prolog_04_09

Page 1

Zukunftsthema Ziele

Die ersten Worte:

Vor den Zielen Endlich! Bald ist es geschafft! Die ersten Triebe eines schüchternen Aufschwungs beginnen sich mit zarten, aber sichtbaren Knospen aus dem mürbe gewordenen Wirtschaftsboden zu erheben. Die Finanzbranche, einstige Auslöserin der Krise, scheint sich nicht nur zu erholen, sie steht bereits mitten im Anlauf zu einem neuen Rennen in eine profitable Zukunft: Viele Banken berichten von satten Gewinnen, die Börse setzt auf Wachstum. Nicht nur das: Exporte und Unternehmensinvestitionen ziehen wieder an, China boomt erneut wie einst. Selbst die Konsumlaune der Verbraucher zeigt sich nach wie vor in robuster Verfassung, wenn sie auch aus wachsender Angst vor drohender Arbeitslosigkeit etwas an Esprit verliert.

1


2

Zukunftsthema Ziele

Die Qualität der Richtung Zukunftsthema Ziele

Seite Beginn

Die ersten Worte: Vor den Zielen

01

Editorial: Ziele = Zukunft?

18

IMPRESSUM

Expedition Zukunft

Zwischenruf Mit den Zielen

20

Kapitel I Neben den Zielen

22

Kapitel II Hinter den Zielen

28

Zwischenruf Geplante Zukunft

52

Kapitel III Nach den Zielen

60

Letzte Worte: Im Ziel

67

Vorschau

68

Verlag und Redaktion: Bley und Schwarzmann AG Im Raisger 29 71336 Waiblingen Telefon 07151-6040939 email: info@zukunftsnet.de Web: www.zukunftsnet.de Co-Herausgeber: Cellent AG, 70173 Stuttgart Heftpreis: 8,90 Euro - Inland

ISBN: 978-3-933452-78-8 email an die Redaktion: info@vordenker-welt.de Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 für alle Beiträge des Vordenkers. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck (auch auszugsweise) nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags. Für die Richtigkeit des Inhalts wird keine Haftung übernommen.


Zukunftsthema Ziele

Es wird im Vorspiel des Aufschwungs allerdings deutlich, dass er längst nicht in allen Branchen Einzug halten wird. Zu erwarten ist eine uneinheitliche Erholungs- und Wachstumsdynamik, hören wir nun von einzelnen Experten. Eine Erkenntnis, die ich im VORDENKER bereits thematisiert habe: Schon vor der Krise agierten wir in derart spezialisierten und komplexen Märkten, dass die Konjunktur zur persönlichen Angelegenheit geworden ist. Und: So wie der Einzelne mit der Wirtschaft umgeht, so wird sie mit ihm umgehen. Heißt: Die Ökonomie bildet ab, was wir gestalten. Bedeutet: Es liegt an uns selbst, wann wir die Krise beenden. Die Krise ist eben nicht nur ein konjunkturelles Phänomen, sondern ein psychologischer Strukturwandel: Zwar lassen viele Unternehmen derzeit die Luft aus allem Aufgeblähten, das sich in Zeiten des Überflusses hatte ungebremst ausdehnen können, dennoch produzieren reine Kosteneinsparungen kein Wachstum. Neues Wachstum entsteht nicht durch Sparen aus Angst, sondern mittels mutigen Zukunftsinvestitionen. Voraussetzung für solche Engagements sind allerdings unverbrauchte, innovative und motivierende Impulse. Denn die konjunkturelle Krise ist gleichzeitig Ursache für eine mentale Krise, die tiefer ins Bewusstsein dringt und länger dauert als ihre eigentliche Verursacherin. Und mentale Krisen sind nicht mit den gleichen Botschaften zu beheben, die sich in der konjunkturellen Krise selbst ad absurdum geführt haben. Heißt: Wer so weitermacht wie bisher, läuft Gefahr in einem Treibsand aus Fantasielosigkeit, Innovationsresistenz und fehlender Veränderungsfähigkeit unterzugehen. Mit dieser Erkenntnis begeben wir uns wieder zum untrennbaren Zusammenhang zwischen persönlichem Engagement und der kommenden Form unserer Konjunkturentwicklung. Uneinheitlich wird sie deshalb sein, weil es mittlerweile in der Wirtschaft einfach komplex und differenziert zugeht; uneinheitlich ist sie aber auch deshalb, weil es zwischen den Mutigen viele Skeptiker, Abwartende und Bremser gibt. Bedeutet also: Es werden zukünftig Erfolgsgeschichten neben Tragödien geschrieben, die Spanne zwischen Erfolg und Misserfolg wird zur filigranen Enge. Die Krise führt uns eindringlich vor Augen, dass nun endgültig ein Zeitalter angebrochen ist, in welchem die Weichen in Richtung einer neuen Qualität von Kreativität, Kommunikation und Kooperation stehen. Auch althergebrachte Wachstumsideologien, Erwartungshaltungen und Verhaltensmuster haben ausgedient: Zu gewinnen, wenn andere verlieren, zu wachsen, wenn andere schrumpfen, zu vermehren, wenn sich anderes reduziert und zu » weiter auf Seite 6

3


6

Zukunftsthema Ziele

vergrößern, wenn sich anderes verkleinert – die Haltung, die hinter diesen Aussagen steht, provoziert nicht nur die zwanghafte Umkehr dieser Sätze, sondern sie beschädigt früher oder später auch das System, das sie umgibt. Ungleichheit erzeugt zwangsläufig Druck. Und Druck erzwingt Gegendruck, der sich zu unpassenden Zeitpunkten an empfindlichen Stellen entlädt. Nicht umsonst erleben wir in allen Fortschrittsgesellschaften eine scharfe Debatte über ökonomische und soziale Gerechtigkeit. Die meisten Bürger wissen nicht mehr, auf welcher Seite der zuvor genannten Sätze sie morgen stehen werden. Keiner von uns kann vorhersagen, wie wir die Geschichte unserer Zukunft weiterschreiben. Auch der kommende Aufschwung wird diese Frage nicht beantworten; die Wirtschaft bleibt auch in zukünftigen Wachstumsphasen ein unkalkulierbares Terrain. Zerfällt die Stabilität äußerer Rahmenbedingungen, fordert der Mensch verlässliche Systeme und strebt zugleich nach mentaler Sicherheit. Kein Wunder also, dass wir einerseits den Ruf nach einem starken Staat vernehmen, während andererseits die Suche nach neuen Orientierungslinien auf emotionaler Ebene ausgetragen wird. Im Letzteren liegt unsere große Chance: Je stärker wir Menschen im Hinblick auf unsere psychologische Verfassung aus der Krise hervorgehen, desto leichter fällt uns der Umgang mit unsicheren Zeiten. Die Qualität unserer mentalen Fitness avanciert zur wichtigen Kompetenz, denn Unsicherheit wird in komplexen Märkten zu unserer ständigen Begleiterin. Mentale Eigenschaften prägen in Zukunft vor allem die Beziehung zwischen Unternehmen und ihren Kunden, Mitarbeitern und Lieferanten – je größer innere Stärke und emotionale Einheit sich in diesen Partnerschaften entfalten, desto stärker wirken die daraus resultierenden Innovations- und Gestaltungskräfte und die notwendige, gegenseitige Loyalität. Diese Attribute bilden die beste Basis für Unternehmen, ein eigenständiger Konjunkturfaktor zu werden. Damit ist es auch kein Nachteil, dass wir uns in unberechenbaren Rahmenbedingungen bewegen oder dass wir die Zukunft nicht exakt planen können. Entscheidend ist vielmehr, dass wir Unsicherheit weder als Bedrohung empfinden noch deswegen wie versteinert auf günstige Gelegenheiten warten, sondern unsere Entwicklung an den neuen Möglichkeiten orientieren, die wir uns selbst schaffen. Ein neues Unternehmens- und Wirtschaftsdenken muss her, fordern auch Analysten, doch Analysen haben wir genug. Wir müssen aufhören, Informationen als reine Interpretationsund Beurteilungsfaktoren für Vergangenes zu nutzen, nein, wir brauchen in die Zukunft wirkendes Wissen, also Erkenntnisse, die zu neuen Fähigkeiten führen.


Zukunftsthema Ziele

Eine Wissensgesellschaft darf sich nicht nur als pure Daten-Society verstehen, sondern muss vor allem eine Zivilisation mit handfesten innovativen Fertigkeiten sein, will sie sich nachhaltig weiterentwickeln. Dabei ist es schon erstaunlich, dass uns gerade die Expansion einer hoch virtualisierten Informationsgesellschaft zu einem neuen Verständnis für praktisches Handeln führen wird. Die Krise verstärkt diesen Eindruck: Die internationalen Vernetzungen mit ihren vielseitigen Wechselwirkungen und der Wandel in den Märkten erfordern zweifellos höhere Kompetenzen, nicht nur von Wirtschaftssystemen und Unternehmen, sondern speziell von jedem Einzelnen. Hierfür schafft die Krise ihre Form von Klarheit – sie selektiert das Produktive vom Unproduktiven, das Kreative vom Fantasielosen, das Fähige vom Unfähigen. Die Antwort auf die Überlebensfrage liegt allerdings nicht darin, herauszufinden, wer oder was zu welchem Bereich gehört, sondern in der Eigenschaft, mit diesen Veränderungsprozessen produktiv umgehen zu können. Die Menschheit hat solche Krisen im Laufe ihrer Geschichte immer wieder erlebt: Erreichten Hochkulturen den Zenit ihrer Entwicklung, begannen sie sich selbst zu zerstören. Das klingt schlimmer, als es eigentlich wäre, wenn es sich dabei um kreative Zerstörungen mit der Chance auf positive Erneuerung gehandelt hätte, statt um Tragödien. Erschreckend ist ja, dass alle einstigen Superzivilisationen sang- und klanglos untergingen. Warum ist das nur passiert? Ich meine: Sie haben die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Oder falsch gedeutet. Obwohl sie sie selbst geschaffen hatten. Was heißt das für uns? Haben wir unseren Zenit überschritten? Ist die Krise kreative Zerstörung oder reine Tragödie? Welche Zeichen beinhaltet sie? Und – sind wir bereit, uns zu erneuern?

» weiter auf Seite 10

7


10

Zukunftsthema Ziele

Der Hirsch, der einen Stau auslöste oder: Geschichten über die Krise Bei meinen Recherchen zu den Auswirkungen der Krise habe ich viele interessante Menschen mit spannenden Meinungen getroffen, die nicht unterschiedlicher hätten sein können. Ich habe nach ihren Begegnungen mit der Krise gefragt, ihre Antworten reichen von kurzsilbigen Statements bis zu tiefsinnigen Parabeln. Dabei traf ich beispielsweise einen sehr erfahrenen Finanzmanager, der die ganze Misere scheinbar für eine Konstruktion hält, denn er entgegnete mir, tief an einer Zigarette ziehend: „Nichts passiert an der Börse, was nicht gewollt ist.“ Oder der Industriemagnat, welcher zwar massiv unter der Krise leidet, aber die Reinigung der Auswüchse des Überflusses begrüßt: „Viele Dienstleistungen und Produkte waren künstlich aufgebläht, reich garniert und geschmückt, nichts weiter. Wert-Fassaden, Preis-Kulissen, Marken-Schachteln, Provisions-Anstriche. Die Krise zeigt uns den Blick auf das, was wirklich nützlich ist – ohne Schminke und Agio.“ Erstaunt hat mich ein Banker, der meinte: „Wir feiern schon wieder kräftig in der City (London). Aber noch nicht so laut. Das könnte missverstanden werden. Doch nicht mehr lange, schätze ich. Die anderen werden schnell wieder mitfeiern.“ Und er setzte nach: „Es geht doch nur darum, den richtigen Zeitpunkt nicht zu verpassen. Um auf den entscheidenden Zug aufzuspringen. Zögern ist Schwäche.“ Was haben wir gelernt?, fragte ich mich leise. Weitere Kollegen kamen zusammen und einer von ihnen schob sich mit ärgerlicher Mimik ins Gespräch: „Die Leute geben uns Bankern die Schuld an dem Desaster. Doch der Ruf nach billigen Krediten und hoher Verzinsung hallt schon wieder durch unsere Hallen. Damit geht das Ganze erneut von vorne los.“ Tja, der Markt ist das Echo des Kundenwillens. Ein ebenso erregter Investmentbanker fügte schnell sprechend hinzu: „Was hätten andere an unserer Stelle getan? Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Kunden, der bei Ihnen einen Kredit über 10 Euro aufnimmt. Was sollen Sie damit anfangen? Zinsen kassieren und warten, bis er das Darlehen abbezahlt hat? Das ist kein sonderlich spannendes Business. Sie versuchen also, das Papier für 15 Euro weiterzuverkaufen mit dem Versprechen, der Schuldner zahlt irgendwann 20 Euro dafür. Es klappt. Und so geht das weiter. Bis das Papier, also das damit verbundene Versprechen, bei 50 oder 100 Euro taxiert ist. Die, die das Papier immer weiterreichen, verdienen. Nun, es ist vielleicht absehbar, dass der


Zukunftsthema Ziele

Schuldner die 50 oder 100 Euro letztlich nicht aufbringen kann. Ein Risiko, zugegeben. Bei entsprechendem Wachstum kann das allerdings schon gut gehen. Perfide ist nur, dass es Leute gibt, die dann verdienen, wenn der Schuldner nicht zahlen kann – weil sie genau darauf gewettet haben.“ Im weiteren Verlauf meiner Recherchen traf ich auf immer mehr Leute, die sich in die Distanz verabschiedet haben, ihren Tenor brachte folgender Gesprächspartner auf den Punkt: „Nachrichten interessieren mich kaum noch. Es ist doch immer dasselbe: Krise, Krieg, Untergang. Bad News berühren mich nicht mehr. Und sie bringen einen auch nicht weiter.“ Den gleichen Tonfall schlug ein anderer Interviewpartner an: „Eine Zeit lang habe ich politische Talkshows im Fernsehen verfolgt. Tja, es sind eben Talk – Shows: Es wird nur geredet und Show gemacht. Jeder weiß es besser. Jeder würde es anders machen. Jeder will nur eine gute Figur abgeben. Genauso wie die Moderatoren, die sich entweder als Richter der Wirklichkeit oder als die unschlagbaren Enthüller aufspielen. Nein, danke.“ Ein hinzugekommener Passant ergänzte: „Mich wundert nur, woher die Fernsehsender das laut klatschende Studiopublikum bekommen.“ Und ein weiterer Zuhörer dieser Gesprächsrunde meinte zustimmend: „Die Zeiten ändern sich, die Gesichter nicht. Es sind immer die gleichen Figuren, die uns erklären wollen, wie die Welt funktioniert. Und es wirkt ja: Wir hören immer noch zu.“ Zu dieser Medienschelte schloss sich auch Missmut über Prognosen und Unternehmensberater an: „Wo sind die großen Erfolgs-Coachs mit ihren ausgeklügelten Superstrategien? In der Krise hört man von denen gar nichts“, konstatierte ein sichtlich aufgebrachter Büroangestellter. Und ein Selbstständiger sinnierte zum Thema Vorhersagen: „Früher habe ich mich an den Wirtschaftsprognosen orientiert. Heute halte ich sie für pure Unterhaltung. Ich gebe Ihnen recht, Herr Schwarzmann: Die Zukunft ist nicht prognostizierbar.“ Weg von der Medien- und Expertenkritik und zurück zur Krisenbewertung führte mich die Einschätzung eines Jungunternehmers: „Es gibt keinen allgemeinen Weg aus dieser Misere. Den muss jeder selbst finden.“ Ein anderer Unternehmer stand dieser Aussage skeptisch gegenüber und gab zu Protokoll: „Alleine werden wir die Krise nicht überwinden können. Alle im Unternehmen müssen an einem Strang ziehen. Doch da hapert es gewaltig beim Zusammenhalt. Und viele verwechseln Unternehmer mit angestellten Managern. Ein schlimmer Irrtum.“ Insbesondere Mittelständler mokierten sich über die Situation, wie etwa der Geschäftsführer einer Metallwarenfabrik: „Der Staat hat die » weiter auf Seite 15

11


Zukunftsthema Ziele

Banken mit Milliarden unterstützt. Dieses Geld muss wieder erwirtschaftet werden und hierfür braucht es neue Ideen und unternehmerisch investiertes Kapital. Ich kann aber keine Aktivitäten erkennen, die das Unternehmertum fördern, weder von der Politik noch von Banken.“ Der Inhaber eines Automobilzuliefererbetriebes analysierte die Situation mit folgenden Worten: „Wir hängen am Tropf der Großindustrie. Die Preise, die wir jetzt in der Krise senken, kriegen wir nie wieder auf ein akzeptables Niveau, auch nicht bei einem Aufschwung.“ Tja, es wird zu einem Kampf der Mehrwerte kommen. Mir gefiel sehr, was der Vorstand eines Familienunternehmens zur Situation sagte: „Wir können uns nicht über das Leben stellen. Deshalb rede ich nicht vom Überleben, sondern vom Leben. Und Leben ist Poesie. Sie bestimmt die Märkte. Denn Märkte sind Leben. Wer Poesie umsetzt, ist erfolgreich.“ Weniger poetisch, aber passend dazu klang dieser Satz eines Abteilungsleiters eines Elektrogroßhandels: „Vielleicht kommt jetzt endlich die Zeit, in der ein Händedruck wieder moralische Verpflichtung ist.“ Der Designer von Investitions- und Konsumprodukten beschwor ebenfalls die Notwendigkeit eines Wandels: „Wir sollten die Krise nutzen zur Besinnung auf hochwertige Qualität. Die Lawinen an Billigprodukten führen dazu, dass der Schrott das Gute unter Druck setzt und zunehmend verdrängt. In Häusern und Wohnungen steht massenweise Schund. Und die Zahl der Reklamationen ist beträchtlich.“ In diesem Kontext bemerkte ein Juwelier: „Kunden wollen sich wohlfühlen. Und das tun sie nur, wenn man sich um sie kümmert. Wenn man sie als Menschen betrachtet und nicht als Umsatzbeschaffungsstatisten. Bald werden Tankwarte wieder die Fahrzeugscheiben putzen, Einzelhändler ihre Waren persönlich ausliefern oder an der Kasse eintüten. Und das nicht nur im Premiumbereich.“ Auf diese Aussage konstatierte ein Mediendesigner: „Die unzähligen Möglichkeiten des Onlinehandels provozieren auf der anderen Seite eine hohe Nachfrage nach extrem authentischen Handelserlebnissen. Je mehr der Onlinehandel expandiert, desto größer sind die Ansprüche an den physikalischen Markt.“ Nun, wir leben mittlerweile in zwei Welten, die sich gegenseitig verstärken. Ein Wochenmarkthändler verdeutlichte mit folgendem Satz seine bewundernswerte Sicht der Dinge: „Geschäfte machen heißt – in klare und freundliche Augen sehen.“ Zum Abschluss dieses Exkursionsberichts möchte ich noch von einer Begegnung erzählen, die in diesem Zusammenhang besondere Erwähnung verdient. Bei meiner Recherchereise machte ich eines Tages Mittagspause in einem ländlichen Lokal nahe der Autobahn,

15


16

Zukunftsthema Ziele

die mich schnell zu meinem nächsten Zielort führen sollte. Ich saß am Tisch mit einem älteren, sehr freundlich wirkenden Herrn. Nun, Alleinreisende, die gemeinsam an einem Tisch essen, kommen schnell ins Gespräch. Wir unterhielten uns also über dies und das, sprachen über die aktuelle wirtschaftliche und politische Lage und die Ausführungen meines Gegenübers zu Situation und Ursache waren ausnahmslos spannend. Gegen Ende unserer Unterhaltung erzählte er mir eine sonderbare Geschichte, die sich wie folgt zugetragen haben soll: Die naheliegende Autobahn verzweigt sich in einigen Kilometern in zwei weiterführende Trassen. Eine davon ist seit Jahrzehnten gut ausgebaut und auf dieser brausten einst unzählige Fahrzeuge unbekümmert ihres Wegs. Eines Abends jedoch, es lagen bereits vereinzelt Nebelschwaden in der Dämmerung, leuchteten plötzlich die tiefroten Bremslichter eines Automobils auf. Die Fahrer der nachfolgenden Wagen traten ebenfalls auf ihre Bremspedale, einige Fahrzeuge kamen ins Schleudern, brachen nach links und nach rechts aus, ein oder zwei Autos landeten sogar im Seitengraben und es bildete sich ein mächtiger Stau. Der Verkehr stand still, nichts ging mehr auf der bisher gut befahrenen Straße. Die Ursache, so sprach es sich schnell in der wartenden Fahrzeugkolonne herum, sei ein Hirsch gewesen, der wohl in einer Art tierischer Selbstüberschätzung über die Autobahn springen wollte. Man hätte ausweichen, vielleicht sogar alles verhindern können, zumindest hätte man es versuchen müssen, munkelten einige Fahrer, während der Stau immer größer wurde. Neben der eingetroffenen Polizeieinheit kam auch der eilig herbeigerufene Förster zur Autobahn und auf die Frage der Wartenden, was denn nun gegen dieses Tier zu tun sei, antwortete dieser erstaunt: „In dieser Region gibt es gar keine Hirsche.“ Aber einen musste es gegeben haben, darauf beharrten nicht nur die Fahrer, die als Erste gebremst hatten, sondern auch alle anderen Anwesenden. Was sonst hätte eine solche Situation hervorrufen können? An eine Sinnestäuschung wollte keiner glauben. Da aber niemand einen Hirsch ausfindig machen konnte, löste sich der Stau langsam auf. Auch eine am nächsten Tag durchgeführte Treibjagd brachte kein Ergebnis. Schließlich wurde die Trasse weiträumig umzäunt, und das Schlimmste, so das endgültige Resümee der Beteiligten, sei ohnehin der Stau gewesen. Der Hirsch schien vergessen. Allerdings bremsen heute noch viele Autofahrer aus Vorsicht an dieser Stelle. An jener Stelle, an der ein Hirsch, der nie zu finden war, einen riesigen Stau auslöste. Und irgendwie läuft es seither auf dieser Straße nicht mehr. Viele nehmen mittlerweile andere Wege.


Zukunftsthema Ziele

Der freundliche Herr blickte mir noch einen Moment in die Augen, wünschte mir einen schönen Tag und entschwand mit einem Lächeln durch die Restauranttür. Als ich über diese Geschichte nachdachte, kam mir ein Satz in den Sinn, der mich bei dieser Meinungsexpedition irgendwie zu begleiten schien:

Wenn die Wirkung realer oder schlimmer erscheint als der eigentliche Auslöser, dann wächst mit der Rechtfertigung der Reaktionen auf die Wirkung auch die Ursache.

Trifft das ebenfalls auf unser gängiges Krisenbild zu? Liefert nicht erst das Argument, man müsse wegen der eingetretenen Misere nunmehr sparen und Investitionen einfrieren, die Legitimation für ein Krisenszenario? Sicher ist: Erklärungen beeindrucken uns nicht durch ihre Richtigkeit, sondern durch Plausibilität. Und letztlich entscheidet die Form der Verbreitung über ihre Akzeptanz und Gültigkeit. Nun, was Krisen auch immer auszulösen vermag, sie fordern mehr Veränderungsfähigkeit als die Anpassung an Rechtfertigungen. Natürlich, wir sehen uns durch die Auswirkungen von Krisen in unserer Existenz erschüttert, weil sie alles Bisherige und Gewohnte in Frage stellen. Indem Krisen diese Reaktion provozieren, bedrohen sie uns einerseits, zweifellos. Andererseits ermöglichen sie uns einen neuen Blick auf unsere Fähigkeiten. Tja, Bedrohung und Mut – beides verändert unsere Zukunft. Weil beides unser Verhalten beeinflussen kann. Welche Zukunft wir also letztlich erleben werden, ist eine Frage unserer Entscheidungen. Und damit eine Frage unserer Orientierung. Eine Frage unserer Richtung. Und eine Frage unserer Ziele. Betrachten wir sie. Mit Ihrem VORDENKER. Oliver W. Schwarzmann

17


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.