Oliver W. Schwarzmann
Strategie & Organisation in Zeiten ökonomischer
Hyper-Komplexität Impuls-Expedition zu einem Phänomen
„Die größte Aufgabe für Strategie und Organisation ist die Urbanisierung von Komplexität.“ Oliver W. Schwarzmann
Prolog Begegnung mit dem Unbestimmbaren Komplexität ist ein populäres Schlagwort unserer Zeit und wird als zunehmende Alltagserfahrung in vielen Auditorien diskutiert. Der Begriff Komplexität hat damit die thematische Umlaufbahn seiner bisherigen Betrachtungsebenen verlassen. Doch hinter dem Modetitel steht eine ebenso faszinierende wie geheimnisvolle Erscheinung. Denn der Kosmos des Komplexen ist ein instabiles Reich aus Unbestimmtheiten, spontanen Effekten und unvorhersehbaren Möglichkeiten.
Das Phänomen ist so vielschichtig wie seine Wirkung. Komplexität repräsentiert sowohl die Vielfältigkeit einer dynamischen und flexiblen Welt als auch die Unkalkulierbarkeit eines sich ständig verändernden Globus. Sie ist zweifellos die Physiognomie der Evolution, bereits ein Blick in die Anatomie des Fortschritts zeigt: Keine Entwicklung ohne die Ausbreitung komplexer Effekte. Komplexität ist aber auch zum Symbol einer schnelllebigen, unüberschaubaren und unsicheren Zeit geworden. So eindeutig wie ihr Auftritt, so vieldeutig erweist sie sich im Versuch einer Definition.
Der Schlüssel zur Komplexität ist, sie als Potenzial verstehen und ergründen zu wollen. Hierfür steht unser gesellschaftliches wie ökonomisches und bisher auf Problemwahrnehmung fokussiertes Komplexitätsverständnis erst am Beginn eines adäquaten Niveaus. Zunehmend erkennen wir die fulminante Bedeutung komplexer Vorgänge und ihrer strukturellen Dominanz für die Prägung unserer weiteren Entfaltung als ökonomische Zivilisation.
Da Komplexität von den meisten Menschen wie Unternehmen als Schwierigkeit empfunden wird, haben Konzepte zur Reduzierung komplexer Penetranz Hochkonjunktur. Doch trotz vieler Ansätze gilt nach wie vor: In welcher Weise müssen wir der zunehmenden Komplexität begegnen? Wo liegt der Schlüssel zu ihrer Beherrschbarkeit?
Vielleicht finden wir einen Hinweis in der Zukunft der Komplexität. Denn die Massenmedialisierung und ihre global immer dichter werdende Vernetzungsurbanisierung inklusive der zunehmenden Konvergenz unterschiedlicher Systeme katapultieren uns in eine höhere Dimension, die ich als Phase der „Hyper-Komplexität“ bezeichne. Ich denke, dass uns dieses Stadium eine neue Qualität von Optionen eröffnet, deren Ressourcen ganz im Stil des Komplexen anders sind als wir es erwarten. Liegt hier der entscheidende Impuls zur Auflösung von Komplexität?
Die nun begonnene Expedition reist zu den Ursachen, Effekten und Kräften der Hyper-Komplexität. Wir wollen ihre inneren Mechanismen entdecken und grundlegenden Prinzipien erschließen - sie liefern uns Hinweise, mit der wir die Fragen unserer komplexen Welt lösen können, die es für die gesellschaftliche und unternehmerische Zukunft zu beantworten gilt.
Begleiten Sie mich.
Oliver W. Schwarzmann
Anteil der Weltbevölkerung, der in Städten lebt 2040: 67%
Wege zur Hyper-Welt * Zeitspanne, in der sich das Wissen verdoppelt 1980: 7 Jahre
Verarbeitungsfähigkeit von PCs im Vergleich zum menschlichen Gehirn 2030: 70%
Anzahl im Internet erworbener Lebensmittel BRD in EUR 2004: 103 Mio.
Anzahl versendeter SMS-Nachrichten BRD 1998: 0,6 Mrd.
Geschätzte Zeitspanne, in der sich das Wissen verdoppelt 2015: 3 Monate
Gefühlte Zeitperspektive in Jahren, die als überschaubar gilt 1970: rd. 21 Jahre
Anteil v. 1000 Befragten, die ihren Alltag als kompliziert empfinden 1996: 26 %
Anzahl der Bevölkerung in Asien 2025: 4.785 Mio.
Anteil v. 1000 Befragten, die ihren Alltag als kompliziert empfinden 2005: 57 %
Gefühlte Zeitperspektive in Jahren, die als überschaubar gilt 2007: rd. 3,4 Jahre
Anzahl der Bevölkerung in Asien 1960: 1.882 Mio.
Anteil der Weltbevölkerung, der in Städten lebt 1800: 2%
Anzahl im Internet erworbener Lebensmittel BRD in EUR 2010: 205 Mio.
Quelle: Öffentliche Medien, Prognosen: IfZ - Institut für Zukunftskonditionierung
Anzahl versendeter SMS-Nachrichten BRD 2010: 27,5 Mrd.
Verarbeitungsfähigkeit von PCs im Vergleich zum menschlichen Gehirn 2010: 12%
Hy per... (gr) Vw. in Zus.: über, übergeordnet, übersteigend, übergreifend, * hier: Hy per- Welt, die; durch das dynamische Wachstum der gesellschaftlichen und ökonomischen Vielschichtigkeit, Wechselwirkung und Vernetzungsdichte entstehende „Meta-Welt“.
Analyse
Die gegenwärtige Komplexität lässt sich in einem ersten Überblick am besten als „dynamische Vielschichtigkeit“ bezeichnen, die sich vielen unter
uns vor allem als unbehagliche Empfindung mit negativen Eindrücken wie Zeitbeschleunigung, Unüberschaubarkeit und Kompliziertheit präsentiert. Allerdings ist das Auftreten von Komplexität weder ein moderner Effekt noch das Ergebnis struktureller Fehlentwicklung, wie immer wieder gerne behauptet wird. Der genaue Blick offenbart anderes: Dynamische Systeme streben in ihrer Entwicklung grundsätzlich nach Komplexität und nutzen dieses Potenzial wiederum als Fundus vielseitiger Entfaltung.
Komplexität ist demnach zugleich Baustoff und Architektur, sie ist Ressource und Schlüssel für die evolutionäre Ambition. Ihr Charakter zeigt sich dabei immer als unberechenbares Wesen. Zwar können wir annehmen, dass die Expansion evolutionärer Systeme mit wachsender Komplexität dynamischer und potenzieller verläuft. Allerdings ist Komplexität kein quantitatives Phänomen, ihre Erscheinung lässt sich weder auf den Vorgang konstanter Zunahme zurückführen noch mit linearen Wachstumsberechnungen vorhersagen. Denn die Anzahl komplexer Elemente und Wechselwirkungen ist als Dimension möglicher Verknüpfungen unbekannt, ihre Effekte treten ebenso spontan wie indirekt auf, weshalb Komplexität schon aus Sicht dieser Instabilität mit traditionell statistischen Methoden schwer zu ergründen ist.
Eine analytische Begegnung mit dem nun zu betrachtenden Spektrum der Hyper-Komplexität erfordert daher neue Ansätze und Sichtweisen. Die Sphäre der Hyper-Komplexität wird aus meiner Sicht nicht mit der Beschreibung eines weiteren Wachstums des Komplexen zu erfassen sein. Welche Erklärungsmodelle und Denkstrategien werden wir also entwickeln müssen, um Komplexität entschlüsseln zu können? Wird der Eintritt in die Hyper-Komplexität die Analyse erschweren oder hierfür neue Impulse bereithalten?
Welche Fähigkeiten sind notwendig, um Komplexität verstehen zu können?
„Der erste Schritt zum Verständnis von Komplexität liegt darin, sie zu akzeptieren.“ Oliver W. Schwarzmann
Selbstbeschleunigung
Folgen wir der zuvor beschriebenen Beobachtung, wonach evolutionäre Systeme
in ihrem Komplexitätsfortschritt immer schneller und vielschichtiger expandieren, so besitzen sie eine eigene Antriebskraft für ihre Dynamik. Diese Eigenschaft verleiht ihnen autonome Fähigkeiten: Komplexe Systeme organisieren sich selbst, verfügen über die unabhängige Mobilität der Selbstbeschleunigung. Doch die Ausbreitung komplexer Dynamik äußert sich im Gegensatz zu konstanten Wachstumsverläufen nicht als lineare Geschwindigkeitszunahme, sondern als ansteigendes Volumen spontaner Strukturbildung. Spontaneität ist somit ein wesentliches Prinzip in der Dynamik komplexer Systeme. Nehmen mit weiterer Komplexitätsausbreitung Häufigkeit und Größe spontaner Effekte zu, so verändert sich die klassische Mathematik des Zeitstrahls: An Stelle der Kontinuität tritt das Abrupte, die Chronologie des Gleichmäßigen weicht spontaner Beweglichkeit, Trends werden zu Brüchen, langfristige Horizonte versinken in der Spannung des Kurzfristigen, der Zeitfluss zerfällt in Zeitpunkte.
Die wachsende Distribution und Vernetzung globaler Massenmedien und interaktiver Systeme erzeugen eine wachsende Ubiquität von internationalem Geschehen und individueller Kommunikation. Dieser Komplexitätsschub presst durch die Ausweitung von Wahrnehmung und Austausch immer mehr Impulse, Ereignisse und Einflüsse in unsere vorhandenen Zeitlimits, weshalb wir die komplexe Gegenwart bereits als hektische und überfüllte Sequenz erleben. Mit zunehmender Komplexität werden wir es also mit einem massiv steigenden, sehr hohen, aber letztlich unbekannten Ausmaß an struktureller Spontaneität zu tun bekommen, das den Flexibilisierungsdruck in Gesellschaft, Wirtschaft und Unternehmen weiter erhöhen wird. Unsere Existenz wird im komplexen Licht von Schnelllebigkeit gefärbt, alles scheint auf Kurzfristigkeit programmiert. Doch ist kurzfristiges Denken überhaupt eine Antwort auf die Spontaneität des Komplexen? Wie wird sich die Schnelllebigkeit unserer Zeit fortsetzen? Und - nimmt der Flexibilitäts- und Zeitdruck in der Phase der Hyper-Komplexität zu oder entstehen neue Modelle für den Umgang mit Zeit und Flexibilität?
Ist Kurzfristigkeit eine langfristige Antwort auf die spontane Dynamik des Komplexen?
„Dynamik ist nicht mit Schnelllebigkeit gleichzusetzen, Dynamik charakterisiert die innere Vitalität eines Systems.“ Oliver W. Schwarzmann
Orientierung
Die gebrochene Zeitstruktur der Komplexität ist ein elementarer Auslöser für die Problematik ihrer Unberechenbarkeit.
Die wachsende Anzahl von unkalkulierbaren Einflussfaktoren und Wechselwirkungen verändert blitzschnell Situationen, schafft immerzu neue Bedingungen. Durch den Bruch der Kontinuität erscheint nichts mehr verlässlich und planbar, alles bewegt sich im Wandel, traditionelle und final ausgerichtete Orientierungslinien verschieben sich. Das Resultat ist nicht nur die zuvor beschriebene Neigung zur Kurzfristigkeit und die Zunahme punktuellen Handelns sowie eine weiter wachsende Flexibilitätswelle. Mit der Schwierigkeit, die zunehmende Dynamik komplexer Systeme steuern und beherrschen zu können, steigt vor allem die Anforderung an die Fähigkeit, wirksame Strategien in einem unberechenbaren Umfeld entwickeln und durchsetzen zu können. Damit trägt Komplexität auch die Entstehung einer neuen Orientierungs- und Entscheidungskultur in sich. Denn ihr Sujet an unvorhersehbaren Möglichkeiten und der darin enthaltenen Vielseitigkeit von Perspektiven in Kombination mit den Hebelkräften komplexer Dynamik vergrößern die Auswahl und Intensität von Entscheidungen.
Da sich im Einfluss der Komplexität Gegebenheiten spontan verändern und sich abrupt neue Optionen ergeben können, verliert die Statistik als Richtungsweiser für Strategie und Entscheidung zunehmend an Wirksamkeit. Neue Modelle der strategischen Orientierung müssen zur Erschließung des komplexen Terrains erdacht werden, die angesichts der zunehmenden Dynamik und Instabilität weit über die Erkenntnis statistischen Wissens und unserer Vorstellung von Anpassung hinausgehen. Doch welche Form der Orientierung ist notwendig? Welche Ingredienzien benötigt die Konstruktion wegweisender Strategien im komplexen Umfeld? Wie entwickelt sich die Entscheidungskultur in der Hyper-Komplexität?
Welche Modelle strategischer Orientierung müssen zur Erschließung komplexer Terrains entworfen werden?
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„In komplexen Zeiten weicht die Eindeutigkeit der Vieldeutigkeit.“ Oliver W. Schwarzmann
Individualisierung
Ein weiteres Kennzeichen komplexer Evolution ist ihre dynamische Entfaltung von Speziali-
sierung. Auch dabei wirkt der beschriebene Effekt der spontanen Selbstbeschleunigung. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist die eigene Menschheitsgeschichte: In unserer Entwicklungslinie gab es plötzlich eine explosive Genesis der menschlichen Intelligenz. Die Folge war ein rasanter Anstieg sowohl spezialisierter Fähigkeiten als auch komplexer Zivilisationsstrukturen. Der Mensch entwickelte auf Basis einer sich spezialisierenden Welt das Konzept der Individualität. Diese Bewegung ist ein seit Jahren stark verankerter Life-Style-Trend: Die Massenindividualisierung zeigt sich vor allem in der Zunahme differenzierter Entwürfe von Lebensstilen und den daraus entstehenden ökonomischen Ansprüchen. Auf dieses Verhalten reagieren Unternehmen mit einer wachsenden Differenzierung ihrer Produkte. Die zunehmende Individualisierung des Menschen und die fortschreitende Spezialisierung der Unternehmen führen zu einem weiteren Komplexitätsanstieg in den Gesellschafts- und Wirtschaftssystemen, der wiederum auf die eigenen Faktoren wirkt: Spezialisierung und Individualisierung werden selbst komplex. In Folge entfaltet sich die individuelle und spezifische Entwicklung von Mensch und Unternehmen immer facettenreicher und spontaner. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Je höher die Komplexitätsstufe einer gesellschaftlichen und ökonomischen Kultur erreicht ist, desto geringer wird ihr Fortschritt durch lineare und große Evolutionssprünge geprägt. Vielmehr verläuft ihre Weiterentwicklung durch das Ausbreiten von Variabilität und Diversität.
Indizien für diese Form der Spezialisierung können wir bereits in unserer Wirtschaftswelt beobachten: Das kommende Wachstum wird nicht mehr aus dem Repertoire großer Erfindungen generiert, sondern basiert zunehmend auf Differenzierung, Diversifikation und Flexibilität. Folgen wir dieser Annahme, müsste die Individualisierungs- und Spezialisierungsentwicklung zwar ungebrochen weitergehen, sich aber immer spontaner und unberechenbarer verhalten. Ist dies so? Wie entwickelt sich das Konzept der Individualität und Spezialisierung im Kontext der Hyper-Komplexität?
Ist Spezialisierung tatsächlich der Schlüssel zur Beherrschbarkeit von Komplexität?
„Komplexität bedeutet nicht Kompliziertheit, sondern beschreibt eine neue Qualität des ökonomischen Zusammenhangs.“ Oliver W. Schwarzmann
Schwärme
Die Verknüpfungsfähigkeit von komplexen Systemen mit ihren Attributen der autonomen Organisation, vielfältigen Wechselwir-
kung und abrupten Bildung von Strukturen wirft die Frage nach einem stabilen Mechanismus, einem besonderen Prinzip oder einer Kultur in der Durchführung von Vernetzung, Austausch und Kooperation auf. Anders gefragt: Kann Komplexität in diesen Vorgängen überhaupt eine Art der Beziehungskultur entwickeln?
Komplexe Systeme erscheinen auf den ersten Blick chaotisch, denn ihre extrem dicht und ebenso weit verzweigten Expansionsprozesse bilden keine Statik oder stabile Verbindungen, sondern erzeugen vielmehr äußerst variable, wie zufällig gestaltete, Muster von Strukturen. Doch ihre Eigenschaft der Selbstorganisation sowie der Drang zur dynamischen Expansion repräsentieren eine konzeptuelle Form der spontanen Bildung von Massenbeziehungen. Diesen hochflexiblen Interaktionsmodus können wir bei natürlichen Systemen beobachten, wie beispielsweise bei Fisch- oder Vogelschwärmen, deren Akteure in einer Weise zusammenwirken, dass sie wie ein einziges, übergroßes Wesen erscheinen. Doch handelt es sich dabei tatsächlich um das Beispiel einer komplexen Beziehungskultur?
Dieses sich offenbar selbst steuernde Massenverhalten wird als Koordinationsphänomen immer populärer und unter dem Stichwort der Schwarmintelligenz diskutiert. Abgesehen von den Fragen nach den Voraussetzungen und Faktoren der Schwarmintelligenz eröffnet vor allem die Analogie zur Ökonomie interessante Perspektiven: Steigt mit wachsender Spezialisierung und Arbeitsteilung die Kooperationsdichte in Unternehmen, so haben wir es in Zukunft mit schwarmähnlichen Organisationen zu tun. Ist folglich Schwarmbildung die neue Form von komplexen Unternehmensnetzwerken? Wie kann ein solch differenziertes Zusammenwirken koordiniert und strategisch gesteuert werden? In welchem Zusammenhang steht die Schwarmintelligenz mit der Entstehung von Hyper-Komplexität?
Wird Schwarmintelligenz zum neuen Prinzip strategischer Unternehmensorganisation?
„Einer der wichtigsten Schritte zur Beherrschbarkeit von Komplexität ist das Denken in vielschichtigen Zusammenhängen.“ Oliver W. Schwarzmann
Sinn
Im Zuge der bisherigen Exkursion haben wir analysiert, dass komplexe Systeme vor allem nach Expansion streben; sie entwickeln dabei ein hohes Niveau
an struktureller Differenzierung, Variation und Verknüpfung mit dem vermeintlichen Fokus, die eigenen Möglichkeiten des Systems zu erhöhen. Warum tun sie das?
Folgen wir in unserer Erklärungssuche der Evolutionstheorie nach Darwin, so reagieren natürliche Systeme mittels Spezialisierung auf den Druck herrschender Lebensbedingungen. Damit erhalten wir ein Modell für den per Selektion ausgelösten Ausdifferenzierungsprozess. Selbstorganisierte, dynamische Systeme folgen indes einem anderen Konzept: sie agieren aus sich heraus, erzeugen und konstruieren sich selbst. Komplexe Systeme erschaffen ihre eigenen Möglichkeiten, designen autonom ihre Evolution. Und trotz ihres Selbstbezugs handeln diese Systeme interdisziplinär, verknüpfen Strukturen nach einem ganzheitlichen Schema, was sie extrem variabel und überlebensfähig macht. Doch diese Betrachtungen klären nicht eindeutig die Frage nach dem Warum ihrer engagierten Entfaltung; sie erhellen nicht wirklich den Grund des Beginns oder zeigen einen Auslöser für ihre Ambition - wir kennen weder die Anregung zur Evolution noch das Ziel ihres unerschöpflichen Expansionsdrangs.
Das permanente Entfalten von Vielseitigkeit, Vielschichtigkeit und potenziellen Beziehungsmustern erscheint in der reichhaltigen Dimension und Ästhetik komplexer Systeme weder ein Ergebnis reiner Anpassung noch zufälliges Spiel zu sein. Deshalb liegt der Gedanke nahe, die Existenz eines gestalterischen und verbindenden Prinzips in der Art eines evolutionären Dynamos in der Organisation und Entfaltung des Komplexen anzunehmen, der Systeme zu immer höheren Qualitäten streben lässt. Gibt es also eine Absicht in der Expansion komplexer Systeme? Ist der Vorgang der Expansion gleichbedeutend mit einer qualitativen Weiterentwicklung? Folgen komplexe Systeme einem übergeordneten Muster? Und: Repräsentiert Hyper-Komplexität den Sprung auf eine höhere Ebene?
Was ist das Ziel der Entwicklung komplexer Systeme?
„Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“ Aristoteles
Paradigmen
Auf Basis intensiver Betrachtungen komplexer Effekte und daraus entworfener Impulsszenarien habe ich den Versuch unternommen,
grundlegende Prinzipien des Phänomens zu formulieren, die in den Komplexitätsgesetzen nach Schwarzmann zusammengefasst sind. Sie dienen als Basis zur Definition von Komplexität, vor allem aber bilden sie den Ausgangspunkt für die Überlegungen zu den Mechanismen und Kulturen der Hyper-Komplexität. Komplexe Systeme ...
… sind gekennzeichnet von ei-
… setzen in ihrer Entfaltung
… streben unentwegt nach Ex-
nem hohen Maß an Beweglich-
nicht nur auf Diversität, sondern
pansion und erzeugen durch dy-
keit, Antriebsstärke und Flexibili-
basieren auch auf Kooperation
namische
tät. Diese Vitalität charakterisiert
und Austausch. Komplexität ent-
Strukturen auf höherer Ebene.
sich vor allem durch einen nicht-
wickelt sich nicht isoliert, son-
Das Ziel ihrer Entwicklung ist die
linearen Selbstbeschleunigungs-
dern agiert in Wechselwirkungen
Ausprägung einer immer stärke-
effekt. Damit tritt die Dynamik
und strebt nach potenziellen
ren Variabilität, die das System
nicht als kontinuierliche und ku-
Verbindungen. Komplexe Inter-
flexibler macht. Komplexe Syste-
mulierte, sondern als spontane
aktionsmechanismen bilden pro-
me sind daher auf die Konstruk-
Schubkraft auf. Diese Zeitbrü-
duktive Beziehungsmuster und
tion neuer Möglichkeiten und de-
che bilden als abrupte Phasen
nutzen das Spiel des Zusammen-
ren Steigerung ausgerichtet. Die
von Be- und Entschleunigungen
wirkens, welches den Effekt der
Bildung dieses Möglichkeitenpo-
ein indirektes Regulativ in der
Emergenz hervorbringt: Komple-
tenzials entzieht sich allerdings
Expansion. Dadurch entsteht in
xe Beziehungen verfügen über
weitestgehend der Quantifizie-
komplexen Systemen trotz ihres
Eigenschaften, die sich nicht aus
rung und statistischen Berech-
spontanen Verhaltens eine Art
der Summe ihrer Bestandteile
nung, da es unter dem Einfluss
innere Balance. Das flexible Auf-
ableiten bzw. erklären lassen.
der Gesetze der Dynamik und
treten von Ausgleichsprozessen
= Gesetz der Emergenz
Emergenz immer wieder als sich
Verknüpfungsformen
verleiht der Komplexität indirek-
verändernde strukturelle Konstel-
te Stabilität.
lation erscheint.
= Gesetz der Dynamik
= Gesetz der Variation
Dynamik, Emergenz und Variation – müssen Strategie und Organisation diese Prinzipien abbilden,
Komplexitätsgesetze nach Schwarzmann
Das Gesetz der Dynamik ist in komplexen Systemen für deren Vitalität und Balance verwantwortlich. Das Gesetz der Emergenz generiert in komplexen Systemen das Auftreten einer übergeordneten, höheren Qualität. Das Gesetz der Variation erzeugt in komplexen Systemen den Effekt spontaner, flexibler Konstellationen.
um in komplexen Zeiten erfolgreich zu sein?
Reaktionen
Komplexität wird vor allem in ökonomischen Systemen als zunehmendes Problem empfunden, da ihre Hebelkräfte Wirt-
schaftssituationen derart schnell und vielschichtig verändern, dass ein steigender Anpassungs-, Flexibilitäts- und Innovationsdruck entsteht. Es gibt daher sehr unterschiedliche Methoden, um mit Komplexität umzugehen. In Vergangenheit reagierten Unternehmen auf die Komplexitätszunahme mit einer Ausweitung ihrer Administration, die jedoch wegen der daraus entstandenen Vermehrung operativer Strukturen und ihres Wachstums von Formalismen, Kompliziertheit verstärkte statt Komplexität verwaltbar zu machen.
Derzeit sind überwiegend Reduktionskonzepte populär, wie das der kontinuierlichen Entschleunigung mittels der Philosophie einer bewusst inszenierten Langsamkeit oder Anstrengungen zur Reduzierung durch Rationalisierung und Konzentration via Lean-Strategien oder auch schlichte Vereinfachungsmoden, welche in Form von Simplify-Bewegungen immer mehr Anhänger finden. Doch ist Reduzierung oder Vereinfachung von Komplexität tatsächlich die Lösung ihrer als Problem empfundenen Wirkung?
Tatsächlich zeigt sich, dass die auf Reduzierung angelegten Rationalisierungsmaßnahmen den unternehmerischen Druck steigern, da sie Komplexität nicht verringern, sondern oftmals nur auf eine geringere Anzahl von Leistungsträgern verteilen. Eine Verlagerung von Komplexität auf Partner indes erhöht die Kooperationsdichte, Lieferantenketten und Abhängigkeitsverhältnisse. Auch die Konzentration und Vereinfachung per Fokussierung auf Kernkompetenzen oder die Anwendung von Simplifizierungsmethoden bergen die Gefahr von Potenzialverlusten, da die expansive Vielfalt und Dynamik des Marktes in der unternehmerischen Aufmerksamkeit und Anpassung eingeschränkt und zum wesentlichen Anteil ausgeblendet werden. Alle diese Konzepte verringern nicht wirklich Komplexität, sondern begrenzen ihre Ressourcen.
Erkenntnis: Die Bewältigung von Komplexität durch reduktive oder simple Lösungen führt zur Einschränkung und Stagnation von Entwicklung.
Evolution = Komplexitäts-Zunahme
Reduzierung Vereinfachung
„Die Antwort auf Komplexität ist weder Vereinfachung noch Reduzierung, sondern sie verbirgt sich in ihrem Wesen.“ Oliver W. Schwarzmann
Beherrschbarkeit? Am Ende dieser ersten Analysenetappe stellen sich auf Basis der gezeigten Ausführungen folgende Abschlussfragen: » Wie wird sich Komplexität weiterentwickeln? » Welche Effekte und Konsequenzen kommen auf Wirtschafts- und Unternehmenssysteme zu? » Ist Komplexität überhaupt urbanisierbar und beherrschbar? » Welche Modelle und Strategien sind hierfür notwendig? » Und: Was unterscheidet Hyper-Komplexität von Komplexität? Die Nutzung neuester Insiderkenntnisse aus dem Research der Zukunftsforschung und die innovativen Impulse des Vordenkers Oliver W. Schwarzmann ermöglichen uns einen ebenso spannenden wie aufschlussreichen Ein- und Ausblick in die unmittelbare wie kommende Zukunft der ökonomischen und unternehmerischen Entwicklung im Fokus der Hyper-Komplexität. Die hierfür begonnene Expedition zeigt bereits jetzt, dass neue Sichtweisen zur Erschließung des in sich komplexen Themas notwendig sind. Inbesondere, wenn wir das Potenzial der HyperKomplexität erschließen wollen. Dabei wird der traditionelle Rahmen des administrativen Denkens veränderten Perspektiven weichen müssen, auf die innovative Managementstrategien, Unternehmenskonzepte und Organisationsformen folgen werden. Der Weg dorthin wird eine faszinierende Erfahrung sein. Machen wir sie gemeinsam.
Cellent AG Andreas Schwegler - Bianca Rehberger - Michael Flum
© 2007 Herausgeber: Cellent AG - 70173 Stuttgart Inhalt: Oliver W. Schwarzmann Gestaltung: Nick Bley Printed in Germany - Stuttgart - Druckerei Knöller © Bildrechte: Umschlag/Titel - gettyimages; Seite 7 - gettyimages; Seite 9 - Bley und Schwarzmann AG; Seite 11 - © 2007 - Relativity - The M.C. Escher Company B.V. - Baarn - Holland. www.mcescher.com; Seite 13 - getty images; Seite 15 - getty images; Seite 17 - getty images; Seite 21 - getty images; Seite 23 - getty images.
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