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CHARAKTERKÖPFE

Samstag, 17. November 2007

. ■■ Wie sieht diese Nutzung aus?

CHARAKTERKOPF: OLIVER W. SCHWARZMANN

SCHWARZMANN: Bäder werden zu Wellnessoasen und Küchen zu Bistros, in denen Events und Kommunikation stattfinden. ShoppingMalls in den Citys sind aber bald out, weil dort nur noch geguckt wird. Gekauft wird dann zuhause im Internet, weshalb die Wohnung immer mehr zur interaktiven Bühne des Konsums wird. Und wer statt TV-Geräten private Kinosäle verkauft, wird auch in Zukunft gute Geschäfte machen. Was hat die Kaffeebranche geboomt, als sie den Espresso-Trend konsequent bedient hat.

„Wir streben nach dem Echten, dem Reinen aus der Natur“

■■ Und welcher Trend wird noch in Bälde durchschlagen? SCHWARZMANN: Der demographische Wandel. Ein Aspekt, den dabei noch kaum jemand sieht, ist der verengte Erbschaftstrichter. Weil es kaum mehr Nachkommen gibt, fließen Besitz und Vermögen nicht mehr in die Breite, sondern konzentrieren sich bei Wenigen. 1960 ging ein Erbe noch an vier Erben. 1980 lag der Teiler nur noch bei 2,5 und 2010 kommt er bei 1,2 heraus. Parallel steigt das Erbeintrittsalter von 35 auf 55 Jahre, das heißt Senioren werden Supersenioren beerben und Reiche Superreiche.

Das Ende der Singularisierung, weil die Menschen nicht noch mehr vereinsamen wollen, sagt er ebenso vorher wie die Urbanisierung, weil immer mehr Wertschöpfung in den Metropolen erfolgt. Ex-Banker Oliver W. Schwarzmann ist Trendforscher, der die Zukunft interpretiert. Jens Gieseler hat sich mit dem Remstäler unterhalten. ■■ Herr Schwarzmann, mit welchen Methoden arbeiten Sie? OLIVER W. SCHWARZMANN: Für uns Banker ist es normal, uns mit Markttrends und Prognosen zu befassen. Ich wollte mich mehr und ausschließlich mit Zukunft befassen. So habe ich 1995 mein Institut für Zukunftskonditionierung gegründet und begonnen, ein globales Netzwerk von Experten aus Wissenschaft und Forschung, aus der Unternehmenspraxis und aus Medienkorrespondenten aufzubauen. ■■ Wie aber kommen Sie zu Ihren Er-

kenntnissen? SCHWARZMANN: Mein Vordenkerpool umfasst heute rund 125 Personen überwiegend aus Europa, aber auch den USA und Asien. Wir verstehen uns als Zukunfts-Tank, in den wir Entwicklungsfakten zusammentragen und diese kreativ als mögliche Perspektiven interpretieren. Unsere Kernthemen sind Umgang mit steigender Komplexität, Vermarktungsfähigkeit von Ideen und Produkten und Kommunikation. ■■ Wie wichtig ist für Sie als Ökonom das kreative Denken? SCHWARZMANN: Es ist essentiell. Doch Kreativität braucht in der Ökonomie noch mehr Akzeptanz. Dazu eine Anekdote: Der griechische Philosoph Aristoteles ließ für jede neue Idee, die er hatte, einen Ochsen schlachten. Seither haben Ochsen Angst vor neuen Ideen. Die Zukunft bringt immer etwas anderes als wir erwarten. Als ich damals meine Aus-

Steckbrief Der am 18. August 1963 geborene Oliver W. Schwarzmann wächst in Murrhardt auf. Sein Vater ist Münchner und Vertriebsleiter in der Lebensmittelbranche, die Mutter Schneiderin mit eigenem Atelier. Nach dem Abitur absolviert er eine Bankkaufmannslehre und vertieft die Bereiche Marketing, Kommunikation und Vertrieb. Als Strategieentwickler und Fachreferent entdeckt er die Trend- und Zukunftsforschung, gründet 1995 sein Institut für Zukunftskonditionierung und schreibt sein erstes Buch „Spirit Selling“. 1996 gründet er mit Nick Bley, einem Werbespezialisten, in Waiblingen die Bley-undSchwarzmann-Gesellschaft. Schwarzmann referiert und publiziert über wirtschaftliche Zukunftsthemen und ist Entwickler der Schwarzmann-Prinzipien, die Modelle über Zukunftsentwicklungen beschreiben. Der Autor weiterer Bücher und Studien bringt alle zwei Monate sein Magazin „Der Vordenker“ heraus.

sen. Dieser Trend wird sich verstärken.

„Besitz und Vermögen konzentrieren sich bei Wenigen“

bildung begann, dachte jeder, Bankkaufmann sei der sicherste Beruf der Welt. Und schon in der Schule war meinen Lehrern meine Phantasie eher lästig, heute ist sie meine wichtigste Ressource. Je besser wir uns die Zukunft vorstellen können, desto effektiver können wir handeln. Wir sollten viel mehr Zeit mit Beobachten und Vordenken, also

„Wir sollten mehr Zeit mit dem Beobachten verbringen“ mit der Pflege unserer Vorstellungskraft, verbringen und im weitesten Sinne Künstler werden. Nur so können wir auch ökonomisch bestehen. ■■ Können Sie das belegen? SCHWARZMANN: Wir leben in gesättigten Märkten. Der Kunde hat im Grunde schon alles. Und nach 50 Jahren Werbefernsehen kennt er alle Produktversprechen bereits.

Das erfordert neue Ideen, Inspiration, also ein hohes Maß an Kreativität. Der Kunde macht heute ein Geschäft, weil er sich entfalten und weiterentwickeln will. Und Produkte werden nicht mehr verkauft, sondern vom Kunden auserwählt. Anbieter müssen sich deshalb auf eine neue Weise spezialisieren, eigene Philosophien und Fantasien inszenieren, damit ihre Angebote und Dienstleistungen außergewöhnlich, ja einzigartig werden. Da fällt dem Marketing eine große Aufgabe zu. ■■ Worin sehen Sie aktuell den größten Trend? SCHWARZMANN: Einer der elementarsten, globalen Trends derzeit ist der Klimawandel. Er hat gigantische Auswirkungen zum Beispiel auf unsere Immobilien und damit für das Handwerk. Denn wenn sich das Klima nicht mehr wie gewohnt gemäßigt verhält, brauchen wir andere Bauweisen. Wir erleben den Wandel vom Arbeitshaushalt zum Erlebnishaushalt. Das stellt ganz neue Anforderungen an die Beratung, es zählen ganz neue Argumente. Baumärkte verkaufen schon heute nicht mehr über den Preis, sondern über die Lebensgestaltung.

„Viele fühlen sich in ihren Jobs fremdbestimmt“ ■■ Geht es etwas konkreter? SCHWARZMANN: Viele fühlen sich in ihren Jobs fremdbestimmt und nutzen ihre Freizeit als Selbstverwirklichungsprojekt. Das Verkaufsargument lautet dann häusliche Lebenskunst. Im Baumarkt findet konkrete Selbstverwirklichung statt. Ikea beispielsweise verkauft keine Möbel, sondern einen bestimmten Lebensstil. Aber bleiben wir beim Klimawandel: Vor zehn Jahren mussten Sie für eine Klimaanlage im Auto Aufpreis bezahlen. Heute lässt sich kein Automobil mehr ohne verkaufen. Denn Klima ist nicht nur Wetter, sondern auch ein Synonym für das Gefühl individueller Atmosphäre. ■■ Ökologie und Ökonomie bilden also keine Gegensätze mehr? SCHWARZMANN: Nein. Ich sagte ja eingangs, alle Branchen durchdringen sich wechselseitig. Das ist wieder so ein Beispiel. Denn wenn steigende Energiekosten zum Wirtschaftsfaktor werden, wird Energiesparen zum Anreiz. Interessanterweise sind wir zwar mit Second Life im Internet in der Virtualisierung und Simulation sehr weit vorgedrungen. Parallel verstärkt sich aber der Gegentrend des Naturalismus

und der Bionik. Wir streben nach dem Echten, dem Realen, dem Reinen aus der Natur und den traditionellen Herstellungsverfahren von unseren Textilien bis zu den Lebensmitteln. Je mittelalterlicher die Märkte, desto erfolgreicher sind sie. Und wir nutzen in der Technik immer mehr Lösungen von der Natur: Vom Lotuseffekt der Fassade, die nicht verschmutzt, bis zur Haifischhaut des Flugzeugs, die den Luftwiderstand verringert und damit Energie spart.

■■ Das hat welche Konsequenz? SCHWARZMANN: Was die wenigsten sehen: Mit dieser Verengung verknappen sich die Kundenkontaktchancen. 2040 hat dieses Land nur noch 64 Millionen Einwohner. Darunter wird es viele Arme geben, die als Kunden kaum interessant sind. Und viele sehr Reiche, die aber keine drei Bäcker, sieben Metzger oder acht Friseure brauchen. Auch die Fachkräfte werden sich verknappen und die Spaltung zwischen reich und arm, jung und alt wird größer.

■■ Wie verändert sich die Arbeits-

welt? SCHWARZMANN: Die Schwelle von der Berufstätigkeit in den Ruhestand wird fließender, weil viele alte Menschen produktiv bleiben wollen oder dazuverdienen müssen. Auch der Fachkräftemangel wird eine Rolle spielen, dass die alten Arbeitnehmer länger bleiben. Die gescheiterte Fusion von Daimler und Chrysler belegt zudem, dass die Firmen nicht mehr immer größer werden, sondern im Gegenteil immer kleiner. Und weil es in allen Bereichen Überangebote gibt, werden die Firmen viel Energie in Kreativität und Marketing stecken, um ihre Kunden zu finden. ■■ Können Sie ein Beispiel geben,

■■ Wie lautet Ihre Prognose für den

Finanzmarkt? SCHWARZMANN: Der Finanzmarkt entwickelt eine solche Eigendynamik, dass man alleine durch Fleiß und Sparsamkeit nicht mehr reich werden kann. Dort werden zunehmend Milliardenvolumen konzentriert, die der Einzelne als private Altersvorsorge einspeist. Ob seine Ersparnisse aber fürs Alter reichen, weiß so richtig keiner. Ich denke, sie reichen eher nicht, weil wir alle länger leben. 2011 wird es aber beginnen, dass Neurentner in größerem Umfang ihre Gelder von der Börse abziehen, weil sie davon leben müs-

was Sie damit meinen? SCHWARZMANN: Schnelligkeit und Beliebigkeit prägen aktuell unsere Gesellschaft. Damit wächst die Sehnsucht nach Entschleunigung und Orientierung. Handwerker können sich in dieses Szenario einklinken, wenn sie ihren Kunden bei der Sinnfindung und Neuausrichtung helfen. Vielen Menschen fehlen Kreativität und Phantasie, sich selbst neu auszurichten. Deshalb boomen Architektur, Kunsthandwerk oder philosophisch-esoterische Angebote und Zirkel. Im Kern geht es doch um Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit.

■■ Was prognostizieren Sie?

SCHWARZMANN: Bis in 30 Jahren werden alle Menschen in Ballungszentren leben. Daneben wird es weite Landstriche geben, die veröden und die sich die Natur zurückholt. In Teilen Frankreichs oder in Mecklenburg-Vorpommern sehen wir den Trend schon sehr deutlich. Aktuell leben zwei Prozent der Weltbevölkerung in den zehn größten Metropolen, die bereits heute ein Fünftel des internationalen Bruttosozialprodukts erwirtschaften. Das zeigt, wie Effizienz steigernd die Zentren sind. Interessant ist auch, dass die Zentren der Welt die größte Onlinedichte aufweisen. Das heißt: Lokalität und Virtualität entwickeln sich gegenseitig. ■■ Welche Auswirkungen hat diese

Urbanisierung auf den Immobilienmarkt und das Handwerk? SCHWARZMANN: Die Bevölkerungsdichte steigt. Parallel wächst durch die Singularisierung der ProKopf-Bedarf. Früher lebte eine Familie mit zehn Personen auf 100 Quadratmetern, heute braucht der Einzelne im Schnitt 45 Quadratmeter. Weil aber viele, die es in den 70-er Jahren als emanzipatorischen Akt empfanden, allein zu leben, nun vereinsamen, boomen neue Wohnformen. Auch die Refamilisierung wird kommen, weil sich das Denken durchsetzt, dass Kinder wesentliches Element der Lebensqualität sind. Außerdem stiften Kinder Sinn – und den suchen heute fast alle in ihrem Leben. Häuser und Wohnungen müssen also sich wandelnden Anforderungen an die Nutzung angepasst werden.

Oliver W. Schwarzmann: „Der Finanzmarkt entwickelt eine solche Eigendynamik, dass man alleine durch Fleiß und Sparsamkeit nicht mehr reich werden kann.“

Unsere Charakterköpfe 2007 In der Reihe „Charakterköpfe“ interviewten unsere Mitarbeiter exklusiv den Liedermacher Gerhard Schöne, die Lyrikerin Friederike Mayröcker, die Swing-Legende Paul Kuhn, die Filmschauspielerin Anne Mühlmeier, Kurienkardinal Walter Kasper, „Autopapst“ Willi Diez, den Widerstandskämpfer Franz-Josef Fischer, JuniorenTurn-Europameister Helge Liebrich, die Perkussionistin Jasmin Kolberg, den Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen, den Kabarettisten Dieter Nuhr, den ehemaligen Ministerpräsidenten Erwin Teufel, den Unternehmensberater Cay von Fournier, den Reformpädagogen Alfred Hinz, den SPD-Vordenker Erhard Eppler, den Ex-Profifußballer Karl Allgöwer, den Dirigenten Helmuth Rilling, die Krimiautorin Ingrid Noll, Liedermacher Hans Söllner, den Literaturkritiker Hellmuth Karasek, den ehemaligen Bankier Hermann Möller, den Ozeanografen Stefan Rahmstorf,

den Laufexperten Herbert Steffny, den Cellisten Daniel MüllerSchott, den Ulmer Oberbürgermeister Ivo Gönner, Überlebensberater Johannes Warth, das FDPUrgestein Georg Gallus, den Staatsopernintendanten Albrecht Puhlmann, den Psychiatrie-Experten Klaus Dörner, die Kabarettistin Maren Kroymann, den Zirkusunternehmer Sascha Melnjak, den Turnerbund-Präsidenten Rainer Brechtken, den Hochschulrektor Jürgen van der List, den ehemaligen Hindernisläufer Patriz Ilg, den Sportler-Anwalt Christoph Schickhardt, die Spinnen-Expertin Ortrun Lisa Winter, den Dirigenten Sir Roger Norrington, den Journalisten Ulrich Wickert, die Straßenrad-Weltmeisterin Hanka Kupfernagel, den Sozialpädagogik-Professor Hans-Jochen Wagner, den Musiker Peter Herbolzheimer, den Synodalen Martin Bauch und die Sopranistin und Musical-Star Deborah Sasson.


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