbank der Grund für eine Illusion des Verstehens ist. Sogar wenn Versuchsteilnehmer bei der Internetsuche nur irrelevante oder gar keine Ergebnisse erhielten, waren sie weitaus zuversichtlicher, dass sie im Anschluss die Antworten auf Fragen zu komplett anderen Themen wissen würden. Und wenn es sich nun einfach so ergeben hat, dass gerade die Probanden mit Internetzugang diese Fragen besser beantworten konnten? FISHER Um das auszuschließen, haben wir die Teilnehmer per Zufallsprinzip den beiden Gruppen zugeordnet. Alle möglichen Unterschiede, beispielsweise das Vorwissen, waren so rein zufällig verteilt. Der einzige Unterschied zwischen den Gruppen bestand darin, dass die einen im Internet die Antworten auf unsere ersten Fragen nachschlagen durften und die anderen nicht. 12

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Irgendwie erscheint mir das Ergebnis naheliegend. Wenn ich Zugang zu einem Mechaniker habe, bin ich auch zuversichtlich, dass ich mein Auto am Laufen halten kann. FISHER Es gibt da einen entscheidenden Unterschied. Die Internetnutzer waren nicht optimistischer, dass sie Antworten finden könnten, sondern dass sie diese wissen würden – dass sich die Informationen also in ihren Köpfen befänden und nicht im Netz. Ein passenderer Vergleich wäre etwa: Wenn Sie Zugang zu einem Mechaniker haben, glauben Sie, dass Sie Ihr Auto selbst reparieren können. Woher wussten Sie, dass die Teilnehmer dachten, die Informationen befänden sich in ihren Köpfen? Hätten sie nicht einfach zuversichtlicher sein können, weil sie davon ausgingen, dass sie online nachschlagen konnten? FISHER In einem Experiment haben wir die Teilnehmer nur gefragt, wie gut sie Antworten ohne die Hilfe externer Informationsquellen finden konnten. In einem anderen haben wir sie nicht nach ihrer Zuversicht gefragt. Stattdes-

sen sagten wir ihnen, dass das Gehirn von Menschen, die korrektere Antworten geben können, bei diesem Vorgang eine größere Aktivität zeigt. Anstatt sie danach zu bitten, ihre Zuversicht auf einer Skala zu beziffern, zeigten wir ihnen eine Reihe von Hirnscans, auf denen unterschiedlich viel Aktivität zu sehen war. Sie sollten angeben, wie viel Gehirnaktivität bei ihrer Antwort entstehen würde. Diejenigen, die Zugang zum Internet hatten, suchten durchgängig Bilder mit einer höheren Gehirnaktivität aus. Das ist clever. FISHER Ja, wir haben uns die Methode selbst ausgedacht. Was geht da eigentlich vor sich? FISHER Es gibt eine Menge Forschung, die sich mit transaktiven Gedächtnissystemen beschäftigt. Nehmen Sie ein altes Ehepaar, das sich sein erstes Date noch einmal vergegenwärtigt. Allein kann sich keiner von beiden an viele Details erinnern, aber beide zusammen können eine Erinnerung entstehen lassen, die detailreicher ist als die Summe der Fragmente, die jedem einzeln zur


TRENDS PSYCHOLOGIE

Jeden Monat überprüfen wir die Thesen eines Wissenschaftlers. Diesmal sprach Scott Berinato, Redakteur der Harvard Business Review, mit MATTHEW FISHER, Doktorand der Psychologie an der Yale University.

Aber ist diese Prothese so schlimm? Das ist wie ein bionischer Arm. Bionische Arme sind doch toll. FISHER Ja, aber was passiert, wenn die Prothese nicht funktioniert? Oder wenn Sie auf das Wissen nicht zugreifen können? Bei einigen Berufen erwarten wir, dass ihre Vertreter wirklich wissen, was sie tun, und nicht, dass sie ihr Wissen falsch einschätzen. Nehmen

Sie zum Beispiel Chirurgen. Wir sollten zumindest dafür sorgen, dass solche Personen immer Zugang zu ihrer Prothese haben, wenn sie schon davon abhängig sind. Natürlich hat das Internet Vorteile. Wir sind der Ansicht, dass mit seiner Nutzung automatisch ein Kompromiss einhergeht – zwischen dem, was wir selbst über die Welt lernen, und dem, was wir an Informationen außerhalb unseres Gehirns abspeichern. Je mehr wir das Internet nutzen, desto schwieriger wird es zu erkennen, was Menschen wirklich wissen. Und das gilt auch für unsere Selbsteinschätzung. Welche Reaktionen haben Sie auf Ihre Forschungsergebnisse erhalten? FISHER Das Echo war viel größer, als ich erwartet hatte. Es gibt heute nur noch wenige Orte, an denen wir nicht ins Internet gehen können. Wir merken schnell, wenn wir uns in einer solchen Situation befinden. Wir sitzen dann beispielsweise in einem Flugzeug, oder wir unterhalten uns mit jemandem, in dessen Gegenwart es unhöflich wäre, unser Smartphone zur Hand zu nehmen. Dann tritt eine

Blockade auf. Plötzlich fühlen wir uns gar nicht mehr so schlau. Aber es ist gar nicht so, dass wir vorher klüger gewesen wären. Wir dachten nur, dass das, was wir nachschlagen konnten, etwas war, das wir bereits wussten. Das Internet macht aus uns also einen Haufen Besserwisser? Habe ich das nicht schon immer gewusst? FISHER Tatsächlich haben sich Psychologen mit diesem „I knew it all along“Phänomen, auch Rückschaufehler genannt, bereits intensiv beschäftigt. Wenn jemand mit einer hohen Glaubwürdigkeit einem Laien etwas erklärt, reagiert der für gewöhnlich mit „Das ist doch offensichtlich“ oder „Das wusste ich schon“. Psychologen wenden deshalb manchmal einen Trick an. Wenn sie von ihren Forschungsergebnissen erzählen, beschreiben sie das genaue Gegenteil dessen, was sie eigentlich herausgefunden haben. Auch dann sagen die Leute: „Klar, ist ja auch logisch.“ Ich hätte mit Ihnen dieses Spiel spielen können. Dann hätte ich gesagt: „Wir haben festgestellt, dass Internetnutzer das Gefühl haben, dumm zu sein, weil sie im Vergleich zu der UnOKTOBER 2015 HARVARD BUSINESS MANAGER

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ILLUSTRATION: FILIP FRÖHLICH FÜR HARVARD BUSINESS MANAGER

Verfügung stehen. Nun kann aber auch eine Maschine Ihr transaktiver Gedächtnispartner sein. Die Kombination aus Ihrer Person und einer Onlinesuche ergibt mehr als nur Ihre Person oder die Suche allein. Die Sache ist die: Wir denken, dass das Ergebnis nur unser eigenes Wissen beinhaltet. Außerdem macht es so gut wie keine Mühe, im Internet etwas nachzuschlagen, und wir haben fast immer Zugang dazu. Wenn Sie etwas nicht wissen, wird Ihnen das nicht mehr bewusst. Wir sind so tief in diese Sache verstrickt, dass wir die Verbindung zu dem betreffenden Wissen als unser eigenes Wissen ansehen. Es wird zu einem Anhängsel. Wir verwenden dafür auch den Begriff „kognitive Prothese“.


TRENDS PSYCHOLOGIE

ZAHLE, WER WILL

menge an Informationen da draußen rein gar nichts wissen.“ Und Sie hätten geantwortet: „Na, das hätte ich Ihnen auch gleich sagen können.“ Woher weiß ich denn jetzt, dass Sie nicht genau das gemacht haben? Was haben Sie wirklich herausgefunden? FISHER Sie können ja in der Studie nachschauen. Wie kamen Sie überhaupt darauf, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen? FISHER Es war eine schöne Möglichkeit, in der realen Welt das zu untersuchen, was mich am meisten interessiert: metakognitives Bewusstsein oder die Fähigkeit von Menschen, einschätzen zu können, wie gut sie die Welt um sich herum erklären können. Wenn Sie mit einer Sache starke Gefühle verbinden, glauben Sie häufig auch, dass Sie viel darüber wissen. In der Politik passiert das oft. Sie denken am Ende, dass Sie von einem strittigen Thema mehr Ahnung haben, als es tatsächlich der Fall ist. Wir haben in einer Untersuchung Collegestudenten darum gebeten zu schätzen, wie gut sie sich in verschiedenen Themengebieten auskennen. Am weitesten lagen sie daneben, wenn sie ihr Wissen in ihren Hauptfächern beurteilen sollten. Wer sich mit etwas intensiv beschäftigt, denkt schnell, dass er über mehr Wissen verfügt, als er in Wirklichkeit hat. Ich weiß definitiv mehr über Interviews als die meisten Leute. FISHER Ich bin sicher, dass Sie das glauben.

NACHDRUCK Nummer 201510012, siehe Seite 102 oder www.harvardbusinessmanager.de © 2015 Harvard Business Publishing 14

HARVARD BUSINESS MANAGER OKTOBER 2015

Eine Reihe experimentierfreudiger Unternehmen treibt den Preiswettbewerb auf die Spitze. Bei ihnen dürfen die Kunden über die Höhe der Rechnung entscheiden. Untersuchungen zeigen: Das Modell kann funktionieren – wenn die Umstände stimmen. VON MARTIN SPANN

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enn Kunden selbst entscheiden können, wie viel sie für ein Produkt oder eine Dienstleistung zahlen, kann sich das für Verkäufer lohnen. Dieses Prinzip, bekannt unter dem Namen „Pay What You Want“ (PWYW), hat in den vergangenen Jahren viel Aufmerksamkeit von Wirtschaftswissenschaftlern und Unternehmen bekommen. Breite Bekanntheit erlangte es im Jahr 2007, als die Band Radiohead ihr neues Album „In Rainbows“ über eine gleichnamige Webseite mittels PWYW erfolgreich verkaufte. Seitdem hat eine Vielzahl von Unternehmen aus verschiedenen Branchen dieses Konzept aufgegriffen. Die Zoos in Münster und Augsburg ließen im Winter ihre Besucher selbst den Eintrittspreis bestimmen, ebenso stellten eine Reihe von Restaurants und Hotels es den Kunden frei, wie viel sie für Speisen und Getränke oder Übernachtungen zahlen wollten. Auch Konzerne haben erste Versuche gestartet. So verkaufte der Konsumgüterhersteller Procter & Gamble in einem Testlauf Rasierklingen der Marke Gillette in Supermärkten mittels PWYW, um Informationen über die Zahlungsbereitschaft zu sammeln. Der Erfolg des Modells erscheint überraschend, sagt uns doch die klas-

sische ökonomische Theorie, dass Menschen den Nutzen in ihrem eigenen Interesse maximieren. Danach würden alle Kunden bei einem PWYWMechanismus nichts zahlen. Allerdings gibt es gute Gründe, warum sich die Mehrheit von ihnen trotzdem für nennenswerte Preise entscheidet. In unseren Studien haben sich in den vergangenen Jahren folgende Motive herauskristallisiert: Die meisten Menschen haben eine Abneigung gegen ungleiche Behandlung. Sie halten es für moralisch richtig, Verkäufer angemessen zu entlohnen. Daneben beeinflusst das strategische Ziel, den Anbieter im Markt zu halten, die Höhe der gezahlten Preise. Möchte ich als Kunde auch in Zukunft bei ihm einkaufen, muss ich ihm seine Leistung heute entsprechend vergüten, da er sein Angebot ansonsten möglicherweise einstellen müsste.

DIE ZIELE DER ANBIETER Unternehmen profitieren von PWYW auf dreierlei Weise. Erstens ermöglichen sie den Kunden, diejenigen Preise zu wählen, die ihrer Zahlungsbereitschaft und ihren sozialen Präferenzen entsprechen. Je nach Produkt und Käufer können diese sogar über dem Marktpreis liegen. Zweitens erreicht ein Unternehmen mit PWYW den gesamten Markt: Weil jeder den


TRENDS PRICING

gewünschten Betrag selbst festlegen kann, wird kein potenzieller Käufer durch einen zu hohen Preis ausgeschlossen. Dadurch lässt sich die Zahl der Kunden erheblich steigern und ein Marktanteil von bis zu 100 Prozent erreichen. Insbesondere für Non-ProfitOrganisationen wie Kirchen oder Museen ist dies ein wichtiges Ziel. Drittens eignet sich das Konzept als Wettbewerbsstrategie, um Rivalen vom Markt zu verdrängen. Denn ein Verkäufer mit PWYW ist letztlich immer günstiger als ein Wettbewerber mit festen Preisen. Bisherige Studien haben gezeigt, dass die Kunden im Durchschnitt Beträge zahlen, die unter dem üblichen Festpreis liegen. Daher bietet sich PWYW vor allem dann an, wenn die variablen Kosten niedrig sind und somit Spielraum bei der Preisgestaltung besteht. Das ist etwa bei Dienstleistern wie Restaurants, Hotels und Museen der Fall, aber auch bei digitalen Produkten. Insbesondere bei Unternehmen mit ungenutzten Kapazitäten kann sich diese Vorgehensweise auszahlen – vor allem wenn der positive Mengeneffekt die geringeren Durchschnittspreise überkompensiert. Die Zahlungsbereitschaft steigt, wenn eine persönliche Interaktion zwischen Käufer und Verkäufer stattfindet, etwa in einem Restaurant. Allerdings ist das keine Voraussetzung für den Erfolg von PWYW. Das zeigen die Beispiele von Radiohead oder dem US-Softwarevertrieb Humblebundle.com im Internet. Anbieter von hochpreisigen Produkten – wie beispielsweise Autos – sollten PWYW hingegen nicht anwenden, da dann opportunistische Überlegungen die sozialen Präferenzen dominieren können. Der verlockende Gedanke, ein wertvolles Produkt zum Schnäppchenpreis zu erhalten, wiegt in diesem Fall schwerer als der Wunsch, dem Verkäufer gegenüber fair zu sein.

EINFLUSS DES WETTBEWERBS Ob ein PWYW-Modell Erfolg hat, hängt auch von der Wettbewerbssituation ab. In mehreren Experimenten ha-

ben wir Studienteilnehmern die Rolle eines Käufers oder eines Verkäufers zugeordnet. Die Verkäufer konnten entweder das PWYW-Prinzip oder einen von ihnen bestimmten Festpreis wählen. Die Käufer mussten sich für einen Verkäufer entscheiden und im Fall von PWYW ihren Preis festlegen. Am Ende eines Experiments entlohnten wir alle Teilnehmer abhängig von ihren Entscheidungen mit Geld. Das bedeutet: Je mehr die Käufer einem PWYW-Verkäufer gezahlt hatten, desto weniger Geld erhielten sie. Wir fanden heraus, dass Kunden vor allem dann hohe Preise zahlen, wenn ein PWYW-Verkäufer keinem Wettbewerb ausgesetzt ist. Das könnte zum Beispiel bei einem Nachbarschaftsrestaurant der Fall sein, in dessen näherer Umgebung sich keine weiteren Gaststätten finden. In dem betreffenden Experiment, in dem es nur einen PWYWVerkäufer gab, zahlten rund 56 Prozent der Käufer freiwillig; beinahe jeder Vierte entschied sich dabei für eine Summe, die die Kosten des Verkäufers überstieg. Die Konkurrenz durch einen Festpreisverkäufer führte dann dazu, dass die Käufer dem PWYW-Anbieter geringere Summen zahlten. Bei dieser Konstellation ist offenbar der Anreiz geringer, diesen Anbieter im Markt zu halten, da nun eine Alternative zu ihm existiert. Es zeigte sich auch, dass nicht alle Kunden den potenziell günstigeren PWYW-Verkäufer auswählten. Eine Minderheit von – je nach Experiment – 10 bis 25 Prozent entschied sich für den Festpreisverkäufer, vermutlich da ihnen die Festlegung eines fairen Preises als zu schwierig erschien. PWYW kann noch einen zusätzlichen Nutzen über Werbeeffekte bringen, etwa wenn Kunden derart begeistert sind, dass sie Freunden davon erzählen oder in sozialen Medien darüber berichten. Ein Zoo könnte beispielsweise dank der Mundpropaganda über sein freiwilliges Preismodell seine Besucherzahlen steigern – was in Münster funktioniert

hat – und dann über den Verkauf von Speisen und Getränken zusätzliche Einnahmen erzielen. In einer aktuellen Studie haben wir diese Effekte belegen können: Wenn Anbieter PWYW mit einem zusätzlichen monetären Nutzen verbinden – etwa durch den Verkauf von ergänzenden Produkten oder Dienstleistungen –, kann dies die geringeren Preise mehr als wettmachen.

FAZIT PWYW bietet sich also für Produkte mit geringen variablen Kosten wie Dienstleistungen und digitale Produkte an, und zwar immer dann, wenn überschüssige Kapazitäten vorhanden sind. Die Aufmerksamkeit, die der Mechanismus in der Regel mit sich bringt, stellt einen zusätzlichen Nutzen dar, ebenso ergeben sich bei den so gewonnenen Neukunden Cross-SellingMöglichkeiten. Ob der Werbeeffekt allerdings langfristig anhält, bleibt abzuwarten – vor allem wenn auch die Wettbewerber mit einem auf Freiwilligkeit basierenden Preismodell Kunden anlocken wollen. Als Radiohead sein Album kostenlos zum Download bereitstellte, waren noch 38 Prozent der Käufer bereit, dafür Geld zu bezahlen – wohl auch weil sie das Modell innovativ fanden. Wenn künftig alle Bands auf dem Markt ihre Musik frei verfügbar machen würden, wäre es mit dem Neuigkeitseffekt sehr bald vorbei.

MARTIN SPANN ist Professor für Electronic Commerce und digitale Märkte an der Ludwig-MaximiliansUniversität München.

NACHDRUCK Nummer 201510014, siehe Seite 102 oder www.harvardbusinessmanager.de © 2015 Harvard Business Manager OKTOBER 2015 HARVARD BUSINESS MANAGER

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AUF EINEN BLICK

SPRECHENDE HÄNDE VON BRITTA DOMKE

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ine Ära geht zu Ende: Im Juli 2015 hat sich in Chicago die älteste Warenterminbörse der Welt – die Chicago Mercantile Exchange – vom Parketthandel verabschiedet und auf ein elektronisches Handelssystem umgestellt. Das bedeutet auch das Ende für eine ganz spezielle Zeichensprache der Börsianer: Mit der „Open Outcry“ genannten Art der Preisbildung – nach den Schreien und den Handzeichen der Händler – verständigte man sich seit Anfang der 70er Jahre im Parketthandel von Terminbörsen in aller Welt. Die Ursprünge dieser Zeichensprache reichen bis zu den Marktplätzen der italienischen Renaissance zurück. Weil die menschliche Stimme im Gewusel des Börsenparketts („Pit“) nicht weit reicht, kommunizierten die Händler mit kunstvoll einstudierten Gesten, kauften und verkauften mittels Handzeichen Wolle, Reis oder Schweinebäuche. Doch mit dem Aufkommen elektronischer Handelssysteme stellten fast alle Börsen auf den Kauf und Verkauf via Computer um. Heute existieren nur noch zwei unbedeutende Pits: die London Metals Exchange und jene Chicagoer Börse, die Termingeschäfte auf den US-Index S&P 500 abwickelt. Den Verlust der einzigartigen Zeichensprache in den Pits wollte der Chicagoer Börsenhändler Ryan Carlson (auf den Fotos rechts in typischer Broker-Kleidung) nicht einfach hinnehmen. Deshalb startete er 2008 die virtuelle kulturhistorische Sammlung tradingpithistory.com, auf der er bislang mehrere Hundert Handsignale zusammengetragen hat. Wir zeigen hier einige ausgewählte Gesten der Chicago Mercantile Exchange.

-----BUY-----

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Die Basics der Handsignale: Beim Kauf (links) weisen die Handflächen des Händlers zum Körper hin, beim Verkauf (rechts) vom Körper weg. Preise werden auf Armeslänge vor dem Körper angezeigt, Mengen am Gesicht: 1 bis 9 am Kinn, 10 bis 90 an der Stirn, ab 100 mit der Faust an der Stirn.

----CALL-----

-----PUT-----

BRITTA DOMKE ist Redakteurin des Harvard Business Managers.

NACHDRUCK Nummer 201510016, siehe Seite 102 oder www.harvardbusinessmanager.de © 2015 Harvard Business Manager

Wer die Hand zum C formt (links), möchte eine Call-Option erwerben – also das Recht, ein Handelsgut in einem festgelegten Zeitraum zu einem vereinbarten Preis zu kaufen. Das Gegenstück dazu, die Put- oder Verkaufsoption, wird durch ein auf dem Kopf stehendes P (rechts) angezeigt. Quelle: tradingpithistory.com

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TRENDS KOMMUNIKATION

Geordnetes Chaos: Parketthandel an der Chicago Mercantile Exchange 2004

----FIFTY----

-----MAY-----

Sieht aus wie „Bin ich blöd!“, steht aber für 50 Stück eines Handelsguts: fünf Finger der offenen Hand, die auf der Stirn aufliegt.

Viele Handzeichen gehen auf Reime und sprachliche Ähnlichkeit zurück. Weil sich Termingeschäfte meist an standardisier ten Monatsterminen orientieren, gibt es für jeden Monat ein Signal: Jenes für Mai – May – spielt auf die große Oberweite der Schauspielerin Mae West an; July reimt sich auf Eye.

DEUTSCHE-BANK

GOLDMAN-SACHS

MERRILL-LYNCH

--TSB-BANK---

Welcher Händler gehört zu welchem Brokerhaus? Dieses angedeutete „Hitlerbärtchen“ macht klar: Ich arbeite für die Deutsche Bank.

Ein Fingerzeig auf den goldenen Ehering steht für Goldman Sachs. Manche Broker zeigen auch auf ihre imaginäre goldene Uhr.

Beim Namen Merrill Lynch liegt diese drastische Geste nahe. Meist kopierten Händler aber mit Zeigefinger und kleinem Finger das Stier-Logo der Bank.

Mit dem Slogan „The bank that likes to say yes“ warb die britische TSB Bank in den 80er Jahren. Die Broker sagen dazu lieber No.

---YEAR-4----

Jedem Jahr ist eine Farbe zugeteilt. Jahr 4 ist blau. Das Signal erinnert an den hawaiianischen Shaka-Gruß und den Elvis-Film „Blue Hawaii“.

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FOTOS: TRADINGPITHISTORY.COM, ALAMY / MAURITIUS IMAGES

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FOTO: © DO HO SUH

„Karma“: Kunstwerk von Do Ho Suh, 2003, Polyurethanfarbe auf glasfaserverstärktem Kunstharz, 390 x 300 x 730 cm, ausgestellt im Artsonje Center in Seoul

SCHWERPUNKT HUMAN RESOURCES

FOTO: SHEAGON

Bildunterschrift

Die Kunstwerke und Installationen, mit denen wir unseren Schwerpunkt illustriert haben, stammen vom koreanischen Bildhauer Do Ho Suh. Seine Werke thematisieren Fragen der Identität, die Grenze zwischen privatem und öffentlichem Raum sowie das Verhältnis von Individualität, Gemeinschaft und Anonymität. Der 1962 geborene Künstler lebt und arbeitet in London, New York und seiner Heimatstadt Seoul.

Die Personalabteilung ist nicht gerade beliebt im Unternehmen. Auch als Karrierestation wird sie weitgehend gemieden. Das könnte sich bald ändern, denn die Rollen und Aufgaben der Human-Resources-Manager befinden sich im radikalen Wandel.

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DIE PERSONAL-AGENDA Warum die HR-Abteilung unser liebstes Hassobjekt ist und was sie anders machen muss.

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EINE NEUE ROLLE FÜR DEN PERSONALCHEF Die Bedeutung und das Aufgabenspektrum des obersten Personalers werden neu definiert.

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DIE HR-DEBATTE AUS DEUTSCHER SICHT Vier Experten skizzieren, was der Personalmanager der Zukunft können muss.

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DIE INNOVATIVE HR-ABTEILUNG Wie die amerikanische IT-Firma Juniper Networks regelmäßig neue Ideen ins Unternehmen holt und der Personalabteilung die Umsetzung überlässt.

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MEHR ZUM THEMA Weiterführende Bücher, HBM-Beiträge und Links.

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SCHWERPUNKT HUMAN RESOURCES | STRATEGIE „Floor“: Installation von Do Ho Suh, 1997– 2000, PVC-Figuren, Glas, Phenolblätter, Polyurethanharz, 100 x 100 x 8 cm, ausgestellt in der Lehmann Maupin Gallery in New York

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Warum die Personalabteilung unser liebstes Hassobjekt ist und was die Personaler dagegen tun können. Eine Analyse benennt alte Fehler und zeigt den Weg in die Zukunft auf. VON PETER CAPPELLI

FOTO: © DO HO SUH

DIE PERSONAL-AGENDA


SCHWERPUNKT HUMAN RESOURCES | STRATEGIE

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ie jüngsten Beschwerden über das Personalwesen treffen bei vielen einen Nerv, vor allem in den USA. Kritiker proklamieren, Personalmanager verzettelten sich in Verwaltungsangelegenheiten und ihnen fehle es an Visionen und strategischem Weitblick. Solche Vorwürfe hat es in der Vergangenheit immer wieder gegeben. Wir lassen uns nun mal nicht gern sagen, wie wir uns zu verhalten haben – und im Unternehmensalltag gibt es keine Abteilung, die uns dermaßen systematisch herumkommandiert wie Human Resources (HR). Nicht einmal die Finanzabteilung kann da mithalten. Wenn wir gesagt bekommen, dass wir unseren Umgang mit anderen – vor allem mit unseren Mitarbeitern – verbessern müssen, gehen wir in die Defensive, denn diese Kritik trifft uns in unserem Selbstverständnis. Die Personalabteilung zwingt uns lästige Aufgaben auf, zum Beispiel Probleme mit Beschäftigten zu dokumentieren. Sie hält uns auf der anderen Seite davon ab, Dinge so zu machen, wie wir sie für richtig halten – zum Beispiel jemanden einzustellen, von dem wir „einfach wissen“, dass er der Richtige ist. Die Anweisungen von HR treffen jeden im Unternehmen, bis ganz an die Spitze – und das jeden Tag. Die Beschwerden haben auch etwas Zyklisches. Sie hängen vom geschäftlichen Kontext ab. Wenn Unternehmen Probleme mit den Mitarbeitern haben, gilt die Personalabteilung als geschätzter Partner. Läuft alles glatt, heißt es unter den operativen Managern schnell: „Was bringt uns eigentlich die Personalabteilung?“ Das bedeutet nicht, dass HR über jede Kritik erhaben ist. Ganz im Gegenteil: Diese Konzernfunktion weist großes Verbesserungspotenzial auf, und derzeit sind die Chancen für die Human Resources enorm. In den vergangenen Jahrzehnten sind die für den operativen Betrieb eines Unternehmens wesentlichen Verfahren kaum hinterfragt und analysiert worden. Wenn der Personalchef die Initiative ergreift und hier Sinnvolles von Nutzlosem trennt, kann er dem Unternehmen viel Geld sparen. Aber bevor wir darauf eingehen, was HR jetzt und in Zukunft tun sollte, werfen wir einen Blick auf die Beziehung des Personalwesens zur Unternehmensführung und zur Wirtschaft.

DAS PERSONALPENDEL Die Wertschätzung, die das Topmanagement dem Personalwesen entgegenbringt, ist ein zuverlässiges Konjunkturbarometer. Wenn die Wirtschaft schwächelt und Arbeitskräfte reichlich zur Verfügung stehen, wird HR schnell lästig. Geht es bergauf und die Unternehmen haben Schwierigkeiten, gute Leute zu bekommen, ist die Kompetenz der Personalabteilung wieder von entscheidender Bedeutung für den kurzfristigen Erfolg 22

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des Unternehmens (siehe Grafik Seite 24/25). Während der Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts ließen die Menschen fast alles mit sich machen, um ihren Job zu behalten. Die Linienmanager sagten, HR stehe dem wirtschaftlichen Erfolg nur im Weg. Sie hatten ihr eigenes Rezept für mehr Leistung: Drohungen und notfalls sogar Schläge, wenn die Arbeiter ihre Vorgaben nicht erfüllten. Auch in den Rezessionsphasen 2001 und 2008 stand das Personalwesen in der Gunst der operativen Führung nicht besonders weit oben. Wohl wissend, dass sie ersetzbar waren, blieben die Mitarbeiter ihren Arbeitgebern treu und verhielten sich mehr oder weniger anständig. Da die Unternehmen am Arbeitsmarkt aus dem Vollen schöpfen konnten, blieb die Lohnentwicklung schwach, und die Produktivität stieg. Aus Angst, ihre Stelle zu verlieren, waren viele bereit, härter zu arbeiten. Das gilt auch für das beschäftigungsfreie Wachstum, das wir seit der jüngsten Finanzkrise erleben. Bei einer Umfrage des HR-Portals Salary.com sagten 83 Prozent der Teilnehmer, sie wollten sich 2014 eine neue Stelle suchen. Doch die Zahl derer, die tatsächlich gekündigt haben, ist noch nicht gestiegen. Deshalb ist es für Manager leicht, all diese nervtötenden und überflüssigen HR-Initiativen abzuschmettern. Ganz anders hat es schon immer in Zeiten des Arbeitskräftemangels ausgesehen. In den 20er Jahren, als die Konjunktur brummte und es für Unternehmen gleichermaßen schwer und entscheidend war, Mitarbeiter an sich zu binden, drängten die Personalabteilungen darauf, dass die Beschäftigten gut behandelt werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg kämpfte die US-Industrie mit einem beispiellosen Arbeitskräftemangel. Viele Männer, die sonst in die Wirtschaft gegangen wären, waren stattdessen in den Krieg gezogen. Dass der Personalentwicklung während der Weltwirtschaftskrise wenig oder gar keine Aufmerksamkeit geschenkt worden war, machte die Situation nicht gerade besser. Nach dem Krieg hieß es oft: „Was wäre, wenn der Chef unter die Räder kommt?“ Daran lässt sich eine der großen Sorgen dieser Zeit ablesen. Rund ein Drittel der Manager starb im Amt – viele von ihnen an einem Herzinfarkt –, und es gab niemanden, der ihren Platz hätte einnehmen können. Viele kleine Unternehmen gingen bankrott, viele große mussten verkauft werden. Dieses Führungsvakuum war die Geburtsstunde des modernen Personalwesens – mit neuen Methoden wie Coaching, Entwicklungsaufgaben, Jobrotation, 360Grad-Feedback, Assessmentcentern, High-PotentialLaufbahnen und Nachfolgeplänen. Heute klingt das alles normal, damals war es revolutionär. Und es entstand, weil die Unternehmen in den 50er Jahren dringend Personal entwickeln und an sich binden mussten.


In dieser Ära wurden 90 Prozent aller offenen Stellen (und fast alle in den oberen Führungsebenen) mit internen Kandidaten besetzt. 96 Prozent der großen Unternehmen leisteten sich eine eigene Abteilung für die Planung des Personalbedarfs. Diese Zahlen zeigen, welch immensen Stellenwert die Personalentwicklung hatte; sie machte sich auch buchstäblich bezahlt. Human Resources war eine einflussreiche Konzernfunktion und wurde von Topmanagern zum glamourösesten Unternehmensbereich gewählt. Seitdem hat sich einiges geändert. Heute wird nur noch rund ein Drittel der Stellen intern besetzt. Und für Positionen in der Topetage engagieren die Unternehmen Executive-Search-Spezialisten. Jeder vierte CEO kommt von außen. Die Unternehmen investieren in die Personalplanung für die kommenden Jahre weniger Zeit und Mühe als früher: Mitte der 2000er Jahre beschäftigte sich nur ein Drittel der Unternehmen mit Personalbedarfsplanung. Was ist geschehen? Der Abschwung in den 70er Jahren machte Arbeitskräftemangel zu einem Fremdwort, und die Unternehmenslenker bauten die Programme ab, mit denen sie nach dem Krieg gute Führungskräfte und Arbeiter gesucht und aufgebaut hatten. Unternehmen wie General Electric (GE), die an diesen Programmen festhielten, waren die Ausnahme. Neue Firmen, vor allem im Technologiesektor, hatten bei der Suche nach Topmanagern die freie Wahl, nachdem die großen Konzerne Stellen abgebaut und Beförderungen zurückgefahren hatten. Microsoft stieg zum Unternehmen mit der höchsten Marktkapitalisierung der Welt auf, obwohl es praktisch nichts in die Führungskräfteentwicklung investierte. Andere folgten dem Beispiel. Ein CEO sagte damals zu mir: „Warum sollte ich Leute ausbilden, wenn die Konkurrenz das für mich erledigt?“ Unterdessen nahmen sich die Vorgesetzten immer weniger Zeit für ihre Untergebenen. Sie hatten zu viele Mitarbeiter, als dass sie sich um jeden einzelnen hätten ordentlich kümmern können; außerdem standen andere Aufgaben auf der Prioritätenliste weiter oben. Harvard-Business-School-Professor John Kotter beschreibt in seinem Buch „Erfolgsfaktor Führung“ (siehe Servicekasten Seite 28) dieses Phänomen am Beispiel einer führenden New Yorker Bank Anfang der 80er Jahre. Nachwuchsmanager beschwerten sich, dass ihre Personalführungsaufgaben sie nur davon abhielten, wichtigere Funktionen wahrzunehmen und selbst einen geschäftlichen Beitrag zu leisten. Also erlaubten ihnen die Topmanager, weniger Energie in die Bewertung und das Coaching von Mitarbeitern zu investieren. So fehlte den Mitarbeitern die nötige Aufmerksamkeit, um sich entwickeln zu können. Selbst das kurze Wiederaufleben von HR während des Dotcom-Booms –

KOMPAKT DAS PROBLEM Sind Arbeitskräfte Mangelware, wird die Personalabteilung als wertvoller strategischer Partner der Unternehmensleitung angesehen. Gibt es aber Arbeitskräfte im Überfluss, ist die Personalabteilung plötzlich lästig. Statt abzuwarten, bis die nächste Marktveränderung dieser Konzernfunktion wieder einen höheren Stellenwert gibt, sollte Human Resources (HR) in Personalfragen schon jetzt die Führung übernehmen. DIE LÖSUNG Personalchefs können ihren Unternehmen viel Geld sparen, wenn sie alte Programme überdenken, die seit den 50er Jahren im Einsatz sind. Sie müssen die wirklich wichtigen Initiativen mit einem überzeugenden Business Case untermauern und im Gegenzug wirkungslose Programme streichen. HR muss vor allem deutlich machen, warum ihr Wirken geschäftsrelevant ist, und ihren Einfluss bei allen personalrelevanten Themen sichern.

VIELE UNTERNEHMEN SIND MIT IHREM TALENTMANAGEMENT IN DEN 50ER JAHREN STECKEN GEBLIEBEN.


SCHWERPUNKT HUMAN RESOURCES | STRATEGIE

damals hatten in US-Unternehmen die Personalbeschaffer den begehrtesten Job – beschränkte sich nach Informationen des Bureau of Labor Statistics auf die Themen Einstellungen und Mitarbeiterbindung. Gleichzeitig sollten die Linienmanager neben ihrer normalen Arbeit immer mehr Aufgaben erledigen, die traditionell Sache der HR gewesen waren: von Einstellungen über die Personalentwicklung bis hin zu Vergütungsentscheidungen. Das ist bis heute so geblieben. Und jetzt muss die Personalabteilung versuchen, die überlasteten Manager dazu zu bringen, sich an Verfahren und Prozesse zu halten – ohne ihnen formal etwas zu sagen zu haben. „Management mit unklarer Weisungsbefugnis“ nennen das manche. Die Empfänger empfinden es als Nörgelei und Einmischung. Vor einiger Zeit nahm ich an einer von Will Peachy organisierten Diskussionsrunde von Personalchefs teil. Peachy, Leiter für HR-Transformationen bei Capgemini, startete mit der provokativen Frage: Schadet die Personalabteilung mehr als sie nützt, wenn sie Linienmanager auffordert, ihre Personalverantwortung ernster zu nehmen? Hier setzte sich die Meinung durch, dass die Mitarbeiter ohne HR deutlich schlechter gestellt wären. Man konnte aber auch den Eindruck gewinnen, dass die Personalabteilung Probleme vielerorts nur provisorisch verarztet und eine Lösung erst dann möglich ist, wenn die Führungsetage dafür sorgt, dass die Probleme zu den Prioritäten der Linienmanager gehören.

WAS HR JETZT TUN SOLLTE Die Wirtschaft setzt ihren Aufschwung fort. Unternehmen suchen womöglich erst wieder die Unterstützung ihrer Personalabteilung, wenn Arbeitskräfte Mangelware sind. Darauf muss Human Resources aber nicht warten. Die Konzernfunktion kann ihrem Unternehmen helfen, der künftigen Marktveränderung zuvorzukommen. Hier sind ein paar einfache, aber wirksame Maßnahmen, die Personalchefs jetzt ergreifen können: DIE RICHTUNG VORGEBEN Auch die Personalabteilung muss zeigen, warum ihre Themen geschäftsrelevant sind und dass sie sinnvolle Konzepte parat hat. Vor einigen Jahren wurde der Personalchef eines führenden Konzerns nach seinem Erfolgsgeheimnis gefragt: „Ich tue das, was der CEO von mir will“, sagte der Manager. Dinge zu tun, die der Chef nicht will, ist zweifellos karriereschädigend, doch zu viele HR-Manager warten darauf, dass ihnen jemand sagt, welche Probleme sie angehen sollen. Wird ein Gesundheitsprogramm aufgelegt, nachdem der CEO einen Herzinfarkt hatte, oder eine Fraueninitiative gestartet, nachdem die Tochter des Chefs ins Unternehmen eingestiegen ist, können Sie sicher sein, dass es nicht die Personalabteilung ist, die die Richtung vorgibt. CEOs und andere operative Topmanager sind selten Experten für Arbeitsplatzprobleme. Ihnen fehlt oft die entsprechende Erfahrung, weil immer weniger im Rah-

100 JAHRE PERSONALWESEN Arbeitslosigkeit in den USA, in Prozent 30

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Anfang des 20. Jhs. Geburtsstunde des Personalwesens als Konzernfunktion. Nachdem Stahl und Öl die US-Wirtschaft im 19. Jahrhundert transformiert haben, ist klar, dass das Management der Arbeitnehmer eine eigene Unternehmensfunktion werden muss.

20er Jahre Die Wirtschaft boomt, und gute Arbeitskräfte sind schwer zu bekommen und noch schwerer zu halten. Das Personalwesen sagt den Vorgesetzten, dass sie ihre Mitarbeiter gut behandeln sollen.

30er Jahre Während der Weltwirtschaftskrise fahren die Vorgesetzten einen harten Kurs gegenüber den Arbeitnehmern. Das Personalwesen empfinden sie als Hindernis. Die Arbeiter lassen fast alles mit sich machen. Personalentwicklung findet praktisch nicht statt.

50er Jahre Nach dem Zweiten Weltkrieg kämpft die US-Industrie mit einem beispiellosen Arbeitskräftemangel. Ein Drittel der Topmanager stirbt, und es gibt keine Nachfolger. Die Personalabteilungen erfinden daher eine Vielzahl revolutionärer Einstellungs- und Entwicklungsprogramme.

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men von Entwicklungsprogrammen und Jobrotationssystemen aufsteigen, bei denen sie von kompetenten Kollegen effektive Personalführungsmethoden hätten lernen können. Die Personalabteilung kann solchen Managern zeigen, worauf sie achten sollten und warum. Das bedeutet, sich bei jedem personalrelevanten Thema einzumischen. Hier sind ein paar Beispiele: KÜNDIGUNGEN. Zu Beginn der Rezession 2008 gab in einer Befragung nur rund ein Drittel aller HR-Abteilungen an, dass sie bei der Entscheidung, bestimmte Mitarbeiter zu kündigen, einbezogen wurden. Das ist ein verblüffender Mangel an Einfluss in einem Bereich, in dem HR besser qualifiziert ist als jede andere Funktion. NEUEINSTELLUNGEN. Die Personalabteilung weiß, dass strukturierte Befragungen dazu beitragen, die besten Kandidaten auszuwählen. Trotzdem überlassen viele Unternehmen die Bewerbungsgespräche Managern, die nicht entsprechend geschult sind. Diese fragen, was ihnen gerade einfällt, und treffen Einstellungsentscheidungen aus dem Bauch heraus. Das erhöht das Prozessrisiko und die Kosten, die anfallen, wenn ungeeignete Bewerber eingestellt werden. FLEXIBLE ARBEITSMODELLE. Linienmanager, die Angst haben, die Kontrolle aus der Hand zu geben, wehren sich oft gegen Gleitzeit- und Heimarbeitsregelungen.

70er Jahre Die Konjunktur kühlt ab, und Arbeitskräfte gibt es wieder reichlich. Die Unternehmen streichen nach und nach all die Programme, mit denen sie nach dem Krieg Personal angelockt und ausgebildet haben.

Anfang der 80er Jahre Die USA rutschen in eine tiefe Rezession, die Arbeiter klammern sich an ihre Jobs. Statt in das Personalwesen zu investieren, übertragen die Unternehmen Neueinstellungen und Personalentwicklung den Linienmanagern, die weder die Zeit noch die entsprechende Ausbildung haben.

Personalchefs wissen aber, dass solche Modelle hocheffektiv sein können. MITARBEITERBEWERTUNG. Vor zehn Jahren war das sogenannte Forced Ranking in den USA groß in Mode. Dabei müssen Vorgesetzte ihre Mitarbeiter nach einem bestimmten Schlüssel in unterschiedliche Kategorien einteilen. Topmanager hatten dieses System eingeführt, weil sie die Bewertungen der Vorgesetzten für zu lasch hielten. Heute nehmen die meisten Unternehmen wieder Abstand von diesen Modellen, weil sie erkennen, was das Personalwesen längst wusste: Vorgesetzte brauchen entsprechende Schulungen, Zeit und richtige Anreize, um mit ihren Mitarbeitern ernsthaft über Leistung und Wachstum reden zu können. Bei all diesen Themen sollte das Personalwesen vorangehen und sagen: „So müssen wir das machen, und wir sagen Ihnen auch, warum. Hier sind die Belege.“ AUF RELEVANTE THEMEN KONZENTRIEREN Viele Unternehmen sind mit ihrem Talentmanagement in den 50er Jahren stecken geblieben. Sie erstellen zum Beispiel immer noch aufwendige Nachfolgepläne, obwohl diese in der Praxis kaum Beachtung finden. Statt jahrzehntealte Praktiken großer Konzerne zu übernehmen, sollten die HR-Abteilungen unternehmensspezifische (und branchenspezifische) Modelle entwerfen, die auf die aktuellen Herausforderungen eingehen.

Ende der 90er Jahre Im Dotcom-Boom konkurrieren die Unternehmen erbittert um die Gunst der Arbeitskräfte, um ihren steigenden Personalbedarf decken zu können. Das Personalwesen erlebt kurzzeitig wieder eine Blüte, wobei es primär um Personalbeschaffung und Mitarbeiterbindung geht.

2001 Als die Dotcom-Blase platzt und die Wirtschaft einbricht, sehen die Unternehmen keine Veranlassung, Personal einzustellen. Die Produktivität steigt, Löhne und Gehälter stagnieren, und das Personalwesen verliert den Einfluss, den es im Boom hatte.

2015 Die Auswirkungen der Krise des Jahres 2008 sind noch nicht ganz überwunden, und die meisten Menschen mit einem festen Arbeitsplatz trauen sich noch nicht zu kündigen. Deshalb sehen die Topmanager bislang keinen großen Bedarf an Personalprogrammen. Die Personalabteilung muss Initiativen gut begründen.

Quelle: Bureau of Labor Statistics

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Wenn Sie sich fragen, warum das nicht selbstver- Praxis erwerben. Infosys bringt Managern bei, wie man ständlich ist, denken Sie nur an die schwelende Debatte in fremden Kulturen und in bestimmten Branchen im Personalwesen, ob es ähnlich wie in der Rechnungs- Geschäfte macht. So lernen die Führungskräfte zum legung einheitliche Standards einführen sollte. Dafür Beispiel, wie sie ihre IT-Dienstleistungen auf deutsche setzt sich zum Beispiel die Society for Human Resource Chemieunternehmen zuschneiden müssen. Management ein. Die Organisation hat sehr erfolgreiHier geht es überall darum, einen genaueren Blick auf che Zertifizierungsprogramme entworfen, die Fachwis- das Umfeld zu werfen, in dem ein Unternehmen tätig sen zu unterschiedlichen Personalthemen vermitteln ist. Die Personalabteilung muss kontinuierlich neue und dokumentieren. Dabei lernen die Teilnehmer zum Herausforderungen erkennen und Werkzeuge konziBeispiel, wie sie ein allgemeines Vergütungssystem pieren, um diese zu meistern. konzipieren können. Solide methodische Kenntnisse sind zwar wichtig, KAUFMÄNNISCHES WISSEN ANEIGNEN aber entscheidender ist, dass Personalmanager wissen, Die Personalabteilung weiß viel über Probleme am welche Methoden wann und wo funktionieren. Es Arbeitsplatz. Das sollte sie auch. Aber sie muss eben reicht nicht, zu wissen, wie man ein Standardsystem für auch erstklassige Analytiker in ihre Reihen holen, die aktienbasierte Vergütung einführt; die Personalmana- dem Unternehmen helfen, den Wust an Mitarbeiterdager müssen auch wissen, welche Vor- und Nachteile so ten auszuwerten und das Personal optimal zu nutzen. ein System in unterschiedlichen Situationen hat. AktiIn einer aktuellen Umfrage von Deloitte sagten Perenbasierte Modelle führen zu größeren Vergütungs- sonalchefs, sie fühlten sich bei Datenanalysen am weschwankungen, die schwer kontrollierbar sind. Deshalb nigsten kompetent. Manche leisten in diesem Bereich sind sie in einem volatilen wirtschaftlichen Umfeld aber interessante Dinge. Microsoft und Google prooder auch während eines Aufschwungs, der von hefti- gnostizieren auf Basis ihrer eigenen Daten, welche Begen Schwankungen geprägt ist, vielleicht nicht die be- werber gut geeignet sind, und IBM nutzt seine enorme ste Wahl. Außerdem funktionieren solche Anreizsyste- Mitarbeiterdatenbank, um erfolgreichere Projektteams me nur, wenn die Mitarbeiter das Gefühl haben, dass sie zusammenzustellen. Aber nicht nur IT-Unternehmen über ausreichend Autonomie und Kompetenz verfügen, führen im Personalwesen moderne Datenauswertungen um die Aktienkursentwicklung beeinflussen zu können. ein. Der amerikanische Versicherungskonzern Cigna Wie wichtig der Kontext ist, zeigen Beratungs- und minimiert mit Datenanalysen die Kosten für KrankenIT-Unternehmen, wo der Aufbau von Kompetenz und versicherungsleistungen der eigenen Beschäftigten und gutem Personal erfolgsentscheidend ist. PwC und Ju- ermittelt die erfolgreichsten Mitarbeiter. Manager von niper Networks haben der traditionellen Mitarbeiter- Cornerstone On Demand (ehemals Evolv) und andere bewertung – der wohl meistgeschmähten Manage- Anbieter von Callcenter-Software spielen auch bei einmentmethode überhaupt – den Rücken gekehrt und fachen Aufgaben hunderterlei Möglichkeiten durch, einen kontinuierlichen Dialog eingeführt, der Kompe- diese Aufgaben zu erledigen, um Kosten zu sparen und tenzverbesserungen und Ergebnisse bringen soll (siehe die Ergebnisse zu verbessern. Beitrag Seite 46). Microsoft und Deloitte schlagen eine In vielen Unternehmen sind es die CIOs und ihre ähnliche Richtung ein. Um die Teams, die mithilfe von Big Data besten Nachwuchstalente zu halversuchen, klassische Personalten, hat Deloitte die traditionelprobleme zu lösen; zum Beispiel NUR WENIGE len Beförderungswege aufgegewelche Bewerber die besten sind ben und bietet ein offeneres und oder welche Methoden die ProHR-ABTEILUNGEN flexibleres System, das sowohl duktivität steigern. Wenn HR im ZEIGEN DEM CEO, DASS den Interessen der Mitarbeiter als Personalmanagement den Kurs auch den geschäftlichen Anforvorgeben soll, muss sie entweder IHRE METHODEN derungen gerecht wird (siehe Datenexperten einstellen, die solDEN GEWINN STEIGERN. HBM-Beitrag „Neue Noten für che Analysen übernehmen könManager und Mitarbeiter“, Sernen, oder mit Kollegen aus andevicekasten Seite 28). Und Infosys ren Abteilungen zusammenarbeihat herausgefunden, wie man in ten. Sonst liefern andere Bereiche theoretischen Schulungen das die Antworten auf die wichtigsten kontextabhängige Wissen verPersonalfragen, und dann kann mitteln kann, von dem man die Personalabteilung ihre Arbeit glaubte, man könne es nur in der eigentlich einstellen. 26

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FINANZIELLEN NUTZEN DARLEGEN Zu Zeiten des angespannten Arbeitsmarkts Ende der 90er Jahre beschrieb ein Artikel in der Harvard Business Review, wie der US-Handelskonzern Sears demonstriert hatte, dass Verhaltensänderungen der Mitarbeiter das Kundenerlebnis verbessern und so den Gewinn steigern können (siehe Link im Servicekasten Seite 28). Seitdem haben es nur wenige Personalabteilungen für nötig gehalten, der Unternehmensführung zu zeigen, dass ihre Methoden den Gewinn steigern können. Viele errechnen keine Investitionsrendite (ROI), obwohl andere Konzernfunktionen diese Kennzahl seit Langem vorlegen müssen. In solchen Fällen fühlen sich die Unternehmenslenker in ihrer Einschätzung bestätigt, das Personalwesen sei nur ein Kostenfaktor, bei dem das Ziel immer lauten müsse: kürzen, kürzen, kürzen. Die Frage, ob Stationen im Ausland oder Jobrotationsmodelle sich tatsächlich bezahlt machen, traf viele HR-Abteilungen anfangs unvorbereitet. Ihre früher erhobenen Daten, zum Beispiel die zur Mitarbeiterzufriedenheit, konzentrierten sich auf die Beschäftigten. Für die Prognose der finanziellen Rendite fühlte sich die Personalabteilung nicht gerüstet. Diese Ausrede gilt heute nicht mehr, denn in den meisten Unternehmen liefert das Enterprise-Resource-Planning(ERP)-System reichlich Daten zu Umsatz, Produktivität und anderen Faktoren, die Rückschlüsse darauf zulassen, welche Talententwicklungsprogramme ihr Geld wert sind. Ein Beispiel: IBM hat beschlossen, IT-Berater, deren Fähigkeiten nicht mehr gebraucht wurden, umzuschulen. Der Konzern kündigte an, einen Tag in der Woche auf dem Firmengelände Trainings anzubieten. Jeder konnte teilnehmen, aber die Mitarbeiter wurden an den Kosten beteiligt, indem sie an den Schulungstagen auf Bezahlung verzichteten. Mit dieser Regelung war es leicht, das Programm finanziell zu rechtfertigen: Die Einsparungen bei Neueinstellungen wurden auf das Doppelte der Schulungskosten geschätzt. Kosten und Nutzen auf diese Weise zu quantifizieren macht aus Personalentscheidungen geschäftliche Entscheidungen. ZEITVERSCHWENDER AUFGEBEN Personalabteilungen investieren viel in Programme, die wenig bringen. Die aktuelle Fixierung auf Generationsunterschiede ist ein gutes Beispiel dafür. Es gibt kaum überzeugende Belege dafür, dass diese Unterschiede tatsächlich existieren: Junge Beschäftigte ticken heute ganz ähnlich wie vor Jahrzehnten, und für ältere Manager war die Führung dieser Mitarbeiter schon immer eine Herausforderung. Die Vorgesetzten haben heute keine ungewöhnlichen oder neuen Probleme mit jungen Mitarbeitern. Trotzdem beschäftigen sich viele

Personalabteilungen mit der Frage, wie Millennials arbeiten möchten. Bei der Vielfalt an Themen, die die Aufmerksamkeit der Personalabteilung erfordern, sollten besondere Managementanforderungen einer einzelnen Untergruppe von Mitarbeitern keine Priorität haben. Motivation und Zufriedenheit sind für alle ein zentrales Thema. Damit sind die Millennials nicht allein. Und selbst wenn sie andere Präferenzen hätten als alle anderen, könnte HR die operativen Führungskräfte nicht zwingen, sich den Millennials anzupassen. Dazu fehlt ihr schlicht die Weisungsbefugnis. Das Gleiche gilt für Diversity-Programme. Das amerikanische Arbeitsrecht verbietet Diversity-Vorgaben bei Einstellungen und Beförderungen, also versuchen die Unternehmen stattdessen, die Denkweise und Prioritäten der Linienmanager zu ändern. Solche Initiativen können aber nur funktionieren, wenn das Topmanagement die Führung übernimmt und die Firmenkultur verändert. Sonst ist das Personalwesen nur Cheerleader für eine Initiative, die es weder durchsetzen noch messen kann, und die verantwortlichen Personalmanager versuchen, die Arbeitsbelastung der Linienmanager durch weitere Aufgaben zu erhöhen, und vernichten dabei nur noch mehr soziales Kapital.

DER WEG NACH VORN Eine der größten Schwierigkeiten des Personalwesens ist von jeher die Unterstützung der Unternehmensstrategie, die sich heute schnell verändert. Unternehmen haben selten langfristige Pläne mit einem klaren Personalbedarf. Stattdessen stoßen sie ein Projekt nach dem anderen an, um immer wieder neue Anforderungen zu erfüllen. HR ist aber dem Wesen nach langfristig ausgerichtet. Themen wie Personalentwicklung, Probleme mit Regulierungsvorschriften und Fluktuation, die Etablierung einer Firmenkultur und Fragen der Mitarbeitermoral brauchen ihre Zeit. Oft wechseln Führungsmannschaften und mit ihnen die Prioritäten, bevor sich solche Initiativen bezahlt machen. Und wenn Unternehmen ihre Quartalsziele nicht erreichen, gehören solche Projekte zu den ersten Streichkandidaten. Wie kann die Personalabteilung in den Unternehmen wieder eine langfristige Orientierung etablieren? Indem sie den kurzfristigen Druck, dem die Geschäftsbereiche unterliegen, mit den Anforderungen einzelner Personalinitiativen unter einen Hut bringt. Selbst wenn die Unternehmensführung sagt: „Wir machen das ohne unsere eigenen Mitarbeiter – durch Outsourcing oder mit externen Kräften“, sollten Personalmanager beteiligt bleiben, denn sie können die Erfolgschancen solcher Projekte am besten beurteilen. (Outsourcing ist nichts anderes, als das Personal eines anderen UnterOKTOBER 2015 HARVARD BUSINESS MANAGER

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SCHWERPUNKT HUMAN RESOURCES | STRATEGIE

nehmens zu nutzen und sich von diesem abhängig zu machen.) Gleichzeitig sollte HR aber auch einen Schritt zurückgehen und diese Initiativen auf einer übergeordneten Ebene betrachten: Auf welche neuen Anforderungen deuten sie hin? Wie gut ist unser Unternehmen in Bezug auf den Nachwuchs und die Personalpolitik auf diese Aufgaben vorbereitet? Welche Kompetenzen müssen wir ausbauen? Wie verändert sich die Marktsituation und welche Anforderungen ergeben sich daraus? Warum können wir diese Aufgaben nicht intern übernehmen? Diese Art der analytischen Beratung sollte das neue Personalwesen leisten. Im nächsten Schritt muss es den Unternehmen helfen, auf die Erkenntnisse zu reagieren. Comcast hat vor Kurzem beschlossen, intern erstklassige IT-Kapazitäten aufzubauen, damit das Unternehmen Software für das Management und Onlineentertainment entwickeln und vertreiben kann. Die personelle Herausforderung liegt auf der Hand: die besten Kandidaten zu gewinnen und zu binden, und das in Philadelphia, einer Stadt, die nicht gerade als IT-Hochburg bekannt ist. Aber unter der Leitung der Personalabteilung geht Comcast kreative Wege. Das Unternehmen gründet und unterstützt eine IT-Start-up-Community und spricht mit Praktikums- und Stellenangeboten gezielt Informatikstudenten und -absolventen vor Ort an. Ob diese Wette auf die Zukunft aufgeht, hängt davon ab, ob Comcast mit dem Modell Erfolg hat. Technologieunternehmen wie Google, Microsoft und Apple sind heute bei Personalinnovationen führend – vor allem weil sie dringend Fachkräfte brauchen. Das Personal ist alles, was sie haben; gute Leute sind Mangelware, und die Wettbewerber versuchen ständig, Mitarbeiter abzuwerben. Auch bei Finanzdienstleistern gibt es kreative Personalansätze. Dort geht es vor allem darum, unethisches Verhalten vorherzusehen und zu verhindern. J. P. Morgan zum Beispiel setzt einen Algorithmus ein, um zu prognostizieren, bei welchen Mitarbeitern die Gefahr groß ist, dass sie gegen die Regeln verstoßen. Es braucht keine Krise und keinen Skandal, damit sich das Personalwesen wandelt. Und diese Konzernfunktion sollte sich auch nicht allein auf innovative Personalbeschaffung konzentrieren. Der selbstständige Einsatz von Mitarbeitern, die bereit sind, ihr Bestes zu geben, ist die Grundlage für unternehmerischen Erfolg; mit Personalmanagement und -entwicklung können Unternehmen diesen Einsatz am besten fördern und aufrechterhalten. Die Unternehmenslenker werden erkennen, dass es beim Faktor Mensch Zeit für eine breiter angelegte Perspektive ist – vorausgesetzt, das Personalwesen legt überzeugend dar, was wichtig ist, und streicht alles andere. 28

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SERVICE LITERATUR PETER CAPELLI: Will College Pay Off? A Guide to the Most Important Financial Decision You’ll Ever Make, Public Affairs 2015. JOHN KOTTER: Erfolgsfaktor Führung, Campus 1989. HBM ONLINE MARKUS BUCKINGHAM, ASHLEY GOODALL: Neue Noten für Manager und Mitarbeiter, in: Harvard Business Manager, Mai 2015, Seite 20, Nachdrucknummer 201505020. INTERNET ANTHONY J. RUCCI ET AL.: „EmployeeCustomer-Profit Chain at Sears“: http://bit.ly/1L3RNV3 NACHDRUCK Nummer 201510020, siehe Seite 102 oder www.harvardbusinessmanager.de © 2015 Harvard Business Publishing

PETER CAPELLI ist Professor für Management an der Wharton School und hat eine Reihe von Büchern geschrieben, unter anderem „Will College Pay Off?“, das in diesem Jahr auf Englisch erscheint.


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EINE NEUE ROLLE FÜR DEN PERSONALCHEF


SCHWERPUNKT HUMAN RESOURCES | FÜHRUNG

„Cause and Effect“: Installation von Do Ho Suh, Acryl, rostfreier Stahl, Aluminium, ausgestellt in der HITE Collection in Seoul, 2010

CEOs sollten das Personalwesen dringend aufwerten und zu einer zentralen Funktion im Unternehmen machen. Das verändert die Bedeutung und das Aufgabenspektrum des Chief Human Resources Officers grundlegend. Eine Stellenbeschreibung. VON RAM CHARAN, DOMINIC BARTON UND DENNIS CAREY

FOTO: © DO HO SUH, COURTESY OF HITE FOUNDATION

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EOs wissen, dass sie auf ihr Personal angewiesen sind, wenn sie Erfolg haben wollen. Nicht Unternehmen schaffen Werte, sondern Menschen. Aber bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass der CEO in den meisten Unternehmen zu seinem Personalchef und zum Personalwesen insgesamt ein distanziertes Verhältnis hat. Die Unternehmensberatung McKinsey und die Forschungsorganisation The Conference Board haben in Untersuchungen übereinstimmend herausgefunden, dass CEOs in aller Welt das Personal als größte Herausforderung betrachten, jedoch das Personalwesen nur als acht- oder neuntwichtigste Konzernfunktion einstufen. Das muss sich ändern. Das Personalwesen, oder neudeutsch Human Resources (HR), muss den gleichen Sprung nach vorn machen, den beispielsweise die Finanzfunktion in den vergangenen Jahrzehnten gemacht hat. Es muss ein echter Partner des CEOs werden. Der Chief Financial Officer (CFO) hilft dem Konzernchef, indem er finanzielles Kapital beschafft und verteilt. Der Chief Human Resources Officer (CHRO) sollte dem Chef helfen, indem er menschliches Kapital beschafft und sinnvoll einsetzt, insbesondere die zentralen Figuren im Unternehmen. Er sollte ferner mithelfen, die Energie des Unternehmens freizusetzen. Das Management von Personal muss den gleichen Stellenwert erhalten, den das Management der Finanzen in den 80er Jahren erhielt – damals, als die Ära der Super-CFOs und der großen Restrukturierungen begann. CEOs klagen oft, ihre Personalchefs seien zu sehr in Verwaltungsaufgaben gefangen oder sie verstünden nichts vom Geschäft. Aber eines muss klar sein: Es ist Aufgabe des CEOs, das Personalwesen aufzuwerten und alle Defizite zu beseitigen, damit der Personalchef ein strategischer Partner werden kann. Dass die Finanzfunktion heute mehr ist als die Buchhaltung, hat sie den Konzernchefs zu verdanken. Und auch beim Marketing waren es die CEOs, die den Bereich als Kon-

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zernfunktion etabliert haben; davor hatte es nur den Vertrieb gegeben. Die Aufwertung des Personalwesens erfordert eine grundlegend neue Arbeitsplatzbeschreibung des Personalchefs. Zwischen dem Chief Human Resources Officer und dem Konzernchef muss ein neuer Pakt geschlossen werden. Dann kann ein Mechanismus greifen, den wir G3 nennen. Dahinter verbirgt sich eine Kerngruppe, die aus CEO, CFO und CHRO besteht. In diesem System schafft der Personalchef genauso viel Wert wie der Finanzchef. Er ist nicht nur mehr ein Manager aus der zweiten Reihe, der die Entscheidungen der anderen umsetzt, sondern spielt im Entscheidungsprozess eine zentrale Rolle, auf die er auch entsprechend vorbereitet wird. Dieser Wandel bringt große Veränderungen für die Laufbahnen von Personalmanagern und anderen Führungskräften mit sich. Außerdem nutzt es dem Geschäft, wenn nicht nur die Finanzen, sondern auch das Personal professioneller gemanagt wird. Wir berufen uns auf Erfahrungen, die wir bei Unternehmen wie General Electric, Blackrock, Tata Communications und Marsh gesammelt haben. Sie alle reden nicht nur davon, wie wichtig die Mitarbeiter für das Geschäft sind, sondern handeln auch entsprechend.

DER NEUE PAKT ZWISCHEN CEO UND CHRO Die Aufgaben des Finanzchefs werden von vielen Gruppen geprägt, unter anderem von den Investoren, vom Board, von externen Prüfern und von den Aufsichtsbehörden. Die Rolle des Personalchefs bestimmt nur der CEO. Der Konzernchef muss eine klare Vorstellung davon haben, welch enormen Beitrag der Personalchef leisten kann, und diese Erwartungen muss er klar und deutlich formulieren. Die Aufgaben schriftlich festzuhalten sorgt dafür, dass es zwischen CEO und CHRO keine Missverständnisse darüber gibt, welche Maßnahmen angemessen sind und welche Ergebnisse erreicht werden sollen. CEOs, die die Rolle des Personalchefs neu definieren möchten, sollten von ihrem Führungsteam und von den wichtigsten Boardmitgliedern, insbesondere vom Vergütungsausschuss (der eher Personal- und Vergütungsausschuss heißen sollte), in Erfahrung bringen, was sie von dem idealen CHRO erwarten. Was sollte ein mustergültiger Personalchef neuer Prägung zusätzlich leisten – jenseits der klassischen Bereiche wie Zufriedenheit und Engagement der Mitarbeiter, Vergütung und Leistungen, Diversity und Ähnliches? In unseren Augen sind vor allem drei Dinge entscheidend: Ergebnisse prognostizieren, Probleme diagnostizieren und Personalmaßnahmen anstoßen, die einen Mehrwert stiften. Das mag zum Teil nach den Aufgaben 32

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eines klassischen Personalers klingen, aber in der Praxis fehlen diese Dinge meist – sehr zum Leidwesen der Konzernchefs. ERGEBNISSE PROGNOSTIZIEREN CEOs und CFOs erstellen in der Regel einen Dreijahresplan und ein Einjahresbudget. Der CHRO sollte mit seiner Kenntnis der Personalseite einschätzen können, wie gut die Erfolgschancen für diese Pläne stehen. Wie wahrscheinlich ist es zum Beispiel, dass eine wichtige Gruppe oder ein maßgeblicher Manager rechtzeitig Veränderungen umsetzt, um mit einem Wandel der äußeren Bedingungen Schritt zu halten, oder dass Teammitglieder sich in ihrer Arbeit abstimmen? CHROs sollten solche Fragen stellen und ihre Einschätzung dazu abgeben. Der Erfolg eines Unternehmens hängt maßgeblich davon ab, wie gut die Mitarbeiter für die ihnen zugewiesenen Aufgabenbereiche geeignet sind. Der CHRO kann wie kein anderer beurteilen, welche Personalanforderungen eine bestimmte Aufgabe mit sich bringt und ob der vorgesehene Kandidat diesen Anforderungen gerecht wird. Besondere Aufmerksamkeit erfordert dabei die Personalplanung für Aufgaben, die einen großen Wirkungskreis haben. Traditionelle Personalprozesse scheren oft alle Mitarbeiter über einen Kamm. Unsere Beobachtungen haben aber ergeben, dass 2 Prozent der Mitarbeiter für 98 Prozent des unternehmerischen Erfolgs verantwortlich sind. Coaching kann Defizite ausgleichen, vor allem wenn es sich auf ein oder zwei Dinge konzentriert, die einen Manager daran hindern, sein volles Potenzial auszuschöpfen. Aber auch das Coaching hat seine Grenzen. Eine Fehlbesetzung bleibt eine Fehlbesetzung. Passen die Fähigkeiten eines Managers nicht zu den Anforderungen des Aufgabenbereichs, hat nicht nur der Manager ein Problem, sondern auch sein Chef, seine Kollegen und seine Untergebenen. Der CHRO muss die Initiative ergreifen und Verhaltens- und Kompetenzdefizite ermitteln, vor allem bei den wichtigsten 2 Prozent des Personals und bei veränderten Anforderungen. In Zusammenarbeit mit dem Finanzchef sollte der Personalchef überlegen, ob die wichtigsten Leistungskennzahlen (KPI), die Stellenbesetzungen und die Budgets zu den Zielen passen. Falls nicht, müssen die beiden gemeinsam neue Kennzahlen entwickeln. Anreiz- und Bewertungssysteme basieren meist auf Finanzdaten, weil diese leicht zu ermitteln sind. Hierfür kann der Personalchef Alternativen vorschlagen. Die Vergütung sollte sich am Wertbeitrag eines Mitarbeiters orientieren. Maßgeblich sind die Bedeutung des Aufgabenbereichs und die Art und Weise, wie der Mitarbeiter diesem Tätigkeitsfeld gerecht wird. Finanzen und HR


müssen mit qualitativen und quantitativen Kennziffern im Vorfeld definieren, welchen Wertbeitrag das Unternehmen erwartet. Stellen Sie sich vor, der Finanz- und der Personalchef sprechen über den Leiter eines Geschäftsbereichs und tauschen sich mit dem CEO und dem Chief Operating Officer darüber aus, was die betreffende Führungskraft tun muss, um besser zu sein als die Konkurrenz. Sie könnten sich zum Beispiel fragen: Erfordert eine schnellere Digitalisierung ein anderes Team oder müssen wir die Gelder anders verteilen? Die Erfolgschancen abzuschätzen bedeutet abzuwägen, wie gut der Manager mit Druck und Chancen umgeht, wie er sich bei einer rückläufigen Konjunktur schlagen würde und wie schnell er eine digitalisierte Organisation skalieren könnte. Passend zu diesen Überlegungen müssten die Topmanager dann Leistungskennziffern definieren. Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: Eine Marketingleiterin soll mit ihrer Abteilung künftig auf Predictive Analytics zurückgreifen. Hier müssen CFO und CHRO erkennen, dass die Managerin sich die Grundlagen dieser Form der Datenanalyse aneignen und schnell entsprechend geschulte Mitarbeiter einstellen muss, weil sonst neue Wettbewerber kommen und dem Unternehmen Marktanteile abjagen. Leistungskennziffern müssen zeigen, wie schnell die Marketingleiterin ihre Abteilung neu ausrichtet. Eine Gruppe von Kennzahlen sollte sich auf den Personalbeschaffungsplan konzentrieren: Welche Schritte muss die Marketingleiterin bis wann unternehmen? Daraus ergeben sich Meilensteine, die innerhalb bestimmter Fristen erreicht werden müssen. Eine weitere Gruppe von Kennzahlen könnte die Budgetplanung ins Visier nehmen. Verteilt die Marketingleiterin, nachdem sie neue Mitarbeiter eingestellt und eingearbeitet hat, ihr Budget neu? Steigern die Ausgaben den Umsatz, die Margen, den Marktanteil in bestimmten Segmenten oder den Wiedererkennungswert der Marke? Solche Verbesserungen sind durchaus messbar, wenn auch mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung. Der CHRO sollte außerdem in der Lage sein, belastbare Vorhersagen über die Konkurrenz zu treffen. So wie sich Generäle über die Befehlshaber der Gegenseite informieren, muss der CHRO über die Wettbewerber Bescheid wissen. Wer trifft dort die Entscheidungen, wer setzt sie um, und wie gut sind diese Leute im Vergleich zu uns? Die Prognosen sollten auch berücksichtigen, wie sich HR-Veränderungen bei den Wettbewerbern – zum Beispiel andere Anreizsysteme, eine höhere Fluktuation oder zusätzliche Kompetenz durch Neueinstellungen – auf deren Markterfolg auswirken würden. Zum Beispiel fing Apple 2014 an, Medizintechnikexperten einzustellen. Das deutete daraufhin, dass der

KOMPAKT DAS PROBLEM CEOs bezeichnen das Personal immer wieder als die größte Herausforderung, unterschätzen jedoch in der Regel ihren eigenen Personalchef und stellen das Personalwesen in der Bedeutungsrangfolge hinter andere Konzernfunktionen. Idealerweise sollte der Personalchef (CHRO) zu einem strategischen Partner des CEOs werden, ähnlich wie der Finanzchef (CFO). Einige große Unternehmen verfolgen diesen Ansatz bereits höchst erfolgreich. DIE LÖSUNG Der CEO muss das Personalwesen aufwerten und seinem CHRO neue Aufgaben übertragen. Ein Personalchef muss sich zum Beispiel künftig fragen, ob die Personalplanung, die Leistungskennzahlen und das Budget zu den Zielen des Unternehmens passen (Ergebnisse prognostizieren), warum das Unternehmen nicht erfolgreich ist (Probleme diagnostizieren) und er muss die richtigen Maßnahmen anstoßen, die Mehrwert stiften. Der CEO holt den CHRO an seine Seite und bildet zusammen mit dem CFO ein Topteam, das sich regelmäßig trifft und gemeinsam entscheidet.

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Konzern womöglich die Apple Watch oder andere Geräte für medizinische Zwecke vermarkten will. Das könnte Auswirkungen auf Gesundheitsdienstleister, Medizintechnikhersteller oder Kliniken haben. Auf ähnliche Weise können Sie womöglich an einer strukturellen und personellen Neuausrichtung eines Konkurrenten ablesen, dass dieser eine bestimmte Produktlinie stärker in den Vordergrund rückt und Ihrem Unternehmen damit das Leben schwerer macht. Typische Quellen für Wettbewerbsinformationen sind Headhunter, die Presse, Neuzugänge aus anderen Unternehmen, Lieferanten oder die Kunden von Kunden. Selbst scheinbar nebensächliche Kommentare wie „Der Marketingleiter ist ein Zahlenmensch, aber mit seinen Soft Skills ist es nicht so weit her“, „Die senkt

DER UNTERNEHMENSERFOLG HÄNGT DAVON AB, WIE GUT DIE MITARBEITER FÜR IHRE AUFGABEN GEEIGNET SIND. nur die Kosten, expandieren kann sie nicht“ oder „Der Leiter ihrer neuen Abteilung kommt aus einem wachstumsstarken Unternehmen“ können wertvolle Beiträge für Prognosen liefern. Motorola hätte die Entwicklung des iPhones vorhersehen können, wenn der CHRO dem Konzernchef Bescheid gegeben hätte, dass Apple anfing, Mitarbeiter aus Motorolas technischer Abteilung abzuwerben. Bei der Wettbewerbsanalyse sollte der CHRO Bereiche, Teams und Führungskräfte vergleichen und nicht nur auf die klassischen Konkurrenten schauen, sondern auch auf potenzielle Neueinsteiger im Markt. Hat der neue Haarpflegechef bei Unternehmen X mehr Erfahrung und Energie als unser neuer Leiter dieses Produktbereichs? Funktioniert die Zusammenarbeit im Entwicklungsteam für drahtlose Sensoren bei Unternehmen Y besser als bei uns? Die Antworten auf solche Fragen helfen Ihnen, Ergebnisse zu prognostizieren, die irgendwann einmal als Zahlen in Ihrer Bilanz stehen. PROBLEME DIAGNOSTIZIEREN Der Chief Human Resources Officer ist in der Lage, exakt zu ermitteln, warum sein Unternehmen nicht erfolgreich ist oder seine Ziele nicht erreicht. Unternehmenslenker müssen lernen, solche Analysen bei ihren Personalchefs einzuholen anstatt bei externen Beratern. 34

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Wenn ein Unternehmen seine Ziele nicht erreicht, sollten CEO und Finanzchef bei der Ursachenanalyse mit dem HR-Chef zusammenarbeiten, denn die meisten Probleme sind Personalprobleme. Es geht darum, nicht nur auf externe Faktoren wie sinkende Zinsen oder Wechselkursveränderungen zu schauen, sondern die Geschäftszahlen auch mit der internen Personaldynamik in Verbindung zu bringen – damit, wie gut die Zusammenarbeit im Unternehmen funktioniert. Eine korrekte Diagnose ist die Grundlage für die richtige Behandlung. Damit lässt sich verhindern, dass CEOs reflexartig Manager austauschen, die gute Entscheidungen getroffen haben und nur schlechte Karten hatten. Wenn die Konjunktur schwächelt und die Zahlen hinter dem Vorjahresergebnis zurückbleiben, sind folgende Fragen richtig: Wie hat der Manager reagiert? War er gelähmt, wie ein Reh im Scheinwerferlicht, oder ging er in die Offensive? Hat er im Vergleich zur Konkurrenz und gemessen an der externen Veränderung schnell reagiert? Das hilft dem Personalchef, die wesentliche Unterscheidung zwischen einem Fehltritt und einer Fehlbesetzung vorzunehmen. Und auch in solchen Situationen lernt der CHRO etwas über den fraglichen Manager, zum Beispiel wie robust er ist. Solche Informationen sind für künftige Besetzungen nützlich. Die Bewertung einzelner Führungskräfte ist aber nur die Hälfte der Gleichung. Der CHRO kann in der Regel auch am besten beurteilen, wie die unterschiedlichen Teile des sozialen Systems im Unternehmen funktionieren, und systematisch nach Aktivitäten suchen, die Engpässe oder unnötige Spannungen verursachen. Ein CEO prüfte die Zahlen einer wichtigen Produktlinie und stellte fest, dass der Marktanteil und der Gewinn das dritte Jahr in Folge zurückgingen. Das medizinische Diagnoseprodukt, mit dem das Unternehmen den Trend umkehren wollte, hatte noch immer nicht die Marktreife erreicht. Als der CEO und sein Personalchef genauer nachforschten, stellten sie fest, dass das Marketingteam in Milwaukee und das F&E-Team in Frankreich sich bei den Spezifikationen des Produkts nicht einig waren. Die Topmanager arrangierten sofort eine Reihe von persönlichen Treffen, um die Kluft zu überbrücken. Eigentlich profitiert das Unternehmen enorm davon, den Personalchef Probleme diagnostizieren und aufdecken zu lassen, aber diese Offenheit fehlt in der Praxis häufig. So bleiben schädliche Verhaltensweisen oft unentdeckt, zum Beispiel wenn Mitarbeiter Informationen zurückhalten, Widerspruch äußern, ohne zu handeln, oder Kollegen sabotieren. Manche CEOs schauen lieber weg, als Konflikte zwischen ihren direkten Untergebenen anzugehen, dabei rauben solche


Kontroversen Energie und führen in der gesamten Organisation zu Entscheidungsschwäche. Wenn unterschiedliche Bereiche aufgrund von Silodenken nicht zusammenarbeiten, entstehen Probleme, die sich durch Kostensenkungen, Budgetumschichtungen oder Warnungen nicht lösen lassen. Deshalb sind Personalchefs, die gestörte Beziehungen ans Tageslicht bringen, Gold wert. Gleichzeitig sollten CHROs nach Mitarbeitern Ausschau halten, die Energiequellen sind, und diese Kandidaten weiterentwickeln. Ganz gleich, ob sie den direkten Auftrag haben, Ergebnisse zu liefern – solche Mitarbeiter gehen Problemen auf den Grund, formulieren Ideen neu, schaffen informelle Beziehungen, die die Zusammenarbeit fördern, und machen das Unternehmen ganz allgemein stärker und produktiver. Sie sind unter Umständen der versteckte Wertschöpfungsmotor des Unternehmens. PERSONALMASSNAHMEN ANSTOSSEN Agile Unternehmen wissen, dass sie das Kapital immer dorthin verlagern müssen, wo die größten Chancen sind. Sie wissen auch, dass Sie nicht der typischen Budgetträgheit unterliegen dürfen. („Sie bekommen die gleiche Finanzierung wie im Vorjahr, plus/minus 5 Prozent.“) McKinsey hat sich in mehr als 1600 amerikanischen Unternehmen die Kapitalverteilung über einen Zeitraum von 15 Jahren angesehen und herausgefunden, dass diejenigen mit den größten Kapitalumschichtungen (Unternehmen, die im Beobachtungszeitraum mehr als 56 Prozent des Kapitals zwischen Geschäftsbereichen hin und her geschoben haben) eine um 30 Prozent höhere Aktienrendite erzielten als andere Unternehmen. Ähnlich flexibel sollten die Unternehmen auch mit ihrem Personal umgehen, und die Personalchefs sollten Maßnahmen empfehlen, die Wert freisetzen oder schaffen. Das kann vieles heißen: Etwa die versteckten Talente eines Mitarbeiters zu erkennen und diesen Mitarbeiter auf die Liste der High Potentials zu setzen, jemanden auf eine andere Position zu versetzen, um das Wachstum in einem neuen Markt anzukurbeln, oder jemanden von außen ins Unternehmen zu holen, um Kompetenz im Umgang mit einer neuen Technologie aufzubauen. Die ständige Umverteilung des Kapitals ist zwar wichtig, aber einen wirklichen Schub bekommen Unternehmen, wenn gleichzeitig die passenden Personalumschichtungen erfolgen. Solche Reaktionen auf das externe Umfeld verlangen heute nach Fähigkeiten, die früher nicht kultiviert wurden, zum Beispiel Kenntnisse im Umgang mit Algorithmen oder Offenheit für Digitalisierung und einen schnellen Wandel. Auf den unteren Ebenen hat das

Unternehmen vielleicht Führungskräfte mit solchen Fähigkeiten. Aber damit diese Leute etwas bewirken können, müssen sie auf einen Schlag drei Hierarchieebenen nach oben springen, statt den üblichen Weg zu durchlaufen. Der CHRO sollte nach Mitarbeitern Ausschau halten, die als künftige Wertschöpfer infrage kommen, und darüber nachdenken, wie sie das Talent dieser Nachwuchskräfte zur Geltung bringen können. Menschenkenntnis muss zu den besonderen Stärken des Personalchefs gehören, genauso wie der Finanzchef das Talent haben muss, aus Zahlen intelligente Schlussfolgerungen abzuleiten. Der US-Chemiekonzern Dow Chemical wollte neben den traditionellen F&E-Prozessen mehr kurze Innovationszyklen fördern und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass sich das am schnellsten realisieren lässt, wenn das Unternehmen findige Millennials einstellt. So ist der Anteil der Mitarbeiter, die jünger als 30 Jahre sind, zwischen 2004 und 2014 von 9 auf 15 Prozent gestiegen. Um von diesem neuen Talentpool optimal zu profitieren, hat das Unternehmen die Karrierelaufbahnen verändert, damit Mitarbeiter zwischen 20 und 40 möglichst schnell aufsteigen können. Außerdem wird der Nachwuchs schon relativ früh zu globalen Führungskonferenzen eingeladen. Wertpotenziale kann der Personalchef auch auf einem anderen Weg erschließen, zum Beispiel indem er Mitarbeiter dabei unterstützt, ihre Defizite zu beseitigen oder ihre Kompetenzen zu erweitern. Das kann bedeuten, sie zu versetzen, ihnen ein beratendes Gremium zur Seite zu stellen oder jemanden zu beordern, der ihnen punktuell eine bestimmte Fähigkeit vermittelt. Der Risikokapitalgeber John Doerr hat die Manager der von ihm finanzierten Start-ups mit den führenden Wissenschaftlern von Bell Labs in Kontakt gebracht. Auf ähnliche Weise sollten auch die Personalchefs großer Unternehmen ihre Netzwerke besser nutzen, um Mitarbeiter mit Leuten zusammenzubringen, von denen sie etwas lernen können. Der CHRO könnte auch vorschlagen, einen Geschäftsbereich in Untergruppen aufzuteilen, um das Wachstum zu fördern und mehr Manager mit Ergebnisverantwortung zu entwickeln. Er kann vorgeben, dass die Personalabteilung bei der Suche nach Leitern für eine Länder- oder Produktsparte nach bestimmten Fähigkeiten Ausschau hält. Oder er kann Dinge anstoßen, die den Zusammenhalt im Unternehmen stärken – die Qualität der Beziehungen, das Maß an Vertrauen und Kooperation und die Entschlossenheit. So könnte der Personalchef etwa veranlassen, dass Mitarbeitergespräche eher monatlich als jährlich stattfinden, denn kürzere Zeiträume bis zum nächsten Feedback steigern die Motivation und den betrieblichen Erfolg. OKTOBER 2015 HARVARD BUSINESS MANAGER

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WAS DER PERSONALCHEF NICHT TUN SOLLTE Die neue Stellenbeschreibung des Personalchefs sollte nicht nur klar definieren, was der CHRO in den Kategorien „Ergebnisse prognostizieren“, „Probleme diagnostizieren“ und „Personalmaßnahmen anstoßen“ tun soll, sondern auch, was nicht zum Aufgabenbereich gehört. Das schärft die Ausrichtung und lässt dem Personalchef Zeit für die wirklich wichtigen Dinge. Manche Unternehmen haben zum Beispiel angefangen, die Personalabteilung von den rein ausführenden und administrativen Tätigkeiten zu befreien. Die Streaming-Plattform Netflix etwa siedelt die traditionellen Personalprozesse und -abläufe bei der Finanzfunktion an, während Human Resources ausschließlich für Personalbeschaffung und Coaching zuständig ist (siehe den Beitrag „Die Neuerfindung der Personalarbeit“,

WENN DIE PERSONALABTEILUNG VOM KOSTENFAKTOR ZUM WERTSCHÖPFER WERDEN SOLL, BRAUCHT ES KENNZAHLEN. Servicekasten Seite 40). Eine andere Möglichkeit besteht darin, eine Konzernfunktion zu schaffen, die als interner Dienstleister die Backoffice-Aufgaben für Personalwesen, Finanzen und IT erledigt. Diese Funktion kann, muss aber nicht dem CFO unterstellt sein. Das Thema Vergütung gehört traditionell zu den Aufgaben des Personalchefs, aber der kann unter Umständen gar nicht so gut beurteilen, mit welchen Problemen die Führungskräfte bestimmter Geschäftsbereiche konfrontiert sind – genauso wie es für den Finanzchef schwer ist, nuanciert zu verstehen, wie der Zusammenhalt im Unternehmen funktioniert. Die Vergütung hat aber so viel Einfluss auf das Verhalten der Mitarbeiter und auf die Geschwindigkeit und Flexibilität des Unternehmens, dass es am besten ist, wenn hier auch der CEO und der CFO beteiligt sind. Der CHRO kann federführend sein, aber die endgültigen Vergütungsentscheidungen sollten die drei Topmanager gemeinsam treffen. Angesichts der immer aktiveren Rolle von institutionellen Investoren sollte sogar der Board mitreden. PASST DER CHRO IN SEINE ROLLE? Ausgehend von der neuen Stellenbeschreibung für den CHRO muss der Konzernchef bewerten, wie gut der Personalchef diesen Anforderungen gerecht wird und wo er nach drei Jahren stehen sollte. Die meisten Perso36

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nalchefs sind innerhalb der Konzernfunktion aufgestiegen. Manche waren vorher in der Linienorganisation, die meisten jedoch nicht. Untersuchungen der Personalberatung Korn Ferry signalisieren, dass nur 40 der „Fortune“-100-CHROs ernsthafte Erfahrung außerhalb des Personalwesens vorweisen können. Das bedeutet, dass in einigen Fällen Verbesserungsbedarf in den drei oben genannten Bereichen besteht, also im Prognostizieren von Ergebnissen, im Diagnostizieren von Problemen und im Anstoßen von wertsteigernden Maßnahmen. Hierfür ist es hilfreich, den CHRO auf oberster Ebene in die breitere Diskussion über das Geschäft einzubeziehen. CEOs sollten ihren Personalchefs die Chance geben, in die neu definierte Rolle hineinzuwachsen, und sie sollten einmal im Quartal überprüfen, wie gut das gelingt. Die Leistungsbewertung von CHROs ist von jeher problematisch. Personalchefs werden zum Beispiel daran gemessen, ob sie bei der Einführung neuer Prozesse unter den budgetierten Kosten geblieben sind, ob sie eine vorgegebene Zahl an Neueinstellungen von den richtigen Firmen geholt haben oder wie sie Bindung und Engagement der Mitarbeiter verbessert haben. Aber solche Dinge haben nicht direkt mit der Wertschöpfung zu tun. Wenn die Personalabteilung vom Kostenfaktor zum Wertschöpfer werden soll, muss die Leistung an Kennzahlen gemessen werden, die direkter mit dem Umsatz, der Gewinnmarge, dem Wiedererkennungswert der Marke oder dem Marktanteil in Zusammenhang stehen. Je enger, desto besser. Ein CHRO kann zum Beispiel zur Wertsteigerung beitragen, indem er eine Schlüsselperson versetzt und damit die Leistung des neuen Vorgesetzten verbessert. Er kann zentrale Fähigkeiten über gezieltes Coaching verbessern, eine externe Kandidatin auf eine Schlüsselposition setzen, zwei oder drei Mitarbeiter zusammenbringen, die mit einem neuen Geschäftsbereich oder einer neuen Initiative den Gewinn oder den Umsatz steigern, einen Spartenchef versetzen, weil der einer in zwei Jahren anstehenden Herausforderung nicht gewachsen sein wird, oder Spannungen aufdecken, wo Kooperation gefragt ist. Solche Dinge lassen sich zeigen, nachweisen und hängen eng mit den Geschäftszahlen zusammen. Ein Beispiel aus der Praxis: Drei Konzernbereiche bekamen nach Jahren unter demselben Chef einen vielversprechenden Jungmanager als neuen Vorgesetzten, und es ging bergauf. Der wachstumsorientierte und digital versierte neue Executive Vice President nutzte Gemeinsamkeiten der drei Bereiche bei IT und Produktion und verkürzte den Produktentwicklungszyklus fast um die Hälfte. Binnen drei Jahren überholten die Bereiche die Konkurrenz und stiegen zur Nummer eins auf.


EINE G3 AUFBAUEN Der Konzernchef sollte seinen obersten Personalmanager zu einem echten Partner machen und an der Spitze des Unternehmens ein Triumvirat aus CEO, CFO und CHRO bilden. Das ist die beste Möglichkeit, die Geschäftszahlen mit den Menschen zu verknüpfen, die letztlich dahinterstecken. Der Schritt signalisiert außerdem unternehmensintern, dass HR in den inneren Kreis aufgenommen wird und der Beitrag des Personalchefs ebenso wichtig ist wie der des obersten Finanzmanagers. Manche Unternehmen sehen den CHRO vielleicht als Teil einer erweiterten Managementgruppe, zu der auch der IT- und der Risikochef gehören. Aber die G3, wie wir sie nennen, ist die Kerngruppe, die das Unternehmen lenken und sich auch getrennt von den anderen treffen sollte. Die G3 gibt den Kurs vor und hat das große Ganze im Blick, während die anderen in der operativen Umsetzung stecken. Die G3 sorgt dafür, dass das Unternehmen auf Kurs bleibt, und kümmert sich, wenn es bei der Umsetzung hakt. Diese Führungsgruppe ist es auch, die die Verbindung zwischen der Organisation und den Geschäftszahlen herstellt. Bei dem weltweit tätigen Versicherungsmakler und Risikomanager Marsh führt CEO Peter Zaffino häufig Vieraugengespräche mit seiner Finanzchefin Courtney Leimkuhler und mit seiner Personalchefin Mary Anne Elliott. Im April 2015 diskutierten die drei gemeinsam, wie gut die Organisation auf die geschäftlichen Ziele abgestimmt ist. Zu Beginn dieses G3-Meetings pickten sich die Manager einen Geschäftsbereich heraus und zeichneten auf einem Flipchart zwei Spalten ein. Die rechte Spalte war für die geschäftliche Leistung

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(Leimkuhlers Verantwortungsbereich), die linke für die Organisationsstruktur (Elliotts Bereich). Eine horizontale Linie schuf zwei Zeilen für die zwei einfachen Fragen: Was läuft gut? Was läuft nicht gut? „Peter hätte die Tabelle auch allein ausfüllen können“, sagt Elliott. „Aber dass wir es gemeinsam gemacht haben, brachte schon noch einen Mehrwert“, sagt Zaffino. „Das Meeting dauerte ungefähr 15 Minuten, und wir fanden, die Übung hat sich gelohnt. Wir führen das Geschäft bereits mit disziplinierten Prozessen. Einmal im Quartal gehen wir gemeinsam der operativen Performance auf den Grund und führen Mitarbeiterbewertungen durch, bei denen wir uns auf die Personalseite konzentrieren. Man könnte also meinen, dass wir nicht noch einen weiteren Prozess einführen wollen, mit dem wir bewerten, wie wir das Unternehmen führen. Aber dieser G3-Prozess verschafft uns ohne zusätzliche Bürokratie einen erstklassigen Blick auf das Unternehmen.“ Dieses Zusammenbringen von eigentlich getrennten Daten auf einem Flipchart hilft dem Team, Faktoren auf organisatorischer Seite aufzudecken, mit denen sich die geschäftliche Entwicklung der folgenden vier bis acht Quartale prognostizieren lässt. Der Austausch fördert Verbindungen zwischen den beiden Bereichen und ist daher immens wertvoll. „Wir ergründen jedes Mal, warum ein Bereich sich gerade so oder so entwickelt. In diesen Fällen gehen wir in die Tiefe, nicht in die Breite, wenn es auf organisatorischer Seite Dinge gibt, die für das Geschäftsergebnis maßgeblich sind“, sagt Zaffino. Der Chef erzählte von der Umsetzung eines neuen Vertriebsplans, an dem die Personalabteilung arbeitete. Er wollte sichergehen, dass die geschäftlichen Ergebnisse


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mit der Vergütung abgestimmt wurden, „damit die Vergütung im Vertrieb nicht vom finanziellen Erfolg des Unternehmens abgekoppelt ist“, erklärt der CEO. „Außerdem wollten wir nicht einfach den Umsatz steigern, ohne zu wissen, wie wir die Erlöse reinvestieren und die Rentabilität steigern.“ Die Personalchefin ging das Problem aus ihrer Sicht an: Fördert der Vertriebsplan die richtigen Verhaltensweisen, die dafür sorgen, dass das geschäftliche Ergebnis in die Zeile „Was läuft gut?“ fällt? Die Verbindungen zwischen den beiden Spalten haben den drei Topmanagern gezeigt, worauf es ankommt. „Alles aufzulisten, was wir besser machen wollen, ist einfach“, sagt Leimkuhler. „Die Krux ist herauszufinden, wo wir anfangen sollen. Wenn wir wissen, welche Faktoren auf organisatorischer Seite das geschäftliche Ergebnis verbessern, können wir Prioritäten setzen.“ Die Umschichtung der regionalen Bereichsleiter war für die Personalabteilung ein schwieriges Thema – eines, bei dem die HR-Chefin in die Versuchung geraten wäre, es auf die lange Bank zu schieben. Doch zu sehen, in welchem Ausmaß Tatenlosigkeit den geschäftlichen Erfolg gebremst hätte, gab den notwendigen Impuls, aufs Tempo zu drücken. „In unserer HR-Welt ist viel die Rede von Verständnis und geschäftlicher Integration“, sagt Elliott. „Aber G3-

DER KONZERNCHEF SOLLTE AN DER SPITZE DES UNTERNEHMENS EIN TRIUMVIRAT AUS CEO, CFO UND CHRO BILDEN. Meetings sind pragmatisch. Wenn Sie mit dem CEO und dem CFO zusammensitzen, ist kein Platz für Personalertheorien. Da geht es nur darum, was die Organisation braucht, um das Ergebnis zu verbessern, und wie sich die zentralen Variablen abstimmen lassen.“ „Es hat schon seine Vorteile, sich in einer kleinen Gruppe zu treffen“, fügt Leimkuhler hinzu. „Mit dem gesamten Executive Committee, das bei Marsh aus zehn Managern besteht, wäre diese Diskussion schwerfällig. Und es ist ja auch keine Entweder-oder-Entscheidung, sondern ein Sowohl-als-auch“, sagt Zaffino. „Das ist eine effiziente Möglichkeit, einen ganzheitlichen Blick auf das Unternehmen zu bekommen. Jeder von uns war nach dem ersten G3-Meeting sicher, dass Organisation und Geschäft gut abgestimmt sind und dass wir das Unternehmen im Griff haben.“ 38

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Vinod Kumar, der CEO von Tata Communications, setzt ebenfalls auf einen G3-Mechanismus. Sein Unternehmen liefert Kommunikations-, Computer- und Kollaborationsinfrastruktur an globale Konzerne, unter anderen an viele Telekommunikations- und Mobilfunkbetreiber. 2012 waren die Preise um 15 bis 20 Prozent eingebrochen und neue Technologien haben den Sektor durcheinandergewürfelt. Tata Communications musste sein Geschäft sehr schnell umkrempeln, um mit den Veränderungen Schritt zu halten. Und um die wichtigen neuen Kompetenzen aufzubauen, musste der Konzern zumindest kurzfristig neues Personal einstellen – eine Maßnahme, die nicht gerade dazu beitrug, die steigenden Kosten einzudämmen. Doch es musste etwas geschehen, und so setzte sich Kumar mit dem damaligen Finanzchef Sanjay Baweja und dem Personalchef Aadesh Goyal zusammen. Die beiden Manager sollten dem Chef helfen, unter Berücksichtigung der finanziellen und der personellen Belange einen neuen Kurs für das Unternehmen festzulegen. Häufige Besprechungen in diesem G3-Kreis führten schließlich zu einem Konsens: Tata Communications würde Rollen, die durch die neue Ausrichtung des Unternehmens überflüssig oder unpassend werden würden, neu aufsetzen, und Stellen in die richtigen Regionen verlagern. Das würde die Personalkosten um 7 Prozent senken. Mit den Einsparungen würde das Unternehmen die notwendigen Kompetenzen aufbauen, vor allem über Neueinstellungen in Vertrieb, Marketing und IT. Als Nächstes arbeitete die G3 an längerfristigen Veränderungen. Tata Communications startete Ende 2013 ein konzernweites Programm für die kontinuierliche Steigerung der Produktivität. Das unmittelbare Ziel war eine Kostensenkung um 100 Millionen Dollar, aber die übergeordnete Absicht bestand darin, eine neue Unternehmenskultur zu etablieren. Zunächst gründete die G3 ein funktionsübergreifendes Team, in dem Beschäftigte auf Teilzeitbasis mitarbeiteten. Letztlich waren mehr als 500 Mitarbeiter beteiligt, die an Ideen in 50 Kategorien arbeiteten und sogar noch mehr Kostensenkungen erzielten als ursprünglich geplant. Kurz gesagt: Das Projekt war ein großer Erfolg und liefert weiter Ergebnisse. Der Dialog – sowohl in institutionalisierter Form als auch informell – zwischen CHRO, CFO und CEO ist inzwischen Teil der Führungskultur bei Tata Communications. Als Kumar merkte, wie gut der Personalchef Goyal das Geschäft versteht, traf er eine mutige Entscheidung: Er übertrug seinem obersten Personalmanager zusätzlich die Verantwortung für eine der wachstumsstärksten Tochtergesellschaften des Konzerns und


holte Goyal in den Innovationsrat, der nach Investitionsmöglichkeiten und vielversprechenden Gründungen Ausschau hält.

REGELMÄSSIGE G3-MEETINGS Wenn die G3 erfolgreich sein soll, muss der CEO dafür sorgen, dass sich diese Gruppe der wichtigsten drei Manager regelmäßig trifft. WÖCHENTLICH FIEBER MESSEN Konzernchef, Finanzchef und Personalchef sollten einmal pro Woche zusammenkommen und über interne und externe Frühwarnzeichen in Bezug auf den personellen Motor sprechen. Jeder der drei hat eine andere Perspektive, und wenn sie ihre Sichtweisen zusammenbringen, erhalten sie einen genaueren Gesamteindruck. Dafür müssen die drei Manager nicht am selben Ort sitzen. Sie können sich auch per Telefon- oder Videokonferenz zusammenschalten. Entscheidend ist nur, dass die Meetings häufig stattfinden. Wenn die Manager diszipliniert sind, dürfte die Sitzung nach sechs Wochen nicht länger als 15 bis 20 Minuten dauern. Der CEO muss die Richtung vorgeben und dafür sorgen, dass die Diskussion ausgewogen, ehrlich und integer abläuft. Sowohl der CFO als auch der CHRO müssen politisch neutral sein, damit ein Vertrauensverhältnis entstehen kann, und sie dürfen nie ihre Integrität verkaufen und sich zum Handlanger des CEOs machen. Sie müssen bereit sein, Probleme offen anzusprechen. Im Lauf der Zeit wird jedes G3-Mitglied die Perspektive der anderen besser verstehen, die Diskussionen werden reibungsloser ablaufen, und alle drei werden viel über die Feinheiten des Unternehmens lernen. Sie werden auch weniger Hemmungen haben, Vorurteile oder kognitive Verzerrungen der anderen zu korrigieren, sie werden ihre Menschenkenntnis schärfen und mit mehr Treffsicherheit die richtigen Kandidaten auf die richtigen Positionen setzen. MONATLICHE PROGNOSEN Die G3 sollte einmal pro Monat ein paar Stunden investieren, um vier und acht Quartale in die Zukunft zu blicken. Dabei sollte sie sich von folgenden Fragen leiten lassen: Welche Personalprobleme hindern uns daran, unsere Ziele zu erreichen? Gibt es ein Problem mit einem bestimmten Mitarbeiter? Mit der Zusammenarbeit? Gelingt es einem Mitglied des Topmanagements nicht, die Entwicklung der Konkurrenz zu erkennen? Könnte uns jemand verlassen? Rückblickende Überprüfungen und Bewertungen nehmen Unternehmen mindestens einmal im Quartal vor. In diesem Fall geht es um Prognosen und Diagnosen. Die Vorausschau soll sich nicht nur auf die Zahlen,

sondern auch auf die Personalseite erstrecken, denn die meisten Fehlschläge und verpassten Chancen haben mit Personalproblemen zu tun. Es könnte organisatorische Probleme, Energieräuber oder Konflikte zwischen Bereichen geben, vor allem in den oberen beiden Hierarchieebenen. Konflikte sind in Matrixorganisationen systemimmanent. Die G3 muss herausfinden, wo sie auftreten, wo sie eine neue Initiative gefährden könnten und wie die zuständigen Manager damit umgehen. Das ist kein Mikromanagement und keine Hexenjagd. Es geht darum, die wahren Ursachen für gute und schlechte Leistungen zu finden und schnell oder vorbeugend Korrekturmaßnahmen umzusetzen. DREIJAHRESPLANUNG Zu planen, wo das Unternehmen in drei Jahren stehen muss, und über die Finanzierung neuer Projekte und die Investition von Kapital zu diskutieren ist völlig normal. Häufig fehlen aber personalbezogene Fragen: Haben wir Mitarbeiter, die bei Fähigkeiten, Schulungen und Temperament die nötigen Voraussetzungen mitbringen, damit wir die Ziele erreichen? Sind unsere Mitarbeiter flexibel genug, um sich den Veränderungen anzupassen? Die meisten strategischen Planungen klammern die wichtigsten Akteure völlig aus – oder auch die zentralen Figuren bei den Wettbewerbern. Die Personaldiskussionen müssen noch vor den Strategiegesprächen stattfinden. (General Electric ist bekannt dafür, diesen Grundsatz zu beherzigen.) Was können die Mitarbeiter, wo brauchen sie Unterstützung, und sind sie wirklich die Besten? Der CEO und der CHRO eines Unternehmens haben beschlossen, dass sie bei offenen Topmanagementstellen immer fünf Kandidaten haben müssen – drei aus dem Unternehmen und zwei externe. Das Personal sollte immer in einem sehr breiten Kontext beurteilt werden: Wer ist herausragend? Wem wird gekündigt? Wer wird abgeworben? Und welche anderen Informationen können die eigene Wettbewerbsfähigkeit oder die der Konkurrenz beeinflussen?

NEUE FÜHRUNGSKANÄLE IM PERSONALWESEN Manche Konzernchefs zögern vielleicht, die Position des CHROs aufzuwerten, weil sie dem betreffenden Manager die nötige unternehmerische Urteilsfähigkeit oder die nötigen Soft Skills absprechen. Manche fürchten, Personaler können über nichts anderes reden als Einstellungen, Kündigungen, Gehalt, Leistungen und so weiter. Dieser Zweifel muss aktiv ausgeräumt werden, indem der CEO seinem Personalchef möglichst viel Gelegenheiten bietet dazuzulernen. Beziehen Sie den CHRO über G3-Meetings stärker in die geschäftOKTOBER 2015 HARVARD BUSINESS MANAGER

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lichen Aspekte ein und coachen sie ihn. Wenn es an Wissen oder Fähigkeiten fehlt, fragen Sie den CHRO, wie er das ändern kann. Einige Personalchefs werden mit der Aufgabe wachsen, andere nicht, und es mag anfangs auch an passenden Alternativen mangeln. (Das war in den 80er Jahren nicht anders. Damals hatte auch nicht jeder Buchhalter das Zeug zum CFO.) Eine langfristige Lösung besteht darin, neue Laufbahnen für HR-Führungskräfte zu schaffen, in denen die Manager ihren Geschäftssinn schärfen und ihre Soft Skills verbessern können. Jeder Nachwuchsmanager, ganz gleich ob er im Personalwesen anfängt oder woanders, sollte von Grund auf lernen, wie man Ermessensentscheidungen trifft, Personal einstellt und Mitarbeiter coacht. Und wer seine Führungslaufbahn im Personalwesen beginnt, sollte in geschäftlichen Analysen geschult werden. Außerdem sollte es keine Führungslaufbahnen geben, die nur innerhalb von Human Resources verlaufen. Wer CHRO werden will, sollte auf dem Weg nach oben auch Positionen in der Linienorganisation bekleiden müssen, wo er Personal führen muss und Budgetverantwortung hat. Alle Nachwuchsführungskräfte sollten in ihrer Laufbahn zwischen Positionen im Personalwesen und im Rest des Unternehmens wechseln. Schreiben Sie vor, dass die Manager der obersten drei Führungsebenen einmal erfolgreich als Personalmanager gearbeitet haben müssen, dann wird diese Konzernfunktion schon bald zu einem Magnet für die besten Köpfe. Und sorgen Sie dafür, dass es dabei nicht um eine Alibiübung geht. Wer kein Gespür für die Personalseite des Geschäfts hat, dürfte auf lange Sicht im Topmanagement keinen Erfolg haben.

FAZIT Jeder CEO, der überzeugt ist, dass die Mitarbeiter die ultimative Quelle für nachhaltige Differenzierung im Wettbewerb sind, muss die Verjüngung und Aufwertung des Personalwesens sehr ernst nehmen. Ein Mechanismus, der den Finanzchef und den Personalchef zusammenbringt, verbessert das Geschäft und erweitert die persönlichen Fähigkeiten des CEOs. Über Nacht lässt sich diese Umstellung nicht bewerkstelligen. Unserer Einschätzung nach braucht ein Wandel dieser Tragweite mindestens drei Jahre. Zunächst die Erwartungen an den neuen CHRO und seine Konzernfunktion zu definieren ist ein guter Ausgangspunkt. Dann sollten Sie Möglichkeiten schaffen, Finanz- und Personalkompetenz zusammenzubringen. Neue Laufbahnen und Personalbewertungen bringen das Unternehmen noch weiter. Aber all das kann nur funktionieren, wenn der CEO diesen Wandel will, einen Dreijahresplan vorgibt und sich aktiv an die Umsetzung macht. 40

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SERVICE LITERATUR RAM CHARAN ET AL.: Boards That Lead, Harvard Business Review Press 2014. HBM ONLINE PATTY MCCORD: Die Neuerfindung der Personalarbeit, in: Harvard Business Manager, April 2014, Seite 52, Nachdrucknummer 201404052. RAM CHARAN: Und tschüss, HR!: Harvard Business Manager, September 2014, Seite 96, Nachdrucknummer 201409096. INTERNET DOUGLAS A. READY ET AL.: Building a GameChanging Talent Strategy, in: Harvard Business Review, 1/2 2014: http://bit.ly/1GbTqgd NACHDRUCK Nummer 201510030, siehe Seite 102 oder www.harvardbusinessmanager.de © 2015 Harvard Business Publishing

RAM CHARAN ist Topmanagementberater bei Charan Associates in Texas. DOMINIC BARTON ist Global Managing Director von McKinsey & Company und Trustee an der Brookings Institution, einer Denkfabrik in Washington, D. C. DENNIS CAREY ist Vize-Chairman bei der Topmanagervermittlung Korn Ferry, wo er sich auf das Anwerben von CEOs und Board-Mitgliedern konzentriert. Charan und Carey haben (gemeinsam mit Michael Useem) das Buch „Boards That Lead“ verfasst .


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DIE HR-DEBATTE AUS DEUTSCHER SICHT Seit knapp zwei Jahrzehnten ist die Welt der Personalmanager im Umbruch. Der US-Managementprofessor Dave Ulrich verlangte schon 1997 von den Personalern, sich aktiver an der Umsetzung strategischer Ziele zu beteiligen. Sie sollten nicht mehr nur Personal verwalten, sondern passend zu den Anforderungen des Geschäfts kluge Lösungen und Konzepte vorschlagen. Unter dem Stichwort „Businesspartner“ geistert diese Idee seitdem durch die Managementliteratur und die Unternehmensabteilungen. Richtig umgesetzt wurden diese Konzepte selten. Die Unzufriedenheit auf der Businessseite wuchs. Seit einem Jahr fordern führende Köpfe aus Wissenschaft und Praxis radikale Lösungen. Die Managementvordenker Ram Charan und Günter Müller-Stewens postulierten im Harvard Business Manager, die zentralen HR-Abteilungen komplett aufzulösen beziehungsweise ihnen neue Aufgaben zu geben. Um die Bandbreite der Debatte in Deutschland abzubilden, skizzieren auf den folgenden Seiten vier Experten, was der Personalchef der Zukunft leisten muss. Mohsen Sohi als CEO eines globalen Mittelständlers sieht Talentmanagement als Chefsache an. Der Professor Günter Müller-Stewens kreiert ein umfassendes neues Aufgabenportfolio für den Personalchef, für den Berater Jörg K. Ritter ist HR mehr Transformator als Businesspartner, und für Arbeitsdirektorin Katharina Herrmann gehören die Chief Human Resources Officer zwingend ins Topmanagement.

ZUSAMMENGESTELLT VON CHRISTINA KESTEL UND MICHAEL LEITL

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MOHSEN SOHI ist CEO und Sprecher des Vorstands der Freudenberg Gruppe, einem globalen Technologieunternehmen mit Sitz in Weinheim. Seit seinem Amtsantritt 2012 widmet er dem Thema Personal besondere Aufmerksamkeit.

DER CEO

„Ein großes Unternehmen ist auf Dauer nur so gut wie sein Talentmanagement.“ Ein großes Unternehmen ist auf Dauer nur so gut wie sein Talentmanagement – davon bin ich als CEO eines global tätigen Technologiekonzerns überzeugt. Wir brauchen die besten Köpfe, wenn wir die anspruchsvollen Ziele unseres Unternehmens auch in Zukunft erreichen wollen. Deshalb sind Talentmanagement und -entwicklung Chefsache. Sie müssen ganz oben auf der Agenda stehen – und nicht nur auf meiner eigenen: Ich erwarte das Commitment aller unserer Führungskräfte weltweit. Allerdings reicht der Einsatz unseres globalen Führungsteams allein nicht aus, wenn wir von Weinheim bis Wuhan unsere Toptalente halten und ihren individuellen Stärken gemäß entwickeln wollen. Für diese Aufgabe brauchen wir auch und nicht zuletzt einen exzellenten zentralen Personalchef. Zunächst brauchen wir ihn oder sie als zentralen Personalstrategen. Denn Herzstück unserer Personalarbeit ist die HR-Strategie, verbunden mit den richtigen Instrumenten und Prozessen. Der Personalchef sorgt für Exzellenz 42

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und Effizienz bei der globalen Nachfolgeplanung. Er hat die Karriere- und Entwicklungsmöglichkeiten in der Organisation gruppen- und weltweit im Blick. Er bietet passgenaue Weiterbildungsprogramme für Nachwuchstalente und das Senior Management. Und er schafft Plattformen für den Austausch und die Vernetzung der Führungskräfte über die Regionen und Geschäftsgruppen hinweg; das ist gerade für uns als breit diversifiziertes Unternehmen wichtig. Gleichzeitig erarbeitet der Personalchef Antworten auf die dringenden Fragen, vor denen wir als Arbeitgeber im Zuge von demografischem Wandel, Digitalisierung und dem „War for Talents“ stehen. Eine dieser Antworten ist zum Beispiel das Employer Branding, denn der Chef-HR-Stratege bringt die Organisation auch als Arbeitgebermarke voran. Dafür muss er sehr gut wissen und vermitteln können, was das Unternehmen als Arbeitgeber einzigartig macht. Außerdem steht der Personalchef mir, meinen Vorstandskollegen und dem Topmanagement als „Soundingboard“ zur Seite. Er gibt uns die Instrumente an die Hand, die wir brauchen, um unsere Mitarbeiter ihren Fähigkeiten entsprechend zu entwickeln sowie High Potentials zu erkennen und zu fördern. Darüber hinaus sensibilisiert und unterstützt der zentrale Personalleiter uns, anhand globaler Prozesse eine offene Feedback- und Kommunikationskultur zu pflegen. Auch in dieser Rolle muss der HR-Leiter die Organisation und das Geschäft verstehen und im gesamten Unternehmen gut vernetzt sein. Er muss neue Ansätze der Organisationsentwicklung kennen und dafür offen sein, ohne blind jedem Trend hinterherzulaufen. Kurzum: Für mich gibt es keine wichtigere Führungsaufgabe als Talentmanagement und -entwicklung. Und gute Führung braucht ein starkes Team aus Topmanagement und Leiter oder Leiterin HR.


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GÜNTER MÜLLER-STEWENS leitet das Institut für Betriebswirtschaft an der Universität St. Gallen. Er untersucht unter anderem, wie der Wertbeitrag von Zentralabteilungen wie Personal oder Finanzen aussieht.

DER PROFESSOR

„Der CHRO muss die Fähigkeit zur Kooperation im Unternehmen perfektionieren.“ Das Klagen über die Rolle von Human Resources scheint kein Ende zu nehmen. Die Personaler fühlen sich nicht ausreichend ernst genommen. Und die Businessleute beschweren sich, dass HR das Geschäft nicht wirklich kennt und sich zu sehr um Verwaltungsarbeiten kümmert. Leitstern ist immer noch das Vier-Rollen-Modell von Dave Ulrich aus dem Jahr 1997. Es ist müßig, darüber zu debattieren, wer recht hat. Tatsache ist: HR sitzt häufig zwischen den Stühlen. Um den Personalchef zu stärken, sollte die Geschäftsleitung drei Dinge ändern: klare Erwartungen formulieren, anspruchsvolle Aufgaben vergeben und die Perspektive anpassen. Der CEO und die wichtigsten internen Kunden der Personaler (zum Beispiel die Leiter der operativen Einheiten) müssen deutlich präziser und detaillierter als bislang üblich benennen, was sie von der HR-Funktion letztendlich an Mehrwert erwarten. Statt im Zusammenhang mit einem Markteintritt zu beauftragen, 20 neue Vertriebsmitarbeiter zu rekrutieren, sollten sie den

Vertriebserfolg als Ziel vorgeben. Auch wenn dieser nicht allein von diesen Mitarbeitern abhängt, ist für das Unternehmen letztendlich die Schlagkraft der neuen Vertriebsmannschaft das entscheidende Maß und nicht der Vollzug der Recruitingmaßnahme. Der CEO sollte außerdem anspruchsvolle Ziele definieren, die weit über das Thema Personal im engeren Sinne hinausgehen. Er könnte zum Beispiel vorgeben, die Organisation auf die digitale Gesellschaft in all ihren Facetten vorzubereiten. Konkret würde das beispielsweise bedeuten: HR unterstützt beim Umgang mit den sozialen Medien und begleitet bei neuen Formen virtueller Zusammenarbeit. Mit einem derart erweiterten Aufgabenbündel wird auch die Position des HR-Leiters attraktiver. Schließlich sollte die Perspektive der Personalarbeit von der einzelnen Person auf die Beziehung zwischen den Personen verlagert werden. Dabei geht es zum einen um die Qualität der Beziehungen der Mitarbeiter zwischen den einzelnen Abteilungen. Zum anderen geht es um den Kontakt zu den

wichtigsten Anspruchsgruppen (Stakeholder) einer Organisation, etwa zu sich immer stärker einmischenden Regulierungsbehörden oder wichtigen Nichtregierungsorganisationen (NGO); es geht aber auch um den Kontakt zu Partnerorganisationen. Um Kundenbedürfnisse umfassend und integriert befriedigen zu können, müssen oft Dutzende Unternehmen in einer Art Ökosystem miteinander arbeiten. Dabei werden die alten hierarchischen Strukturen immer nebensächlicher. Sie werden ersetzt durch eine dynamische soziale Vernetzung, um einen gemeinsamen Zweck und Ertragskern herum („Profit with a Purpose“). Um die gemeinsamen Ziele erreichen zu können, sind neue Regeln für die Zusammenarbeit notwendig. Personaler müssen sich noch mehr mit Themen beschäftigen wie Transparenz, Vertrauen, Eigenverantwortlichkeit, Flexibilität und kontinuierliche Erneuerung. Sie müssen sehr genau verstehen, wie solche Gemeinschaften gebildet werden und wie Zugehörigkeit, Identifikation und freiwillige Loyalität entstehen. Dann müssen sie sich im Unternehmen für die Förderung dieser Attribute starkmachen. HR hat damit die wichtige Aufgabe, die Fähigkeit zur Kooperation im Unternehmen zu perfektionieren. Doch hierfür muss man ihnen eine echte Chance geben. Die Personaler können wieder zu der treibenden Kraft werden, die sie einmal waren. Dazu müssen sie aber mutig und fundiert eine Vorreiterrolle bei den großen Themen unserer Zeit übernehmen. Das heißt auch, unbequem zu sein und gängige Praktiken zu hinterfragen. Und es heißt, gegen die vielen inhumanen und völlig stupiden Arbeitspraktiken, die es in manchen Unternehmen gibt, entschlossen anzugehen. HR muss sich kompetent in die Debatten um die Zukunft des Unternehmens einmischen. Die Abteilung sollte der kraftvolle Protagonist einer humanen Organisation sein – denn die Unternehmen werden zunehmend darauf angewiesen sein, dass sie eine sind. OKTOBER 2015 HARVARD BUSINESS MANAGER

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JÖRG K. RITTER ist Partner und Global CoLeader Family Business Advisory bei der Beratung Egon Zehnder und Professor für Personalmanagement an der Quadriga Hochschule Berlin. Er engagiert sich für eine Erneuerung von HR, was auch im Zentrum seines Forschungsprojekts steht.

DER BERATER

„HR sollte zum Motor der Transformation werden.“ Die Unternehmen haben keine Wahl: Angesichts der zunehmenden Digitalisierung müssen sie sich neu erfinden, neue Produkte und Services auf den Markt bringen und eine andere Sichtweise entwickeln. Immer mehr CEOs haben das verstanden und treiben den Wandel voran. Die Personaler stehen vor derselben Herausforderung: Auch sie müssen umdenken, agiler werden, den Disruptionsprozess aktiv begleiten. Einige haben dies erkannt und Routinetätigkeiten an Shared-Service-Center ausgelagert und dadurch Ressourcen für einen strategischen Ansatz gewonnen. Andere sind noch im Übergang, sehen aber, wie notwendig eine radikale Neuausrichtung ist. Es geht um nichts Geringeres als eine „New HR“, die den digitalen Umbau mitgestaltet und konsequent vorantreibt. Die Herausforderungen sind immens, und viele Bereiche und Kompetenzen sind betroffen. ■ Innovationskultur: HR sollte durch eigene, aktiv gesetzte Impulse zur Ideenschmiede, zum Motor der Transformation werden. 44

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■ Trendradar:

Aufgabe von HR ist es, externe Megatrends (wie beispielsweise Demografie, Diversity, WorkLife-Balance, Generation Y) früh aufzuspüren und passende Lösungen dafür zu entwickeln (etwa Zeitkonten, Jobsharing oder Home Office). ■ Netzwerkkompetenz: HR muss das Wesen digitaler Netzwerke, Communitys und Ökosysteme verstehen und Konzepte entwickeln, wie man die eigene Organisation darauf ausrichtet. Offene Plattformen sowie eine gezielte Interaktion mit externen Partnern sind unentbehrlich. ■ HR Analytics: HR steht vor der Herausforderung, die Chancen und Potenziale von Big Data zu begreifen und zu nutzen. Und das ist nicht etwa eng im Sinne bloßen Controllings (Fehltage, Umsatz pro Mitarbeiter) zu verstehen, sondern nach vorn gerichtet: Große Datenmengen ermöglichen es, den Erfolg von Trainingsmaßnahmen zu bewerten, Voraussagen über Mitarbeiterverhalten zu treffen oder bislang unentdeckte Kompetenzen und Talente aufzuspüren.

■ Messbarkeit:

HR muss noch stärker von Kennzahlen getrieben sein. Die Verweildauer von Führungskräften in Schlüsselpositionen, der Erfüllungsgrad variabler Vergütungsziele, aber auch das Maß an gelebter Diversity sagen viel über die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens aus. ■ Talent Scouting: Eine Schlüsselaufgabe von HR ist es, digitale Talente aufzuspüren. Das können, müssen aber keine „Digital Natives“ sein – entscheidend sind Geisteshaltung, Veränderungswille und ein ausgeprägter Unternehmergeist. Das sind recht umfassende Herausforderungen. Wie eine neue HR künftig aussehen kann, zeigt heute schon die Welt der Start-ups: Viele kennen kein Personalwesen im klassischen Sinne, sondern praktizieren ein vom Business und den Wachstumszielen getriebenes Anwerben von Talenten. An Initiativbewerbungen mangelt es selten, ansonsten wird jemand aus dem persönlichen Netzwerk an Bord geholt – Hauptsache, es geht schnell. Ob es dann wirklich passt, zeigt sich im Prozess – Risiko gehört eben dazu. Eine neue HR-Abteilung sollte sich als zentraler Agent der Transformation in Stellung bringen. Sie trägt Verantwortung dafür, gemeinsam mit dem CEO notwendige Veränderungen anzustoßen und diese tief in die jeweilige Organisation hineinzutragen. Dabei bringt der neue HR-Chef idealerweise reichhaltige operative Erfahrung und die damit einhergehende Neugier mit. Wer sich – statt einer reinen HR-Kaminkarriere – in der Linie bewährt hat, verfügt in der Regel mehr über ausgeprägtes Erkenntnisvermögen, Mobilisierungskraft und Entschlossenheit. Das sind wichtige Erfolgsfaktoren auch für den Personalbereich. Mit einem solchen Profil und transformatorischer Kompetenz kann der HR-Chef gemeinsam mit dem CEO und dem CFO das entscheidende Dreigestirn des Unternehmens bilden – und sich vielleicht sogar für die CEO-Nachfolge empfehlen.


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KATHARINA HERRMANN ist Arbeitsdirektorin und Chief Human Resources Officer bei dem Übertragungsnetzbetreiber 50 Hertz Transmission in Berlin. Sie gilt als moderne Vertreterin eines CHROs und begegnet im Unternehmensalltag CEO und CFO auf Augenhöhe.

DIE ARBEITSDIREKTORIN

„Personalchefs gehören ins Topmanagement.“ Alles verändert sich, nichts bleibt, wie es ist – das wusste bereits Heraklit. Aber während die Veränderungsgeschwindigkeit für Unternehmen zunimmt, erscheinen die Herausforderungen für HR-Verantwortliche erstaunlich stabil. Da bestätigt die x-te Umfrage, die HRFunktion sei zu langsam, zu bürokratisch und zu fern vom Geschäft. Hinzu kommt das merkwürdige Gefühl, nicht auf Augenhöhe mitreden zu dürfen. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ etwa konstatierte bereits 1979, dass die Rolle des Arbeitsdirektors seit dem Montanmitbestimmungsgesetz 1951 von technischen Vorständen nicht recht akzeptiert werde. Mehr als 60 Jahre später ist es an der Zeit, den Herausforderungen zu begegnen. Personalchefs gehören ins Topmanagement. Um dort erfolgreich zu sein, müssen sie wie Unternehmer handeln. Dafür brauchen sie relevante Arbeitsinhalte und spezielle Fähigkeiten – vor allem aber ein neues Selbstverständnis. 50 Hertz hat aus freien Stücken sogar eine Arbeitsdirektorenrolle eingeführt. Das Personalressort auf der obersten

Ebene eines Unternehmens zu platzieren ist aber mehr als eine Glaubensfrage der Eigentümer oder Ausdruck des Einflusses einer Gewerkschaft. Die Geschäftsführung will – unabhängig von der fachlichen Ausrichtung – erkämpft und verteidigt werden. Leichter und nachhaltiger ist es für HR, dort oben zu bleiben, wenn ihre Funktion strategische Relevanz besitzt und ihr Wertbeitrag über jeden Zweifel erhaben ist. Das ist in Zeiten des demografischen Wandels ein Kinderspiel. Aber dem Vorstand zugehörig zu sein heißt auch, dass es CHROs braucht, die aktiv und über ihre Kernaufgaben hinaus gestalten wollen. Die Lust haben, Risiken einzugehen und Neues auszuprobieren. Die ihre Vorstandskollegen fordern und entwickeln. Und die nicht nur Verantwortung übernehmen, sondern auch Macht ausüben wollen. Menschen mit solchen Verhaltensmustern sind jedoch selten im Personalbereich sozialisiert. Fachfremde Personaler hingegen haben in ihren Linienfunktionen oft früh gelernt, dass Analysen überzeugen und

konkrete Ergebnisse gefragt sind. Sie wissen, wie man Risiken managt und Business Cases baut. Neben dem Managementhandwerk ist erstklassige Personalarbeit auch eine Folge der eigenen Positionierung. Muss man als HR-Chef von allen geliebt werden? Warum übernimmt immer HR die Leitung von Initiativen zur Unternehmenskultur? Warum erfüllen wir ohne Not alle Erwartungen an eine softe Funktion? Echte CHROs warten nicht auf Aufträge der anderen Ressorts. Sie kämen nie auf die Idee, die Führungskräftebetreuung an den CEO abzugeben. Sie begreifen Change-Management nicht als neues HR-Produkt, sondern als Basiskompetenz aller Manager. Sie haben eine klare strategische Vision für das Gesamtunternehmen, bauen Koalitionen und Netzwerke quer durch die Organisation auf und befassen sich mit Großprojekten und unternehmensweiten Themen. Personalchefs müssen klar ableiten und umsetzen können, was sich intern ändern sollte. Derzeit sind die Schwerpunkte meiner Arbeit neben dem Führungskräfteentwicklungsprogramm der Neubau der Unternehmenszentrale, eine unternehmensweite IT-Transformation, eine neue Tochtergesellschaft und die Kommunikationsstrategie für Leitungsbauprojekte. Für die Vorstandskollegen ist es leichter, einen Mitunternehmer, der etwas von Personalarbeit versteht, anzuerkennen. Und ein solches HR-Ressort hat keine rein unterstützende Funktion, sondern ist letztendlich sogar die Voraussetzung für echte Sozialpartnerschaft. Schließlich geht es auch bei der betrieblichen Mitbestimmung darum, gemeinsam unternehmerisch zu handeln. Und nicht um die wiederholte Abstimmung des Feinkonzepts für die Mitarbeiterbefragung.

NACHDRUCK Nummer 201510041, siehe Seite 102 oder www.harvardbusinessmanager.de © 2015 Harvard Business Manager

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SCHWERPUNKT HUMAN RESOURCES | ORGANISATION „Net-Work“: Installation von Do Ho Suh, Fischernetz aus gold- und chrombeschichteten Kunststofffiguren, ausgestellt beim Setouchi International Art Festival in Japan, 2010

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DIE INNOVATIVE HR-ABTEILUNG Auf Konferenzen und Kongressen haben neue, frische Ideen und Erkenntnisse für die Personalabteilung Hochkonjunktur. Doch was passt zum eigenen Unternehmen? Die amerikanische IT-Firma Juniper Networks hat einen Prozess etabliert, der der HR-Abteilung bei der Auswahl der richtigen Konzepte große Verantwortung überträgt.

FOTO: © DO HO SUH

VON JOHN BOUDREAU UND STEVEN RICE

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as haben Sie sicher schon erlebt: Sie hören einen Vortrag, und plötzlich sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der zentralen Idee des Redners und einem Problem in Ihrem Unternehmen. Wer zum Beispiel David Rock vom Neuro Leadership Institute zuhört, erfährt mehr über bahnbrechende Forschungsergebnisse aus den Neurowissenschaften. Rock berichtet etwa von folgender Erkenntnis: Wenn Menschen merken, dass sie mit anderen verglichen werden, führt eine Angstreaktion im Gehirn dazu, dass der Cortisolspiegel in die Höhe schnellt, und sie haben dann Probleme, andere Informationen aufzunehmen. Falls Sie in Ihrem Unternehmen die Mitarbeiterbewertungen verantworten und dieser Prozess auf eine einzige Zahl hinausläuft, die das Ergebnis eines Zwangsrankings nach US-Vorbild ist, geht Ihnen womöglich ein Licht auf. Vielleicht ist der Redner aber auch Rob Cross von der Universität von Virginia, der Ihnen erzählt, dass sich die Abläufe in Ihrem Unternehmen an einer verdeckten Struktur orientieren, die nichts mit dem offiziellen Organigramm zu tun hat. Und er erzählt, dass solche informellen Netzwerke mächtiger sind als Hierarchien. Nach so einem Vortrag geht es Ihnen vermutlich wie vielen Personalchefs: Sie nehmen begeistert die leuch-

DIE JÄHRLICHE LEISTUNGSBEWERTUNG ERSETZTE JUNIPER DURCH REGELMÄSSIGE GESPRÄCHSTAGE. tende Erkenntnis in Form von niedergeschriebenen Notizen mit nach Hause und nehmen sich fest vor, ihr Team an dieser Sache arbeiten zu lassen. Gibt es daran etwas auszusetzen? Sicher nicht. Wir würden sogar sagen, dass es viel schlimmer wäre, die Arme zu verschränken und solche provokativen Ansätze und Ideen an sich abprallen zu lassen. Dennoch ist dieser Enthusiasmus problematisch. Die Umsetzung einer großen, neuen Idee verändert einen bestimmten Aspekt des Personalmanagements, und dieser Aspekt hängt wiederum mit allen anderen Faktoren eines größeren Systems zusammen. In diesem Beitrag beschreiben wir, wie Juniper Networks, ein innovativer Netzwerkausrüster aus dem Silicon Valley, mit solchen Problemen umgeht. Das Human-Resources-Team des Unternehmens hat in den vergangenen sechs Jahren ein Modell eingeführt, mit 48

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dem die Personalmanager aktuelle Forschungsergebnisse aufgreifen und in ungewöhnlichen Kontexten anwenden können. Es ist ein lose strukturierter, vierstufiger Prozess, den wir auf den folgenden Seiten vorstellen. Vorher wollen wir noch eine wertvolle Lektion vermitteln, die wir über das Streben nach kontinuierlicher Innovation gelernt haben. Bevor Juniper herausfinden konnte, welche Lösungen die richtigen sind oder gar wie man sie umsetzt, musste das Unternehmen intern eine wichtige geistige Grundhaltung etablieren.

LIEBE DAS PROBLEM, NICHT DIE LÖSUNG Als Topmanager haben wir Zugang zu großen, manchmal sogar revolutionären Ideen. Es ist einfach, neuen Methoden, neuen Experten oder neuen Forschungsergebnissen hinterherzujagen, von denen wir uns die Lösung eines Problems erhoffen. Schwieriger, aber erheblich wertvoller ist es, diesen Enthusiasmus für das eigentliche Problem aufzubringen. Dann stürzen Sie sich nämlich nicht auf die erstbeste Lösung, sondern nehmen sich Zeit, das Problem aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten, bis Sie es besser verstehen. Statt den Umfang Ihrer Entscheidung und die zu prüfenden Optionen möglichst schnell einzuschränken, bleiben Sie offen für weitere Lösungsmöglichkeiten, die vielleicht noch besser sind. Junipers David-Rock-Erlebnis endete nicht mit einem Workshop oder einer einzelnen Initiative. Die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse haben dazu geführt, dass das Unternehmen ein wichtiges Problem nun besser versteht – eines, bei dem es um Werte und Personal geht. Im Jahr 2009 forderten Junipers Topmanager eine neue Ausrichtung auf Werte und Firmenkultur als Alleinstellungsmerkmale. Sie suchten Rat bei Ann Rhoades, die in diesem Bereich bei den Fluglinien Southwest Airlines und Jet Blue bereits viel getan hatte (über ihre Arbeit bei Juniper berichtete sie im Buch „Built on Values“, siehe Servicekasten Seite 53). Ein Produkt dieser Zusammenarbeit war das Programm „Trio Tours“: Drei Topmanager diskutierten in 75 Sitzungen an unterschiedlichen Standorten von Juniper mit den örtlichen Mitarbeitern über die Firmenkultur von Juniper. Bei einer dieser Sitzungen in Bangalore redete ein junger Ingenieur Klartext. Was ihn bewegte, war Junipers Praxis, Mitarbeiter anhand eines vorgegebenen Schlüssels in Leistungskategorien einzustufen. Das System ist im Englischen als „Forced Ranking“ bekannt. Diese Art Bewertung sei demoralisierend und führe letztlich dazu, dass Kollegen in einem Nullsummenspiel gegeneinander antreten, sagte er. Wie passe das zu Junipers Wertvorstellungen von Glaubwürdigkeit und Vertrauen? Wie fördere es eine Innovationskultur? Die unverblümte Kritik wirkte provokativ, aber


der Ingenieur sprach ein Problem an, das eine genauere Betrachtung wert war: Was ist die beste Form des Leistungsmanagements – für ein Unternehmen, das Wert auf sein Personal legt und alle Mitarbeiter dazu bringen will, besser zu werden? Und wie passt es zusammen, dass ein Unternehmen sich über das Personal von der Konkurrenz absetzen will, aber bei der Leistungsbewertung die gleiche Methode verwendet wie alle anderen? Mit diesem Problem beschäftigte sich Juniper gerade intensiv, als neurowissenschaftliche Erkenntnisse ihren Weg in die Wirtschaft fanden. Rocks Forschungsergebnisse zeigten, warum das beschriebene Zwangsranking die angestrebte Kultur des Vertrauens, der Zusammenarbeit und der Risikobereitschaft untergrub. Sie gaben den Anstoß, Firmenkultur, Werte und Personalsysteme aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Juniper handelte: Im Jahr 2011 schafften die Kalifornier als eines der ersten globalen Unternehmen das Zwangsranking ab. Statt die Mitarbeiter in Leistungsstufen einzuteilen, die nach einer Glockenkurve verteilt sind, strebt das Unternehmen jetzt an, dass möglichst viele Mitarbeiter die Stufe „Best Talent“ erreichen. Die jährliche Leistungsbewertung ersetzte Juniper durch regelmäßige Gesprächstage, an denen Vorgesetzte mit ihren Mitarbeitern über Verbesserungsbereiche, Ziele und Karrierewünsche sprechen. Heute fallen mehr als 97 Prozent der Juniper-Mitarbeiter in die Kategorie „Best Talent“, und die HR-Abteilung konzentriert sich nun darauf, dass die Fähigkeiten der Mitarbeiter zur jeweiligen Stelle passen, um die geschäftlichen Ziele zu erreichen. Der Ingenieur in Bangalore hatte recht, aber es war nicht damit getan, sich auf die erstbeste Lösung zu stürzen. Juniper musste das Problem aus einem anderen Blickwinkel beleuchten. Junipers Topmanager versuchen, reflexartige Reaktionen zu vermeiden und fahnden nach größeren Konzepten und zugrunde liegenden Prinzipien. Sie suchen nach dem Dreh- und Angelpunkt eines Problems, wo eine Veränderung die größte Wirkung entfaltet. In diesem Fall engagierten sie Chris Ernst, David Gonzales und Courtney Harrison vom Center for Creative Leadership und stellten ein HR-Team zusammen, das das Personalwesen grundlegend überdenken sollte. Die Mitglieder dieses Teams analysieren gemeinsam Probleme – selbst solche, die auf den ersten Blick keine Personalprobleme sind oder unlösbar scheinen. Wer sich in das Problem verliebt und nicht in die Lösung, ist immun gegen den Enthusiasmus, der zu einem Sammelsurium an singulären Programmen und willkürlichen HR-Innovationen führen kann. Wenn diese grundlegende Geisteshaltung gegeben ist, besteht der richtige Ansatz in unseren Augen aus einem vierstufigen Prozess.

KOMPAKT DIE HERAUSFORDERUNG Personalchefs greifen gern innovative Erkenntnisse auf – coole, neue Forschungsergebnisse über Personalmanagement und Führung. Doch bevor sie jedem Trend folgen, müssen sie sich eine entscheidende Frage stellen: Wie können sie die besten davon auswählen und anschließend in ein für ihr Unternehmen stimmiges System eingliedern? DAS BEISPIEL Der Netzwerkausrüster Juniper Networks aus dem Silicon Valley holt regelmäßig neue Ideen ins Unternehmen und hat dafür einen eigenen Prozess geschaffen. Dieser besteht aus vier Elementen: Das Personalmanagement durchdringt zunächst das Geschäftsmodell, wählt dann die wertvollsten neuen Konzepte aus, passt sie dem eigenen Kontext an und misst schließlich die Wirkung. Mit diesem Ansatz macht Juniper seine eigenen HR-Programme immer unverwechselbarer.

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DAS GESAMTBILD SEHEN

Wie können Personalchefs entscheiden, welche zentralen Lösungen sie umsetzen sollen, und wie schaffen sie das am besten? Zunächst einmal müssen Sie sich einen Überblick über das Gesamtbild verschaffen, also über die Bedingungen und geschäftlichen Anforderungen, die den Rahmen für ihre Entscheidungen bilden. Juniper ist das vor sechs Jahren nach einer Identitätskrise gelungen. Als Start-up hatte das Unternehmen mit dem M40-Router die Netzwerkausrüstungsbranche revolutioniert; dieser Router hat großen Anteil daran, dass das Internet auf die heutige Größe ange-

IM GESAMTEN UNTERNEHMEN SIND AN KEINER ENTSCHEIDUNG MEHR ALS SECHS PERSONEN BETEILIGT.

wachsen ist. Juniper expandierte schnell, erweiterte sein Angebot und war extrem erfolgreich. Aber dann hatte das Unternehmen das Problem, sozusagen „zwischen den Stühlen zu sitzen“: Im Vergleich zum wichtigsten Wettbewerber war es winzig, aber gemessen an Nischenanbietern, von denen jeder nur eine einzige Lösung im Programm hat, war es wiederum breit aufgestellt. Gegen einen Wettbewerber, der in jedes Problem zehnmal so viel Geld, Zeit und Personal investieren konnte, hatte Juniper es schwer. Aber anders als die kleineren Konkurrenten hatte Juniper sich bereits auf End-to-End-Lösungen (Lösungen eines Anbieters – von der Idee bis zum fertigen Produkt – Anm. d. Red.) spezialisiert. Wollte das Unternehmen seine Geschäftsstrategie neu erfinden und weiter wachsen, brauchte es Innovationen. Und die Personalabteilung musste herausfinden, mit welchen Initiativen und Maßnahmen sie einen Personalbestand aufbauen konnte, der darauf besser vorbereitet war. Somit brauchte auch die Personalabteilung Innovationen. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist eine Initiative, die Juniper ein paar Jahre später startete, um zu prüfen, ob es das Gesamtbild noch richtig einschätzte. Manche hielten diese Initiative damals für Wahnsinn, aber das HR-Team war entschlossen, Einzelgespräche mit allen 150 Topmanagern des Unternehmens (einschließlich Chairman) und mit 100 weiteren Managern an Standorten in aller Welt zu führen. Dabei stellten die Perso50

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naler Fragen wie: Was sind die wichtigsten externen Probleme, mit denen Juniper momentan zu kämpfen hat? Wie sind Sie und Ihr Team davon betroffen? Was gefällt Ihnen an Junipers Geschäftsstrategie und Umsetzung am besten? Was bereitet Ihnen die größten Sorgen? Natürlich lief die Personalabteilung Gefahr, von jeder Menge Problemen zu hören, für die sie keine Lösung hatte. Die Gespräche förderten unangenehme Wahrheiten ans Tageslicht. Juniper hatte zu viele Silos und zu viele Prioritäten. Die Organisationsstruktur war kopflastig, und die Manager waren konfliktscheu. Das Unternehmen gestaltete seine Arbeitsabläufe übermäßig kompliziert, wo mehr Unabhängigkeit bei der Entwicklung von Lösungen für die Kunden gefragt gewesen wäre. Die Ergebnisse dieser Initiative gingen weit über Führungskräfteentwicklung und Leistungsmanagement hinaus. Sie veranlassten Juniper, Geschäftsbereiche auszugliedern, Abrechnungseinheiten aufzuschlüsseln und eine Integration durchzuführen, die es im Unternehmen noch nie gegeben hatte. Heute hat Juniper das einfachste Betriebssystem der Firmengeschichte. An keiner internen Entscheidung sind mehr als sechs Personen beteiligt. Juniper straffte auch die Produktlinien. Vorher waren viele Ressourcen mit mehreren Routern, Switches und Sicherheitsprodukten verknüpft. Jetzt deckt eine einheitliche Ressourcenstrategie den gesamten Produktfahrplan ab. Damit ersparte Juniper sich Kosten in Millionenhöhe und Kopfzerbrechen.

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DAS KONZEPT SUCHEN

Mit einem tief gehenden Verständnis ihres Geschäfts können Personalchefs den zweiten Schritt des Prozesses einleiten, nämlich die besten aktuellen Managementkonzepte suchen und mit den wesentlichen Elementen des eigenen Unternehmens verknüpfen. Juniper bringt für diesen Schritt beispielsweise seine Grundwerte, Leistungsbewertungen und die Neurowissenschaften zusammen. Ein weiteres Beispiel ist die Verbesserung des Kundenservices durch eine Analyse der Organisationsstruktur. Dadurch rückte die Personalabteilung ins Zentrum der betrieblichen Tätigkeit. Kommunikationsprobleme mit einem wichtigen Kunden hatten zu Fehlern und Qualitätsbedenken geführt. Die traditionelle Lösung hätte darin bestanden, sich auf die für diesen Kunden verantwortlichen Vertriebsmitarbeiter zu konzentrieren. Stattdessen beschäftigte sich das HR-Team mit einem spannenden Forschungsthema: nämlich der Idee, dass Unternehmen aus Netzwerken bestehen, nicht nur aus Hierarchien und Geschäftsbereichen. Es stellte sich heraus,


dass es an der Zusammenarbeit zwischen Geschäftsbereichen und Unternehmensfunktionen haperte. Es hätte wenig Sinn gemacht, die Mitarbeiter aufzufordern, kooperativer zu sein. Stattdessen musste Juniper die Kooperation an ein paar zentralen Knotenpunkten verbessern. Das würde tatsächlich etwas bewirken. Juniper beauftragte Rob Cross damit, das Organisationsnetzwerk zu analysieren. Er und das HR-Team wollten alle Mitarbeiter ermitteln, die in irgendeiner Art und Weise mit dem Kunden zu tun hatten. Sie sprachen mit ein paar Dutzend Schlüsselfiguren und ermittelten 344 Mitarbeiter. „Das kann nicht sein“, sagte der für das Projekt verantwortliche Executive Vice President. „Unmöglich, dass 344 Mitarbeiter für einen einzigen Kunden arbeiten.“ Daraufhin führte das Team eine formale Netzwerkanalyse durch. In gewisser Weise hatte der Manager recht: Es waren nicht 344 Mitarbeiter, die für diesen Kunden arbeiteten, es waren 920. Mit anderen Worten: Fast 10 Prozent der Belegschaft waren auf irgendeine Art und Weise daran beteiligt, diesen Kunden gut zu bedienen. Kein Wunder, dass dabei Zuständigkeiten überschritten wurden. Die Netzwerkanalyse lieferte einen belastbaren Beleg für etwas, das Junipers Gründer Pradeep Sindhu oft gesagt hatte: „Silos machen den natürlichen Wert von Netzwerken zunichte.“ Seitdem hat Juniper gelernt, natürliche Netzwerke als wesentlichen Bestandteil des Unternehmens zu begreifen. Entscheidend ist aber nicht die Netzwerkanalyse an sich, sondern was Juniper daraus gemacht hat. Bei einem anderen Kunden ging das Unternehmen einen Schritt weiter und deckte das informelle Netzwerk nicht nur auf, sondern optimierte es. Die Personalabteilung fungierte dabei als Berater des Kundenteams und steuerte in wöchentlichen Teamsitzungen systematisch Ergebnisse und Konzepte der Netzwerkanalyse zur Planung, Entwicklung und zum Informationsaustausch bei. Das Team begann, das interne Netzwerk zu nutzen, um erforderliches Wissen schneller zu beschaffen, Entscheidungsbefugnisse zu klären und Macht- oder Informationsengpässe zu beseitigen. Die Kundenbeziehung unterlag nicht mehr dem Herrschaftswissen einiger weniger Mitarbeiter, sondern war geprägt durch eine offene Kommunikation zwischen verschiedenen Unternehmensfunktionen und Hierarchieebenen bei Juniper und beim Kunden. Heute ist dieses Unternehmen Junipers größter Kunde in der Region Europa, Naher Osten und Afrika (EMEA) und hat vergangenes Jahr 135 Prozent des prognostizierten Umsatzes erbracht. Die Ergebnisse im Kundenservice sind sehr gut. Auf den ersten Blick hat das Unternehmen ein neues Konzept kennengelernt und umgesetzt. Die eigentliche Lektion besteht aber darin, dass ein Konzept erst dann

sein volles Potenzial entfaltet, wenn Sie über die naheliegenden Vorteile hinausdenken. Sorgen Sie dafür, dass Sie die Forschungsergebnisse wirklich verstehen. Schauen Sie sich die wissenschaftlichen Beweise an. Gehen Sie in die Tiefe. Dann werden Sie erkennen, wie Sie die Idee auf Ihre Situation übertragen können.

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BEHUTSAM UMSETZEN

Im nächsten Schritt geht es darum, die Erkenntnis mit anderen, bereits laufenden Initiativen vorsichtig zusammenzubringen. Das Wichtigste ist, dass große HRInnovationen maßgeschneidert sein müssen. Juniper hat sich bewusst von Best Practices verabschiedet. Der Netzwerkausrüster nimmt solche Standardempfehlungen vielmehr auseinander, ermittelt die zugrunde liegende Erkenntnis und passt diese den eigenen Bedingungen an – dem Klima, der Marke und den geschäftlichen Zielen. Dadurch kann und muss der Ansatz mit anderen Komponenten zusammenwirken, und das macht ihn noch wirkungsvoller. Sie können die nötigen Synergien ermitteln, wenn Sie etwa ein solches Konzept in einem fruchtbaren Bereich des Unternehmens als Prototyp einsetzen. Außerdem erbringen sie so einen Machbarkeitsnachweis. Sie können nicht erwarten, dass andere, denen Sie von einer Idee erzählen, diese sofort aufgreifen und umsetzen; die anderen müssen die Vorteile selbst sehen. Das Personalwesen spielt hier eine wichtige Rolle. Das Thema einer grenzüberschreitenden Führung nach dem Prinzip des sogenannten Boundary Spanning ist ein gutes Beispiel dafür, wie Juniper ein allgemeines Forschungskonzept an die eigenen Bedingungen angepasst hat. Das Boundary Spanning, das seinen akademischen Ursprung am Center for Creative Leadership hat, besagt, dass an unterschiedlichen Arten von Grenzen – horizontale, vertikale, demografische, geografische oder auch solche zwischen unterschiedlichen Interessengruppen – die eigentlichen Chancen und das Innovationspotenzial liegen. Chris Ernst entdeckte das Thema für Juniper. Aber grenzüberschreitend führen und zusammenarbeiten läuft dem Silo- und Konkurrenzdenken moderner Unternehmen zuwider. Um die Auswirkungen dieses Konzepts gründlicher zu untersuchen, beschloss Juniper, 85 Mitarbeiter aus Konstruktion, Vertrieb und Operations zusammenzubringen, die alle unterschiedliche Rollen, Hierarchieebenen, Standorte und Hintergründe aufwiesen. Anlass war ein interner Innovationswettbewerb. Die Teilnehmer arbeiteten in San Francisco drei Tage lang zusammen und sollten neue Produktideen entwickeln. Das Unternehmen machte aber keinen Hehl daraus, dass es OKTOBER 2015 HARVARD BUSINESS MANAGER

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noch eine andere Absicht hatte: Die Zusammenarbeit sollte zeigen, wie grenzüberschreitende Führung mit Junipers Lieblingsproblem zusammenhängt, dem Streben nach bahnbrechenden Innovationen. Diese maßgeschneiderte Netzwerk- und Motivationserfahrung veränderte, wie Juniper-Mitarbeiter (ein kleiner Querschnitt) die eigene Innovationsfähigkeit beurteilten. Aus dieser Kooperation entstand eine Produktidee, aus der binnen sechs Monaten ein Prototyp entwickelt wurde, der heute in Produktionsumgebungen in mehr als einem halben Dutzend Konzernen getestet wird. Natürlich führt nicht jede HR-Initiative oder jedes HR-Projekt zu einem geschäftlichen Ergebnis samt Machbarkeitsnachweis. Aber dieser Innovationswettbewerb bei Juniper hat gezeigt, wie wertvoll es ist, erste Entwicklungen einer neuen Idee mit neuen Prioritäten anzuwenden und in einem kleinen Rahmen zu testen, der schnell Erkenntnisse liefert. Sobald Sie ein Konzept in einem größeren Kreis verbreiten, ist Integration nötig. Alle Einzelideen, die Sie umsetzen, müssen ein stimmiges Gesamtsystem ergeben; es darf keine Elemente mit konkurrierenden Zielen geben, und alle müssen demselben Verständnis und derselben Vision folgen. Sie merken es, wenn die von Ihnen eingeführten Konzepte gut integriert sind, denn dann werden sie Verbindungen eingehen und sich auf ungeplante Weise gegenseitig verstärken. Als Rami Rahim Ende 2014 CEO wurde, kündigte er in seinen ersten 30 Tagen an, dass der Juniper Way (die Wertvorstellungen des Unternehmens samt den dazugehörigen Verhaltensweisen) wieder stärker in den Mittelpunkt rückt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich im Unternehmen bereits ein Bewusstsein für informelle Netzwerke und Boundary Spanning etabliert. Deshalb gab das Topmanagement den Juniper Way nicht von oben vor, sondern wandte sich an sogenannte Konnektoren, die auf informellen Wegen Einfluss nahmen und im Rahmen einer Netzwerkanalyse ermittelt worden waren. Rahim forderte sie auf, die Werte in einfache Worte zu fassen, sichtbare Verhaltensweisen daraus abzuleiten und anschließend im gesamten Unternehmen ein entsprechendes Bewusstsein zu schaffen. Dabei stellte sich heraus, dass die unterschiedlichen Konzepte der Personalabteilung sich bereits zu einem stimmigen Gesamtsystem zusammengefügt hatten.

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DIE WIRKUNG ÜBERPRÜFEN

Die HR-Kennziffern sind auch bei Unternehmen mit völlig unterschiedlichen Strategien oft sehr ähnlich. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, wie sehr die Wahl der Kennziffern das Verhalten der Mitarbeiter be52

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einflussen kann. Wir sind der Meinung: Wenn Sie Ihre Personalfunktion überdenken, müssen Sie berücksichtigen, wie Sie Fortschritte und Wirkungen messen. Die Personalabteilung muss bei allen Kennzahlen dafür sorgen, dass sie die Mitarbeiter dazu bringt, sich auf die wichtigsten geschäftlichen Faktoren zu konzentrieren. Es ist erfolgsrelevant, die wesentliche Wirkung zu bewerten. Dann ist das Erheben von Kennzahlen ein zukunftsgerichteter Lern- und Verbesserungsprozess und kein rückwärtsgewandter Beleg für Sieg oder Niederlage. Kennzahlen und Signale zeigen Ihnen, was funktioniert und was nicht, wo Sie nachjustieren oder mehr Fragen stellen müssen. Sie brauchen die richtige Einstellung und Mut, um zu experimentieren, zu korrigieren und gelegentlich danebenzuliegen. Wenn Sie Ihre neuen Initiativen gut umgesetzt haben, liefern sie vielleicht Anhaltspunkte und die Grundlage für neue Kennzahlen. Junipers Netzwerk- und Boundary-Spanning-Aktivitäten haben jene 5 Prozent der Mitarbeiter identifiziert, die als Konnektoren fungieren. Damit hatte Juniper die Grundlage für eine neue Kennzahl: Diese Mitarbeiter sind heute im System markiert, und wenn Mitglieder dieser Gruppe Juniper verlassen, startet die HR-Abteilung eine Ursachenanalyse. Um Fortschritte besser zu verstehen, müssen Unternehmen ihre Daten vielleicht auch aus einer anderen Perspektive betrachten. Achten Sie auf die Time-toRevenue (die Zeit, bis ein neues Produkt den ersten Umsatz generiert), auf Durchlaufzeiten, Produkteinführungen und Qualitätskennziffern. Berücksichtigen Sie diese Daten in Ihren Personalprozessen, Vergütungssystemen oder Lernzielen, und interpretieren Sie sie vor dem Hintergrund Ihrer großen Themen oder Schwerpunkte. Bei Juniper ist die Resonanz der Belegschaft auf das betriebliche Altersvorsorgeangebot des Unternehmens ein Gradmesser dafür, wie die Mitarbeiter das Unternehmen beurteilen – es ist ein Indikator für Firmenkultur und Werte. Die Personalabteilung wertet die Tatsache, dass 87 Prozent der Mitarbeiter dieses Angebot wahrnehmen – das ist eine der höchsten Teilnahmequoten bei einem Hightechunternehmen –, als Zeichen dafür, dass die Mitarbeiter an künftiges Wachstum glauben und überzeugt sind, dass sie und ihre Kollegen dieses Wachstum herbeiführen können. Die Investitionsrendite (ROI) eines neuen HR-Konzepts lässt sich nicht exakt ermitteln. Das heißt aber nicht, dass die Personalabteilung das Konzept nicht begründen kann oder dass sich die Wirkung des Konzepts nicht belegen lässt. Die logischen Verknüpfungen zwischen einer effektiven HR-Initiative und den gewünschten geschäftlichen Ergebnissen lassen sich durchaus aufzeigen. Konzentrieren Sie sich auf das, was Sie messen können, und greifen Sie da, wo Sie etwas nicht prä-


zise messen können, zu Hochrechnungen. Das macht jede andere Managementdisziplin genauso. Juniper hat erhebliche Veränderungen und Herausforderungen hinter sich, unter anderem drei CEOs in drei Jahren. 2014 startete das Unternehmen eine Mitarbeiterbefragung, die sich im Kern um drei Fragen drehte: Kennen Sie unsere Strategie? Wissen Sie, welche Rolle Sie bei deren Umsetzung haben? Fühlen Sie sich motiviert und dafür verantwortlich, dem Unternehmen bei der Umsetzung zu helfen? Auf keine dieser Fragen antworteten auch nur 50 Prozent der Beschäftigten mit Ja. Deshalb schickte Juniper seine Topmanager auf eine Roadshow, bei der sie Teams in aller Welt die Details der Strategie erläuterten. Anschließend sollten die Konnektoren kleine Strategiediskussionsrunden im Kollegenkreis organisieren. Vier Monate nach der ersten Mitarbeiterbefragung ergab eine zweite Umfrage bei allen drei Fragen mehr als 80 Prozent Ja-Antworten.

FAZIT Sich einen Ruf als innovative HR-Abteilung zu erwerben ist eine Gratwanderung Sie sind keine F&E-Einrichtung oder Universität, und Sie beschäftigen keinen großen Kader an Sozialwissenschaftlern und Datenforschern. Ihre Ideen entstammen häufig öffentlichen Gesprächen und Artikeln. Wenn Sie zu viele davon übernehmen oder zu oberflächlich umsetzen, heißt es, Sie folgten jeder Mode. Tauchen Sie tiefer ein, und schauen Sie sich die wissenschaftlichen Untersuchungen und Ergebnisse an; dann können Sie die Voraussetzungen schaffen, dass Ihre Konzepte Wirkung zeigen. Keine Innovationen zu entwickeln ist keine Option. Deshalb brauchen Sie einen eigenen Prozess, um neue Konzepte ins Unternehmen zu holen. Junipers Methode könnte auch Ihnen helfen: das Gesamtbild sehen, Erkenntnisse ermitteln, intelligent anwenden und die geschäftliche Wirkung gewährleisten. Juniper hat dieser Prozess geholfen, von einem Sammelsurium aus Einzelprogrammen und unzusammenhängenden Experimenten wegzukommen und ein System aufzubauen, das sich ständig weiterentwickelt – mit spannenden Innovationen, die zum Unternehmen passen. Es ist nichts dagegen einzuwenden, von den Erkenntnissen einer Vordenkerindustrie begeistert zu sein. Sie bieten neue Lösungen und können Sie motivieren, Ihre Annahmen zu hinterfragen. Entscheidend ist, dass Sie sich Ihre langfristige Liebe zu den für Sie relevanten Problemen und zu Ihrem Unternehmen bewahren. Dass Sie den richtigen Ansatz haben, erkennen Sie daran, dass Ihre HR-Programme immer weniger mit den Programmen der Wettbewerber gemeinsam haben und immer mehr zu Ihrer Differenzierung beitragen. Dann wird Ihr System mit jedem Jahr individueller.

SERVICE LITERATUR ANN RHOADES: Built on Values: Creating an Enviable Culture That Outperforms the Competition, Jossey-Bass 2011. HBM ONLINE JOACHIM ROTZINGER, MARC STOFFEL: Gelebte Demokratie, in: Harvard Business Manager, Juli 2015, Seite 42, Nachdrucknummer 201507042. JOACHIM HASEBROOK, MAREN SINGER: Exzellenz zahlt sich aus, in: Harvard Business Manager, März 2015, Seite 18, Nachdrucknummer 201503018. NACHDRUCK Nummer 201510046, siehe Seite 102 oder www.harvardbusinessmanager.de © 2015 Harvard Business Publishing

JOHN BOUDREAU ist Professor für Management und Organisation an der USC Marshall School of Business in Los Angeles und Forschungschef des Center for Effective Organizations. STEVEN RICE war seit neun Jahren Personalleiter bei Juniper Networks, als er an diesem Beitrag mitwirkte. Heute ist er Personalchef bei der Bill & Melinda Gates Foundation.

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MEHR ZUM THEMA

BÜCHER

NELE GRAF (HRSG.) Innovationen im Personalmanagement Springer Gabler 2015 393 Seiten 39,99 Euro Auch wenn vielerorts lautstark geklagt wird – es ist ja nicht so, dass sich in den Personalabteilungen deutscher Unternehmen gar nichts tun würde. Als Moderatorin des HR Innovation Slams – des Ideenwettbewerbs der Branche – kennt Nele Graf etliche HR-Innovationen. Die Professorin für Personalmanagement und Herausgeberin dieses Buches lässt Experten und Praktiker in kurzen Fachartikeln zu Themen wie Personalentwicklung und -bindung, Assessment, Recruiting und Employer Branding zu Wort kommen. Der Leser kann einige Ideen zur Gestaltung der HR-Arbeit mitnehmen und die Gewissheit, dass sich in deutschen Unternehmen einiges ändert.

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ARMIN TROST Unter den Erwartungen Wiley 2015 223 Seiten 34,99 Euro Armin Trost mag klare Worte. In seinem neuesten Buch knöpft sich der Professor für Human Resources das Mitarbeitergespräch vor: „Es ist naiv zu glauben, man könne ungeachtet unternehmensinterner Rahmenbedingungen und mit einem einzigen Instrument Mitarbeiter motivieren, Lernen durch Feedback fördern, Leistungsstarke von Leistungsschwachen differenzieren, Talente identifizieren, das Unternehmen steuern, Mitarbeiter binden, Personal entwickeln, interne Eignung feststellen und Perspektiven aufzeigen.“ Dieser Satz macht deutlich, wie sehr dieses Gespräch mit Erwartungen überfrachtet wird, die gerade in einer agilen Arbeitswelt uneinlösbar scheinen und bisweilen toxisch wirken können. Und doch steckt Potenzial in den Gesprächen, Trost deckt die Vorteile auf.

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WERNER WIDUCKEL ET AL. (HRSG.) Arbeitskultur 2020 Springer Gabler 2015 583 Seiten 49,99 Euro Auch dieses Buch macht Mut, denn es zeigt, dass der vielfach angemahnte Perspektivwechsel in der Arbeitswelt mancherorts bereits Realität ist. Wissenschaftler, Unternehmens- und Personalleiter sowie Verbandsvertreter liefern in etlichen Beiträgen verschiedene Sichtweisen, Ergebnisse oder auch Erfahrungen zum Wandel der Erwerbsarbeit. Ob Herausforderungen wie Diversity und demografischer Wandel, vertrauensbasierte Führung in der künftigen Arbeitskultur oder die veränderte Beziehung zwischen Arbeit und Lernen – kaum ein aktuelles Thema bleibt unberührt.

GUNTER DUECK Aufbrechen! Eichborn 2010 223 Seiten 19,95 Euro Gunter Dueck schrieb sein Buch „Aufbrechen!“ bereits vor fünf Jahren. Damals plädierte er für mehr Bildung als einzigen Ausweg aus dem sterbenden Dienstleistungszeitalter. Heute ersetzen tatsächlich immer öfter Maschinen den Menschen bei der Arbeit, doch auf dem Weg in eine Exzellenzgesellschaft befinden wir uns noch nicht. Schlimmer: nennenswerte Bildungsinitiativen oder vernünftige Reformen der Bildungseinrichtungen fehlen. Duecks Traum von einem Hochbildungsland ist immer noch nicht Realität geworden. Aber noch hat jeder – auch Personalchefs – die Chance, Weiterbildung einen großen Stellenwert einzuräumen. Denn die von Dueck aufgeworfene Kernfrage ist aktueller denn je: „Wo gibt es heute gut bezahlte, interessante und erfüllende Arbeit?“


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STUDIEN VOLKER JACOBS Fehlender Bezug zum Business April 2015, Seite 10 Nachdrucknummer 201504010 Viele Personalleiter glauben, dass ihnen mehr Analysetechnik zu einer größeren Akzeptanz in der Geschäftsleitung verhilft. Doch die meisten Topmanager vertrauen lieber ihrem Bauchgefühl statt den präsentierten Zahlen. RAM CHARAN Personalchefs an die Spitze März 2015, Seite 12 Nachdrucknummer 201503012 Wenn es um die Besetzung der CEOPosition geht, denkt bislang kaum jemand an den Personalvorstand. Zu Unrecht, wie eine neue Studie zeigt. Denn Chief Human Resources Officers bringen genau das mit, was ein Unternehmenschef können muss. SASCHA HAGHANI Feuern ist keine Lösung Februar 2015, Seite 82 Nachdrucknummer 201502082 In der Krise werden Mitarbeiter entlassen, im anschließenden Aufschwung händeringend gesucht. Schluss mit diesem Kurzfristdenken, fordert Sascha Haghani, Deputy CEO von Roland Berger. Die Personalarbeit muss nachhaltiger werden. EVA BILHUBER GALLI, GÜNTER MÜLLER-STEWENS Personaler ohne Mehrwert? Dezember 2014, Seite 92 Nachdrucknummer 201412092 Viele Topmanager sind enttäuscht darüber, was zentrale HR-Bereiche zur

Zukunftssicherung des Unternehmens beitragen. Die Autoren entwickeln drei Szenarien für die weitere Entwicklung der zentralen Personalfunktion: abschaffen, aufteilen oder neu erfinden. MATT MULLENWEG Erst zur Probe, dann ins Team Mai 2014, Seite 44 Nachdrucknummer 201405044 Beim Wordpress-Entwickler Automattic müssen sich neue Mitarbeiter vor der Einstellung in mehrwöchigen Probejobs bewähren. CEO und Gründer Matt Mullenweg erklärt, warum das beiden Seiten Vorteile bringt. BENEDIKT HACKL, FABIOLA GERPOTT Was machen eigentlich Ihre Personaler? Februar 2014, Seite 6 Nachdrucknummer 201402006 Moderne Human-Resources-Manager folgen häufig dem Businesspartner-Modell: Sie verstehen sich als Partner der Geschäftsführung. Doch das ist nicht unbedingt richtig, wie eine Studie zeigt. ANDREW MCAFEE, ERIK BRYNJOLFSSON Besser Entscheiden mit Big Data November 2012, Seite 22 Nachdrucknummer 201211022 Erfahrung und Intuition spielen bei vielen Fragen im Management eine große Rolle. Mit der Möglichkeit, unvorstellbar große Datenströme auszuwerten, verliert das Bauchgefühl seine Berechtigung. Entscheidungen werden auf einer solideren Basis getroffen, und die Leistung des Unternehmens verbessert sich.

In jüngster Zeit sind einige große Studien von Beratungen erschienen, die sich mit der Zukunft des Personalwesens befassen. In der Studie „CEOs and CHROs: Crucial Allies and Potential Sucessors“ von Korn Ferry geht es um die Rolle des obersten Personalers (bit.ly/1BaK3Ks). Accenture erklärt in „Trends Reshaping the Future of HR“ die Disruption durch die digitale Entwicklung (http://bit.ly/1NqB79Y). BCG rückt in „Creating People Advantage 2014-2015“ die wachsende Bedeutung von HR im Unternehmen in den Mittelpunkt (http://on.bcg.com/1BsxSJ1). FILME Auf den weltweiten TED-Konferenzen werden ständig neue Methoden, Ansätze und Perspektiven zu verschiedensten Themen vorgestellt. Für Personaler ist eine Menge dabei, zum Beispiel die Vorträge von Software-Entrepreneur Jason Fried über flexible Arbeitsorganisation (http://bit.ly/1eoG2Ul) und von BCG-Partner Rainer Strack über die Krise der Arbeitswelt (http://bit.ly/1w2MZsd); oder die legendäre Rede von Steve Jobs an der Stanford University (http://bit.ly/1gOdsfG). BLOGGER Es tut sich schon einiges in der deutschen HR-Szene, man muss nur einen Blick auf die Beiträge der führenden HR-Blogger werfen. Sie diskutieren jeden Trend und jede Entwicklung, von Themen wie Barcamps und Active Sourcing bis hin zu Big Data oder Candidate Experience. Persoblogger.de liefert eine sehr gute Zusammenstellung der HR-Blogger-Szene: http://bit.ly/1Dtm8JP

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STRATEGIEN UNTERNEHMENSKULTUR I

LEITBILDER RICHTIG ENTWICKELN Wer sich nicht über Sinn und Zweck eines Leitbildprozesses im Klaren ist, kann viel Schaden anrichten – sowohl bei den Mitarbeitern als auch bei den Lieferanten und Kunden. Eine Anleitung, wie Unternehmen die sieben häufigsten Fehler vermeiden können. VON STEFAN KÜHL, HANSJÖRG MAUCH UND CHRISTOPH NAHRHOLDT

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mmer neue Korruptionsfälle und zuletzt der Spontanrücktritt des Präsidenten Joseph Blatter machen den Weltfußballverband Fifa zum ständigen Gegenstand medialer Moraldebatten. Kernpunkt der Kritik ist, dass es sich bei den Bestechungs- und Unterschlagungsvorfällen nicht etwa um einmalige Ausreißer handelt. Führende Fifa-Funktionäre haben vielmehr planvoll und regelmäßig gegen das eigene Leitbild – den Code of Ethics – verstoßen, ohne dass es zu Konsequenzen in der Organisation geführt hätte. Das macht deutlich: Das Leitbild ist bei der Fifa offenbar nur Makulatur. Es soll der Außenwelt suggerieren, dass der Verband das Problem nachhaltig angeht. Dafür statuiert dieser in Einzelfällen medienwirksam ein Exempel. Das korrupte System aber, das für die Wahl von Funktionären und die Entscheidungen über Austragungsorte von Weltmeisterschaften verantwortlich ist, läuft ungestört weiter. Als Folge verliert ein derart instrumentalisiertes Leitbild seine Glaubwürdigkeit bei Mitarbeitern und Öffentlichkeit gleichermaßen. Dieses Schicksal kann auch Unternehmen ereilen, die sich hehre Ziele setzen und dann regelmäßig dagegen verstoßen. Wir zeigen in diesem Beitrag Wege auf, wie Manager klassische Fehler bei der Leitbildentwicklung vermeiden und Leitbildprozesse für eine bessere Verständigung in ihrer Organisation nutzen können. Schätzungen zufolge besaßen bereits um die Jahrtausendwende mehr als 85 Prozent aller US-Unternehmen einen solchen Wertekanon. Heute wird der Anteil wohl eher noch größer sein. Und wir gehen davon aus, dass Leitbilder in Deutschland ähnlich weitverbreitet sind.

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Sogar Verwaltungen, Universitäten, Krankenhäuser, Armeen, Gefängnisse und Nichtregierungsorganisationen bieten ihren Mitarbeitern, Kunden und Lieferanten heute Leitbilder an. Für deren Popularität gibt es viele Gründe. Leitbilder sollen auf abstrakte Weise ausdrücken, wie sich Mitarbeiter und Organisation verhalten sollen. Damit bieten sie Orientierung, ohne genaue Vorgaben zu machen. Sie legitimieren Entscheidungen des Managements. Und drücken aus, was die Empfänger der Leistungen – die Kunden der Unternehmen, die Kranken in den Krankenhäusern oder die Gefangenen in den Gefängnissen – von einer Organisation erwarten können. Nicht selten sollen Leitbilder wahre Wunder bewirken: Die Mitarbeiter identifizieren sich mit dem Arbeitgeber und leisten mehr, die Abstimmungskosten sinken, und die Effizienz steigt. Studien besagen, dass bei Unternehmen mit einem starken Leitbild die Kundenzufriedenheit um 16 Prozent über und die Mitarbeiterfluktuation um 32 Prozent unter dem Marktdurchschnitt liegt. Der Return on Investment sei um 29 Prozent höher als bei Wettbewerbern ohne Leitbild. Doch seit einiger Zeit mehrt sich Kritik. Eine wachsende Zahl von Managern und Mitarbeitern fordert, sich auf die wirklich wichtigen Unternehmensangelegenheiten zu konzentrieren. Häufig unbemerkt vom Topmanagement, reagieren die Beschäftigten – und nicht selten auch Kunden und Zulieferer – mit Zynismus, wenn sie mit dem Leitbild einer Organisation konfrontiert werden. So kommentierten die Mitarbeiter in der Fertigung eines Automobilkonzerns mit feiner Ironie die An-


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ILLUSTRATION: BIRGIT LANG FÜR HARVARD BUSINESS MANAGER


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weisung, dass sie das neue Leitbild stets auf einer Plastikkarte in ihrem Blaumann bei sich zu tragen haben. Angehörige der Deutschen Marine, die sich neuerdings einem Wertekanon verpflichtet sehen, rezitierten in Seminaren mit ironischem Unterton das Leitbild, dass ihnen die Militärführung mitgegeben hatte. Als die Sparte eines Elektronikkonzerns Entlassungen mit der Propagierung eines Vertrauensleitbildes begleitete, fühlten sich auch die noch verbliebenen Beschäftigten auf den Arm genommen. Leitbilder sind eine sensible Angelegenheit. Nicht weil sie verheerende Auswirkungen auf das operative Geschäft haben könnten. Sie sind viel zu abstrakt, als dass eine Organisation an den daraus abgeleiteten Handlungen zugrunde gehen könnte. Das Risiko besteht in den deklarierten Werten. Moralvorstellungen, die ein Unternehmen für sich in Anspruch nimmt, wecken bei den Adressaten Zweifel, ob es diese nicht schnell wieder vergisst, wenn es hart auf hart kommt. Die Gefahr einer zynischen Reaktion entsteht, wenn Unternehmen bei der Leitbilderstellung einen der folgenden sieben Fehler begehen: ■ Die Geschäftsführung weckt die Illusion, das Leitbild sei Ausgangspunkt für Strategien und für alle operativen Entscheidungen. ■ Das Topmanagement entwirft das Leitbild allein und setzt es dann von oben herab durch. ■ Das Leitbild reiht verbrauchte Formulierungen wie Kundenorientierung, Nachhaltigkeit oder Teamarbeit aneinander. ■ Eine Vielzahl harmonistischer Formeln verdeckt die Widersprüche in der Organisation. ■ Das Unternehmen formuliert Wunschvorstellungen einer Zukunft, die mit dem Alltag nichts zu tun hat. ■ Das Leitbild soll für alle – Mitarbeiter, Aktionäre, Medien, Lieferanten und Kunden – akzeptabel sein, was zur Verwässerung führt. ■ Der Schwerpunkt liegt nicht auf der Erstellung, sondern auf der Verkündung des Leitbildes. Im Folgenden beschreiben wir, warum diese sieben Fehler geschehen und wie Organisationen sie vermeiden können. Wir stützen uns dabei auf die langjährige Erfahrung, die wir bei der Beratung von Unternehmen, Verwaltungen, Universitäten, Krankenhäusern und Non-Profit-Organisationen gesammelt haben.

ERSTER FEHLER: Die Strategie aus dem Leitbild ableiten Lange Zeit sahen Manager im Leitbild den Ausgangspunkt für alle weiteren Entscheidungen. Am Anfang steht dieser Ansicht nach die Formulierung einer Vision von der künftigen Rolle der Organisation. Das Leitbild spezifiziert dann die Werte und die Verhaltens58

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weisen. Auf dessen Basis soll das Management strategische Ziele ausarbeiten, die mit einer Maßnahmenliste zur Umsetzung abschließen. Jede Stufe, so die Vorstellung, liefere der nächsttieferen Orientierung. Dieses kaskadenförmige Denken spiegelt sich in vielen Managementkonzepten wider. Bei der Balanced Scorecard leiten sich die zu messenden Kennzahlen aus der Vision und der Mission ab. Beim Kreislaufmodell zur Strategieentwicklung – dem Closed-Loop Management System – steht die Ausarbeitung eines „Vision Statements“, eines „Mission Statements“ und eines „Value Statements“ am Anfang jeder strategischen Überlegung. Und bei Qualitätsmodellen wie dem EFQM-Modell ist das Leitbild Grundlage für die Umsetzung der Qualitätsanforderungen. Auf den ersten Blick hat diese Vorgehensweise Charme, weil sie ein hohes Maß an organisatorischer Stringenz suggeriert. Wie in einer Maschine greifen angeblich alle Prozesse ineinander. Das Modell befriedigt die Steuerungshoffnungen von Managern, die glauben, dass sich alle Entscheidungen aus grundlegenden Überlegungen ableiten lassen. Die Realität sieht anders aus. Nicht selten bestimmen Unternehmen zuerst die strategischen Stoßrichtungen. Die Leitbilder werden nachträglich erstellt, um den Eindruck einer durchgängigen Logik zu vermitteln. Häufig biegen die Verantwortlichen dann die Zusammenhänge zwischen Visionen, Missionen, Strategien und Praktiken mühsam verbal zurecht. Aber weder die Ableitung der Strategie aus dem Leitbild noch die Ableitung des Leitbilds aus der Strategie sind unserer Erfahrung nach sinnvoll. Manager sollten sich vielmehr zunutze machen, dass Strategie und Leitbild nicht miteinander gekoppelt sein müssen. Das Ziel der Leitbilderstellung besteht darin, weitgehend befreit von der organisatorischen Realität Missionen, Visionen und Werte zu erarbeiten. Die Strategieentwicklung sollte davon größtenteils unabhängig zentrale Organisationsentscheidungen zum Thema haben. Diese Entkopplung ist wichtig, weil Leitbilder, die an das Wertgebäude der Organisation appellieren, und die strategischen Ziele unterschiedliche Funktionen erfüllen. Unternehmen müssen, so der schwedische Ökonom Nils Brunsson, nicht nur „Entscheidungen“ in Form von Strategien produzieren, sondern auch Konzepte, über die gesprochen werden muss – genannt „Talk“ – etwa in Form von Leitbildern. Dieses „geschönte Gerede“ ist notwendig, damit die Organisation die vielfältigen Ansprüche ihrer Mitarbeiter, Kooperationspartner und Kunden befriedigen kann, ohne dass sich das auf die eigentlichen Entscheidungsprozesse auswirkt. Von Strategien sprechen wir, wenn Organisationen ihr Handeln am Erreichen spezifizierter Ziele ausrich-


ten und Verantwortliche mit Sanktionen zu rechnen haben, wenn sie diese Vorgaben nicht erfüllen. Leitbilder sind abstrakter. Zwar liefern sie über die formulierten Werte Handlungsvorgaben, diese sind aber interpretationsbedürftig. Sie lassen offen, welche Handlung gegenüber einer anderen zu bevorzugen ist. Ob ein Mitarbeiter wie in einem Leitbild gefordert für eine Innovation einen Fehler riskiert oder sich für den sicheren, aber weniger innovativen Weg entscheidet und ein zuverlässiges Produkt abliefert, wird durch das Leitbild nicht bestimmt. In einem von uns begleiteten Projekt im Motorenwerk eines Automobilkonzerns entschied sich das Management, das Prinzip der „Selbstregulation“ ins Leitbild aufzunehmen – die selbstverantwortliche Steuerung der Wertschöpfungsarbeit. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass zwischen allen Beteiligten Klarheit darüber bestünde, was damit gemeint ist: im Montagebereich die planerischen und kontrollierenden Funktionen mit den operativen Funktionen zu verbinden und in eine Hand zu legen. Doch die verschiedenen Akteure nutzen das Leitbild unterschiedlich. Die Geschäftsleitung legitimiert hiermit den Abbau indirekter Tätigkeiten; der Betriebsrat bezieht sich darauf, um weniger Hierarchien einzufordern; Abteilungsleiter berufen sich darauf, um Aufgabenverlagerungen und Zuständigkeitsgewinne durchzusetzen. Genau diese Orientierung kann ein Leitbild vorgeben. Die letztendliche Entscheidung jedoch folgt aus der Strategie.

KOMPAKT SPANNUNG STATT HARMONIE Die Leitbilder vieler Unternehmen gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Das nimmt ihnen die Wirkung und ruft im besten Fall Heiterkeit, im schlechtesten Fall Zynismus bei Mitarbeitern und Kunden hervor. Es geht bei Leitbildern nämlich nicht darum, möglichst wohlklingende Wertvorstellungen zu formulieren, denen alle zustimmen. Sie sollen vielmehr Orientierung bieten und auch Spannungsfelder aufzeigen. DER WEG IST DAS ZIEL Eines der größten Missverständnisse betrifft den Zweck eines Leitbildes. Dieser liegt nicht in der Verkündung eines abgestimmten Wertekanons, sondern im Erstellungsprozess an sich. Eine Faustregel lautet: Unternehmen sollten vier Fünftel des Budgets, der Zeit des Managements, der Stabsstellen und der externen Dienstleister für die Leitbildentwicklung aufwenden. Nur ein Fünftel entfällt auf die Nacharbeit – das Feilen an den Formulierungen, den Entwurf der Imagebroschüre, das Drucken sowie Informations- und Folgeveranstaltungen.

ZWEITER FEHLER: Mitarbeiter nicht einbeziehen Die Initiative für ein Leitbild geht fast immer von der Unternehmensspitze aus, weil sich die Chefetage für dessen Reputation zuständig fühlt. Geht es daher um eine Entscheidung für oder gegen einen Leitbildprozess, dann ist das Topmanagement meistens bereit, dafür Geld in die Hand zu nehmen, während das mittlere Management, das in das operative Geschäft eingebunden ist, häufig Zweifel äußert. Viele Leitbildprozesse werden deshalb zur Chefsache erklärt. Bei Fusionen ist dies oft zu beobachten: Die neue Organisationsspitze zieht ein fertiges Leitbild aus der Tasche und präsentiert es der Belegschaft – in dem Glauben, dass sie darüber die Integration vorantreibt. Ein Beispiel ist die im Nachhinein gescheiterte Fusion von Daimler und Chrysler. Das Topmanagement gab damals zu Beginn ein Leitbild vor, das die Mitarbeiter aber nicht mit ihrer Betriebsrealität in Verbindung bringen konnten – sie waren an der Erstellung ja auch gar nicht beteiligt gewesen. Während es bei Strategien sinnvoll sein kann, diese im kleinen Kreis zu entwickeln und dann für die gesamte Organisation verbindlich zu maOKTOBER 2015 HARVARD BUSINESS MANAGER

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chen, ist diese Vorgehensweise bei Leitbildern kontraproduktiv. Weil nur der Chef und die zuständige Stabsstelle die Inhalte kennen, müssen sie die Mitarbeiter in Nachhinein mit teuren Werbekampagnen darüber informieren oder in Seminaren die Prinzipien erklären. Doch wie kann ein Unternehmen die von der Zentrale ausgehenden Initiativen und die Beteiligung der Mitarbeiter miteinander verknüpfen? Was muss die Chefetage leisten, was die Belegschaft? Und in welcher Form sollte das Management die Diskussion organisieren? In unserer Arbeit hat sich eine fünfschrittige Vorgehensweise bewährt, in der wir zwischen der Beteiligung weniger und der Beteiligung vieler hin- und herwech-

WEIL LEITBILDER HÄUFIG ALLGEMEIN AKZEPTIERTE WERTE BEDIENEN, KLINGEN SIE BEI VIELEN UNTERNEHMEN GLEICH.

seln. Wir unterscheiden zwischen einer Sondierungsphase, in der es zu klären gilt, welche Wahrnehmungen in der Organisation und in der Geschäftsleitung vorherrschen, und einer Phase, in der das Management seine Vorstellungen formuliert und zur Diskussion stellt. PHASE 1: Das Topmanagement entscheidet mit Vertretern der mittleren Leitungsebenen in einem eintägigen Workshop mit acht bis zehn Personen, ob die Organisation einen Leitbildprozess haben möchte. Die Teilnehmer geben ihre Einschätzung auf einer Skala von „++“ über „+“ und „-“ bis „- -“ ab. Ziel ist nicht, über das Vorhaben abzustimmen, sondern ein Meinungsbild zu erstellen, auf dessen Basis das Topmanagement entscheiden kann. Die Teilnehmer klären auch, mit welchem Ziel und unter welchem Namen der Prozess stattfinden soll. Weil der Begriff „Leitbild“ oft schon verbraucht ist, bieten sich auch Bezeichnungen wie „Selbstverständnis“, „Kompass“ oder „Mission“ an. PHASE 2: Die zweite Phase bezieht die Belegschaft ein. Dabei reicht eine Beteiligung von 15 Prozent der Mitarbeiter, um eine Diskussion in Gang zu setzen. Wir veranstalten meist eine Reihe von etwa einstündigen Workshops mit 10 bis 15 Mitarbeitern. Darin holen wir die Meinung zur Situation der Organisation über vorher definierte Eckpfeiler ein (Ist-Positionierung). Manche Fragen, etwa wo die Mitarbeiter die Organisation strategisch verorten, standardisieren wir, sodass wir in der folgenden Phase aggregierte Zahlen vorliegen haben. Schließlich führen wir mit den leitenden Managern Einzelgespräche, wobei wir sie auch nach der gewünschten künftigen Positionierung des Unternehmens fragen (Soll-Positionierung).

ILLUSTRATION: BIRGIT LANG FÜR HARVARD BUSINESS MANAGER

PHASE 3: An der dritten Phase ist nur das obere Management beteiligt. In einem halbtägigen Workshop stellen wir die Ergebnisse aus der Sondierung vor und arbeiten die Kernaussagen für die Positionierung heraus. Viele Unternehmen beenden hier die Leitbildentwicklung und teilen die Ergebnisse den Mitarbeitern in einer Broschüre mit. Die folgende Konzepterarbeitungsphase jedoch ist für den Erfolg unerlässlich. PHASE 4: In der vierten Phase stellen wir die erarbeiteten Kernaussagen bei den Mitarbeitern zur Diskussion. Je ein Vertreter des oberen Managements nimmt an vier bis fünf einstündigen Workshops mit etwa 15 Personen aus unterschiedlichen Abteilungen teil. So entsteht ein Gespräch zwischen Führungsspitze und Mitarbeitern über die Ist- und Soll-Situation der Organisation, bei dem die Kernaussagen einem Realitätscheck unterzogen werden. 60

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PHASE 5: In der fünften Phase stimmt das Topmanagement über das Leitbild ab. Wenn es Kontroversen über einzelne Formulierungen gibt, kann hier noch einmal eine Debatte entstehen. Der gesamte Prozess zieht sich etwa über ein Jahr hin. Ein Stabsmitarbeiter sollte während dieser Zeit das Verfahren verantworten.

DRITTER FEHLER: Unspezifische Werte aufführen Weil Leitbilder häufig allgemein akzeptierte Werte bedienen, klingen sie bei vielen Organisationen gleich. Fast alle fordern einen „Fokus auf den Kunden“, loben die „Mitarbeiter als wichtigste Ressource“ und zelebrieren die „Verantwortung für die Gesellschaft“. Häufig finden sich auch Managementmoden wieder. Früher lasen wir häufiger von „Total Quality Management“, darauf gab es Bekenntnisse zu „Lean Management“ und schließlich Selbstbeschreibungen wie „lernende Organisation“ oder „wissensbasierte Unternehmung“. Diese Prinzipien sollen Legitimität produzieren. Davon erwarten sich Unternehmen Akzeptanz von der Politik, den Medien oder der Gesellschaft. Doch diese Vorgehensweise birgt ein hohes Risiko: Je mehr Organisationen sich zu den gleichen Werten bekennen, desto mehr geht ihr eigener Charakter verloren. Das langjährige Leitbild des Halbleiterherstellers Infineon etwa listete auf: „Der Erfolg unserer Kunden ist das Ziel unseres Handelns“, „Tatendrang und Tatkraft bestimmen unsere Aktionen“, „Wir gestalten aktiv unsere Zukunft und nehmen dabei Herausforderungen und Risiko mit Zuversicht an“ und „Ergebnisse und Höchstleistungen sind Triebfedern unseres Handelns und Entscheidens“. Solche Aussagen würde wohl jedes Unternehmen unterschreiben. Wir haben beim Lesen von Leitbildern oft den Eindruck, dass jemand diese einfach irgendwo kopiert hat. Das schafft weder Orientierung für die Mitarbeiter noch Legitimation: Ein Leitbild, das sich nicht die Mühe macht zu sagen, was der besondere Beitrag einer Organisation ist, kann keine Legitimität erzeugen. Der Anteil an allgemeinen Wertbekenntnissen sollte so gering wie möglich sein. Auf das „Befolgen von Gesetzen“, den „Schutz der Umwelt“ oder die „Orientierung am Kunden“ können viele Unternehmen in Westeuropa oder Nordamerika in ihren Leitbildern verzichten. Anders sieht es nur dort aus, wo eine solche Praxis nicht normal ist. Für einen deutschen Elektronikkonzern, der sich in der Vergangenheit Aufträge in Lateinamerika, Asien und Afrika über Bestechungsgelder gesichert hat, kann es sehr wohl angesagt sein, sich offensiv und ausführlich in einem Leitbild zum „Verzicht auf Bestechung“ zu bekennen. Bei einem nordamerikanischen Unternehmen wie der United Fruit Company,

die im Ruf stand, sowohl Diktaturen zu unterstützen als auch für Umweltzerstörungen verantwortlich zu sein und die Gesundheit ihrer Mitarbeiter zu gefährden, mag das Bekenntnis zu Demokratie, Umweltund Gesundheitsschutz für die Angestellten und für externe Beobachter eine wichtige Information sein. Die Formulierungen sollten die Eigenarten der Organisation wiedergeben. Um das zu überprüfen, setzen wir in unserer Arbeit verschiedene Fragen ein: 1. WORAN ERINNERN SIE SICH? Gerade bei Unternehmen, die bereits ein Leitbild haben, ist es interessant, Mitarbeiter zu fragen, an welche Aspekte sie sich erinnern. Häufig ist es schon aufschlussreich, wenn ein Topmanager ein paar Jahre nach der Erstellung einigen Beschäftigten diese Frage stellt. Meist ist wenig hängengeblieben. Bei dem erwähnten deutschen Automobilkonzern stellte sich heraus, dass sich mehrere Mitarbeiter in der Produktion an keinen Aspekt ihres Leitbildes erinnern konnten – obwohl sie verpflichtet waren, die Kurzfassung als Plastikkarte mit sich zu führen. 2. UNTERSCHEIDEN WIR UNS VON DER KONKURRENZ? Aus dem Vergleich mit vier oder fünf Leitbildern von Unternehmen der gleichen Branche lassen sich einige Schlussfolgerungen ziehen. Dafür entnehmen wir diesen Leitbildern – und dem erarbeiteten eigenen – die Kernaussagen, anonymisieren die jeweilige Organisation und legen die unterschiedlichen Versionen den Mitarbeitern vor. Wenn es diesen nicht gelingt, das eigene Unternehmen zu identifizieren, ist dies ein deutliches Zeichen, dass es nachzubessern gilt. Gerade im Einzelhandel sind die Leitbilder kaum voneinander zu unterscheiden. Es scheint eine große Herausforderung zu sein, die Eigenheiten von Unternehmen wie Aldi, Lidl oder Penny herauszuarbeiten. 3. WAS WOLLEN WIR NICHT SEIN? Es fällt Organisationen leicht, zu benennen, wie sie gern wahrgenommen werden wollen. Schwer fällt es, auf positive Beschreibungen zu verzichten. Doch das ist nötig, um sich klar zu positionieren. Dafür setzen wir in Workshops eine Abfolge von drei Fragen ein: „Was sind wir?“, „Was sind wir auch – oder vielleicht doch nicht?“ und „Was sind wir nicht?“. Bei einem Luxusgüterkonzern stellten wir so fest, dass der Arbeitgeber aus Sicht der Mitarbeiter „als Unternehmen zwar modisch ist, aber nicht als Trendsetter in der Mode wahrgenommen werden will“.

VIERTER FEHLER: Widersprüche überspielen Jede Organisation muss Wertwidersprüche ertragen. Unternehmen müssen Erwartungen ihrer Kunden, AkOKTOBER 2015 HARVARD BUSINESS MANAGER

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tionäre und Mitarbeiter erfüllen – Anforderungen, die sich nicht immer kombinieren lassen. Viele Unternehmen setzen darauf, Widersprüchlichkeiten einfach zu verdecken. So propagierte eines der ersten Leitbilder von IBM die „Achtung vor dem Einzelnen“, den „Dienst am Kunden“, die „Verpflichtung gegenüber Aktionären“, „faires Verhalten gegenüber Lieferanten“ und die „Verantwortung gegenüber Gesellschaften“ – als ob Mitarbeiter, Lieferanten, Aktionäre, Kunden und gesellschaftliche Interessengruppen die gleichen Ziele hätten und IBM alle gleichzeitig befriedigen könnte. Bei McDonald’s hieß es in einer ersten Fassung eines Leitbildes, dass die Fast-Food-Kette „vieles zugleich“ sei: „Arbeitgeber“, „Sozialpartner“, „Franchise-Partner“, „Qualitätsmanager“ und „vieles mehr“. „Am liebsten“ – und hier werden die Widersprüche verdeckt – sei McDonald’s die „Rolle des Gastgebers“. Ein großer Verlag forderte gar, dass die Prinzipien „dezentrale Organisation“, „Pluralismus in der Programmarbeit“, „Mitarbeiterbezogenheit“, „gesellschaftliches Engagement“ und „kulturelle Orientierung“ „in einem harmonischen Verhältnis zueinander stehen“ sollten und einander nicht „widersprechen“ dürften. Die Mitarbeiter müssen dies ausbaden. Auf der einen Seite sollen sie als „Unternehmer im Unternehmen“ miteinander konkurrieren, auf der anderen Seite sollen sie an einem Strang ziehen. Sie sollen gleichzeitig ihren eigenen Weg gehen und mit den anderen die Gesamtziele des Unternehmens verfolgen. Es soll für kreative und flexible Querdenker Platz sein, die sich im Namen der Effizienz aber an die standardisierten Abläufe halten. Die „Wir-befriedigen-alle-gleichzeitig-undgleichrangig-Formeln“ nehmen Leitbildern die Orientierungswirkung. Wenn sich Mitarbeiter andauernd innerhalb von Wertwidersprüchen bewegen müssen, ruft dies fast zwangsläufig Zynismus hervor. Eine Lösung ist, die Unterschiede in einem Leitbild zu benennen. Dann findet sich die Aussage wieder, dass der „Dienst am Kunden“, die „Verpflichtung gegenüber Aktionären“, ein „faires Verhalten gegenüber Lieferanten“ sowie die „Verantwortung gegenüber der Gesellschaft“ in Widerspruch zueinander stehen und dass die Organisation von Fall zu Fall entscheidet, welchen Anspruch sie vorrangig bedient. Die Mitarbeiter erhalten so zwar keine klaren Handlungsempfehlungen. Während sie in der Harmonisierungsvariante aber mit einer Illusion klarkommen müssen, bereitet sie die zweite Variante auf die Realität vor. Die Hotelkette Neue Dorint etwa hat im Vorwort ihres von uns 2007 erstellten Leitbilds die Ausrichtung auf eine einheitliche Marke und die Regionalität jedes einzelnen Hotels, die Ausrichtung der einzelnen Hotels am eigenen Betriebserfolg und die Ausrichtung am Ge62

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samterfolg der Kette als Widersprüche benannt, ebenso das Streben nach Qualitätsstandards des Personals und die Individualität im Auftritt. Dabei nutzte das Unternehmen die Formulierung, dass es um die „richtige Mischung von widersprüchlichen Zielen“ gehe und dass es von den Mitarbeitern erwarte, sich zwischen den verschiedenen Anforderungen selbstständig zu bewegen. Je stärker die Leitbildentwicklung sich der Veröffentlichung nähert, desto stärker ist der Drang zur Harmonisierung. Letztlich werden nicht viele Unternehmen in der Lage sein, die Widersprüche auch in ihrer offiziellen Innen- und Außendarstellung zu verwenden. Aber je länger sie im Prozess der Leitbilderstellung eine Rolle spielen, desto realitätsnäher bleibt die Diskussion. Nur so können die Verantwortlichen dem Trend entgegenwirken, dass sich die Widersprüchlichkeiten in harmonistischen Formeln auflösen.

FÜNFTER FEHLER: Fantasiewelten entwerfen Häufig lesen sich Leitbilder wie aneinandergereihte Wunschvorstellungen. Zwei Beispiele aus der Vergangenheit: Als „Connecting People“ hatte beispielsweise Nokia einst seine Mission bezeichnet: „Indem wir Menschen miteinander verbinden, tragen wir dazu bei, ein grundlegendes menschliches Bedürfnis nach Kontakt und sozialen Beziehungen zu erfüllen. Nokia baut Brücken zwischen den Menschen – wenn sie voneinander getrennt sind, aber auch wenn sie einander gegenüberstehen.“ Der Schweizer Pharmakonzern Novartis erklärte früher zum Ziel, das „Leben vieler Menschen mit Produkten positiv zu beeinflussen, Bedürfnisse zu befriedigen und die Erwartungen sogar zu übertreffen“. Die Zukunft erscheint fast immer attraktiver als die Gegenwart. Genau hierin liegt das Problem. Wunschvorstellungen offenbaren, was eine Organisation eben nicht ist. Visionen gilt es daher sorgsam zu wählen. Leitbilder sollten maximal drei in die Zukunft weisende Nachrichten enthalten, die nicht zu blumig formuliert sein dürfen. Aussagen wie „Wir wollen die innovativste Firma in unserer Branche sein“ verpuffen, weil „innovativ“ alles und nichts bedeuten kann. Besser wäre eine Aussage wie „Wir streben in jedem der von uns bedienten Segmente des Pharmamarktes an, mindestens ein Medikament anzubieten, das zu den drei meistverkauften in dem Markt gehört“. Manchmal kann es für ein Unternehmen auch sinnvoll sein, sich auf die Vergangenheit zu beziehen. Das ist immer dann eine Option, wenn historisch gewachsene Wertvorstellungen vorhanden sind, die weiterhin von vielen geteilt werden und die dadurch eine stärkere Identifikationswirkung entfalten können als attraktiv ausgemalte Zukunftsbilder (siehe das Interview mit


Das Ergebnis solcher Fragen sollte jedoch nicht darin bestehen, die Spannungsfelder in die eine oder andere Richtung aufzulösen oder durch allgemeine Wertformeln zu verdecken. Es geht darum, die unvermeidlichen Widersprüche darzustellen. So war es der Förderbank in ihrem Leitbildprozess wichtig herauszuarbeiten, dass es gerade die Aufgabe der Mitarbeiter sei, mit diesen gegensätzlichen Anforderungen im Alltagsgeschäft professionell umzugehen.

SECHSTER FEHLER: Ein Leitbild für alle Empfänger Viele Organisationen wollen mit einem Leitbild, das an Kunden, Zulieferer, Politiker und Medien gleicher-

WÄHLEN SIE VISIONEN SORGSAM AUS: WUNSCHVORSTELLUNGEN OFFENBAREN, WAS EINE ORGANISATION EBEN NICHT IST.

ILLUSTRATION: BIRGIT LANG FÜR HARVARD BUSINESS MANAGER

Zeppelin-CEO Peter Gerstmann auf Seite 66). So nimmt zum Beispiel Bosch im Vorwort seiner Leitbilddarstellung – das „House of Orientation“ – deutlich Bezug auf die unternehmerischen Aspirationen des Gründers („Technik fürs Leben“) und auf überlieferte Werte, die das Unternehmen als erfolgsentscheidend und identifikationsstiftend einschätzt. Der Konzern hat sich dabei dem Motto „Zukunft braucht Herkunft“ verschrieben. Ein Leitbild sollte Mitarbeitern, Auftraggebern und Kunden erklären, in welchem Umfeld sich ein Unternehmen bewegt und wie es sich darin verortet sehen will. Eine von uns beratene Förderbank stellte sich dafür folgende Fragen: Wie ist das Verhältnis zum staatlichen Hauptauftraggeber, und welche Rolle spielen mögliche neue Kunden für die Organisation? Geht es der Bank darum, mit einem hohen Volumen der Kredite Effekte zu erzielen, oder kommt es eher darauf an, mit vielen kleinen Vorhaben etwas zu bewirken? Wie viel Konkurrenz der Abteilungen um Ressourcen will die Bank zulassen, und welche Rolle spielt dabei die interne Kooperation?

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maßen gerichtet ist, auch die eigenen Mitarbeiter erreichen. Aber für die hat eine attraktive Inszenierung deutlich weniger Anziehungskraft als für Externe, weil sie in ihrer täglichen Arbeit Einblicke in die realen Abläufe der Organisation und ihre Probleme bekommen. Eine geschönte Darstellung schreckt hier ab. Oft tun Unternehmen so, als ob die Botschaften, die sie nach außen schicken, identisch sind mit dem, was sie intern predigen – sie sprechen dann von Authentizität. Doch jedem Mitarbeiter ist klar, dass sich die Kommunikation dem Gesprächspartner anpassen muss. Abteilungen sollten nicht jede unausgegorene Idee sofort an andere Abteilungen weiterleiten. Manager sollten interne Berechnungen nicht direkt an die Zulieferer schicken. Die Produktion sollte nicht alle Qualitätsprobleme gleich den Kunden mitteilen. Sendet ein Unternehmen allen Empfängern die gleichen Informationen, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Es muss die Informationen so weit abstrahieren, dass sie alle gleich gut erreichen. Dann wirkt das Leitbild beliebig, und bei den Mitarbeitern, die Orientierung erwarten, kann dies zynische Reaktionen hervorrufen. Oder das Unternehmen nutzt für unterschiedliche Zielgruppen eine Kommunikationsform, die für die eine geeignet, für die andere jedoch problematisch ist. Ein Autokonzern etwa wählte für die Kommunikation gegenüber seinen Beschäftigten die identische Ansprache wie gegenüber den Käufern. Das an die Belegschaft gerichtete Video hob mit dem Spruch „It is you“ darauf ab, dass es auf den einzelnen Mitarbeiter ankomme – so wie das nach außen orientierte Video suggerierte, dass es auf den einzelnen Kunden ankomme. Solche Strategien, die gleiche Formate und Inhalte für Mitarbeiter und Kunden wählen, sind kontraproduktiv. Aber wie lassen sich mehrere Leitbilder mit unterschiedlichen Botschaften entwickeln, ohne dass die Diskrepanz allzu deutlich wird? Eine Variante besteht darin, zielgruppenspezifische Leitbilder zu entwickeln: etwa je eines für die Aktionäre, die Zulieferer, die Kunden und die Mitarbeiter. Das bedeutet allerdings nicht nur Koordinierungsaufwand. Dadurch entsteht auch die Frage, wie die Organisation vorgehen will, wenn die Interessen von Aktionären, Zulieferern, Kunden und Mitarbeitern miteinander in Konflikt treten. Außerdem müssen die Leitbilder kohärent sein, weil die eine Zielgruppe in der Regel auch Zugang zu dem Leitbild für eine andere Zielgruppe hat. Eine zweite Variante ist, die Leitbilder unterschiedlich stark zu konkretisieren. So könnte eine umfassende Version die Beziehung zwischen Managern und Mitarbeitern beschreiben. In einem zweiten Arbeitsschritt verallgemeinert das Unternehmen dann die 64

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Aussagen, sodass es das Leitbild auch Kunden, Zulieferern und Aktionären zur Verfügung stellen kann. Eine dritte Variante spitzt diese Vorgehensweise zu. Die Teilnehmer des Leitbildprozesses erstellen dabei möglichst explizite und überraschende Aussagen. Wenn es an die Kommunikation des Leitbildes nach außen geht, behalten sie zwar Elemente der Überraschung und der Schärfe bei, aber es handelt sich um eine Form, die auf geschönte Darstellungsnotwendigkeiten gegenüber den Kunden Rücksicht nimmt. Das Beispiel einer von uns beratenen Druckerei verdeutlicht dies. Das Unternehmen erzielte 95 Prozent des Umsatzes mit einem staatlichen Auftraggeber. Es produzierte Dokumente mit hoher Sicherheitsrelevanz, die nicht nur von guter Qualität sein, sondern teilweise auch kurzfristig erstellt werden mussten. Die Druckerei wollte sich anderen Kunden öffnen, um die Abhängigkeit vom Hauptauftraggeber zu verringern, was dort Misstrauen hervorrief. Gleichzeitig herrschte bei den Mitarbeitern Unsicherheit, wie sie gegenüber dem Großkunden kommunizieren sollten: Waren sie dessen „verlängerter Arm“, war er ein „privilegierter Kunde“ oder nur „ein Kunden unter anderen“? Das Management entschied sich, den Mitarbeitern in einem Leitbildprozess Klarheit zu verschaffen und sich gleichzeitig nach außen zu positionieren. Die Belegschaft sollte erfahren, dass sich das Unternehmen neuen Kunden öffnete. Dies offensiv zu kommunizieren kam nicht infrage, weil es die Beziehung zum Hauptauftraggeber belasten würde. Zudem bestand die Gefahr, dass das nach innen gerichtete Leitbild am Ende doch zum Großkunden gelangen würde. Die Geschäftsführung präsentierte daher die Aussagen des Leitbilds nur auf handbeschriebenen Flipcharts. Diese ließen sich nicht kopieren und weiterleiten. Im Fall der Fälle konnte die Unternehmensführung dem Hauptauftraggeber zudem signalisieren, dass es sich nur um Überlegungen handelte – und alles andere als beschlossene Sache war. Auf diese Weise zerschlug das Management letztlich den gordischen Knoten. Auf der einen Seite stand ein politisch geglättetes Leitbild, das es den Aktionären, Kunden und Zulieferern zeigen konnte. Auf der anderen Seite erhielten die Mitarbeiter durch die Diskussionen in den Workshops Klarheit über die künftige Ausrichtung.

SIEBTER FEHLER: Konzentration auf die Verkündung Einige Unternehmen meißeln ihre Leitbilder – ähnlich wie Moses die zehn Gebote – im Haupteingangsbereich in Stein, um sie als etwas Quasi-Heiliges zu präsentieren. In anderen erscheinen sie als erste Information auf der Homepage. Das signalisiert Beständigkeit: Es han-


delt sich nicht um eine „Vision der Woche“, einen „Wert des Monats“ oder ein „Leitbild als Jahreslosung“, sondern um Aussagen, an die sich das Unternehmen langfristig gebunden sieht. Außerdem dient das Leitbild dem Image: Je mehr es glänzt, desto besser eignet es sich zum Schmücken der Organisation. Häufig entstehen so aber Konsistenzprobleme, wenn sich das Umfeld ändert oder eine neue Strategie andere Aspekte in den Vordergrund stellt. Das veraltete Leitbild bleibt dann im Unternehmen so lange hängen, bis sich jemand dafür zuständig fühlt, es zu ersetzen. Wir plädieren dafür, sich weniger auf das fertige Produkt als auf die Erstellung zu konzentrieren. Die Verständigung zwischen Management und Mitarbeitern entsteht nicht bei der Präsentation des Ergebnisses, sondern durch den Prozess. Es ist die mühsame Ausarbeitung der Prinzipien, die diese in der Organisation verbreitet. Um es mit einem etwas abgestandenen Spruch zu sagen: Bei der Leitbilderstellung ist der Weg das Ziel. Darin liegt auch der zentrale Unterschied zur Organisationsgestaltung, zur Strategieentwicklung oder zur Marktuntersuchung. Als Faustregel wenden wir das „80-20-Prinzip“ an. Unternehmen sollten vier Fünftel des Budgets, der Zeit des Managements, der Stabsstellen und der externen Dienstleister für die Leitbilderstellung aufwenden. Hier liegen die eigentlichen Effekte: in der Sondierung, der Diskussion und der Einigung auf die ersten Entwürfe. Nur ein Fünftel entfällt auf die Nacharbeit – das Feilen an den Formulierungen, den Entwurf der Imagebroschüre, das Drucken sowie Informations- und Folgeveranstaltungen. Der von uns betreute Luxusgüterkonzern wollte über ein Leitbild dazu beitragen, die konzernweite Strategie zu überarbeiten, neue Kooperationsregeln festzulegen und die Unternehmensbereiche stärker einheitlich auszurichten. In Workshops erarbeiteten die Bereichsleiter die Kernaussagen. Am Schluss erklärte der Moderator provozierend: „Jetzt können wir das gemeinsame Leitbild wegwerfen – das Management ist ja jetzt einheitlich ausgerichtet.“ Während die Topmanager dieser Position zustimmten – schließlich hatten sie die bereichsübergreifende Abstimmung erfolgreich beendet und damit ihr Ziel erreicht –, bekamen die Mitarbeiter der Unternehmenskommunikation schweißnasse Hände. Zu ihrem professionellen Selbstverständnis gehörte es, dass Leitbilder auf laminierte Handkarten, Fußbälle, Hochglanzposter und Thermokaffeetassen gedruckt werden. Die Kommunikation der Ergebnisse ist jedoch nicht das Ziel. Wenn es am Ende notwendig ist, einen Prozess aufzulegen, um die Mitarbeiter zu informieren, dann hat die Organisation beim Erarbeiten des Leitbildes etwas falsch gemacht.

SERVICE LITERATUR STEFAN KÜHL: Leitbilder erarbeiten. Eine organisationstheoretisch informierte Handreichung, Springer Essentials. Erscheint im Dezember 2015. Kostenlose Vorabdrucke können angefordert werden unter quickborn@metaplan.com STEFAN KÜHL: Wenn die Affen den Zoo regieren: Die Tücken der flachen Hierarchien, Campus 2015 (Erstauflage 1997). HBM ONLINE JACQUES HOROVITZ: Dem Kunden ein Schloss, in: Harvard Business Manager, Dezember 2013, Seite 50, Nachdrucknummer 201312050. CHRISTOPH H. LOCH ET AL.: Fairness zahlt sich aus, in: Harvard Business Manager, Oktober 2012, Seite 64, Nachdrucknummer 201210064. KONTAKT stefankuehl@metaplan.com christophnahrholdt@metaplan.com hansjoergmauch@metaplan.com NACHDRUCK Nummer 201510056, siehe Seite 102 oder www.harvardbusinessmanager.de © 2015 Harvard Business Manager

STEFAN KÜHL ist Senior Consultant beim Beratungsunternehmen Metaplan und Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld. HANSJÖRG MAUCH ist Senior Consultant bei Metaplan. Einer seiner Schwerpunkte liegt auf der Entwicklung von Leitbildern in Unternehmen und im öffentlichen Sektor. CHRISTOPH NAHRHOLDT ist Senior Consultant bei Metaplan und Leiter der Metaplan Leadership & Organization Academy, einem Programm für Führungskräfteentwicklung.

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INTERVIEW

Herr Gerstmann, einer Ihrer zehn Leitsätze lautet „Grafen ecken an“. Rufen Ihre Mitarbeiter jetzt andauernd bei Ihnen an, um sich zu beschweren? GERSTMANN Tatsächlich haben manche das Wertesystem als Aufforderung verstanden, Kritik zu üben. Das ist mit „Grafen ecken an“ aber nicht gemeint. Es geht dabei um Aufrichtigkeit und Gradlinigkeit, und nicht darum, dass jeder zu allem etwas sagt. Wir betreiben keine Basisdemokratie. Das hätten wir am Anfang klarer kommunizieren sollen, sonst werden solche Missverständnisse schnell zum Selbstläufer. Dann muss man die Leute erst mühsam wieder einfangen. Mit einem normalen Leitbild hätten Sie solche Probleme nicht. Sie hätten dann einfach „Aufrichtigkeit“ als Unternehmenswert aufführen können. GERSTMANN Als ich vor fünf Jahren CEO von Zeppelin wurde, hatten wir genau solche Unternehmenswerte. Wissen Sie was? Die waren komplett austauschbar. Kein Mensch liest ein Leitbild, das Allgemeinplätze wie „Die Mitarbeiter sind uns wichtig“ enthält. Das verstaubt in der Kantine. Ich wollte ein Wertegerüst ohne Stereotype, mit dem wir uns identifizieren können. Was haben Sie sich davon erhofft? GERSTMANN Eine andere Unternehmenskultur. Der Führungsstil bei Zeppelin war früher sehr patriarchalisch, weil es sich um einen Stammhauskonzern mit einer großen Gesellschaft handelte, die den Rest des Unternehmens dominierte. Ich wollte eine Struktur schaffen, die auf Geschäftsmodellen und nicht auf Hierarchien beruht. Dafür brauchten wir nicht nur eine andere Organisation, sondern auch eine andere Kultur. Ein Manager, den ich kannte, hat mir einen Berater empfohlen, der ein Leitbild für sein Unternehmen erstellt hatte. Ich halte aber nichts davon, Berater zu bezahlen, die einem sagen, wie die eigenen Werte 66

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STRATEGIEN UNTERNEHMENSKULTUR II

AUF DER SPUR DES GRAFEN Der Baumaschinenhändler Zeppelin hat sein Leitbild aus Eigenschaften des Gründers Ferdinand Graf von Zeppelin abgeleitet. Zehn sogenannte Grafensätze dienen jetzt als Handlungsmaxime für Mitarbeiter und Management. Ein Gespräch mit Zeppelin-CEO Peter Gerstmann über Unternehmenswerte, die ihre Kraft aus einer historischen Figur ziehen.

auszusehen haben. Man muss sich das selbst erarbeiten. Also haben wir damals interdisziplinäre Gruppen aus verschiedenen Unternehmensbereichen gegründet, die sich Gedanken darüber gemacht haben, wie wir zu einem neuen Werteverständnis kommen konnten. Jeder ihrer Vorschläge orientierte sich an der Firmenhistorie. War das nicht naheliegend? GERSTMANN Dass alle Gruppen unabhängig voneinander die gleiche Idee hatten, war schon überraschend. Aber ja – es bietet sich auch an. Die Wurzeln unseres Unternehmens reichen mehr als ein Jahrhundert zurück. Der Gründer Ferdinand Graf von Zeppelin verkörpert eine starke Persönlichkeit und alles, was einen modernen Unternehmer ausmacht. Auf ihn geht das erste Crowdfunding zurück. Als sein viertes Luftschiff bei einem Unfall verbrannte, war er pleite. Doch dann spendeten so viele Leute freiwillig für ihn, dass er weitermachen konnte. Der Graf steht dafür, Ideen umzusetzen, an die sonst niemand glaubt. Er ist ein Vorbild für Unternehmergeist. Als wir im Management über die Vorschläge diskutierten, fanden wir die Idee am überzeugends-

ten, Sätze mit den Eigenschaften des Grafens formulieren. Wir wollten aber, dass sie Geschichten erzählen. Jeder Satz sollte eine Bedeutung in der Vergangenheit und in der Gegenwart haben. „Grafen scheitern erfolgreich“ steht beispielsweise sowohl für das Crowdfunding-Projekt von Graf Zeppelin als auch für unsere Fehlerkultur im heutigen Unternehmen. Von den Vorschlägen der Mitarbeiter haben wir im Management dann zehn ausgewählt, die wir am passendsten fanden. Darunter sind auch Sätze wie „Grafen ziehen den Hut“ oder „Grafen hinterlassen Spuren“. Ein wenig interpretationsbedürftig ist das schon. GERSTMANN Ich würde sagen: diskussionswürdig – und darum geht es. Wir wollen kein glatt gebügeltes Mission Statement, sondern ein Wertesystem, mit dem sich die Leute auseinandersetzen. Über das „erfolgreiche Scheitern“ etwa haben wir sehr kontrovers diskutiert. Wie können Führungskräfte ihren Mitarbeitern sagen, dass sie scheitern sollen? Man muss sich damit beschäftigen, um es zu verstehen. Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich. Bei einem Vortrag kam ein-


FOTO: PR

PETER GERSTMANN ist Vorsitzender der Geschäftsführung der Zeppelin GmbH in Garching bei München. Zuvor war er in verschiedenen Führungspositionen in dem Unternehmen beschäftigt. Zeppelin erwirtschaftete 2014 einen Umsatz von 2,3 Milliarden Euro und hat fast 8000 Mitarbeiter in 30 Ländern.

mal der Vorwurf, wir seien eine Sekte und betrieben Gehirnwäsche. Ich verlange aber nicht, dass die Mitarbeiter die Werte herunterbeten können. Die meisten orientieren sich ohnehin nur an ein paar prägnanten Sätzen. Aber das ist schon viel besser, als wenn wir schöne Worte auf Papier drucken, die die Leute lesen und dann sofort wieder vergessen. 90 Prozent unserer Mitarbeiter geben heute an, dass sie die Werte kennen. Einige setzen die Grafensätze sogar in E-Mails ein. Wenn sie Hilfe wollen, schreiben sie in die Betreffzeile „Grafen kriegen Unterstützung“. Das finde ich bemerkenswert. Wenn wir schon von Unterstützung reden – gehen Sie selbst auch mit gutem Beispiel voran? GERSTMANN Ich gebe mein Bestes. Um ein Beispiel zu geben: Einmal im Halbjahr lade ich eine Gruppe von Mitarbeitern zu einem Treffen mit dem Topmanagement ein. Ich frage sie dann, ob sie die Grafensätze in der Geschäftsführung wiedererkennen. Das nennen wir Spiegelgespräche. Meist geht es um Kleinigkeiten – mit welchem Auto wir vorfahren, ob wir einen Fahrer brauchen oder ob wir

eine Jacke mit Firmenemblem tragen. Solche Dinge nehmen die Leute wahr. Jemand sagte einmal, dass die Topmanager die Mitarbeiter ignorieren. Seitdem achten wir im Management noch mehr darauf, wirklich jeden zu grüßen, wenn wir Niederlassungen besuchen. Meinen Fahrer habe ich schon beim Amtsantritt abgeschafft, um ein Zeichen für Veränderung zu setzen. Graf Zeppelin war ein Adliger, der im Deutschen Kaiserreich lebte. Wie kommt ein solches Vorbild überhaupt bei ausländischen Mitarbeitern an? GERSTMANN Das hat mich am meisten überrascht: Die Grafensätze transportieren Geschichten, die weltweit funktionieren – auch in China, Brasilien oder Indien. „Grafen scheitern erfolgreich“ ist wohl der Satz, den bei uns wirklich jeder kennt. Die Botschaft lautet, dass Fehler dazugehören, dass wir uns nur so verbessern können. Soweit ich das wahrnehmen kann, ist das angekommen: Die Leute gehen heute offener mit Fehlern um als früher. Über die deutsche Vergangenheit haben wir intensiv diskutiert. Zeppeline haben ja im Ersten Weltkrieg London bombardiert. Aber als ich mit

unseren Mitarbeitern in England darüber gesprochen habe, sagten selbst die Älteren, dass sie das mit den Grafensätzen nicht in Verbindung bringen. Ein Kollege aus der Schweiz war dafür aus einem anderen Grund unzufrieden. Er sagte, dass er niemals einen Grafen als Vorbild akzeptieren werde, weil der für die Herrschaft des Adels stehe. Wir haben dann überlegt, ob wir „Grafen“ durch „Zeppeliner“ ersetzen sollen. Am Ende haben wir uns dagegen entschieden. Wenn wir den historischen Transport ernst nehmen, müssen wir akzeptieren, dass es immer jemanden gibt, der daran Anstoß nimmt.

Mit PETER GERSTMANN sprach Ingmar Höhmann, Redakteur des Harvard Business Managers.

NACHDRUCK Nummer 201510066, siehe Seite 102 oder www.harvardbusinessmanager.de © 2015 Harvard Business Manager

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UNTERNEHMER MIT PRINZIPIEN Umweltschutz und das Vertrauen der Kunden sind für SC Johnson zentrale Werte. Das geht so weit, dass der CEO des familiengeführten US-Herstellers von Haushaltsprodukten selbst deutliche Umsatzeinbußen bei einem Blockbusterprodukt in Kauf nimmt. VON FISK JOHNSON

E

s hat bei SC Johnson Tradition, ständig daran zu arbeiten, dass die chemischen Inhaltsstoffe der Produkte möglichst geringe Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit haben. Oft haben wir die Wirkstoffformel von Produkten geändert, bevor die Aufsichtsbehörden entsprechende Vorschriften erließen, selbst wenn es dem Umsatz schadete. Eines der bemerkenswertesten Beispiele für eine solche Entscheidung betrifft unsere Frischhaltefolie „Saran Wrap“, eine der bekanntesten Marken in unserem Portfolio und seit Jahren Marktführer. Ähnlich wie Penicillin, der Mikrowellenherd und die Knetmasse Play-Doh verdankt Saran Wrap ihre Erfindung einem Zufall. Ralph Wiley, Laborant beim amerikanischen Chemieunternehmen Dow Chemical, machte 1933 eine Entdeckung, als er mit Messbechern hantierte. Solche Becher waren bei der Entwicklung einer chlorbasierten Trockenreinigungschemikalie verwendet worden. Wiley fand Rückstände in den Bechern, die sich auch durch intensive Reinigung nicht entfernen ließen. Er nannte diese Substanz Eonite, nach einem fiktiven Material aus dem Comic „Little Orphan Annie“ („Kleine Waise Annie“). Wissenschaftler von Dow Chemical entwickelten daraus eine glatte grüne

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Folie und tauften sie „Saran“. Das amerikanische Militär verwendete Saran während des Zweiten Weltkriegs für Innensohlen von Springerstiefeln und als Schutzanstrich für Kampfflugzeuge. Autobauer setzten es in Sitzpolstern ein, und 1953 kam Saran Wrap dann als Frischhaltefolie für Lebensmittel auf den Markt. 1998 kaufte SC Johnson das Produkt von Dow Chemical. Das Erfolgsgeheimnis von Saran Wrap bestand darin, dass die Folie keine Gerüche durchließ und besonders mikrowellentauglich war. Für beide Eigenschaften ist Polyvinylidenchlorid verantwortlich, auch bekannt als PVdC. Ohne diesen Thermoplasten wäre Saran Wrap nicht besser gewesen als die Folien der Wettbewerber Glad und Reynolds, die kein PVdC enthielten. Kein Hersteller würde auf die Idee kommen, an einem Verkaufsschlager wie Saran Wrap irgendetwas zu ändern, ohne vorher gründlich darüber nachzudenken und Experimente durchzuführen. Schließlich stünden nicht nur die Produkterlöse, sondern auch die Glaubwürdigkeit des Herstellers auf dem Spiel, und das wäre langfristig noch viel schlimmer, als das Vertrauen der Kunden in ein einzelnes Produkt zu verlieren. Doch nichts zu verändern ist manchmal genauso riskant – selbst bei einem profitablen und beliebten Haushaltsartikel wie Saran Wrap.


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FOTO: NOAH WILLMAN

Fisk Johnson f端hrt das Familienunternehmen in f端nfter Generation

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JOHNSONS GRÜNE FORMEL SC Johnson teilt die chemischen Inhaltsstoffe seiner Produkte seit 2001 (und die Inhaltsstoffe seiner Verpackungen seit 2011) in vier Kategorien ein. Ziel ist es, den Anteil von Stoffen, die geringere Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit haben, von Jahr zu Jahr zu erhöhen.

Prozentsatz der Inhaltsstoffe und Materialien in der jeweiligen Kategorie 100

Seit 2014 liegt der Anteil der Kategorien „Besser“ und „Am besten“ bei nahezu 50 Prozent.

0

2002

2004

Inakzeptabel

LIEBER EINMAL ZU VORSICHTIG Ungefähr zu der Zeit, als wir Saran Wrap kauften, kamen Bedenken gegen Polyvinylchlorid (PVC) auf. Die US-Arznei- und Lebensmittelaufsicht FDA, Umweltschutzgruppen und Verbraucher äußerten sich besorgt über die Tatsache, dass der Kunststoff in den unterschiedlichsten Produkten in praktisch jeder Branche zum Einsatz kam – vom Bauwesen über Elektronik, Konsumgüter und Verpackungsmaterial bis hin zu Spielzeug, Gesundheitsprodukten, Mode und Autos. Wir machten uns ebenfalls Sorgen, denn wenn Produkte, die Chloride enthalten, in Müllverbrennungsanlagen landen, können toxische Chemikalien in die Umwelt gelangen. Einige unserer Produktverpackungen enthielten damals PVC. Glücklicherweise hatten wir schon bald einen Prozess aufgesetzt, der uns half, unsere Verwendung von PVC zu überdenken. Diesen Prozess nannten wir Greenlist. Er existiert seit 2001 und ist zu einem der wichtigsten Elemente unserer Bemühungen um Nachhaltigkeit geworden (siehe Kasten oben). Der Greenlist-Prozess, der inzwischen mehrmals grundlegend aktualisiert und weiterentwickelt wurde, teilt die Inhaltsstoffe, die wir verwenden oder verwenden möchten, in funktionale Gruppen ein, etwa Lösungsmittel und Insektizide. Innerhalb der einzelnen Gruppen be70

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2006 Gut

2008 Besser

2010

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2014

Am besten

werten wir die Auswirkungen, die die Inhaltsstoffe auf Umwelt und Gesundheit haben, anhand von relevanten Kriterien wie biologische Abbaubarkeit und Toxizität für den Menschen. Ein Stoff, den das Unternehmen nur verwenden würde, wenn es keine Alternative gibt (und auch dann nur in begrenztem Ausmaß), erhält bei dieser Bewertung die Kennziffer 0 („Inakzeptabel“). Die Ziffer 1 steht für „Gut“, 2 für „Besser“, und 3 für „Am besten“. Auf Produktebene errechnen wir aus den Bewertungsziffern aller Inhaltsstoffe einen Durchschnittswert und versehen das Produkt auf diese Weise mit einer Gesamtnote. Wenn die Forscher von SC Johnson neue Produkte entwickeln oder für bestehende Produkte neue Wirkstoffformeln erarbeiten, können sie für jeden erfassten Inhaltsstoff in einer Datenbank die entsprechende Bewertungsziffer abrufen. PVC wird nach unseren Greenlist-Kriterien mit einer 0 bewertet. Deshalb beschlossen wir, in unseren Produktverpackungen kein PVC mehr einzusetzen. Weil die Frischhaltefolie eines unserer Wettbewerber PVC enthielt, gab es jedoch auch Bedenken gegenüber unserer Frischhaltefolie. Saran Wrap war zwar frei von PVC, aber nachdem die gesamte Produktkategorie unter Generalverdacht geraten worden war, achtete niemand mehr auf den Unterschied zwischen PVC und PVdC.


Es spielte für uns weder eine Rolle, dass die Bedenken gegenüber PVdC unbegründet waren und PVdC mit PVC in einen Topf geworfen wurde, noch war es für uns entscheidend, dass der Ruf nach einem Verzicht auf den Einsatz von PVC die Verwendung von PVdC nicht mit einschloss. Die meisten Entscheidungen sind das Ergebnis von Abwägungen und unterliegen dem Wandel von Prioritäten. An einer Priorität wird sich bei uns aber niemals etwas ändern: Wir wollen im Interesse unserer Kunden handeln, denn ihr Vertrauen ist der Hauptgrund dafür, dass sie unsere Produkte kaufen. Deshalb legen wir besonderen Wert darauf, vorsichtig zu sein. Wenn es um die Sicherheit unserer Inhaltsstoffe geht, sind wir sogar lieber übervorsichtig. Es war nicht das erste Mal, dass wir eine zentrale Chemikalie aus einer Produktformel entfernen und ersetzen mussten. Wir haben schon häufig Inhaltsstoffe aus Gesundheits- oder Umweltgründen eliminiert, vor allem seit wir mit der Greenlist arbeiten. Dabei nahmen wir jedes Mal auch mögliche negative Folgen in Kauf. So verwenden wir zum Beispiel für Insektenschutzprodukte einige Inhaltsstoffe ganz bewusst nicht, weil die Greenlist-Bewertung dagegen spricht – auch wenn unsere Wettbewerber diese Stoffe einsetzen. Wir haben Ersatzstoffe gefunden und konnten die Funktionalität der Produkte bewahren. Die Entscheidung verursachte zwar zusätzliche Kosten, aber sie war richtig und lässt mich als Chemiker und Physiker ruhiger schlafen.

DIE WERTE MEINER VORFAHREN Als ich im Jahr 2000 Chairman von SC Johnson wurde und 2004 dann CEO, habe ich nicht nur diese Positionen übernommen, sondern zugleich die Verantwortung für den guten Namen meiner Familie und für ein Erbe, das vier Generationen vor mir mit viel Einsatz aufgebaut hatten. Mir war bewusst, dass ich nicht nur unsere geschäftlichen Interessen schützen muss, sondern auch die Werte, auf die mein Ururgroßvater Samuel Curtis Johnson das Unternehmen 1886 gegründet hatte. 1975 ergriffen wir erstmals die Initiative und beschlossen, eine wesentliche Chemikalie aus unseren Produkten zu entfernen. Damals deuteten erste Forschungsergebnisse darauf hin, dass Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) in Sprühdosen die Ozonschicht der Erde schädigen. Mein Vater, der damals CEO war, beschloss, weltweit in allen Sprühdosenprodukten des Unternehmens den Einsatz von FCKW zu verbieten. Damit war er erheblich schneller als die Regierung, die erst einige Jahre später alle Hersteller zwang, auf FCKW zu verzichten. So eine Entscheidung ist zwar nicht leicht, aber als nicht börsennotiertes Privatunternehmen muss SC Johnson sich keine Gedanken über

PROFIL DAS UNTERNEHMEN Das US-amerikanische Familienunternehmen SC Johnson stellt Haushaltsprodukte her: Reinigungs- und Pflegemittel, Insektenschutz und Hygieneprodukte sowie Verpackungslösungen, darunter bekannte Marken wie Autan oder Null Null. 1886 als Parketthersteller im Städtchen Racine (Wisconsin) gestartet, entwickelte der Firmengründer Samuel C. Johnson bereits zwei Jahre später das erste Parkettpflegemittel auf Wachsbasis. SC Johnson expandierte in den folgenden Jahrzehnten international und ist inzwischen in mehr als 70 Ländern vertreten. Das Unternehmen beschäftigt rund 13 000 Mitarbeiter und macht neun Milliarden Dollar Umsatz. DER CEO Fisk Johnson führt das Unternehmen in fünfter Generation. Der 58-Jährige studierte Physik und Chemie an der Cornell University und hat einen MBA von der dortigen Management School. Er trat 1987 (im Alter von 30 Jahren) in das Familienunternehmen ein und arbeitete in verschiedenen Positionen. Zur Jahrtausendwende wurde er Chairman und Chairman of the Board, vier Jahre später – nach dem Tod seines Vaters – übernahm er auch den CEO-Posten. Fisk Johnson hat sich wie seine Vorfahren den Werten Vertrauen, Nachhaltigkeit und Verantwortung verschrieben und richtet seine Geschäftstätigkeit konsequent danach aus.

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STRATEGIEN NACHHALTIGKEIT

LEICHTER WINDEX Seit 2007 füllt SC Johnson den Glasreiniger in leichtere Flaschen ab. Die Verbraucher sparen dadurch jährlich eine Million Pfund an Abfall ein.

LUFTIGER PLEDGE Das Reinigungsmittel wird seit 2011 in einer mit Druckluft betriebenen Sprühdose vertrieben. Durch den Verzicht auf FCKW als Treibmittel gelangen jährlich sechs Millionen Pfund an flüchtigen organischen Verbindungen gar nicht erst in die Atmosphäre.

ÖKOLOGISCHER

FOTOS: COURTESY OF SC JOHNSON

GLADE 2011 ersetzte SC Johnson bei dem Raumerfrischer eine Plastikkappe und die Kunststoffverpackung durch vollständig recycelte Pappe.

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die Reaktion der Aktionäre machen. Das heißt nicht, dass die Entscheidung unbemerkt blieb. Einige Kollegen meines Vaters waren unzufrieden, Vertreter anderer Unternehmen regelrecht wütend. Als mein Vater anlässlich eines Branchentreffens eine Rede hielt, stand der CEO eines großen Chemieunternehmens auf, zeigte mit dem Finger auf ihn und ging ihn aggressiv an: „Sam, du wirst unsere Branche noch ruinieren.“ FCKW zu verbieten war richtig, und mein Vater hat diese Entscheidung nie bereut. Als wir im Unternehmen später über die künftige Formel von Saran Wrap diskutierten, war mir die Standhaftigkeit meines Vaters gegenüber Widerständen und Zweiflern ein Ansporn. Auch wir mussten überlegen, ob wir das tun sollten, was wir für richtig hielten, weil wir damit vielleicht das Ende einer der bekanntesten Marken der USA einläuteten, denn die Veränderung der chemischen Zusammensetzung von Saran Wrap konnte die Funktionalität des Produkts beeinträchtigen. Das würde die Verbraucher enttäuschen, und sie könnten das Vertrauen in das Unternehmen verlieren. Deshalb machten wir uns die Entscheidung nicht leicht. Wir hätten auch einfach PVC aus der Produktverpackung entfernen und die Frischhaltefolie selbst unverändert lassen können. Stattdessen beschlossen wir aber, ab 2004 nur noch Folien zu verkaufen, die überhaupt keine Chlorverbindungen enthalten, auch kein PVdC. Wir gaben dem Forschungs- und Entwicklungsteam ein Jahr Zeit, Saran Wrap ohne PVdC neu aufzusetzen. Wir setzten ein Team ein, das sich voll und ganz diesem Projekt widmete, und wir stellten dafür ein enormes Budget bereit. Zunächst war unsere F&E-Abteilung optimistisch, dass es gelingen könnte, ein PVdC-freies Produkt zu entwickeln, das dem Original in nichts nachstand. Doch dann mussten sich die Forscher und Entwickler der Realität stellen. Weil auch das veränderte Produkt geruchsundurchlässig und absolut mikrowellentauglich sein sollte, hätte die Folie mehrschichtig sein müssen. Sie wäre so aber nicht nur merklich dicker geworden (etwa wie ein Müllbeutel), sondern wir hätten für die Produktion auch neue Maschinen gebraucht, und das wäre zu teuer gewesen. Das Team ließ sich dennoch nicht entmutigen und arbeitete weiter. Wir setzten alles daran, die Produkteigenschaften des Originals zu bewahren, leider mit wenig Erfolg. Doch dann gab es einen Hoffnungsschimmer, und zwar in Gestalt eines Verpackungsunternehmens in Europa, mit dem wir gemeinsam an einer Lösung arbeiteten. Dieses Unternehmen entwickelte eine chlorfreie Polyethylenfolie. Wir waren zuversichtlich, dass diese Frischhaltefolie die gleichen Vorteile bieten würde wie die ursprüngliche Saran Wrap. Leider ergaben unsere


Tests, dass die Folie weniger gut klebte, Lebensmittel nicht so gut frisch hielt und insgesamt von geringerer Qualität war.

UMSATZ ODER VERTRAUEN? Wir standen vor der Wahl: Riskieren wir es, mit einem minderwertigen Ersatzprodukt vielleicht Kunden und Marktanteile zu verlieren, oder machen wir mit der ursprünglichen Formel weiter und verspielen damit womöglich das Vertrauen, das wir bei Verbrauchern und anderen Interessengruppen im Lauf der Jahre aufgebaut hatten? Einige im Team plädierten dafür, das Originalprodukt zu behalten und einfach abzuwarten, andere waren dagegen. Mein Urgroßvater hatte 1927 gesagt: „Für jedes Unternehmen ist das Vertrauen der Menschen das Einzige, was zählt. Der Rest ist Schall und Rauch.“ An diesen Worten orientiere ich mich schon meine gesamte Karriere über. Vertrauenswürdigkeit ist das wichtigste Attribut eines Unternehmens. Und dieses Attribut will verdient sein. Gleichzeitig müssen wir transparent sein und dafür sorgen, dass die Öffentlichkeit sieht, was wir tun. Also ersetzten wir die alte Saran-Wrap-Frischhaltefolie durch das neue Polyethylenprodukt, obwohl wir wussten, dass es bei den Leistungsmerkmalen den Konkurrenzprodukten nicht mehr überlegen sein würde. Wir waren aber überzeugt, dass es nach wie vor ein nützliches Produkt war. Wie prognostiziert, ist der Marktanteil geschrumpft: 2004 lag er bei 18 Prozent, heute sind es nur noch 11. Dies liegt aber nicht nur daran, dass das Produkt weniger wettbewerbsfähig ist. Nachdem wir die chemische Zusammensetzung unserer Frischhaltefolie geändert hatten und nicht mehr mit der Überlegenheit gegenüber Konkurrenzprodukten werben konnten, kürzten wir auch die Marketingausgaben für Saran Wrap. Wir trösteten uns damit, dass der Gesamtmarkt für Frischhaltefolie ohnehin schrumpfte, während Ziploc-Tüten (Frischhaltebeutel mit Zipper – Anm. d. Red.) und ähnliche Produkte zulegten. In Anbetracht der Umstände und angesichts der unermüdlichen Versuche des Teams, Saran Wrap neu zu erschaffen, bereue ich den Entschluss keineswegs. Wie ähnliche Fälle in der Vergangenheit hat auch diese Entscheidung unsere unternehmerische Identität weiter geschärft. Und sie zeigt, wofür SC Johnson steht.

SERVICE HBM ONLINE MANFRED GRUNDKE ET AL.: Den Erben Zeit lassen, in: Harvard Business Manager, August 2014, Seite 44, Nachdrucknummer 201408044. FRANZ W. KELLERMANS ET AL.: Vermeiden Sie den Fredo-Effekt, in: Harvard Business Manager, August 2013, Seite 46, Nachdrucknummer 201308046. INTERNET SC Johnsons Unternehmensphilosophie www.scjohnson.com/en/company/ principles.aspx NACHDRUCK Nummer 201510068, siehe Seite 102 oder www.harvardbusinessmanager.de © 2015 Harvard Business Publishing

FISK JOHNSON ist CEO des US-Familienunternehmens SC Johnson. OKTOBER 2015 HARVARD BUSINESS MANAGER

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STRATEGIEN WACHSTUM

WIE SIE EINE DIGITALE PLATTFORM STARTEN Wer Onlineplattformen aufbaut, kann schnell scheitern. Eine Analyse der Strategien von erfolgreichen Anbietern wie Paypal, Google und Skype liefert wertvolle Tipps.

ILLUSTRATION: ADRIEAN KOLERIC

VON BENJAMIN EDELMAN

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STRATEGIEN WACHSTUM

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unden zu mobilisieren ist für die Betreiber von Onlineplattformen die große Herausforderung. Die meisten bringen zwei oder mehr Nutzertypen miteinander in Kontakt, zum Beispiel Käufer und Verkäufer auf einem Shoppingportal oder Reisende und Hoteliers auf einer Buchungsseite. Das Kernproblem beim Start einer Internetplattform besteht darin, Kunden für eine Dienstleistung zu gewinnen, die noch gar nicht richtig funktioniert. Skype lohnt sich nur, wenn es auch andere gibt, die über den Dienst kommunizieren. Und wer würde ein Paypal-Konto eröffnen, gäbe es keine Anbieter, die Paypal-Zahlungen akzeptieren? Am Anfang ist jede Plattform leer. Das macht die Gründung so schwierig. Bei mehrseitigen Plattformen, die nicht nur viele, sondern auch unterschiedliche Nutzer brauchen, ist das Risiko sogar noch größer. Eine Mitfahr- oder Taxi-App ist nicht nur darauf angewiesen, dass viele Menschen per Smartphone einen Fahrdienst buchen wollen, sie braucht auch ausreichend Fahrer. Trotz dieser Herausforderungen ist die Zahl der Onlineplattformen in den vergangenen Jahren in die Höhe geschossen. Der unternehmerische Reiz liegt auf der Hand: Das Potenzial ist groß, und solche Portale schaffen neue Kommunikation und neues Geschäft. Die Betriebskosten halten sich in Grenzen, weil die Betreiber in der Regel keine materiellen Güter herstellen und keine Lagerbestände vorhalten müssen. Außerdem bieten Netzwerkeffekte einen wirksamen Schutz, wenn die Marktposition erst einmal etabliert ist: Einer boomenden Plattform kehren die Nutzer selten den Rücken. Ich untersuche die besondere Dynamik des Plattformgeschäfts inzwischen seit zehn Jahren. Mit Kollegen wie Peter Coles, Chris Dixon, Tom Eisenmann und Andrei Hagiu habe ich Dutzende von Fallstudien zu Plattformwebseiten und -produkten dokumentiert und analysiert. Auf dieser Grundlage biete ich Unternehmern, die ins Plattformgeschäft einsteigen wollen, in diesem Beitrag anhand von fünf elementaren Fragen ein Gerüst für die richtigen strategischen Gründungsentscheidungen (siehe Checkliste Seite 79).

FRAGE 1: Kann ich viele Nutzer gleichzeitig ansprechen? Wer es schafft, gleich zu Beginn eine kritische Masse an Nutzern zu gewinnen, kann die Unsicherheit in Bezug auf die Aussichten des Netzwerks praktisch eliminieren. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass dies nur gelingt, wenn mindestens eine von zwei Voraussetzungen erfüllt ist: 76

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ZUGANG ZU DEN NUTZERN BESTEHT BEREITS Googles 2003 eingeführter Werbedienst Adsense ist ein gutes Beispiel dafür. Der Internetkonzern vermittelt Betreibern von Webseiten zu deren Inhalt passende Textanzeigen, inzwischen sind diese „Google-Anzeigen“ im Internet allgegenwärtig. Anfangs waren die Werbekunden beim Buchen ziemlich zurückhaltend, denn abgerechnet wurde nach Anzahl der Klicks. Deshalb fürchteten die Werbekunden, die Webseiteninhaber könnten den Preis künstlich in die Höhe treiben, indem sie selbst fleißig auf die Anzeige klicken (oder klicken lassen). Außerdem hatten sie Angst, mit ihren Anzeigen auf unerwünschten Webseiten zu landen (etwa solche mit pornografischen Inhalten). Googles andere Werbeplattform Adwords hatten die Kunden bereits angenommen. Hier werden Anzeigen in die Ergebnisse der Google-Suchmaschine eingebunden, und dafür hatten die Kunden dem Internetkonzern bereits Anzeigentexte und Zahlungsdaten zur Verfügung gestellt. Google meldete diese Kunden kurzerhand auch bei Adsense an und eliminierte so die Startschwierigkeiten der neuen Plattform. Der große Fundus an Anzeigentexten sorgte dafür, dass Google den meisten interessierten Webseitenbetreibern relevante Werbung und damit auch hohe Einnahmen bieten konnte. Natürlich warf dieser Ansatz rechtliche Fragen auf: Durfte Google die Werbekunden ungefragt für einen neuen Dienst anmelden? Das Unternehmen hatte sich vertraglich viel Entscheidungsspielraum gesichert, wo Anzeigen geschaltet werden dürfen, und bis heute ist es den Werbetreibenden nicht gelungen, ungewollte Werbeplatzierungen anzufechten. NUTZERDATEN SIND ÖFFENTLICH ZUGÄNGLICH Das amerikanische Immobilienportal Zillow trat mit dem Anspruch an, für die meisten Häuser in den USA detaillierte Beschreibungen zu zeigen, inklusive eigener Preisschätzungen (den sogenannten Zestimates), Informationen zur Lage, zu Schulbezirken und mehr. Diese Daten beschaffte sich Zillow aus staatlichen Quellen und umging auf diese Weise die unmögliche Aufgabe, Immobilieneigentümer für ein leeres Portal zu gewinnen. Diese erste Datengrundlage reichte, um das Interesse der Verbraucher zu wecken. Diese steuerten dann freiwillig Korrekturen, Fotos und weitere Informationen bei. Bald waren sogar Immobilienmakler bereit, für eine Platzierung in Zillows Immobilienportal zu bezahlen. Der Ansatz zeigt einen typischen dreistufigen Prozess für den Start einer werbefinanzierten Plattform: 1. Daten aus öffentlichen Quellen zusammentragen und zu einem nützlichen Dienst für die Verbraucher aufbereiten.


2. Die Nutzer dazu bringen, die Daten direkt in der Plattform zu verbessern. 3. Unternehmen gegen Bezahlung bevorzugte Werbeplätze auf dem Portal anbieten. Selbst Googles weitverbreitete Suchmaschine folgt diesem Ansatz. Zuerst durchkämmte der Konzern das Internet nach Inhalten. Dann nahm er strukturierte Datensätze von Webseiten entgegen. Und heute lässt er sich von Werbetreibenden Milliarden von Dollar dafür bezahlen, dass er ihre Werbung neben passenden Suchergebnissen platziert. Die Methode hat sich bewährt, denn sie überwindet die Einstiegshürden, mit denen so viele Plattformen zu kämpfen haben.

FRAGE 2: Kann ich einen netzwerkunabhängigen Wert bieten? Wenn es nicht möglich ist, mit großen Nutzergruppen zu starten, sollten Plattformbetreiber versuchen, den einzelnen Usern einen Mehrwert zu bieten, der selbst dann Bestand hat, wenn sonst keiner das Portal in Anspruch nimmt. Erinnern Sie sich an die Einführung des Videorekorders in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts? Der Kauf eines solchen Geräts lohnte sich nur, wenn es auch ausreichend Inhalte auf Videokassette gab. Für die Anbieter von Inhalten lohnte sich die Produktion von Videokassetten hingegen nur, wenn ausreichend Menschen Geräte hatten, um die Kassetten abzuspielen. Und als wäre das nicht schon genug, kam noch das Tauziehen zwischen konkurrierenden Formaten hinzu. Gerettet hat den Videorekorder die Aufnahmefunktion. Das Gerät ließ sich ja auch nutzen, um Fernsehsendungen aufzuzeichnen. Davon hätte der Käufer selbst dann profitiert, wenn sonst niemand so ein Gerät gekauft und wenn kein einziges Filmstudio Inhalte auf Videokassette angeboten hätte. Die Aufnahmefunktion war so beliebt (und wurde vom Obersten Gerichtshof der USA 1984 auch als rechtmäßig abgesegnet), dass sie dem Videorekorder die Mobilisierungsprobleme ersparte, an denen viele mehrseitige Plattformen scheitern. Einen netzwerkunabhängigen Wert zu schaffen kann schwierig sein – vor allem wenn Zusatzfunktionen teure Hardware erfordern. Bei einer Software oder einer App lassen sich hingegen relativ leicht Funktionen hinzufügen. Angenommen, Sie finden heraus, dass Ihre Taxi-App bei den Fahrgästen nicht ankommt, weil zu wenige Fahrer teilnehmen. Vielleicht kann die App dann auch einen Zug- und Busfahrplan bereitstellen oder Telefonnummern von traditionellen Taxiunternehmen angeben. Mit dem richtigen Zusatzangebot könnte die App so viele Nutzer gewinnen, dass es für die Fahrer interessant wird, für die Vermittlung zu bezahlen.

KOMPAKT DAS PROBLEM Onlineplattformen sind unternehmerisch interessant, weil sie ein erhebliches Wertpotenzial haben und Netzwerkeffekte die Wettbewerbsposition absichern. Die Krux besteht darin, die Plattform zum Laufen zu bringen. Denn jede Plattform ist am Anfang leer. Und die meisten sind auf mehrere Arten von Nutzern angewiesen. Bei einer TaxiApp reicht es nicht, dass viele Menschen über ihr Smartphone ein Taxi buchen wollen. Es muss auch Fahrer geben, die Buchungen über eine solche App entgegennehmen. DIE LÖSUNG Fünf Strategien verhelfen zu einem erfolgreichen Start: Neue Plattformen müssen versuchen, schnell eine große Gruppe von Nutzern zu gewinnen, einen Vorteil bieten, der auch mit wenigen Usern funktioniert, Glaubwürdigkeit aufbauen, ein passendes Abrechnungsmodell entwickeln und für ausreichend Kompatibilität mit Altsystemen sorgen.

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Bei der Klärung der Frage, welchen netzwerkunabhängigen Wert Sie für welche Kunden anbieten sollten, helfen zwei Strategien weiter: BEGINNEN SIE MIT EINER MARKTNISCHE Viele Plattformen profitieren davon, Kunden in einem relativ schmalen Marktsegment ins Visier zu nehmen, in dem der Dienst etabliert werden kann. Das amerikanische Empfehlungsportal Yelp bewertet heute nahezu jedes kleine Unternehmen in den USA (und dazu noch viele im Ausland). Dabei hatte es sich anfangs ausschließlich auf Ethnic Food in San Francisco konzentriert. In diesem kleinen Sektor hatte das Portal engagierte Prüfer und interessierte Leser aufgebaut. Durch Mundpropaganda und Reisen der Teilnehmer wurde der Rahmen allmählich größer. Zuerst kamen andere Städte hinzu, später weitere Kategorien neben Restaurants. Mit der Zeit brachte die natürliche Entwicklung des Portals zusätzliche Funktionen mit sich, zum Beispiel Reservierungen, Onlinebestellungen und Rabatte. In einer Welt, in der es nur darum geht, möglichst schnell zu wachsen, ist die Gefahr groß, über das Ziel hinauszuschießen. Mit seiner allgemeinen Empfehlungsplattform hätte Yelp eigentlich auch gleich von Anfang an versuchen können, Bewertungen von allen Unternehmen in sämtlichen Städten anzubieten. Stattdessen beschränkte sich das Portal auf einen kleinen Bereich, bis es treue Fans und hochwertigere Inhalte hatte. Dies war die Grundlage für den späteren Erfolg. FINDEN SIE KLEINE SOZIALE GRUPPEN Manche Plattformen sind erfolgreich, weil sie die sozialen Bedürfnisse kleiner Gruppen ermitteln und bedienen. Skype entfaltet seinen Reiz, nämlich kostenlose Anrufe in guter Qualität, schon bei zwei Nutzern. Selbst wenn sie die einzigen Nutzer wären, würden sie von dem Dienst profitieren. Deshalb hat sich Skype so schnell verbreitet. Viele Nutzer haben sich paarweise angemeldet, zum Beispiel Studenten, die ihre Eltern anrufen, oder Freunde, die über große Distanzen in Kontakt bleiben wollen. Natürlich wird der Dienst noch besser, wenn fast alle mitmachen. Skype ist auf natürliche Art und Weise gewachsen, weil die Nutzer im eigenen Interesse weitere Nutzer anwerben. So profitieren sie nämlich selbst stärker davon. Aber nicht alle Plattformen sind von Haus aus sozial. In manchen Fällen müssen die Unternehmen das Angebot erst entsprechend verändern. Computer- und Videospiele zum Beispiel sind eigentlich keine klassische Gruppenbeschäftigung. Früher haben Gamer immer allein gespielt. Der Onlinespielebetreiber Zynga hat das mit dem Motto „Spiele mit Freunden“ geändert. Wer 78

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auf Zynga zum Beispiel einen Bauernhof betreibt und schnell mal Vorräte braucht, kann sie sich von einem Freund leihen, den er aus dem echten Leben kennt. Natürlich nur, wenn dieser Freund auch spielt. Solche Gemeinschaftsfunktionen haben zur Verbreitung von Zynga beigetragen. Spieler, die Hilfe von Freunden haben, schneiden besser ab; deshalb haben sie ein Interesse daran, weitere Nutzer anzuwerben. Eine andere Möglichkeit, die Gruppendynamik anzukurbeln, stellt das Rabattportal LivingSocial vor. Da gibt es zum Beispiel einen Besuch im Restaurant, in der Sauna oder woanders umsonst, wenn ein Nutzer drei Freunde findet, die das Gleiche kaufen. Mit diesem Ansatz konnte der Dienst wachsen und gleichzeitig die hohen Marketingausgaben senken, die bei Wettbewerbern zum Problem geworden sind. Das sind alles strategische Möglichkeiten, mit denen der Plattformentwickler Einfluss nehmen kann. Der erste Entwurf eines Portals sieht vielleicht Tausende unterschiedliche Nutzer vor – Hunderte Taxifahrer in jeder Stadt oder ein umfassendes Filmangebot für ein neues Gerät. Mit den richtigen Anpassungen lässt sich das Portal aber so konzipieren, dass es schon für wenige oder auch nur für einen einzigen Nutzer interessant ist.

FRAGE 3: Wie baue ich Glaubwürdigkeit bei den Kunden auf? Wenn Sie mit mehreren ähnlichen Plattformen konkurrieren, brauchen die Nutzer einen Grund, warum sie gerade zu Ihnen kommen sollen – vor allem wenn dieser Schritt mit hohen Kosten verbunden ist, wie bei der Wahl einer Spielekonsole. Wenn eine Plattform dieses Problem lösen will, muss sie den Nutzern glaubhaft versichern, dass ihr eine erfolgreiche Zukunft bevorsteht. Das funktioniert zum Beispiel über einen renommierten Partner. Die Hersteller von Spielekonsolen müssen zeigen, dass es begehrte Spiele für dieses Format geben wird, deshalb bezahlen sie häufig einen bekannten Entwickler dafür, ein bestimmtes Spiel für die Konsole bereitzustellen. In manchen Fällen haben die Konsolenhersteller den Entwickler sogar gleich gekauft: Nachdem Microsoft den Spieleentwickler Halo übernommen hatte, gab es keinen Zweifel mehr, dass das gleichnamige Ego-Shooter-Spiel auf der Xbox laufen würde. Wird der Entwickler nicht gekauft, ist der Effekt am größten, wenn die Kooperation exklusiv ist. Aus diesem Grund bezahlt Microsoft manche Spieleentwickler dafür, dass sie ihre Spiele ausschließlich für die Xbox anbieten. Dann kommen Gamer, die das Spiel unbedingt haben wollen, um den Kauf einer Xbox nicht herum.


Solche Exklusivvereinbarungen können zwar das Wachstum ankurbeln, sie sind aber auch teuer, denn der Entwickler will für den entgangenen Gewinn, den er mit anderen Plattformen hätte erzielen können, entschädigt werden. Für Markteinsteiger sind diese Kosten unter Umständen zu hoch. Deshalb haben die großen, etablierten Anbieter hier einen erheblichen Vorteil. Manche Unternehmen streben deshalb danach, interne Entwicklungsabteilungen aufzubauen. Aber auch das hat einen Nachteil: Externe Entwickler oder Anbieter für die Plattform könnten die interne Abteilung als Konkurrenz wahrnehmen. Apple hatte 1984 neben Computern auch Drucker verkauft. Dies führte dazu, dass andere Druckerunternehmen zögerten, Geräte für Macs herzustellen. Sie dachten (nicht zu Unrecht), Apple würde seinen eigenen Geräten sicher eine Vorzugsbehandlung zuteilwerden lassen. Nachdem der Konzern die Vor- und Nachteile der Druckerproduktion gegeneinander abgewogen hatte, folgte 1997 der Ausstieg aus diesem Bereich.

FRAGE 4: Wie soll die Abrechnung funktionieren? Zum Aufbau eines Netzwerks gehört seit jeher die Frage, welche Nutzer dafür bezahlen sollen und auf welche Art und Weise. Digitale Plattformen bieten hier allerdings mehr Flexibilität, und die Betreiber sind besser in der Lage, Branchenstandards zu hinterfragen. Erfolgreiche Plattformen nutzen vor allem zwei Preismodelle: NACH VERWENDUNG BEZAHLEN Mit solchen Modellen können Plattformbetreiber das Risiko für bestimmte Nutzertypen reduzieren. Das Rabattportal Groupon hätte seine Werbeplätze Restaurants zum Pauschalpreis anbieten können, so hätten diese zu einem niedrigen Preis alle Groupon-Nutzer einer Stadt erreicht. Vorteil dieses Modells wäre eine einfache und gut planbare Preisstruktur gewesen, ähnlich wie Printwerbung. Es hätte für die Restaurants aber auch erhebliche Risiken geborgen. Vielleicht hätte Groupon nicht so viele Nutzer angelockt wie erwartet, und diejenigen, die das Portal tatsächlich nutzen, hätten womöglich keine Restaurantgutscheine gekauft. Groupon wählte ein anderes Abrechnungsmodell: Restaurants bezahlten nur, wenn ein Verbraucher tatsächlich einen Gutschein kaufte. Dieser Ansatz brachte zwar andere Probleme mit sich, beseitigte aber die Risiken für die Restaurants. Abrechnungsmodelle nach dem Vorbild von Groupon bieten sich heute immer häufiger an, weil es bei

CHECKLISTE FÜR GRÜNDER BAUEN SIE EINE GROSSE KUNDENBASIS AUF ■ ■

Setzen Sie auf bestehende Nutzergruppen. Verwenden Sie öffentlich verfügbare Daten als Ersatz für eine der Nutzergruppen.

BIETEN SIE NETZWERKUNABHÄNGIGE VORTEILE ■

Fügen Sie ein Angebot hinzu, das auch funktioniert, wenn sich nur wenige User anmelden.

ÜBERZEUGEN SIE RENOMMIERTE NUTZER ■

Bezahlen Sie große Namen oder Marken für ihre Teilnahme. ■ Kaufen Sie eine renommierte Marke. SENKEN SIE DAS RISIKO FÜR DIE NUTZER ■ ■

Bieten Sie nutzungsbasierte Abrechnungsmodelle an. Subventionieren Sie die ersten Anwender.

SORGEN SIE FÜR KOMPATIBILITÄT MIT BESTEHENDEN SYSTEMEN ■

Bieten Sie gerade ausreichend Kompatibilität, um neue Nutzer anzulocken. ■ Rechnen Sie mit Gegenwehr oder Widerstand von Anbietern bestehender Systeme.

digitalen Angeboten problemlos möglich ist, Einzeltransaktionen automatisch zu erfassen. Die ersten Faxgeräte hingegen hatten keinen Zähler, der erfasste, wie viele Seiten gesendet und empfangen wurden. Hätten Vermieter von Faxgeräten nach Seite abgerechnet, wäre für die Kunden die Versuchung groß gewesen, den Stand zu manipulieren, damit es billiger wird. Und ein manipulationssicherer Zähler hätte für den Vermieter die ohnehin hohen Kosten für das Gerät weiter in die Höhe getrieben. Heute haben Plattformbetreiber viele Möglichkeiten, ihre Dienste zunächst einmal probehalber anzubieten, bevor sich die Nutzer festlegen müssen, und nutzungsbasierte Abrechnungsmodelle sind für die meisten Betreiber eine sinnvolle Option. NUTZER SUBVENTIONIEREN Ob es darum geht, eine Müslimarke einzuführen oder ein Restaurant zu eröffnen – Unternehmer arbeiten häufig mit Rabatten und verkaufsfördernden Maßnahmen, um die Verbraucher dazu zu bringen, ein neues OKTOBER 2015 HARVARD BUSINESS MANAGER

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STRATEGIEN WACHSTUM

AMERIKAS ERSTES ELEKTRONISCHES BEZAHLSYSTEM Paytrust-Mitgründer Ed McLaughlin über die Anfänge papierlosen Bezahlens und den Aufbau des Geschäfts.

Ed McLaughlin Mitgründer und ehemaliger CEO von Paytrust, verantwortet heute bei Mastercard den Bereich neue Zahlungsmethoden.

Angebot auszuprobieren. Für die Betreiber von Onlineplattformen spielen Subventionen eine besonders große Rolle, denn wenn die Akzeptanz am Anfang gering ist, droht die Gefahr, dass die Vorteile für die Nutzer nicht groß genug sind, damit sie die Kosten oder den Aufwand, sich zu registrieren, rechtfertigen. Das zeigt sich am Beispiel von Lyft. Die US-amerikanische Taxiplattform hätte höhere Gebühren pro Minute und Kilometer anbieten können, um Fahrer anzulocken, aber das hätte vermutlich nicht viel genutzt. Die Angst der Taxifahrer bestand ja darin, dass zu wenige Fahrgäste kommen, und was bringt der höchste Kilometerpreis, wenn niemand fährt? Lyft entschied sich für ein anderes Modell: Statt nach Fahrzeit und zurückgelegten Kilometern abzurechnen, zahlte der App-Betreiber die Fahrer in manchen Fällen allein dafür, auf Abruf zu sein. Gleichzeitig ging Lyft mit großzügigen Sonderangeboten auf Kundenfang. In manchen Städten bekamen die ersten Fahrgäste fünf Fahrten umsonst. Die beiden Fördermaßnahmen verstärkten sich gegenseitig: Da Lyft die Fahrer pauschal bezahlte, konnte der Dienst ohne Zusatzkosten Freifahrten anbieten. Beide Seiten einer Plattform auf diese Art und Weise zu subventionieren ist mit hohen Ausgaben und so mit einer hohen Kapitalbelastung verbunden. Aber wenn die 80

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Was hat Paytrust angeboten? MCLAUGHLIN Wir haben den Kunden die Möglichkeit geboten, ihre privaten Rechnungen über das Internet zu erhalten und zu bezahlen. Das war 1998 eine große Sache. Die Kunden ließen ihre Rechnungen von den Unternehmen direkt an Paytrust schicken. Wir haben die Papierrechnungen in echte elektronische Rechnungen umgewandelt – nicht nur in PDFs – und die Kunden per E-Mail benachrichtigt. Die Kunden konnten ihre Rechnungen von jedem beliebigen Ort aus auf unserer Seite anzeigen lassen und bezahlen. Dazu boten wir weitere Funktionen, etwa individualisierte Erinnerungen, automatische Regeln für das Bezahlen von Rechnungen und eine Historie der bisherigen Zahlungen. Der springende Punkt ist, dass wir den alten Prozess ablösten: Früher war die Rechnung per Post gekommen, der Kunde riss einen Abschnitt ab, steckte ihn zusammen mit einem Scheck in ein Kuvert und schickte den Brief per Post an den Rechnungsteller, der den Scheck dann in digitales Geld umwandeln musste.

Plattform erst einmal groß genug ist, wird das Interesse der Verwender so stark (wenn zum Beispiel die Fahrer unbedingt mitmachen wollen, weil sie wissen, dass sie über die App viele Fahrgäste bekommen), dass die Subventionen irgendwann nicht mehr nötig sind. Manche Plattformen entscheiden sich auch, einzelne Nutzergruppen weiterhin zu subventionieren, nachdem sie die kritische Masse erreicht haben. Sie tun dies meist, um die Gebühren für andere, lukrativere UserGruppen erhöhen zu können. Google lockt mit kostenlosen Such-, E-Mail- und Kartendienstleistungen so viele Verbraucher wie möglich an, weil der Internetkonzern dann auf der anderen Seite des Marktes mehr verlangen kann: bei den Werbetreibenden (siehe den HBM-Beitrag „Die Kunst, Märkte zu verbinden“, Servicekasten Seite 83).

FRAGE 5: Kann meine Plattform mit Vorgänger systemen kompatibel sein? Nur wenige Plattformen schaffen völlig neue Netzwerke. In der Regel wechseln Nutzer von einem bestehenden System auf ein neues. Deshalb ist Kompatibilität mit Altsystemen oft der Schlüssel zu einem erfolgreichen Marktstart – auch wenn das möglicherweise bedeutet, sich an veraltete Technologien zu binden.


Wer waren Ihre ersten Kunden? MCLAUGHLIN Damals hatten viele Menschen im Umgang mit dem Internet noch Berührungsängste, und ihre Rechnungen hätten sie erst recht nicht online bezahlt. Die ersten Nutzer von Paytrust überwiesen sich erst einmal selbst Geld, um zu sehen, ob das System auch funktionierte. Deshalb konzentrierten wir uns mit unseren Marketingbemühungen auf Verbraucher, die häufig E-Mail nutzten und mindestens einmal in ihrem Leben etwas im Internet gekauft hatten. Außerdem suchten wir Menschen, die viel reisten oder einen Zweitwohnsitz hatten, denn diese Gruppe lief Gefahr, Papierrechnungen nicht rechtzeitig zu erhalten. Wir konzentrierten uns auf städtische Gebiete, in denen viele Menschen dieselben Unternehmen bezahlten. Das erleichterte die Umwandlung der Rechnungen. Schon bald bildeten sich ganz von selbst bestimmte Nutzergruppen heraus. So vewendeten zum Beispiel Eltern Paytrust, um die College-Rechnungen für ihre Kinder zu bezahlen. Mit welchem Wertversprechen traten Sie an die Rechnungsteller heran? MCLAUGHLIN Wir boten ihnen die Chance, auf einen papierlosen Rechnungsprozess umzusteigen, online mit ihren

Kunden zu kommunizieren und die Kosten für Fakturierung und Inkasso zu senken. Eine elektronische Rechnung ist als Anknüpfungspunkt für die Kunden erheblich besser als eine Papierrechnung. Die Unternehmen können ihre Kunden besser verstehen und leichter Zusatzprodukte und -leistungen anbieten. Wie sah Ihr Erlösmodell aus? MCLAUGHLIN Die Kunden konnten unseren Dienst kostenlos testen. Als sich die Nutzer erst einmal an unser System gewöhnt hatten, waren sie gern bereit, monatlich 7,95 Dollar dafür zu bezahlen. Auch als wir den Preis auf 10,95 Dollar anhoben, verloren wir nicht viele Kunden. Je mehr Verbraucher unseren Dienst nutzten, desto mehr Unternehmen wollten mit uns zusammenarbeiten und einen vollständig elektronischen Fakturierungs- und Zahlungsprozess nutzen, und das zog wiederum mehr Verbraucher an. Banken fingen an, unsere Technologie gegen eine Lizenzgebühr für ihre eigenen elektronischen Zahlungsverkehrslösungen einzusetzen. Wir verkauften das Unternehmen schließlich an eine Bank, die den Privatkundenservice an Intuit lizenziert hat. Der Dienst läuft prima. Ich nutze ihn selbst immer noch, um meine Rechnungen zu bezahlen.

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ILLUSTRATION: ADRIEAN KOLERIC

STRATEGIEN WACHSTUM

Ein Beispiel dafür ist der Start von Paytrust 1998. Bei dem Dienstleister für Onlinezahlungen konnten sich die Kunden auf einer sicheren Webseite anmelden, ihre Rechnungen einsehen und per Mausklick das Begleichen der Rechnungen freigeben – ohne Papier, Briefumschläge und Briefmarken, die bei der in den USA üblichen Bezahlung per Scheck nötig sind. Paytrust wollte große Unternehmen dafür gewinnen, Rechnungen elektronisch zu versenden und Zahlungen elektronisch entgegenzunehmen. Die Unternehmen hätten sich dadurch die Kosten für Papier und Porto gespart, aber es war unrealistisch, davon auszugehen, dass Telekombetreiber wie Comcast oder Verizon ihre Systeme an ein unbekanntes Start-up koppeln würden, das noch keine Nutzer hatte. Stattdessen ermutigte Paytrust die Endkunden, ihre Rechnungsadresse zu ändern, damit die Rechnungen direkt an Paytrust geschickt würden. Dort wurden sie eingescannt und den unterschiedlichen Nutzerkonten zugeordnet. Ausgestattet mit den Bankdaten der Kunden konnte Paytrust in deren Auftrag Schecks ausstellen. Paytrust passte sich also den bisherigen Systemen der rechnungstellenden Unternehmen an, und der Dienst nutzte den Verbrauchern schon, bevor das erste Unternehmen mitmachte. Mit einem interessanten An82

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gebot für die Verbraucher konnte Paytrust wiederum überzeugender bei den rechnungstellenden Firmen werben. Und diese konnten schon bald digitale Datenübertragungen rechtfertigen, die schließlich Papier und das Scannen überflüssig machten (siehe Interview Seite 80). Heute verlassen sich Plattformen in der Regel auf Interoperabilität, Datenkonvertierung und Datensynchronisierung, um die Wechselkosten zu senken. Ein neuer Gmail-Nutzer hat heute meist bereits ein anderes E-Mail-Konto, über das er weiterhin Nachrichten entgegennimmt. Der Mailfetcher von Google holt diese Nachrichten in das neue Gmail-Konto und senkt damit die Hürden für einen Wechsel. Die Kompatibilität muss nicht perfekt sein – nur ausreichend. Als Apple 2007 mit dem iPhone die Smartphone-Kategorie neu definierte, konnten die Nutzer keine Apps von Drittanbietern auf dem Telefon installieren. (Den App-Store und die Möglichkeit, Apps von Dritten zu nutzen, gab es erst mehr als ein Jahr später.) Das Unternehmen bot zwar über vorinstallierte Apps eine Auswahl an Tools an, Programme von externen Anbietern konnten die Kunden aber nicht einrichten. Über den Webbrowser des iPhones konnten die Nutzer allerdings internetbasierte Apps verwenden. Diese Programme waren eigentlich für Desktop-Computer konzipiert worden und schöpften das Potenzial des iPhones nicht optimal aus. Dass die User sich trotzdem dafür interessierten, wies auf eine Marktlücke hin. Die schnelle Verbreitung des iPhones führte schon bald dazu, dass externe Entwickler Apps programmierten, die die Möglichkeiten des Geräts in vollem Umfang nutzten. Inzwischen arbeiten viele Plattformen mit einer Kompatibilität, die nicht vollkommen ist, aber ausreichend. Damit gewinnen sie neue Nutzer, denen sie einen Anreiz bieten, ganz umzusteigen. Windows-Nutzer können auch mit DOS-Anwendungen arbeiten, sie verzichten dabei aber auf wichtige Vorteile von Windows (zum Beispiel eine gemeinsame Zwischenablage und Geretetreiber). Blu-ray-Player können Standard-DVDs abspielen, allerdings kommen die Kunden dann nicht in den Genuss der verbesserten Qualität, die das wichtigste Verkaufsargument von Blu-ray-Discs ist. Es ist ein Balanceakt: Plattformen müssen genug Kompatibilität bieten, damit die Nutzer einen Vorgeschmack auf die möglichen Vorteile bekommen, aber nicht zu viel, denn sonst verlieren die User den Anreiz zu wechseln. Natürlich sind nicht alle Unternehmen an Kompatibilität interessiert. Wenn die Eigentümer der bestehenden Systeme sich durch einen Neueinsteiger bedroht fühlen, werden sie versuchen, die Kompatibilität zu verhindern. Real Networks ging 2004 mit Harmony


an den Start, einem digitalen Musikdienst und Player, der gegen Apples iTunes antrat. Harmony lockte iTunes-Kunden mit einem Konvertierungsprogramm. So würde die bei Apple gekaufte Musik auch auf RealNetworks-Geräten laufen. Dieser clevere Schritt sollte Harmony einen erfolgreichen Start bescheren, doch Apple reagierte prompt und veränderte sein Dateiformat, um das Konvertierungsprogramm zu blockieren. Die Aussicht auf ständige Formatwechsel und Rechtsstreitigkeiten zwang Real Networks, die Kompatibilitätsbemühungen aufzugeben. Dies war einer der Gründe dafür, dass Harmony letztlich scheiterte. (Ein Rechtsstreit, bei dem sich Apple gegen den Vorwurf wehren muss, seine Dominanz unrechtmäßig von Geräten auf den Verkauf von Medien ausgedehnt zu haben, läuft noch.) Google wollte die Datensynchronisierung für seine Adwords-Plattform blockieren. Von 2006 bis 2013 verbot Google das Entwickeln von Tools, mit denen Werbetreibende ihre Kampagnen von Adwords kopieren und auf konkurrierende Suchmaschinen wie Microsoft Bing oder Yahoo übertragen konnten. Erst als die Wettbewerbsbehörden das Vorgehen untersuchten (nachdem ich 2008 bei einer Befragung darauf aufmerksam gemacht hatte), hob Google die Beschränkungen auf. Jetzt lassen sich Werbekampagnen mit einem Klick kopieren und auf anderen Plattformen verwenden.

SERVICE HBM ONLINE THOMAS EISENMANN, GEOFFREY PARKER UND MARSHALL VAN ALSTYNE: Die Kunst, Märkte zu verbinden, in: Harvard Business Manager, Mai 2007, Seite 54, Nachdrucknummer 200705054. ANDREI HAGIU, JULIAN WRIGHT: Sollen wir Ebay kopieren?, in: Harvard Business Manager, Mai 2013, Seite 64, Nachdrucknummer 201305064. INTERNET Veröffentlichungen von Benjamin Edelman: www.benedelman.org/publications KONTAKT ben@benedelman.org NACHDRUCK Nummer 201510074, siehe Seite 102 oder www.harvardbusinessmanager.de © 2015 Harvard Business Publishing

FAZIT Für zahlreiche Onlinedienste ist der Start der aufregendste Moment und gleichzeitig auch der schwierigste. Internetplattformen bieten in der Regel unterschiedlichen Arten von Nutzern einen besonderen Mehrwert – sofern das Angebot auf breites Interesse stößt. Das Problem ist: Jede Plattform fängt leer an, und potenzielle Nutzer befürchten, Zeit und Geld auf einen Dienst zu verschwenden, der sich möglicherweise nicht durchsetzen wird. Das Problem scheint so vertrackt wie die Frage, was zuerst da war, die Henne oder das Ei. Mit den hier vorgestellten Strategien können Unternehmen ihre Erfolgschancen aber deutlich steigern.

BENJAMIN EDELMAN ist Associate Professor an der Harvard Business School. Außerdem berät er zahlreiche Unternehmen, die mit einigen in diesem Beitrag genannten Plattformen arbeiten oder konkurrieren, unter anderem Google.

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FALLSTUDIE

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HARVARD BUSINESS MANAGER OKTOBER 2015


MEINUNGEN KRISENMANAGEMENT

EINER MUSS RAUS Ein Dienstleister für mobilen Zahlungsverkehr kämpft mit den Folgen eines Hackerangriffs. Bei den Kunden hat das Unternehmen viel Vertrauen eingebüßt. Nun verlangt der Board ein Bauernopfer: Einer aus dem Führungsteam soll gehen. Der CEO glaubt nicht, dass das sinnvoll ist. Aber er muss sich entscheiden.

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ILLUSTRATION: KRISTINA HELDMANN FÜR HARVARD BUSINESS MANAGER

VON JANA SEIJTS

ie vergangenen vier Wochen, seit Hacker das Datensystem seines Unternehmens geknackt hatten, waren die nervenaufreibendsten in Jake Santinis Karriere gewesen. Auch heute hatte der CEO von Simplepay einen langen Tag voll ermüdender Gespräche und Konferenzen hinter sich. Er saß zu Hause am Küchentisch und las noch einmal die E-Mail der Board-Vorsitzenden, diesmal laut für seine Frau Fleura: „,Dem Board ist es ernst damit, dass jemand für diesen Vorfall öffentlich zur Verantwortung gezogen werden muss. Wir sind zwar überzeugt, dass die Krise mittlerweile überwunden ist, sind aber trotzdem der Ansicht, dass dieser Schritt notwendig ist – als Wiedergutmachung für unsere Kunden und um unser Image in der Öffentlichkeit wiederherzustellen.‘“ Simplepay war ein in Austin, Texas, ansässiger Dienstleister für mobilen Zahlungsverkehr. Carly Elliot leitete den Board schon seit der Gründung des Unternehmens. Bisher hatten sie und Jake Santini immer gut zusammengearbeitet; deshalb irritierte es ihn ein wenig, dass sie ihm in einer so sensiblen Angelegenheit eine E-Mail schickte, statt ihn einfach anzurufen. Auch Fleura schüttelte erstaunt den Kopf. „Wen meint sie mit ‚jemand‘? Etwa dich?“ „Keine Ahnung. Als der Hackerangriff passierte, hat sie mir eindeutig zu verstehen gegeben, dass ich nicht zurücktreten soll“, meinte Santini.

„Wahrscheinlich soll einfach nur irgendjemand den Kopf dafür hinhalten“, vermutete Fleura und unterdrückte ein Gähnen. Es tat ihm leid, dass er sie mit seinen Problemen vom Schlafen abhielt, obwohl sie früh am nächsten Morgen zum Flughafen musste. Aber sie hatte darauf bestanden, noch ein paar Minuten aufzubleiben, um diese Angelegenheit mit ihm zu besprechen. „Ich würde schon gern wissen, ob du nächste Woche noch einen Job hast“, sagte sie nur halb im Scherz. „Aber im Ernst: Warum macht Carly so eine Staatsaffäre daraus? Wir haben hier nicht annähernd so eine gravierende Situation wie bei Target.“ Die US-Supermarktkette Target war Ende 2013 von Hackern angegriffen worden, die die Daten von mehr als 40 Millionen Kunden gestohlen hatten, darunter Kreditkartennummern, Prüfcodes und PINs. Fleura hatte recht mit ihrem Einwand. Die Hacker hatten glücklicherweise nur eine einzige Datenbank des Unternehmens geknackt, in der ausschließlich E-Mail-Adressen der Kunden gespeichert waren. Bankdaten oder sonstige finanzielle Informationen über Kunden hatten sie sich nicht beschaffen können. Simplepay wickelte täglich Millionen von Kreditkartentransaktionen über eine App ab, mit deren Hilfe Händler Zahlungen per Tablet oder Handy entgegennehmen konnten. Trotzdem war diese Sicherheitspanne beunruhigend. Das Unternehmen musste sein System für 42 Stunden herunterOKTOBER 2015 HARVARD BUSINESS MANAGER

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MEINUNGEN KRISENMANAGEMENT

fahren, alle betroffenen Kunden benachrichtigen, immerhin zehn Millionen, und sich öffentlich entschuldigen. Tech-Blogger hatten den Skandal in der Öffentlichkeit breitgetreten; es waren sogar Spekulationen laut geworden, nach denen Simplepay zuletzt weniger Mitarbeiter eingestellt und mit Investitionen in die Datensicherheit gegeizt hätte, um sich für einen möglichen Börsengang zu rüsten. Teilweise war an diesen Gerüchten sogar etwas dran: Simplepay wollte im kommenden Jahr tatsächlich an die Börse gehen; daher hatten Santini und sein Finanzvorstand sich bemüht, Kosten zu senken. Die IT des Unternehmens war von diesen Sparmaßnahmen jedoch kaum betroffen. Schließlich wussten sie alle, dass die Technologie (und die dafür zuständigen Mitarbeiter) das Kerngeschäft von Simplepay darstellte. Die Leiterin der PR-Abteilung, Michelle Perez, hatte das in ihren Pressemitteilungen auch immer wieder hervorgehoben; trotzdem war es nicht gelungen, die Gerüchte verstummen zu lassen.

ALLES WIEDER IM GRIFF? Natürlich hatten auch die TwitterTrolle noch einen draufgesetzt: Sie mokierten sich darüber, dass das Unternehmen fast zwei Tage gebraucht habe, um nach einem einfachen Datendiebstahl wieder zum Tagesgeschäft überzugehen. Doch CIO Jesse Gladstone hatte darauf bestanden, dass Simplepay diese Zeit benötigte, um das Sicherheitsloch zu schließen und zu gewährleisten, dass sich die Hacker keinen Zugang zu den Unternehmensdaten mehr verschaffen konnten. Seitdem hatte die IT-Abteilung rund um die Uhr gearbeitet, um alle potenziellen Datenlecks ausfindig zu machen, zu beheben und neue Schutzmaßnahmen einzuführen. „Carly macht so viel Wirbel darum, weil es tatsächlich ein ernstes Sicherheitsproblem war“, erklärte Santini. „Das weiß ich“, erwiderte Fleura. „Aber dass sie jetzt auf einem Sündenbock besteht, scheint mir ein bisschen 86

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übertrieben. Wenn sie nicht will, dass du zurücktrittst, wer soll denn dann gehen? Etwa Jesse?“ Jake Santini verzog das Gesicht. Dem IT-Vorstand wegen dieser Datenpanne den Rücktritt nahezulegen, konnte seiner Ansicht nach gar nicht angehen. Außerdem war Santini stolz darauf, mit welcher Kompetenz und welchem Engagement Gladstone und die übrigen Mitarbeiter von Simplepay mit dieser Situation umgegangen waren. Vielleicht hatten sie tatsächlich ein wenig zu langsam reagiert. Aber in Anbetracht der Größe ihres Teams und ihrer finanziellen Mittel hatten sie ihr Bestes getan. „Wahrscheinlich ist Carly nur die Überbringerin der Hiobsbotschaft, weil der Rest des Boards das so will. Ich bin sicher, dass jemand anders dahintersteckt“, meinte Jake Santini „Zum Beispiel Theo“, vermutete Fleura und erhob sich. Seit Theo Conrad, ein bekannter Technologie-Investor, dem Board von Simplepay angehörte, hatte er Jake Santini das Leben schwer gemacht und ihm bei allen halbwegs wichtigen Entscheidungen widersprochen. Bei der letzten Krisensitzung des Boards hatte er immer wieder darauf herumgehackt, dass 30 Prozent der Kunden von Simplepay die App seit dem Datendiebstahl nicht mehr benutzten. „Sie vertrauen uns einfach nicht mehr“, hatte er gesagt. „Und das Vertrauen der Wall Street dürften wir ebenfalls verspielt haben – es sei denn, wir legen die Karten auf den Tisch und informieren die Öffentlichkeit genau darüber, was wir verändern wollen, damit so etwas nicht wieder passiert.“ Santini blickte von seinem Laptop auf und sah Fleura nach, die die Treppe hinaufging. „Bitte sag’ noch etwas anderes“, rief er ihr nach. „Ich will nicht, dass Theos Name das Letzte ist, was ich heute Abend zu hören bekomme.“ „Ruh’ dich ein bisschen aus, Schatz“, sagte sie von der Treppe aus. Santini lächelte, obwohl er wusste, dass er in dieser Nacht wahrscheinlich wieder kein Auge zumachen würde.

Am nächsten Morgen traf sich Santini um halb acht mit Jesse Gladstone und Michelle Perez im „Bouldin Creek“-Café. „Du siehst nicht gut aus, Jake“, bemerkte die PR-Leiterin, als sie sich zu ihm setzte. „Du brauchst dringend ein bisschen Schlaf. Das Schlimmste haben wir jetzt hinter uns.“ „Ich fürchte, da bist du etwas zu optimistisch“, widersprach Santini und rührte zwei Päckchen Zucker in seinen doppelten Espresso macchiato. „Wir haben immer noch nicht wieder die gleiche Zahl an Transaktionen wie vor dem Hackerangriff. Außerdem konnten wir seitdem so gut wie keine Neukunden akquirieren. Ich weiß, dass erst ein Monat vergangen ist und dass es auch vorher schon schleppend lief. Aber wir müssen unser Geschäft so schnell wie möglich wieder in Gang bringen.“ „Was die PR angeht, haben wir alles wieder im Griff“, sagte Michelle Perez und zählte auf, was Simplepay seit dem Datendiebstahl unternommen hatte: Sofort sämtliche Kunden kontaktiert, an deren Daten die Hacker gekommen waren; ein klares, stimmiges Statement gegenüber Kunden, sozialen Medien und Presse abgegeben. Michelle Perez hatte empfohlen, dass das Unternehmen sich zwar öffentlich entschuldigen solle, ansonsten aber die eigentlich Verantwortlichen – die Hacker – in den Fokus rücken müsse. Außerdem hatte sie begonnen, das Ausmaß der Datenpanne in ihren unternehmensinternen Mitteilungen herunterzuspielen. Jake Santini hatte sie aber gebeten, damit aufzuhören, weil er befürchtete, dass diese Tonlage auch ihre externen Botschaften prägen könnte. „Wir können nicht einfach unter den Tisch kehren, dass wir hier ein Riesenproblem hatten, Michelle“, ermahnte er sie. „Natürlich nicht“, erwiderte Perez. „Aber ich glaube wirklich, dass die Krise inzwischen so gut wie ausgestanden ist. Mein Handy klingelt nicht mehr ständig. Und erst gestern hat Kara Swisher – diese prominente Tech-Bloggerin, wisst Ihr? – mir erklärt, dass wir


uns durch diesen Datendiebstahl eigentlich geehrt fühlen sollten: Inzwischen sind wir groß und bedeutend genug, um bei Hackern als attraktives Ziel zu gelten.“ Sie lächelte, doch Jake Santini und Jesse Gladstone blieben ernst. „Und Jesse hat die Datensicherheit jetzt voll im Griff“, fuhr sie fort. „Wir haben inzwischen die ‚modernsten und umfangreichsten Datensicherheitsmaßnahmen‘ implementiert“, zitierte sie aus einer ihrer Pressemitteilungen. „Oder etwa nicht, Jesse?“

ES MÜSSEN KÖPFE ROLLEN „Wir arbeiten daran“, antwortete der CIO und starrte in seine Kaffeetasse. Er hatte mal wieder im Büro geschlafen. Er war Perfektionist und ein herausragender Experte auf seinem Gebiet. Doch dass er in einer Krise wie dieser darauf beharrte, alles absolut korrekt zu machen, verlangsamte die Reaktionsgeschwindigkeit des Unternehmens. Santini und Perez konnten es kaum erwarten, mit der Nachricht über die neuen Sicherheits-Upgrades – eine

unerwartete, aber notwendige Investition – an die Öffentlichkeit zu gehen. Aber Gladstone und seine IT-Abteilung waren immer noch im Testmodus. „Wann können wir die neuen Sicherheits-Features denn nun in Betrieb nehmen?“, fragte Santini. „Noch ein oder zwei Tage, dann ist es so weit“, versprach Gladstone. „Wunderbar“, sagte Perez mit gezwungener Fröhlichkeit. „Dann können wir unsere Pressemeldung Ende der Woche herausgeben und sie auch gleich mit neuen Informationen zu den Ermittlungen des FBI anreichern. Danach kann unser Vertriebsteam zu zaubern beginnen, und wir können endlich wieder zum Tagesgeschäft übergehen. Schließlich müssen wir uns auch noch auf unseren Börsengang vorbereiten.“ Santini fragte sich, ob das wohl der Grund war, weshalb der Board so sehr auf den Rücktritt eines leitenden Managers drängte: Die Wall Street brauchte einen Knalleffekt, um den Datenskandal bei Simplepay zu den Akten zu legen. Erst dann würde das Unterneh-

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ILLUSTRATION: KRISTINA HELDMANN FÜR HARVARD BUSINESS MANAGER

„UNSER ERFOLG BERUHT AUF VERTRAUEN“, SAGTE DIE BOARD-VORSITZENDE. „UND DAS IST DURCH DEN DATENDIEBSTAHL VERLOREN GEGANGEN.“

men mit seiner Roadshow beginnen können. „Tut mir leid, dass so viel über E-Mail läuft“, entschuldigte sich Carly Elliot bei Santini, als sie sich am Nachmittag in ihrem Büro trafen. „Ich weiß, das ist alles nicht einfach für Sie.“ Sie erklärte ihm, dass eine Mehrheit der Board-Mitglieder eine öffentliche Geste für notwendig hielt, um zu zeigen, wie ernst Simplepay die Sicherheitspanne nahm. „Aber das haben wir doch getan. Wir haben genau erklärt, was passiert ist und wie wir darauf reagieren.“ „Gerade diese Reaktion bereitet den Board-Mitgliedern Sorgen. Was verändern wir denn im Unternehmen, damit die Kunden uns wieder 100-prozentig vertrauen können? Bei Target ist erst der CIO und dann der CEO zurückgetreten. Und nach der Datenpanne beim Einzelhändler TJX 2007 mussten ein Board-Mitglied und ein Senior Vice President ihren Hut nehmen. Diese Unternehmen haben Präzedenzfälle geschaffen. Wir müssen etwas Ähnliches tun, um den Vorfall abzuschließen. Schließlich ist – oder war – Simplepay gerade deshalb Marktführer beim mobilen Zahlungsverkehr, weil die Kunden auf unsere Sicherheit und Zuverlässigkeit bauen konnten. Unser Erfolg beruht auf Vertrauen. Und das ist durch den Datendiebstahl verloren gegangen.“ Leider hatte Carly Elliot damit gar nicht so unrecht. Seit dem Vorfall hatten Kunden die Serviceabteilung mit Fragen zum Thema Sicherheit bombardiert. Zwar hatte das Unternehmen damit gerechnet, dass nach dem Hackerangriff einige Händler abspringen würden, doch nun waren es viel mehr als erwartet. Und ein Ende dieser Entwicklung war nicht abzusehen. Carly Elliot zog ihr Smartphone heraus. „Haben Sie die Umfrage dieses Marketingdienstleisters, Interactions, gelesen, die Theo Conrad gestern Abend herumgeschickt hat? ‚12 Prozent aller Kunden sagen, dass sie nicht mehr bei einem Einzelhändler kaufen würden, der ein Problem mit der Datensicherheit hatte. 36 Prozent würden


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zumindest nicht mehr so oft dort einkaufen. Von allen Verbrauchern, deren persönliche Daten gestohlen wurden, erzählen 85 Prozent anderen Menschen von diesem Vorfall. 34 Prozent beschweren sich in den sozialen Medien darüber, und 20 Prozent hinterlassen Kommentare auf der Webseite des betreffenden Unternehmens.‘“ „Und all das soll sich plötzlich in Wohlgefallen auflösen, nur weil wir jemandem kündigen?“, fragte Santini, der allmählich ärgerlich wurde. „Bei Target jedenfalls lief das anders. In der Woche, in der CEO Gregg Steinhafel zurücktrat, fiel der Aktienkurs um 3 Prozent.“ „Weil Target zu spät gehandelt hat. Steinhafel hätte viel früher gehen müssen. Außerdem ist der Aktienkurs unter dem neuen CEO um 30 Prozent gestiegen – so hoch wie nie zuvor. Alle finden es gut, wenn es nach so einer Katastrophe einen Neustart gibt: Analysten, Wirtschaftsexperten und auch die Kunden“, erklärte Elliot. „Das gilt aber nicht grundsätzlich. Der Onlinemarktplatz Living Social und das Softwareunternehmen Zendesk beispielsweise haben Hackerangriffe überlebt, ohne jemanden zu entlassen.“ „Aber unser Geschäft erholt sich immer noch nicht. Wir müssen ein klares Statement abgeben: nicht nur für eine neue Technologie, sondern für neue Leute.“ „Also müssen Köpfe rollen?“, fragte Santini. „Nur einer.“ „Wenn das so ist, dann ist es wohl meiner“, antwortete Santini – unsicher, ob er glauben sollte, was er da gerade gesagt hatte. „Schließlich haben wir ein starkes Team. Wenn ich zurücktrete, ist das ein klares Statement. Dann kann Simplepay rechtzeitig vor dem Börsengang alles wieder in ruhige Bahnen bringen.“ „Es ist nicht gesagt, dass Sie es sein müssen“, widersprach Carly Elliot. „Aber wer dann?“, fragte Santini. 88

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Sie erklärte ihm, dass zuerst CIO Jesse Gladstone im Gespräch gewesen sei. Schließlich seien seine Datensysteme geknackt worden, und sein Team habe so lange gebraucht, um mit dem mobilen Zahlungsservice wieder online zu gehen. Als Führungspersönlichkeit hatte sich Gladstone in der Krise etwas unsicher gezeigt. Einige Board-Mitglieder seien auch der Meinung gewesen, dass Michelle Perez gehen müsse: Hätte sie den Ernst der Situation sofort erfasst und angemessen reagiert, hätte Simplepay vielleicht nicht so viel an Vertrauen eingebüßt. „Was würde es ändern, wenn wir Michelle Perez vor die Tür setzten? Vielleicht waren ihre Aktionen nicht ganz lehrbuchgemäß, aber wir werden die Bedenken der Kunden bestimmt nicht zerstreuen, indem wir uns von ihr trennen. Und Sie wissen genauso gut wie ich, dass Jesse Gladstone nicht die alleinige Verantwortung für diese Datenpanne trägt. Kein IT-Team kann alle Sicherheitslücken voraussehen und beheben. Er hat seinen Job so gut gemacht, wie es ihm möglich war.“ „Wissen Sie, Sie beweisen wirklich Führungsstärke – treten selbst dann noch für Ihre Mitarbeiter ein, wenn sie es nicht verdienen“, sagte Carly Elliot. „Aber der Entschluss des Boards steht fest: Irgendjemand muss gehen.“

RÜCKTRITT PER E-MAIL? Jake Santini tippte die Nachricht in sein Smartphone: Ich versichere Ihnen, dass mir diese Entscheidung nicht leichtgefallen ist. Angesichts der jüngsten Ereignisse bin ich aber zu dem Schluss gekommen, dass es im besten Interesse von Simplepay und seinen Kunden ist, wenn ich zurücktrete. Ich kann zwar nicht persönlich die Verantwortung für diesen Vorfall übernehmen, aber er hat sich nun einmal unter meiner Führung ereignet. Also bin ich als CEO von Simplepay letzten Endes verantwortlich und trete daher mit sofortiger Wirkung von meinem Posten zurück – vor allem deshalb, weil der Board mich dazu zwingt. Er tippte auf „Senden“.

20 Sekunden später klingelte sein Telefon. Es war Fleura, die ihn von ihrem Hotel in San Francisco aus anrief. „Warum zum Teufel bist du mitten in der Nacht noch wach und verfasst ein fiktives Rücktrittsschreiben?“, fragte sie. „Die letzte Zeile ist allerdings klasse. Ich wünschte, alle CEOs in solch einer unangenehmen Situation würden offen zugeben, dass ihr Board sie zu diesem Schritt gezwungen hat. Aber du hast doch nicht ernsthaft vor zurückzutreten, oder, Schatz? Du liebst doch deinen Job.“ Das stimmte. Santini war an der Spitze von Simplepay glücklicher als je zuvor, und er wollte ganz sicher nicht auf die Chance verzichten, seinen ersten Börsengang zu leiten. Aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, einen Mitarbeiter zum Sündenbock zu machen. „Wie ging’s dir, als du diese Mail geschrieben hast?“, fragte Fleura. „Schrecklich“, gab er zu. „Eigentlich möchte ich nicht zurücktreten. Aber vielleicht muss ich mich tatsächlich für mein Team opfern.“

WAS RATEN EXPERTEN? Soll Jake Santini wirklich zurücktreten? Drei Fachleute beurteilen den Fall.

Harvard-Fallstudien greifen typische Probleme des Manageralltags auf und bieten konkrete Lösungsvorschläge von Experten. Diesen Fall entwickelte JANA SEIJTS, Dozentin für Managementkommunikation an der Ivey Buyiness School der Western University in Ontario, Kanada. Die Geschichte beruht auf der Fallstudie „Sony Play Station: Security Breach“ der Ivey Business School. Dabei geht es um einen Datendiebstahl, der lange vor dem Hackerangriff auf Sony Pictures Entertainment stattfand.


haben, ist Mastercard sich der Bedrohung durch Hacker wohl bewusst. Doch leider greifen Datendiebe mittlerweile zu immer raffinierteren Tricks. Sie agieren international und sind eng miteinander vernetzt. Gestohlene Daten aus einer Region nutzen sie in anderen Regionen, sodass sich der Diebstahl nur schwer nachverfolgen lässt. Und sie passen sich den Schutzmaßnahmen der Unternehmen immer wieder an. Mastercard arbeitet mit umfassenden, dynamischen Systemen und Strategien zum Schutz vor Datenbetrug und sonstigen Risiken. Dazu gehört auch ein Notfallteam, dem ich angehöre. Dieses Team ist für sämtliche Reaktionen im Zusammenhang mit Datenkrisen zuständig – von der Entdeckung über Aktionspläne bis hin zur Kommunikation – und sorgt dafür, dass die richtigen Schritte zur richtigen Zeit unternommen werden. Die Topmanager von Simplepay sollten den Hackerangriff als Chance begreifen, sich an einen Tisch zu setzen. Solch ein Vorfall kann ein Katalysator für die Entwicklung eines wohldurchdachten Plans sein, mit dem sich der wirtschaftliche Schaden und der Imageverlust minimieren lassen. Der Schutz des Unternehmens ist nicht nur Aufgabe von Santini und Gladstone. Alle Beteiligten – von der Board-Vorsitzenden bis zum Endverbraucher – sind für den sorgsamen Umgang mit Daten und die Verbesserung der Sicherheit verantwortlich. Simplepay sollte die Kommunikation nicht einfach Michelle Perez überlassen, sondern eine einheitliche Sprache finden, die alle Abteilungen einschließt – Unternehmenskommunikation, operatives Geschäft und IT ebenso wie das Topmanagement. Das heißt nicht, dass der Rücktritt eines Managers immer die falsche Entscheidung sein muss. Doch in diesem Fall sollten Santini und sein Team zusammenbleiben und sich auf die Zukunft fokussieren. Gemeinsam müssen sie ihre Systeme gegen künftige Angriffe absichern und dann wieder zum Tagesgeschäft zurückkehren.

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eider kommen solche Datenpannen ziemlich oft vor. Ich kann verstehen, dass Carly Elliot und die übrigen Board-Mitglieder den wirtschaftlichen Schaden und den Imageverlust beheben möchten. Allerdings halte ich nichts von der weitverbreiteten Überzeugung, dass jede Krise ihren Sündenbock braucht. Wenn der Board Santini oder Gladstone zum Rücktritt zwingt, könnte sich das nachteilig auswirken: Erstens würde es die Aufmerksamkeit von den wahren Schuldigen – den Hackern – ablenken. Wäre der Datendiebstahl innerhalb des Unternehmens passiert, sähe die Situation anders aus; aber das scheint hier nicht der Fall zu sein. Indem der Board jemanden zum Sündenbock macht, hofft er die Angelegenheit aus der Welt zu schaffen. Aber das Unternehmen kann erst dann wieder zur Tagesordnung übergehen, wenn Klarheit darüber besteht, was genau passiert ist, warum es passiert ist und wie es seine Datensysteme künftig besser schützen kann. Dann muss es interne wie externe Interessenvertreter selbstbewusst über diese Erkenntnisse informieren. Zweitens könnte ein erzwungener Rücktritt dem Ansehen von Simplepay mehr schaden als nutzen. Bisher scheinen Santini und sein Team ziemlich gut mit der Situation umgegangen zu sein: Sie haben den Hackerangriff transparent gemacht, alle Betroffenen schnell informiert und Schritte unternommen, um die negativen Konsequenzen so gering wie möglich zu halten. Vielleicht haben sie ein bisschen lange gebraucht, um das Problem zu beheben, doch in solchen Situationen ist „schnell“ ein relativer Begriff. Wenn jetzt ein führender Manager zurücktritt, untergräbt dies womöglich die positive Botschaft, dass Simplepay die Krise überwunden hat. Verbraucher und Analysten könnten hellhörig werden und sich fragen: „Was geht hier wirklich vor?“ Dann würde es vielleicht noch länger dauern, bis Simplepay sich von seinem Imageverlust erholt. Wie alle Unternehmen, die mit zahlungsrelevanten Informationen zu tun

CARY HORENFELDT ist Vice President für die Kreditkartenabwicklung bei Mastercard für die Region Asien/Pazifik mit Sitz in Singapur.

„WENN JETZT EIN TOPMANAGER ZURÜCKTRITT, UNTERGRÄBT DIES DIE BOTSCHAFT, DASS SIMPLEPAY DIE KRISE ÜBERWUNDEN HAT.“

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A AXEL FREIHERR VON DEM BUSSCHE leitet die Bereiche Technology, Media & Telecoms der internationalen Wirtschaftskanzlei TaylorWessing in Hamburg. Der Fachanwalt für IT-Recht hat sich auf die Tech-Branche und auf Datenschutz spezialisiert.

„IN DEUTSCHLAND IST ES NACH WIE VOR NICHT ÜBLICH, DASS VORSTÄNDE WEGEN EINES DATENSKANDALS IHREN HUT NEHMEN MÜSSEN.“

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us juristischer Sicht lässt sich die Frage nach dem Sündenbock am besten anhand von IT-Compliance-Kriterien beantworten. IT-Compliance bedeutet, dass ein Unternehmen rechtlich verpflichtet ist, seine Daten zu schützen und IT-Sicherheitsstandards einzuhalten. Je nach Größe und Betätigungsfeld muss es dafür ein angemessenes Überwachungssystem einrichten, das gefährliche Entwicklungen frühzeitig erkennt und Risiken wie zum Beispiel Hackerangriffe erfolgreich abwehrt. Eine solche ComplianceStruktur aufzubauen und umzusetzen ist Aufgabe der Geschäftsführung. Den verantwortlichen CEO – in diesem Fall Jake Santini – kann daher ein sogenanntes Organisationsverschulden treffen, wenn er es versäumt hat, eine unternehmensweite IT-ComplianceStruktur aufzubauen, die Hackerangriffe abwehrt oder wenigstens deren Folgen minimiert. Obwohl Simplepay ein Bezahldienstleister ist und mit besonders sensiblen Daten handelt, verfügt das Unternehmen offenbar nicht über einen Krisenreaktionsplan. Dieser sollte jedoch unbedingt Teil einer solchen IT-Compliance-Struktur sein. Zumindest ist die IT-Abteilung aber gut aufgestellt und wird von CIO Gladstone gründlich überwacht, sodass die Einhaltung von Sicherheitsstandards grundsätzlich gewährleistet sein sollte. Kein System ist mit absoluter Sicherheit gegen Hackerangriffe gefeit. Folglich haben sich weder Santini noch seine Mitarbeiter in puncto Compliance etwas zuschulden kommen lassen, das einen Rücktritt erforderlich machte. In Deutschland ist es – anders als in den USA – nach wie vor nicht üblich, dass Vorstände wegen eines Datenskandals ihren Hut nehmen müssen. Das liegt einerseits an einem anderen kulturellen Umgang mit personenbezogenen Daten, andererseits an der unterschiedlichen Reglementierung des Datenschutzes. So gibt es in den USA nur wenige gesetzliche Regelungen zum Datenschutzrecht. Dort besteht also eine grundsätzliche Erlaub-

nis der Datennutzung, es sei denn, diese ist ausdrücklich verboten (Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt). Auch gesellschaftlich ist es in den USA deutlich stärker akzeptiert, dass Unternehmen private Daten erheben und nutzen. Kommt es jedoch zu Datenschutzverletzungen, etwa durch einen Hackerangriff, richtet sich der öffentliche Vorwurf oftmals gegen das Unternehmen, das nicht genug Vorkehrungen getroffen hat, um den Angriff abzuwehren. Hier wird häufiger die Forderung laut, dass Köpfe rollen sollen. In Deutschland ist das Datenschutzrecht dagegen stark reglementiert. Wer personenbezogene Daten ohne hinreichende Rechtfertigung nutzt, verhält sich rechtswidrig (Verbot mit Erlaubnisvorbehalt). Wird ein Unternehmen, das zur Datennutzung berechtigt ist, Opfer eines Hackerangriffs, weist die Öffentlichkeit die Schuld tendenziell eher den Hackern zu, die als „trickreiche Gangster“ gelten. Ein Rücktritt der Geschäftsführung wird deshalb meist nur bei grobem Fehlverhalten gefordert. Bei Taylor Wessing verfügen wir über eine unternehmensweite IT-Compliance-Struktur. Geschulte Mitarbeiter überwachen die Einhaltung gesetzlicher Anforderungen, vor allem beim Datenschutz. Sie gewährleisten, dass auch im schnelllebigen Alltag einer internationalen Anwaltssozietät keine Rechtsverletzungen auftreten, die zivil- oder gar strafrechtliche Konsequenzen haben. Santini sollte den Board dazu bringen, die unruhestiftende Rücktrittsforderung zurückzuziehen und alle Energie in einen starken öffentlichen Unternehmensauftritt zu lenken. Wieso nicht selbst in die Offensive gehen? Er könnte bei einem Pressetermin die Einführung der neuen IT-Sicherheitsmaßnahmen verkünden und dabei bestätigen, dass Simplepay an die Börse strebt. Dies wäre ein starkes Signal an die verunsicherten Kunden: Simplepay hat die Krise überwunden und richtet den Blick wieder nach vorn, um seine Position als Marktführer auszubauen.


allem, ob ein Rücktritt zur Debatte steht. Als CEO braucht Santini außerdem ein starkes Netzwerk von Mentoren und Experten, die ihn in der Krise beraten. An der Spitze eines Unternehmens ist es oft einsam, aber gute Führungskräfte bitten Berater ihres Vertrauens um Hilfe. Hätte Santini eine solche Strategie eingeführt, hätte Michelle Perez ihn beim Umgang mit Kunden und Medien zielgerichteter unterstützen können. Vielleicht hätte Jesse Gladstone dann auch schneller mit dem Simplepay-Service wieder online gehen können. Dann häte diese Krise nur eine kleine Delle in der Umsatzentwicklung hinterlassen, statt sich zu einer Katastrophe für das Unternehmen auszuwachsen. Bei der Dow Chemical Company, für die ich 20 Jahre lang tätig war, haben wir potenzielle Risiken sehr ernst genommen, weil in diesem Geschäft so viel auf dem Spiel steht. Wenn die Systeme versagen, kann es zu Umweltschäden kommen; schlimmstenfalls geht es um Menschenleben. Doch auch auf weniger hohe Risiken sollten Unternehmen gut vorbereitet sein. Auch der Diebstahl personenbezogener Daten ist eine ernste Krisensituation. Egal, ob Sie ein kleines Blumengeschäft oder ein global aufgestelltes Industrieunternehmen leiten – Sie brauchen in jedem Fall einen Plan für das Krisenmanagement. Leider kann Santini die Uhr jetzt nicht mehr zurückdrehen. Er muss sein Unternehmen in aller Demut durch diese Krise führen und die Verantwortung für sein Handeln übernehmen. Das kann durchaus auch bedeuten, dass er zurücktritt. Zumindest aber muss er die Ärmel hochkrempeln und dafür sorgen, dass das Unternehmen aus seinen Fehlern lernt und auf die nächste Krise besser vorbereitet ist.

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s besteht kein Zweifel daran, dass Simplepay durch ein Führungsversagen in diese Situation geraten ist. Jetzt steht das Management unter Beschuss; der Board hat seine Entscheidung getroffen. Da ist ein Rücktritt womöglich der einzige Ausweg. Aber so weit hätte es gar nicht kommen müssen. Beim Krisenmanagement hat sich in jüngster Zeit viel verändert. Noch vor 20 Jahren überließen es Topmanager ihrer PR-Abteilung, öffentliche Probleme auszubügeln. Pressemeldungen, in denen Manager sich entschuldigten, hatten Seltenheitswert – so etwas hielt man für ein Zeichen von Schwäche und juristischer Tollkühnheit. Heute legen Unternehmen mehr Wert auf Transparenz, und Topmanager wissen, dass sie bei Krisen an vorderster Front stehen müssen, um Sorgen auszuräumen und Fragen zu beantworten. Das hat der CEO von Simplepay leider nicht getan. Bei dem Hackerangriff handelte es sich nur um eine relativ kleine Datenpanne. Dennoch hat sie sich zu einem viel größeren Problem ausgewachsen, das nun die Zukunft des Unternehmens bedroht. Und das liegt vor allem daran, dass Santini in der Krise versagt hat. In jedem Unternehmen – vor allem wenn es so schnell wächst wie Simplepay – muss der CEO zwingend Zeit und Energie in das Problem- und Krisenmanagement investieren. Damit meine ich keine jährliche Pflichtübung, bei der Manager die beste Vorgehensweise aufschreiben, abheften und ins Regal stellen. Krisenplanung sollte ein wohlüberlegter, kontinuierlicher Prozess sein. Dazu gehört, über sämtliche potenziellen Risiken nachzudenken und zu diskutieren, von anderen Unternehmen zu lernen und aus diesen Überlegungen die richtigen Strategien für die eigene Organisation zu entwickeln. Durch eine solche Szenarioplanung hätte Santini sein Team führen müssen, damit Michelle Perez, Jesse Gladstone und alle anderen schon im Voraus wissen, was in solch einem Fall zu tun ist, wer welche Aufgabe übernimmt, wie schnell was erledigt sein muss – und vor

KANINA BLANCHARD ist President von Opportunity Creation, einer Unternehmensberatung mit Sitz in London und Ontario, die sich auf Problem- und Krisenmanagement spezialisiert hat.

„SANTINI HAT IN DER KRISE VERSAGT. DAFÜR MUSS ER VERANTWORTUNG ÜBERNEHMEN. DAS KANN AUCH BEDEUTEN, DASS ER ZURÜCKTRITT.“

NACHDRUCK Nummer 201510084, siehe Seite 102 oder www.harvardbusinessmanager.de © 2015 Harvard Business Publishing, Harvard Business Manager

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KAMPF GEGEN DIE DIGITALE ABLENKUNG Über E-Mails, soziale Medien und Nachrichtenwebseiten erreichen uns ohne Unterlass neue Informationen. Viele Arbeitnehmer haben Schwierigkeiten, sich davon zu lösen und sich auf ihre eigentlichen Aufgaben zu konzentrieren. Zwei Experten geben Ratschläge, was sich dagegen tun lässt.

ILLUSTRATION: SINAN KOÇASLAN / ISTOCKPHOTO

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ie digitale Reizüberflutung ist wohl eines der Hauptprobleme unseres heutigen Arbeitslebens. Tag und Nacht bombardieren uns Schreibtischcomputer, Laptops, Tablets und Smartphones mit so vielen Mitteilungen und Benachrichtigungen, dass wir uns kaum noch konzentrieren können. Und wenn wir einmal versucht sind, eine lästige Aufgabe hinauszuschieben, finden wir per Mausklick im Nu jede Menge Ablenkung im Internet. Diese Kultur der ständigen Empfangsbereitschaft wirkt sich nicht nur auf unsere beruflichen Leistungen, sondern auch auf unser Privatleben nachteilig aus: Wir vergeuden Zeit, Energie und Aufmerksamkeit für relativ unwichtige Informationen und Kontakte und sind dauernd beschäftigt, ohne dabei viel Sinnvolles zu produzieren. Wie der kürzlich verstorbene Kommunikationsforscher Clifford Nass und seine Arbeitsgruppe von der Stan-

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ford University zeigen konnten, sind Menschen, die ständig zwischen verschiedenen Informationsströmen hinund herjonglieren, bei ihrer Arbeit weniger aufmerksam und leistungsfähig. Außerdem haben sie ein schlechteres Gedächtnis als Mitarbeiter, die sich immer nur auf eine einzige Tätigkeit konzentrieren. Die digitale Reizüberflutung beeinträchtigt also unsere Produktivität und unseren Einsatz – und das nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch zu Hause. Laut Angaben der Information Overload Research Group – eines gemeinnützigen Konsortiums aus Forschern, Fachkräften und Unternehmensberatern – vergeuden Wissensarbeiter in den Vereinigten Staaten 25 Prozent ihrer Zeit mit der Bearbeitung ihrer enormen, immer stärker anwachsenden Datenströme. Das kostet die amerikanische Wirtschaft alljährlich 997 Milliarden Dollar. Über die Lösung dieses Problems sind sich die meisten Leute einig: Wir

müssen die digitale Reizüberflutung kontrollieren, bevor sie uns kontrolliert. Aber wie sollen wir das machen? Dazu haben wir zwei Fachleute nach ihrer Meinung gefragt: den Psychologen Larry Rosen und die Technologieexpertin Alexandra Samuel. Wir rechneten damit, dass uns die beiden aufgrund ihrer unterschiedlichen Ausbildungen und Tätigkeiten auch sehr unterschiedliche Empfehlungen geben würden. Unsere Vermutung erwies sich als richtig: Rosen ist der Ansicht, dass wir uns systematisch vom Informationsstrom abkoppeln und uns stattdessen Aktivitäten zuwenden sollten, bei denen wir uns geistig regenerieren können. Samuel dagegen meint, dass man sich gegen digitale Ablenkungen am besten durch den strategischen Einsatz digitaler Werkzeuge wehren kann. Zusammengenommen bilden die Lösungsvorschläge unserer beiden Experten einen hilfreichen Leitfaden, wie wir dieser großen und wachsenden Herausforderung begegnen können.


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arco – 38 Jahre alt und als Manager in einem Unternehmen tätig, das Lern-Apps entwickelt – beschäftigte sich jeden Morgen zuallererst mit seinem Smartphone. Noch während er im Bett lag, antwortete er auf Nachrichten, die er erhalten hatte. Beim Frühstück las er die Artikel in seiner App des Fernsehsenders CNN. Selbst auf der Fahrt zur Arbeit konnte er der Versuchung nicht widerstehen, immer wieder einen Blick auf den Bildschirm seines Smartphones zu werfen. Und auch im Büro wurde er ständig durch eingehende E-Mails und SMS abgelenkt, sodass er mit seinen wirklich wichtigen Aufgaben ins Hintertreffen geriet. Seine Kollegen beschwerten sich, weil er sich in Besprechungen fast nie einbrachte. Nach Feierabend beschäftigte er sich entweder mit seinem Smartphone oder saß an seinem Laptop, statt sich um seine Frau und seine Kinder zu kümmern. All das gestand mir Marco nach einem Vortrag, den ich an der Schule seiner Kinder gehalten hatte. Er fragte mich, ob ich ihm helfen könnte, seine Lebensgewohnheiten zu ändern. Ich versicherte ihm, dass er mit diesem Problem nicht allein dastände und dass ich ihn gern beraten würde. In den vergangenen Jahren haben sich nur wenige Psychologen mit den drastischen Veränderungen der Beziehung zwischen Mensch und Technik beschäftigt. In einer Untersuchung, die ich zusammen mit Kollegen 2008 erstmals durchführte und im vergangenen Jahr wiederholt habe, legten wir Angehörigen dreier Altersgruppen – Babyboomer, Generation X und Netzgeneration (in den 80er Jahren Geborene) – eine Liste mit 66 Tätigkeitspaaren vor. Wir fragten sie, welche dieser Dinge sie normalerweise gleichzeitig erle-

REGELMÄSSIG ABSCHALTEN VON LARRY ROSEN

digten. Auf der Liste standen beispielsweise Fragen wie „Schreiben Sie SMS, während Sie im Internet surfen?“ und „Verfassen Sie beim Essen E-Mails?“. Im Jahr 2008 hatten die Babyboomer im Durchschnitt 59 Prozent dieser Fragen mit Ja beantwortet; bei den Angehörigen der Generation X waren es 67 Prozent und in der Netzgeneration 75 Prozent gewesen. 2014 lagen die Prozentsätze höher: Sie betrugen 67 Prozent bei den Babyboomern, 70 Prozent in der Generation X und 81 Prozent in der Netzgeneration. Diesmal hatten wir eine weitere Altersgruppe mit aufgenommen: die iGeneration (in den 90er Jahren Geborene). Ihre Vertreter erledigten erstaunliche 87 Prozent der paarweise angeordneten Aktivitäten gleichzeitig – selbst dann, wenn sie bereits eine der beiden Tätigkeiten als schwierig empfanden.

MULTITASKING VERMEIDEN Leider zeigen Untersuchungen, dass Multitasking nicht immer eine erfolgreiche Strategie ist: Man kann zwei Aufgaben gleichzeitig nur dann gut bewältigen, wenn einem mindestens eine der beiden Tätigkeiten automatisch von der Hand geht. Eine Straße entlangzugehen und dabei Kaugummi zu kauen ist also kein Problem. Aber E-Mails abzurufen, während man an einer Telefonkonferenz teilnimmt? Sich durch die Neuigkeiten seiner Freunde auf Facebook zu scrollen und dabei gleichzeitig einer sinnvollen Arbeit nachzugehen? Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass schon das Vorhandensein eines Telefons dazu führt, dass Menschen weniger produktiv und vertrauensvoll sind. Und: Studenten, die beim Lernen unterbrochen werden, brauchen länger, um sich den Stoff einzuprägen, und stehen dabei stärker unter Stress. Gloria Mark von der University of California in Irvine hat festgestellt, dass sich Mitarbeiter meist nur drei Minuten lang einer Aufgabe widmen und sich dann etwas anderem (normalerweise einer elektronischen Kommunikation) zuwenden – und dass sie erst rund 20 MiOKTOBER 2015 HARVARD BUSINESS MANAGER

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nuten später wieder zu ihrer vorherigen Tätigkeit zurückkehren. Warum sind wir so anfällig für Ablenkungen durch Technik? Manche Leute bezeichnen die übermäßige Nutzung von Smartphones und Tablets mittlerweile schon als Sucht. Aber da die meisten von uns wenig Freude an diesem Verhalten zu haben scheinen, also eines der wichtigsten Kriterien für eine Sucht gar nicht erfüllt ist, würde ich es nicht so definieren. Es gibt andere, zutreffendere Bezeichnungen für dieses Phänomen: Fomo (Fear of missing out – die Angst, etwas zu verpassen), Fobo (Fear of being offline – die Angst davor, offline zu sein) und Nomophobie (die Panik, nicht ständig auf dem mobilen Telefon erreichbar zu sein). All diese Ängste grenzen an Obsessionen oder zwanghaftes Verhalten. Wir starren andauernd auf unsere Laptops, Tablets oder Smartphones, weil wir befürchten, irgendeine neue Information später zu erhalten als alle anderen, nicht schnell genug auf eine SMS oder E-Mail zu antworten oder einen Beitrag auf Twitter oder Facebook zu spät zu kommentieren oder mit „Gefällt mir“ zu markieren. Zahlreiche Studien sprechen für diese Einschätzung des Problems. In meinem Forschungslabor durchgeführte Untersuchungen haben ergeben, dass viele Menschen unabhängig vom Alter ihr Smartphone mindestens alle 15 Minuten überprüfen. Sie werden nervös, wenn man ihnen das untersagt. Meine Kollegin Nancy Cheever versammelte 163 Studenten in einem Vorlesungssaal. Nachdem sie Platz genommen hatten, durften sie nicht mehr miteinander sprechen, arbeiten oder ihre Telefone benutzen. Im Nachhinein beurteilte Cheever den Nervositätsgrad ihrer Probanden während der folgenden Stunde. Diejenigen Studenten, die ihr Smartphone normalerweise nur gelegentlich nutzten, zeigten keine Veränderung. Moderate User waren zunächst leicht beunruhigt, was sich aber nach einer Weile legte. Personen, die es gewohnt waren, ständig auf ihr Smart94

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phone zu schauen, verspürten dagegen direkt eine starke innere Unruhe, die sich mit der Zeit sogar noch steigerte. Was können wir gegen diese Nervosität unternehmen, um uns besser vor Ablenkungen zu schützen? In Vorträgen empfehle ich Studenten, Eltern, Lehrern und Managern drei Strategien. Alle beruhen auf der Annahme, dass man sich hin und wieder konsequent von der Technik abwenden muss, um sich neu sammeln und konzentrieren zu können.

REGELN AUFSTELLEN Zunächst sollten Sie sich mithilfe bestimmter Verhaltensregeln von Ihren digitalen Geräten entwöhnen: Prüfen Sie der Reihe nach auf all Ihren elektronischen Kommunikationsmitteln, ob Sie neue Nachrichten erhalten haben. Dann stellen Sie die Geräte aus und schalten Ihr Telefon stumm. Stellen Sie einen Wecker, der nach 15 Minuten klingelt,und nehmen Sie sich, sobald er klingelt, eine Minute Zeit, um alle digitalen Geräte zu checken. Wiederholen Sie das so lange, bis Sie Ihre Offlinezeit auf eine oder mehrere Stunden verlängern können, ohne nervös zu werden. Die zweite Strategie beruht auf Untersuchungen des amerikanischen Schlafforschers Nathaniel Kleitman. Er hat festgestellt, dass unser Gehirn 90-minütigen Ruhe-Aktivitäts-Zyklen folgt – nicht nur im Schlaf, sondern auch im Wachzustand. Daher sollten Sie alle anderthalb Stunden eine Pause einlegen, um sich geistig zu regenerieren. Das ist vor allem beim Multitasking mit elektronischen Geräten zu empfehlen, denn bei solchen Aktivitäten ist Ihr Gehirn überaktiv. Schon ein zehnminütiger Spaziergang in der freien Natur wirkt beruhigend. Stattdessen können Sie auch Musik hören, sich Kunstwerke anschauen, Sport treiben oder meditieren. Die dritte Strategie: Verbannen Sie technische Geräte aus Ihrem Schlafzimmer. Die National Sleep Foundation (NSF) und die Mayo Clinic warnen: LED-Geräte, die Blaulicht abstrahlen, stören den Schlaf – eine wichtige Rege-

nerationsphase, denn während des Schlafs verfestigt sich alles, was Sie tagsüber gelernt haben, in Ihrem Gehirn. Gleichzeitig entfernt Ihr Körper nutzlose Informationen und schädliche Stoffwechselprodukte Ihrer Nervenzellen. Daher empfiehlt die NSF, sich in der letzten Stunde vor dem Schlafengehen keine digitalen Texte oder Bilder mehr anzuschauen. Die Mayo Clinic rät, Bildschirme abends abzudunkeln und stets einen Abstand zum Gesicht von mindestens 35 Zentimetern einzuhalten. Bevor Sie zu Bett gehen, sollten Sie das Gerät aus dem Schlafzimmer entfernen. So unterbinden Sie die Ausschüttung von Nervenbotenstoffen, die das Gehirn auf Wachsein programmieren, und regen stattdessen die Produktion des Schlafhormons Melatonin an, das Sie in den Ruhezustand versetzt. Ich überzeugte Marco davon, zwischendurch immer wieder alle digitalen Geräte auszuschalten und in Zeiten, in denen er mit ihnen arbeitete, regelmäßig Erholungspausen einzulegen. Marco verließ fortan mehrmals täglich für kurze Spaziergänge sein Büro; er gewöhnte sich auch an, sein Handy abends in eine Küchenschublade zu legen. Schon nach einem Monat war er in der Lage, die Technik eine halbe Stunde lang zu ignorieren. Er wurde zufriedener, aufmerksamer sowie produktiver und hatte wieder mehr Energie für seine Arbeit übrig. Obwohl wir mithilfe technischer Geräte unsere Nerven zu beruhigen versuchen, nimmt unsere innere Unruhe durch eine Überdosis digitaler Berieselung in Wirklichkeit eher zu. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, müssen wir die Nutzungsdauer unserer Geräte begrenzen. Nur so können wir wieder lernen, uns zu konzentrieren.

LARRY ROSEN ist Professor für Psychologie an der California State University in Dominguez Hills.


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ie Beschäftigung mit unserer heutigen Technik ist so zeitintensiv, dass wir darüber leider oft etwas Wichtiges vergessen: Die Geräte sollen uns das Leben eigentlich erleichtern. Und wenn wir sie richtig einsetzen, dann können sie das auch. Zwei Jahrzehnte lang habe ich erforscht, wie Menschen technische Hilfsmittel nutzen. Dabei habe ich festgestellt, dass wir die moderne Technik nicht nur mit ihren eigenen Waffen schlagen können, sondern dass uns letzten Endes gar nichts anderes übrig bleibt, als genau das zu tun.

FEUER MIT FEUER BEKÄMPFEN VON ALEXANDRA SAMUEL

Tiffany Sauder – Gründerin und President der Branding- und Marketingagentur Element Three – weiß, wie schwer es für eine Führungskraft in einem wachsenden Unternehmen ist, rund um die Uhr im Netz zu sein. Das Jahr 2011 war für Element Three wirtschaftlich sehr erfolgreich verlaufen. Es war der Agentur zudem gelungen, einen Beratervertrag mit einem Großkunden abzuschließen. Tiffany erschien es an der Zeit, für sich und ihr Unternehmen eine stärkere öffentliche Identität zu schaffen. Sie wusste, dass sie dazu auf Twitter aktiv werden musste. Doch sich eine Präsenz in den sozialen Medien aufzubauen war ein schwieriges Unterfangen für eine Managerin wie sie, die ohnehin schon jeden Tag mit Nachrichten regelrecht überflutet wurde. „Allein die E-Mails waren ein Albtraum“, sagt sie. „Ich hatte das Gefühl, nur noch für meinen Posteingang zu arbeiten und nicht für mich selbst.“ Tiffanys Problem war nicht die Technik an sich, sondern wie sie damit umging. Wie so viele Führungskräfte, mit denen ich rede, nutzte sie keinerlei technische Werkzeuge, um ihre Onlinekommunikation zielgerichteter und produktiver zu gestalten.

UNWICHTIGES AUSSORTIEREN Elektronische Geräte einfach auszuschalten ist im digitalen Zeitalter keine sinnvolle Lösung. Schließlich findet an unseren Bildschirmen so viel Arbeit, Kommunikation und Kontaktpflege statt, dass es sich nur die wenigsten leisten können, an einem Arbeitstag – oder nach Feierabend und am Wochenende – längere Zeit offline zu sein. Eine vor Kurzem vom indischen Telekommunikationsunternehmen Tata Communications durchgeführte Umfrage hat gezeigt: Menschen in den USA, Europa und Asien verbringen im Durchschnitt mehr als fünf Stunden pro Tag im Internet. 64 Prozent werden nervös, wenn sie keinen Zugang haben.

Zunächst einmal sollte man den Irrglauben überwinden, ständig auf dem Laufenden sein zu müssen – man kann gar nicht alle E-Mails bearbeiten, sämtliche wichtigen Meldungen in den Medien lesen und dauernd wohldurchdachte Beiträge an seine sozialen Netzwerke senden. Stattdessen sollten Sie sich lieber bemühen, die Informationen, die Sie erhalten, zu begrenzen und zu sortieren. Außerdem sollten Sie beim Lesen, Beantworten und Teilen von Nachrichten so effizient wie möglich vorgehen. So gibt es beispielsweise nur wenige E-Mails, die Sie sofort bearbeiten müssen. Und manche Meldungen aus Ihrer Branche sind für Ihr berufliches Aufgabengebiet schlicht irrelevant. Es ist OKTOBER 2015 HARVARD BUSINESS MANAGER

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MEINUNGEN SELBSTMANAGEMENT

Dr. Thomas Birtel Vorstandsvorsitzender STRABAG SE

Die STRABAG SE – ein europäischer Weltmarktführer mit österreichischen Wurzeln Cafe Landtmann, Wien 9.10.2015

Stig Kyster-Hansen Leiter European Operations Management DB Schenker Rail AG

Eisenbahn in Echtzeit: Am Steuerpult des Schienengüterverkehrs Alpha Rotex, Frankfurt am Main 13.10.2015

Heinrich Deichmann Vorsitzender der Geschäftsführung Deichmann SE

Ethik im Management – Gewinnorientiert allein reicht nicht Wirtschaftsclub, Düsseldorf 9.11.2015

Alle Informationen und weitere Veranstaltungen unter contact@manager-lounge.com Tel.: +49 40 38080-500

www.manager-lounge.com

nicht immer leicht, den Posteingang Ihres E-Mail-Kontos zu beschränken. Die meisten Kunden, die ich berate, haben panische Angst davor, etwas zu verpassen. Doch sobald sie beginnen, Überflüssiges auszusortieren, stellen sie regelmäßig fest, dass die Kommunikation mit ihren Kunden und Kollegen effektiver wird. Sie werden auch besser darin, sich die passenden Informationen über ihr Fachgebiet zukommen zu lassen und sich ein Profil in den sozialen Medien aufzubauen – und all das mit relativ überschaubarem Zeitaufwand. E-Mails gehören zu den gefährlichsten Ablenkungen. Wenn Sie immer einen großen Rückstau ungelesener Mails in Ihrer Eingangsbox haben (oder wenn Sie gewissenhaft alle Nachrichten beantworten, sodass für Ihre übrigen Aufgaben kaum noch Zeit bleibt), dann könnte es für Sie sinnvoll sein, wenigstens einen Teil dieser Arbeit zu automatisieren. Bei Outlook, Gmail und den meisten anderen großen E-Mail-Diensten können Sie Nachrichten anhand bestimmter Vorgaben filtern, sodass nur noch die wichtigsten direkt zu Ihnen durchkommen. Weniger dringende Mitteilungen sortieren die Programme dann zur späteren Durchsicht automatisch in andere E-Mail-Ordner. Zu den Mails, die Sie wahrscheinlich nicht immer gleich lesen müssen, gehören Newsletter, Quittungen, interne Mitteilungen Ihres Unternehmens, Benachrichtigungen von sozialen Medien oder Mails, bei denen Sie lediglich in Kopie gesetzt sind. Selbst Einladungen zu Besprechungen müssen Sie nicht sofort zur Kenntnis nehmen – jedenfalls nicht, wenn sie gleichzeitig auch in Ihrem elektronischen Terminkalender erscheinen. All diese E-Mails laufen Ihnen jedoch nicht davon, sondern befinden sich in Ordnern, auf die Sie jederzeit zugreifen können. Sie sollten für diese Tätigkeit – je nach Umfang und Inhalt der Nachrichten – eine Stunde pro Tag oder Woche reservieren. 96

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Wenn Sie Ihre Mails auf diese Weise filtern, dann können Sie die Nachrichten, die noch in Ihrem Posteingang landen, leichter und schneller bearbeiten. Falls Sie befürchten, dass wichtige Mails durch das Raster fallen, können Sie immer noch in regelmäßigen Zeitabständen sämtliche Nachrichten überfliegen, die Sie bekommen haben. (Klicken Sie dazu bei Gmail den „Alle Nachrichten“-Ordner an oder durchsuchen Sie Ihre Mails nach dem Buchstaben „a“, um eine umfassende Darstellung zu erhalten).

NACHRICHTEN BÜNDELN Wenn Sie es gewohnt sind, sich im Internet über das Weltgeschehen zu informieren, bietet die Automatisierung ähnliche Vorteile. Die meisten Leute nutzen die verschiedensten Informationskanäle, Foren oder Blogs von Meinungsführern. Doch wenn Sie zu diesem Zweck jedes Mal lange im Internet suchen oder viele Artikel und Beiträge in den sozialen Medien überfliegen – auch solche, die für Sie gar nicht relevant sind –, dann verschwenden Sie Ihre Zeit. Sorgen Sie lieber dafür, dass die wichtigsten Informationen zu Ihnen kommen: zum Beispiel mithilfe einer Nachrichten-App wie Feedly (meiner Meinung nach am empfehlenswertesten, weil sie sowohl auf dem PC als auch auf mobilen Geräten läuft), Flipboard oder Reeder. Folgen Sie den für Sie wichtigsten Medien, Blogs und Diskussionen oder abonnieren Sie diese. So erhalten Sie die Informationen, die Sie benötigen, in gebündelter Form. Dann planen Sie bestimmte Zeiten – einmal täglich oder vielleicht auch nur ein paarmal pro Woche – für die Lektüre ein. Von dieser Vorgehensweise werden Sie am meisten profitieren, wenn Sie sehr genau angeben, welche Art von Artikeln Sie wünschen. Experimentieren Sie mit verschiedenen Kombinationen aus Suchbegriffen, Hashtags und Operatoren, die Sie in eine Suchmaschine eingeben (zum Beispiel „Produktivität UND #Automatisierung“),


und wandeln Sie die Ergebnisse dann in einen oder mehrere RSS-Feeds um. Nicht alle Suchdienste bieten RSSFeeds an, und bei manchen sind sie nicht ganz leicht zu finden. Doch sobald Sie die URLs für die von Ihnen erstellten Feeds haben, können Sie sie in Ihre Nachrichten-App hineinkopieren. Denken Sie daran: Sie können und müssen nicht alles lesen. Sie halten nur nach Erkenntnissen und Geschichten Ausschau, die für Ihr Fachgebiet wichtig sind. Zusätzlich sollten Sie vielleicht ein paar über Ihr Gebiet hinausgehende Beiträge zur Kenntnis nehmen. Dadurch erhalten Sie neue Denkanstöße und finden außergewöhnliche Themen, die Sie mit anderen teilen können. Wie aktiv sollten Sie selbst in den digitalen Medien sein? Wenn Sie regelmäßig twittern und Beiträge anderer User mit „Gefällt mir“ markieren oder favorisieren, dann können Sie Ihrem beruflichen Profil Glaubwürdigkeit verleihen und neue Kontakte knüpfen. Doch eine solche Onlinepräsenz aufrechtzuerhalten kostet viel Zeit. Deshalb empfehle ich überlasteten Führungskräften, zumindest einen Teil dieser Arbeit ebenfalls zu automatisieren. Mit einer Nachrichten-App geht das ganz einfach. Bei den meisten Anwendungen können Sie mit einem Mausklick Beiträge auf Twitter, Linkedin und Facebook posten. Noch effizienter ist es, mit einem Werkzeug wie Hootsuite, Buffer oder Social Inbox zu arbeiten: Mit diesen Hilfsmitteln können Sie mehrere soziale Netzwerke zugleich erreichen und Ihre Posts im Voraus planen. Sobald Sie ein solches Werkzeug entsprechend eingestellt haben, können Sie innerhalb einer knappen Stunde Ihre Updates für eine ganze Woche erstellen. Dazu brauchen Sie, während Sie die Beiträge in Ihrer NachrichtenApp lesen, einfach nur interessante Texte in Ihre Liste der vorausgeplanten Artikel zu stellen und bei Bedarf mit Kommentaren zu versehen. Diesen Arbeitsgang können Sie auf zeitsparende Weise in Ihre Nachrichtenlektüre inte-

grieren. Sie erhalten so solide Inhalte für eine tägliche Präsenz in den sozialen Medien – auch dann, wenn Sie keine Zeit haben, im Internet nach aktuellen Meldungen zu suchen, deren Links Sie mit anderen teilen können. Auch Tiffany Sauder nutzt mittlerweile die Vorteile der Automatisierung. Mithilfe von Gmail-Filtern trennt sie Marketingnewsletter, Benachrichtigungen aus sozialen Medien und wirklich wichtige Mitteilungen voneinander. Wenn sie im Laufe des Tages ihre E-Mails durchliest, kann sie sich auf die relevantesten Nachrichten konzentrieren. Jede Woche plant sie ein paar Zeitfenster ein, um den Rest durchzuarbeiten. Um Posts zu verschicken, in denen sie Informationen aus Branchennewslettern weiterleitet, verwendet sie Social Inbox. Tiffany hat aufgehört, nur noch für ihren E-Mail-Posteingang zu arbeiten. Sie hat die Abendstunden wieder zur freien Verfügung, und ihr Unternehmen floriert trotzdem. Durch Automatisierung können Sie Ablenkungen aus der digitalen Welt zwar nicht abschaffen, aber zumindest bekämpfen. Mit E-Mail-Filtern, Nachrichten-Apps, Planungstools für eigene Beiträge in den sozialen Medien und anderen Werkzeugen können Sie viel effizienter entscheiden, welche Informationen im Internet Ihre Aufmerksamkeit benötigen. So werden Sie in Zukunft weniger überlastet sein, und Sie werden sich wieder besser auf Ihre wichtigsten Aufgaben konzentrieren können – on- und offline, bei der Arbeit und zu Hause.

SERVICE LITERATUR LARRY ROSEN ET AL. (HRSG.): Wiley Handbook of Psychology, Technology and Society, Wiley 2015. LARRY ROSEN: Die digitale Falle. Treibt uns die Technologie in den Wahnsinn?, Springer Spektrum 2012. ALEXANDRA SAMUEL: Work Smarter with Social Media (E-Book), Harvard Business Review Press 2015. HBM ONLINE MICHAEL MANKINS ET AL.: So managen Sie Ihr knappstes Gut, in: Harvard Business Manager, Oktober 2014, Seite 20, Nachdrucknummer 201410020. AUF EINEN BLICK: Das MultitaskingParadox, in: Harvard Business Manager, April 2013, Seite 22, Nachdrucknummer 201304022. CATHY DAVIDSON: Aufmerksamkeit gezielt aufteilen, in: Harvard Business Manager, Mai 2012, Seite 96, Nachdrucknummer 201205096. INTERNET Vortrag von Larry Rosen über Informationsüberflutung auf der Konferenz Wisdom 2.0 im Jahr 2014: bit.ly/Larry_Rosen Blog-Artikel von Alexandra Samuel für die Harvard Business Review: alexandrasamuel.com/categories/ harvard-published KONTAKT lrosen@csudh.edu alex@alexandrasamuel.com

ALEXANDRA SAMUEL ist Unternehmensberaterin und Expertin für soziale Medien. Zuvor leitete sie die Forschung und Entwicklung zum Thema Social Media bei Vision Critical, einer Software- und Marktforschungsfirma, die mit einigen der in diesem Artikel erwähnten Unternehmen zusammengearbeitet hat.

NACHDRUCK Nummer 201510092, siehe Seite 102 oder www.harvardbusinessmanager.de © 2015 Harvard Business Publishing

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KOMMENTAR

KLARTEXT STATT KUSCHELKURS Wer eine Leistungskultur im Unternehmen etablieren will, muss auch ihre unangenehmen Seiten aushalten. Doch Führungskräfte scheuen sich allzu oft, schwache Leistungen von Mitarbeitern anzusprechen und zu sanktionieren. VON MICHAEL CHRIST

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itzen Sie auch manchmal im Foyer eines Unternehmens und beobachten die Mitarbeiter? Bisweilen sehe ich dort schlafwandelnde, freud- und orientierungslose Menschen, die dem Kollegen zuraunen: „Ich muss den Bericht noch fertig machen“, während sie grußlos an mir vorbeischlendern. Anderswo beobachte ich energiegeladene Mitarbeiter in freudigem Austausch, die mich wahrnehmen und mir zunicken. Ich spüre noch den Luftzug, wenn sie vorbeigegangen sind. Was ich in diesen Foyers beobachte, erweist sich nicht selten als Indikator für den Erfolg von Unternehmen. Denn diese können – wie wir wissen – am Markt nur bestehen, wenn sie für Kunden einen Mehrwert erzeugen. Das gilt auch für einzelne Abteilungen: Liefern sie keinen Mehrwert, müssen sie umstrukturiert oder aufgelöst werden. Aber darf diese Logik auch auf Mitarbeiter übertragen werden? Müssen sie gehen, wenn sie keinen Mehrwert für den Arbeitgeber liefern? Diese logische Konsequenz scheuen viele Unternehmen. Aber sie ist unerlässlich für den Aufbau einer Leistungskultur. Performance-Management gehört heute in vielen Unternehmen zum Alltag. Der individuelle Mehrwertgedanke findet sich in leistungsorientierten Vergütungssystemen ebenso wie im Talentmanagement. Leider liefern diese elaborierten Performance-Management-Systeme oft falsche Leistungsbewertungen. Denn die Kurve der gaußschen Normalverteilung von Talenten und Leistung im Team ist in den meisten Unternehmen nach rechts verschoben: Führungskräfte bewerten ihre Mitarbeiter zu positiv und inflationieren damit das System. Diese Verzerrungen dringen bis in Gehaltsverhandlungen und in die Karriereplanung vor, was zu krassen personellen Fehlentscheidungen führen kann. So stehen Unternehmen oft mit deutlich mehr Topmitarbeitern als Low-Performern da. Um dem entgegenzuwirken, verwenden viele Manager nur noch hart messbare Leistungskennzahlen. Dass diese dann immer die richtigen sind, wage ich zu bezweifeln. Andere Konzerne wie Yahoo und Amazon greifen auf Prinzipien wie Forced Ranking zurück, bei dem die Mitarbei98

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ter in Leistungsgruppen eingeteilt werden. Selbst wenn ein Unternehmen nur hervorragende Leute beschäftigt, muss es einen bestimmten Prozentsatz auf die Abschussliste setzen. Das fördert die Ellbogenkultur und führt zu absurden Effekten – dass Mitarbeiter sich etwa aus taktischen Gründen weigern, in leistungsstarke Teams zu wechseln. Daher haben einige Unternehmen wie Microsoft dieses Prinzip inzwischen wieder aufgegeben. In ihrem Bemühen um Ausgewogenheit missbrauchen Unternehmen sogar Kalibrierungsrunden. In denen sollen Führungskräfte eigentlich ihre Einschätzung von Mitarbeitern diskutieren und gegebenenfalls neu justieren. Allzu oft werden Mitarbeiter dabei aber so lange schlechtgeredet, bis die Bewertungen wieder in der Norm liegen. Dass Führungskräfte die korrigierten Ergebnisse anschließend vor ihren Mitarbeitern geheim halten, verwundert da nicht mehr.

WENIG MUT ZU KONFLIKTEN Managern fehlt häufig die Einsicht, dass sie den Mehrwertgedanken konsequent auch auf Mitarbeiter übertragen müssen. Sie scheuen sich, dauerhafte Nichtoder Schwachleistung zu sanktionieren, und bleiben im Gespräch mit den Betreffenden oft schwammig – auch wenn sie den Mehrwertgedanken ansonsten voll unterstützen. Oft flüchten sie sich in Argumente wie „Meine Mitarbeiter sind halt überdurchschnittlich gut“, „Wir wollen hier keine Hire-and-fire-Mentalität“ oder „Das ist nichts anderes als Turbokapitalismus“. Damit sind wir beim Kern des Themas Leistungskultur angelangt. Performance-Management-Systeme sind offenbar nur begrenzt geeignet, eine solche Kultur in Unternehmen zu schaffen. Existiert die Lust an Leistung nicht von vornherein, werden Mitarbeiter wie Manager solche Systeme kollektiv boykottieren. Grundlage jeder Leistungskultur ist, dass alle Beteiligten das Prinzip der Shifting Baselines akzeptieren. Es bezeichnet das Phänomen, dass sich die Orientierungspunkte, anhand deren wir unsere Umwelt beurteilen, schleichend verschieben. Was würde passieren, wenn die deutsche Fußballnationalmannschaft des Jahres


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MEINUNGEN PERFORMANCE-MANAGEMENT

1954 – mit dem damaligen Leistungsniveau – gegen die heutige ungarische Auswahl anträte? Es gäbe vermutlich kein Wunder von Bern, wir würden eher verwundert nach Bern schauen. Shifting Baselines zwingen auch Unternehmen zu immer neuen Anstrengungen. Mitarbeiter müssen sich mit ihrer Leistung einem Maßstab anpassen, der nur eine Richtung kennt: nach oben. Unmittelbar mit Shifting Baselines verbunden ist das zweite Prinzip: Benchmarking. Führungskräfte sollten sich die Frage stellen, welchen Maßstab sie für die Leistungsbeurteilung wählen. Ein sinnvoller Bewertungsmaßstab hängt immer von der Funktion des Mitarbeiters oder von der aktuellen Aufgabe ab. Will der Trainer einer Fußballmannschaft also die Sprintstärke des Teams beurteilen, sollte er sich das Leistungsniveau von Leichtathleten zum Ziel setzen, von deren Trainingsmethoden lernen und das Team an diesen Maßstab heranführen. Eine starke Leistungskultur beruht außerdem auf einem dritten Prinzip: Ehrlichkeit. Nur ehrliches Feedback, das klar die Schwachstellen des Mitarbeiters benennt, macht den Weg frei für eine persönliche Weiterentwicklung. Dafür braucht es jedoch eine ordentliche Portion Mut und Konfliktbereitschaft, denn vermutlich schätzt ein Mitarbeiter, dessen Leistung Sie bemängelt haben, seinen Beitrag zum Mehrwert des Unternehmens selbst ganz anders ein. Fragt man Mitarbeiter beispielsweise nach ihrem Anteil am Teamerfolg, so addieren sich die genannten Prozentsätze oft auf deutlich mehr als 100 Prozent. Auch fast 90 Prozent der Autofahrer glauben, sie führen besser als der Durchschnitt. Dieser sogenannte Dunning-Kruger-Effekt bezeichnet die Tendenz, seine eigenen Kompetenzen besser einzustufen als die anderer Menschen. Problematisch für das Thema Leistungskultur: Unwissenheit führt oft zu größerem Selbstvertrauen als Wissen. Forschungen zeigen, dass weniger kompetente Personen ihre Fähigkeiten eher überschätzen und schwache Leistungen mit größerer Selbstüberschätzung einhergehen als stärkere. Verschärfend kommt hinzu, dass diejenigen mit dem übertriebensten Selbstbild am wenigsten dazu bereit sind, ihre Einschätzung zu korrigieren.

MICHAEL CHRIST ist Professor für Human Resource Management und Soziale Interaktion an der Hochschule Mainz. Zuvor war er Global Head of Human Resources bei Döhler und Leiter Führungskräfteentwicklung bei der Lufthansa.

EHRLICHKEIT IST KEINE ZUMUTUNG Ehrlichkeit ist also unabdingbare Voraussetzung für die nachhaltige Employability der Mitarbeiter. Nur ehrliches Feedback macht Leistungsschwächen bewusst und zeigt in wohlverstandener Schonungslosigkeit, welche Fähigkeiten weiterentwickelt werden müssen. Natürlich ist es angenehmer für beide Seiten, wenn Führungskräfte Streicheleinheiten verteilen und nur die positiven Aspekte hervorheben. Langfristig bedeutet dies jedoch, dass Mitarbeiter weder ein Bewusstsein für ihre Schwachstellen entwickeln noch die Einsicht, dass Verbesserungen zwingend erforderlich sind. Das rächt sich besonders bei rasch wachsenden Unternehmen. Ohne persönliche Entwicklung wird der High Performer von heute zwangsläufig zum Low Performer von morgen. Auch wenn mancher Mitarbeiter diese Ehrlichkeit als Zumutung empfinden mag – die eigentliche Zumutung ist fehlende Ehrlichkeit im Umgang mit Schwachleistung. Sie kommt unterlassener Hilfeleistung gleich. Denn wer nach Jahren geschönter Leistungsbeurteilungen feststellt, dass der Rückstand gegenüber Kollegen oder externen Bewerbern uneinholbar groß geworden ist, muss mit Konsequenzen für die eigene Karriere rechnen. Fragt man erfolgreiche Führungskräfte nach ihren Managementfehlern, sagen sie oft, dass sie bei unbequemen Personalentscheidungen zu lange gezaudert haben. Deshalb muss allen klar sein, dass Leistungskultur nur schwer in einer Kuschelatmosphäre gedeiht. Nicht jedes Performancegespräch endet im Konsens. Ist der Leistungsrückstand nicht mehr aufzuholen und kann der Vorgesetzte dieses Urteil valide begründen, dann ist Konsequenz gefragt, nicht falsche Rücksichtnahme. Performancemanagement schließt Konflikt, berufliche Veränderung und gegebenenfalls Trennung mit ein.

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HOLGER RUST ist Professor für Sozialwissenschaften mit den Schwerpunkten Arbeit, Wirtschaft und Karriere an der Universität Hannover. Daneben arbeitet er als Publizist und Unternehmensberater vor allem auf den Gebieten der Kommunikationskultur in Unternehmen. Wollen Sie unserem Kolumnisten Ihre Meinung sagen, schreiben Sie eine E-Mail: holger_rust@harvardbusinessmanager.de

MÜHELOSE MEISTERSCHAFT

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un sind wir alle wieder da. Und als mentales Souvenir der Sommertage bleibt der Wunsch, jene Gelassenheit in den Alltag hinüberzuretten, das Gefühl der Leichtigkeit auch dann noch zu bewahren, wenn man im grauen Flanell im Sitzungssaal auf den durch schalldichte Fenster ausgeschlossenen Verkehr im herbstlichen Regen blickt. Das diffuse Gefühl stellt sich ein, man vermisse etwas Südliches. Nicht das Dolcefarniente. Es ist mehr, liegt tiefer. Es ist etwas, das man in den durchaus geschäftigen Zauberstädten des mediterranen Europa beobachten kann, wenn die Damen und Herren der Businesswelt ihren Kaffee mit einer geradezu unverschämten Selbstverständlichkeit zu sich nehmen, in Madrid und Mailand, Barcelona und Turin, Valencia und an den italienischen Stätten des Rinascimento, an denen Mode, Kunst und weltweiter Handel schon vor Jahrhunderten blühten. Damals, 1528, prägte der Philosoph und Berater von Päpsten, Fürsten und Kaufleuten, Baldassare Castiglioni, in seinem „Libro del Cortegiano“ einen Begriff, der all das umfasst, nach dessen dauerhafter Bewahrung sich der sommerlich-südlich gelüftete Geist auch in seinen winterharten Geschäften sehnt: Sprezzatura. Die wörtliche Übersetzung des Titels („Das Buch des Höflings“) würde heute täuschen, auch das zeitgemäße Synonym – Gentleman – verkennt, dass die Courtoisie sich mittlerweile nicht mehr im Verhältnis von Männern zu Frauen darstellt, sondern als Lebensstil, der zwischen Geschlechtern so wenig unterscheidet wie zwischen Altersgruppen und Zugehörigkeiten zur betrieblichen Hierarchie. Doch die eben beschriebene, aber nur vage zu fassende Sehnsucht zeigt, dass die Kraft solcher Begriffe nicht nachlässt, zumal viel Mühe verwendet wird, das Bedürfnis mit neuen Etiketten wie Coolness oder Lässigkeit zu erfassen.

Aber Sprezzatura ist weit mehr. Und vielleicht ist es deshalb in den vielen Jahren, die seit der Geburt des Begriffs vergangen sind, nie wirklich gelungen, eine definitorische Festlegung zu treffen. Wir lesen von einer ungezwungenen, entspannten Leichtigkeit, von unangestrengter Virtuosität, von müheloser Meisterschaft. Zum Beispiel in „Sprezzatura: 50 Ways Italian Genius Shaped the World“ von Peter D’Epiro und Mary Desmond Pinkowish, bei Random House 2001 herausgegeben. Oder in einem mehrteiligen Report von Klaus Ahrens über Businessmode im manager magazin im November (!) 2012. Doch diese Eleganz ist nicht nur die der Kleidung, von der Giorgio Armani sagte, dass die größte Mühe darin bestehe, das Einfache zu kreieren. Übertragen äußert sie sich gleichermaßen und ganzheitlich auch im Stil der Führung, in der Kollegialität, in der trefflichen Sprache, der Vermeidung von Klischees, Stereotypen und gestanzten Modevokabeln, pflegt selbst im Small Talk Substanz, dies aber stilistisch der Situation angemessen. Das Wichtigste aber, das wir bereits bei Castiglione und denen lesen, die sich in vielen Hundert Kommentaren geäußert haben, ist dies: Grundlage dieser Leichtigkeit ist eiserne Disziplin, lebenslange Lernbereitschaft auch für Dinge, die nicht unmittelbar zum Job gehören, ein breites und begründetes Wissen und das Wissen ums Nichtwissen.

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ÜBERSETZER Seite 6; ursprünglich veröffentlicht in Harvard Business Review Nr. 6, Juni 2015. Originaltitel: „To Innovate Better, Find Divergent Thinkers“. Übersetzung: Ingmar Höhmann. Seite 10; ursprünglich veröffentlicht in Harvard Business Review Nr. 7/8, Juli/August 2015. Originaltitel: „For Founders, Preparation Trumps Passion“. Übersetzung: Ingmar Höhmann. Seite 12; ursprünglich veröffentlicht in Harvard Business Review Nr. 7/8, Juli/August 2015. Originaltitel: „The Internet Makes You Think You’re Smarter Than You Are“. Übersetzung: Ingmar Höhmann. Seite 20; ursprünglich veröffentlicht in Harvard Business Review Nr. 7/8, Juli/August 2015. Originaltitel: „Why We Love to Hate HR... and What HR Can Do About It“. Übersetzung: Manfred Schnitzlein. Seite 30; ursprünglich veröffentlicht in Harvard Business Review Nr. 7/8, Juli/August 2015. Originaltitel: „People Before Strategy: A New Role for the CHRO“. Übersetzung: Manfred Schnitzlein. Seite 46; ursprünglich veröffentlicht in Harvard Business Review Nr. 7/8, Juli/August 2015. Originaltitel: „Bright, Shiny Objects and the Future of HR“. Übersetzung: Manfred Schnitzlein. Seite 68; ursprünglich veröffentlicht in Harvard Business Review Nr. 4, April 2015. Originaltitel: „SC Johnson’s CEO on Doing the Right Thing, Even When It Hurts Business“. Übersetzung: Manfred Schnitzlein. Seite 74; ursprünglich veröffentlicht in Harvard Business Review Nr. 4, April 2015. Originaltitel: „How to Launch Your Digital Platform“. Übersetzung: Manfred Schnitzlein. Seite 84; ursprünglich veröffentlicht in Harvard Business Review Nr. 7/8, Juli/August 2015. Originaltitel: „Who Should Take the Fall?“. Übersetzung: Marion Zerbst. Seite 92; ursprünglich veröffentlicht in Harvard Business Review Nr. 6, Juni 2015. Originaltitel: „Conquering Digital Distraction“. Übersetzung: Marion Zerbst. Seite 106; ursprünglich veröffentlicht in Harvard Business Review Nr. 7/8, Juli/August 2015. Originaltitel: „Life’s Work: Ken Burns“. Übersetzung: Ingmar Höhmann.

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FALLSTUDIE Ein mittelständischer Sportartikelhersteller will sein Image mithilfe einer attraktiven Tennisspielerin verjüngen. Doch die neue Werbekampagne gerät zum Flop. Was nun?

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FÜNF MINUTEN MIT …

FOTO: PETER MURPHY

Herr Burns, warum sollten sich Manager mit Geschichte beschäftigen? BURNS In den späten 70er Jahren hat sich einmal ein Topmanager eines großen Telekommunikationsunternehmens bei mir beschwert. Er sagte, die Business Schools würden Absolventen ausbilden, die von Geisteswissenschaften keine Ahnung hätten. Er war besorgt, dass sie sich wie Automaten verhalten würden. „Ich kann diesen Leuten geschäftliche Fähigkeiten beibringen, aber ich kann sie nicht Ethik, Geschichte oder Kunst lehren.“ Manager sollten sich in der Geschichte auskennen. Sie können unmöglich wissen, wo Sie sich gerade befinden oder wo Sie hingehen, wenn Sie nicht wissen, wo Sie herkommen.

KEN BURNS Der US-Dokumentarfilmer bringt seinen Zuschauern seit mehr als 30 Jahren das Leben von Präsidenten, Abenteurern und Sportlern nahe. Nach ihm ist der Ken-Burns-Effekt benannt, bei dem die Kamera auf verschiedene Details von Standbildern schwenkt und heranzoomt, um unbewegten Bildern Lebendigkeit zu verleihen. Burns hat viele renommierte Filmpreise gewonnen und ist einer der einflussreichsten Dokumentarfilmer Amerikas.

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Wir leben in einem Zeitalter schwindender Aufmerksamkeitsspannen. Fühlen Sie sich gezwungen, kürzere Filme zu produzieren? BURNS Als 1990 meine Dokumentarserie „Der Amerikanische Bürgerkrieg“ erschien, hatte der Musiksender MTV schon Videos populär gemacht, die schnell und actionreich waren und viele Schnitte enthielten. Kritiker sagten, dass sich niemand meinen Film anschauen würde, aber die Einschaltquoten waren grandios. Als 2007 „The War“ herauskam, gab es nicht mehr nur 15, sondern 515 TV-Kanäle. Die Kritiker waren sich wiederum sicher, dass niemand meinen Film sehen würde. Sie irrten sich. Und 2014 hatte „The Roosevelts“ mehr Zuschauer als die Fernsehserie „Downton Abbey“. Die Welt wird von Informationen überflutet, aber richtig verstanden wird davon nur wenig. Wir wissen alle, wie es ist, wenn wir die Webseite der „Huffington Post“ überfliegen und uns nach 20 Minuten an nichts mehr erinnern können. Damit Unternehmen gut arbeiten können und Kunst gut funktionieren kann, braucht es die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit lange aufrechtzuerhalten. Alle Menschen streben da-

nach, egal wie vielen Ablenkungen sie ausgesetzt sind. Bedeutung entsteht erst über einen längeren Zeitraum. Hat sich Ihr Bild von Führung über die Jahre verändert? BURNS Es ist mehr oder weniger gleich geblieben. Ich finde es wunderbar, dass Führungsstärke in so vielen Facetten daherkommt und in so unterschiedlichen Erfahrungen ihren Ursprung hat. Schauen Sie sich den früheren US-Präsidenten Abraham Lincoln an. Er kam am Rande der Zivilisation in Armut zur Welt. Franklin Roosevelt hingegen, der so privilegiert aufwuchs, hätte sein Leben mit Müßiggang verbringen können. Könnten die großen Anführer, mit denen Sie sich in Ihrer Arbeit beschäftigt haben, in der modernen Politik Erfolg haben? BURNS Nein. Wir wählen unsere Anführer heute auf katastrophale Weise aus. Wir erwarten Perfektion, und wenn wir sie nicht finden, beschweren wir uns darüber, dass es keine Helden gibt. Aber Heldentum, so wie es die Griechen definierten, ist immer eine Verhandlung zwischen Stärken und Schwächen. Vielleicht bin ich ein wenig forsch, wenn ich sage, dass Leute wie die Roosevelts oder Lincoln heute schon bei den Vorwahlen in Iowa scheitern würden. Aber es wäre auf jeden Fall sehr schwierig für sie, in einem derartigen Umfeld erfolgreich zu sein.

Mit KEN BURNS sprach Daniel McGinn, Redakteur der Harvard Business Review.

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