#05 | 20 | Passion
Passion
Das Magazin von BerlinDruck
# 05 2020 Spezial Nachhal tigkeit
Verantwortung! Ich bin keine Self-Help-Tante Vom Scheitern der Keas Eine Parabel von Prof. Maren Urner über TV-Legende Volker Arzt Konstruktiven Journalismus
Papier – das zeitgemäße Medium Über Nachhaltigkeit, Altpapierquoten und Deinkbarkeit
Passion | #05 | 20
Einstieg
Kundenberater
Thomas Robel
seit 2011 bei BerlinDruck Sein Motto: „Nimm’ das Leben nicht so ernst, du kommst da eh nicht lebend raus.“
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Das Magazin von BerlinDruck
Einstieg
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„Poker ist dem Sex ziemlich ähnlich. Jeder denkt, er wäre der Beste, aber die meisten haben überhaupt keine Ahnung, was sie da machen!“ Dutch Boyd
professioneller
US-amerikanischer Pokerspieler
Passion | #05 | 20
Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser, die Sache mit der Verantwortung ist gar nicht so einfach! Manchmal hat man sie und will sie nicht, manchmal will man sie, bekommt sie aber nicht. Verantwortung hat eine ganze Menge mit Motivation zu tun. Verantwortung bedeutet Pflicht und Aufgabe. Jeder hat Verantwortung für sich selbst, für seine Gesundheit, sein Wohlergehen, seine eigene persönliche und spirituelle Entwicklung. Wir haben aber auch Verantwortung in dem, was wir tun, im Umgang mit anderen Menschen, mit Benachteiligten, der Gesellschaft als Ganzem, mit der Natur, ja, gegenüber der ganzen Welt. Dafür müssen wir allerdings lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Lesen Sie dazu in unserem Insidergespräch mit Prof. Maren Urner, wie wir uns gegen die digitale Vermüllung unserer Gehirne wehren und zu einer positiveren Weltsicht gelangen können. Und was Konstruktiver Journalismus ist. Erfahren Sie von Axel Fischer, was Papier zum zeitgemäßen Medium schlechthin macht. Und lassen Sie sich vom Klimachef des WWF, Michael Schäfer, und von Prof. Volker Quaschning genauer über die Klimakrise und deren Bewältigung informieren. TV-Legende Volker Arzt rundet diesen Themenkomplex mit einer spannenden Parabel ab. Auch dieses Mal lernen Sie ein paar von uns näher kennen: den Pokerspieler Thomas Robel und Andit Weldemariam, der auf einem ganz besonderen Weg zu uns gekommen ist. Wir wünschen Ihnen eine rundum inspirierende Lektüre! Ihr Frank Rüter Geschäftsführer BerlinDruck GmbH + Co KG
IMPRESSUM Passion – Das Kundenmagazin von BerlinDruck erscheint dreimal jährlich im Eigenverlag | Herausgeber BerlinDruck GmbH + Co KG | Oskar-Schulze-Straße 12 | 28832 Achim | Telefon: +49 (0) 421 43871-0 | Telefax: +49 (0) 421 43871-33 | E-Mail: info@berlindruck.de | www.berlindruck.de | Auflage 2.300 | Redaktion Presseinfos, Anregungen, Reaktionen bitte an: Passion c / o quintessense | Fritschestraße 27/28 | 10585 Berlin | Telefon: +49 (0) 30 80954609 | E-Mail: agentur@quintessense.de Verantwortlich für den Inhalt V. i. S. d. P. Frank Rüter | CD und Chefredakteur Eckard Christiani | Redaktionsbeirat Reinhard Berlin | Björn Gerlach | Autoren und Interviewpartner dieser Ausgabe Volker Arzt | Eckard Christiani | Axel Fischer | Prof. Dr. Hüseyin Ince | Norbert Möller | Prof. Volker Quaschning | Michael Schäfer | Rafael Seligmann | Sven Siebert | Mario Sixtus | Maren Urner | Fotografie Adobe Stock (8, 9, 14-16, 33) | Reinhardt Berlin (22, 23) | Michael Jungblut (Titel, 2-8, 10, 12, 17-22, 3034, 37-41, 43) | Oetjen Logistik (44, 45) | Serviceplan (8) | Illustration / Kunst Adobe Stock (17) | Julia Ochsenhirt (5, 11, 13, 34-36, 47) | Uli Westphal (24-29) | Schrift Carnas von Hoftype, Dieter Hofrichter | ITC Charter, Matthew Carter | Papier FocusArt Natural von Papyrus | Layout und Editorial Design quintessense | Fritschestraße 27/28 | 10585 Berlin | Telefon: +49 (0) 30 80954609 | E-Mail: agentur@quintessense.de
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Das Magazin von BerlinDruck
Inhalt
Inhalt Poker ist dem Sex ziemlich ähnlich. Jeder denkt, er wäre der Beste, aber die meisten haben überhaupt keine Ahnung, was sie da machen! Impressum Inhalt
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Menschen bei BerlinDruck Glück ist nur die Tür. Gewinnen aber kannst du mit Disziplin. Thomas Robel – Der Pokerspieler Alles Möller oder was? – Design-Kolumne Der Vertrag von Marrakesch Wem gegenüber sind wir Designer verantwortlich? Dr. Maren Urner – Insidergespräch Ich bin keine Self-Help-Tante – Über die digitale Vermüllung und Konstruktiven Journalismus Papier – das zeitgemäße Medium Axel Fischer, INGEDE, über Nachhaltigkeit, Altpapiereinsatzquoten und Deinkbarkeit Gespräch mit dem Publizisten Rafael Seligmann Einfach zugucken und sagen, das wird sich schon auswachsen – so geht das nicht Menschen bei BerlinDruck – Andit Weldemariam Es war selbstverständlich Fruit Studies, Imitations, Cultivar Series, Supplements Installationen von Uli Westphal Medizin von morgen – Über Digitalisierung, KI und Big Data in der Medizin – ein Microchip im Herzen Die Herde schützt den Skeptiker – Klartext Impfen Ein Essay von Sven Siebert Ein Beitrag von Volker Arzt Vom Scheitern der Keas – Eine Parabel Interview – Der „Quatsch“ ist leider sehr, sehr ernste Realität geworden Thema Klimakrise Es geht darum, Mut zu machen, sich für eine Wende einzusetzen Gespräche mit WWF-Klimachef Michael Schäfer und Prof. Volker Quaschning Pünktlichkeit ist keine Zier Über komplexe Herausforderungen in der Logistik-Branche Auflösung des Wissensrätsels Vorschau Heft #6 „Wissen“ Ein Essay von Autor und Filmemacher Mario Sixtus Eigentlich alles prima. Aber.
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Pokerspieler Thomas Robel
GLÜCK IST NUR DIE TÜR. GEWINNEN ABER KANNST DU MIT DISZIPLIN. Fotografie: Michael Jungblut
Irgendwie muss man ja sein Studium finanzieren. Klar, man kann kellnern, irgendwelche HiWi-Jobs an der Uni übernehmen, im Einzelhandel an der Kasse sitzen oder als Animateur für gute Laune sorgen. Warum nicht mit Pokern das nötige Kleingeld verdienen, dachte sich Thomas Robel. Ein Vorbild war schnell gefunden: Daniel “Kid Poker” Negreanu, der immerhin auf Platz eins der All-Time-Money-List der Turnierpokerspieler mit über $ 30.000.000 an Turniergewinnen gelistet ist. Aber wie fängt man das richtig an?
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Der strategische und vor allem der psychologische Aspekt beim Pokern ist für mich besonders reizvoll.
Thomas Robel 36 Jahre In Berlin geboren lebt der ausgebildete Diplom-Kaufmann Thomas Robel heute in Bremen. Er arbeitet seit Juni 2011 als Kundenberater bei BerlinDruck in Achim.
So etwa ab 2005 ging der große Poker Hype los. Viele Anfänger träumten von einem Platz am Finaltisch der hoch dotierten Turniere – Las Vegas vor Augen und im Spielerherzen. Der Weg an Pokertische führte für viele über Online Poker. Auch Thomas Robel machte seine ersten Erfahrungen auf Online Plattformen, auf denen man kostenlos und ohne Geld spielen kann. „Am Anfang habe ich selbst nicht geglaubt, dass man damit Geld verdienen könnte“, erinnert sich Robel. Um diesen Sport ernsthaft als Einnahmequelle für sein Studium betreiben zu können, las Robel ein paar Bücher zum Thema. David Sklansky, ein US-amerikanischer Pokerspieler, reduziert Poker auf mathematische Formeln und empfiehlt, Wahrscheinlichkeiten richtig berechnen zu können. Denn Verlieren gehört zum Pokern dazu. Sogenannten Bad Beats wird jeder Spieler – auch Profis – gegenüberstehen. Und ein All-In beinhaltet grundsätzlich die Gefahr, den gesamten Stack auf einen Schlag zu verlieren. „Wer beim Poker Erfolg auf lange Sicht haben will, muss Guthaben verwalten können“, hat Robel schnell gelernt. „Das Ziel war klar: Mit Bankroll-Management lassen sich Verluste verkraften. Im Idealfall ist die Bankroll so aufgestellt, dass auch ein Downswing – sprich die viel gefürchtete Pechsträhne – mit einem ‚blauen‘ Auge überwunden werden kann.“
#05 | 20 | Passion
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Als Pokerspieler lernt man sehr viel über sich selbst. Und über andere. Diese psychologischen Aspekte – das Lernen von Körpersignalen, die unbedingte Fokussierung und die kontrollierte Selbstdisziplin – lassen einen PokerIm Job braucht man oft spieler reifen. auch die richtige Strategie, "Das hat dann um allen Herausforderun- nichts mehr mit dem verruchten gen gerecht zu werden. Las Vegas zu tun, wie man es sich allgemein vorstellt", lacht Robel. "Das ist eine Schule für Empathie und selbstverantwortliches Handeln." Als Kundenberater bei BerlinDruck profitiert Thomas Robel von diesem „Training“. Die abwechslungsreichen und spannenden Herausforderungen, die jedes Projekt mit sich bringt, verantwortungsvoll strategisch – ganz empathisch gemeinsam mit dem Kunden – in die richtigen Bahnen zu lenken und erfolgreich zu gestalten, das macht für Robel den Reiz seiner Arbeit aus. D
Wem gegenüber sind wir Designer mit unserer Arbeit verantwortlich?
„Dot Mini“ – ein Gemeinschaftsprojekt von KOICA und Serviceplan: Das Gerät erfasst digitale Texte selbsttätig und übersetzt sie dank KI in die Brailleschrift.
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Designkolumne
#05 | 20 | Passion
ALLES MÖLLER ODER WAS?
DIE DESIGN-KOLUMNE VON NORBERT MÖLLER
Der Vertrag von Marrakesch
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Kennen Sie den Vertrag von Marrakesch? Ich gebe zu: Ich kannte ihn bis zur Recherche für diesen Artikel nicht. Das exotisch klingende Dokument wurde am 27. Juni 2013 auf einer diplomatischen Konferenz der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) unterzeichnet. Sein Ziel lässt sich kurz zusammenfassen: Blinde, Sehbehinderte und Personen mit anderweitigen Leseproblemen sollen einen leichteren Zugang zu geschützten Werken wie Büchern erhalten. Seit 2016 sollte der Vertrag in der Europäischen Union in Kraft getreten sein, die Infos dazu sind allerdings noch etwas spärlich.
Smartwatch Dot, eine Smartwatch für Sehbehinderte, informiert ihren Träger über Nachrichten, verfügt über einen Wecker, einen Timer und bildet natürlich die jeweilige Zeit ab. Damit dies für die sehbehinderten Menschen fühlbar ist, kommt ein innovatives, mechanisches Display mit Braille zum Einsatz.
Ich komme auf diesen Vertrag, weil ich mich mit der Frage beschäftige, worin für uns Gestalter Verantwortung besteht. Wem gegenüber sind wir mit unserer Arbeit verantwortlich? Uns selbst? Dem Kunden? Der Agentur, für die wir arbeiten? Der Vertrag weist uns darauf hin, dass unsere Verantwortung noch weiter reicht: Wenn wir Informationen aufbereiten, dann sollten diese für alle zugänglich sein. Frei nach Carlos Obers: „Design ist Kunst, die sich nützlich macht.“ Also haben wir Verantwortung gegenüber jedem, der unsere Werke nutzt. Ein Ort, an dem im Prinzip jeder Zugang zu Informationen hat, ist das World Wide Web. Hier ist „Barrierefreiheit“ ein gängiges Schlagwort. Tatsächlich gibt es weitreichende Hilfen, die Menschen mit Behinderungen einsetzen können – zum Beispiel die akustische Sprachein- und -ausgabe, Vergrößerungssysteme oder spezielle Eingabegeräte. Auch begegnen einem innovative und hoch dekorierte Kreativprojekte, die zum Ziel haben, Menschen mit Handicaps zu helfen. Zum Beispiel das Gemeinschaftsprojekt der südkoreanischen Entwicklungsagentur KOICA und der Kreativagentur Serviceplan. Sie haben das Gerät „Dot Mini“ entwickelt, das Blinden und Sehbehinderten Zugang zu digitalen Textinhalten eröffnet. Das Gerät erfasst digitale Texte selbsttätig und übersetzt sie dank künstlicher Intelligenz in die Brailleschrift.
In Deutschland gibt es seit 2002 ein Behindertengleichstellungsgesetz, das aufgrund einer europäischen Richtlinie 2018 nochmal angepasst wurde. Das Gesetz regelt unter anderem, dass Arbeitnehmer mit Behinderung das Recht auf ein barrierefreies Arbeitsumfeld und auch barrierefreies Internet haben. Öffentliche Einrichtungen sind sogar zur barrierefreien Gestaltung von digitalen Inhalten verpflichtet. Ich bin mir nicht sicher, welche Sanktionen ihnen bei Nichtbeachtung drohen, aber wenn ich mir viele Seiten von öffentlichen Einrichtungen anschaue, dann stelle ich zumindest fest: Dort ist noch einiges zu tun. Bei der Webseite der Europäischen Union hat man zwar die Möglichkeit über die „Leichte Sprache“ Informationen einfacher aufbereitet zu bekommen, aber irgendwie wurde dabei die grundlegende Usability vergessen. Was dann ja auch eine Barriere für den allgemeinen Leser darstellt. Natürlich ist das Thema Barrierefreiheit aber nicht nur im digitalen Kontext relevant: Wenn wir Druckstücke gestalten, so müssen wir ebenso hinterfragen, ob ein experimentelles Layout die Informationsvermittlung so stark beeinträchtigt, dass es Benutzer ausschließt. Wir müssen auf ausreichende Kontraste, Schriftgrößen und Lesbarkeit achten. Und auch bei der Entwicklung von Unternehmenserscheinungsbildern sind Aspekte der Barrierefreiheit relevant: Wenn Farbwerte nur um Nuancen verändert werden, kann dies bereits darüber entscheiden, ob Anforderungen an die Zugänglichkeit erfüllt werden oder nicht. Ich ahne, dass einige Gestalter bereits mit den Zähnen knirschen: Ja, wir lieben die Freiheit, Ästhetiken auszuprobieren und immer wieder neu zu experimentieren. Aber es gehört eben auch zu unserer Aufgabe, die Zielgruppe nicht aus dem Blick zu verlieren und uns selbst zu hinterfragen, ob wir mit unseren Arbeitsergebnissen Menschen ausschließen. Ich denke, jeder Kommunikationsverantwortliche tut gut daran, stets allen Menschen den bestmöglichen Zugang zu Informationen zu ermöglichen. Barrierefreiheit macht die Nutzung einfacher – also auch für all jene, die keine Einschränkungen besitzen. D
„Aktion Mensch“ bietet eine sehr hilfreiche Präsentation im Internet, die einfach und verständlich erklärt, was man beim WebDesign beachten sollte und welche Gesetze es gibt.
Google hat ein Accessibility Team, eine Abteilung, die sich mit Barrierefreiheit beschäftigt. Das Team kümmert sich dabei auch um Erleichterungen beim Surfen für Farbenblinde. Unter anderem ist das auch der Grund für die extrem bunte Farbigkeit im Google Logo.
Linkempfehlungen: barrierefreies-webdesign.de / bgg einfach-fuer-alle.de design-fuer-alle.de / design-fuer-alle
Passion | #05 #04 | 20 19
Feature Insidergespräch
Ich bin keine Self-Help-Tante
Dr. Mai Thi Nguyen-Kim über Oxytocin, ein „sehr schönes Molekül“
Betrunken vor Liebe
Prof. Maren Urner über die digitale Vermüllung unserer Gehirne und Konstruktiven Journalismus
Fotografie: Michael Jungblut Illustrationen: Julia Ochsenhirt
Fotografie: Thomas Duffé
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Das Magazinvon vonBerlinDruck BerlinDruck Das Magazin
Insidergespräch
Echter Journalismus bedeutet „recherchieren“, im Sinne von „wieder suchen, forschen nach und trachten nach“. Es bedeutet das möglichst objektive Aufbereiten von Informationen in aller Tiefe vor komplexem Hintergrund. Heute scheint der Begriff eher auf das Nächstliegende, nämlich auf die Jagd nach der täglichen, stündlichen, minütlichen – zumeist auch noch negativen – Nachricht verengt zu sein. Wir trafen Prof. Maren Urner im Futurium, einem Haus der Zukünfte in Berlin, um zu erfahren, woher die Lust am Negativen kommt und wie der Journalismus der Zukunft aussehen kann. Prof. Maren Urner, 35, ist eine deutsche Neurowissenschaftlerin und Autorin. Sie ist Mitgründerin des 2016 entstandenen Online-Magazins Perspective Daily, eines neuen, ambitionierten Projekts aus Münster. Das Konzept sieht vor, „mit Konstruktivem Journalismus nicht nur Probleme zu beschreiben, sondern auch Lösungen zu diskutieren, Hintergründe und Zusammenhänge zu vermitteln“. Überdies ist sie Professorin für Medienpsychologie an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln. twitter.com / positivemaren facebook.com / maren. urner
Maren, wird Journalismus heute seiner Aufgabe noch gerecht? Ich bin davon überzeugt, dass es auch heute noch viel gut recherchierten Journalismus gibt. Richtig ist aber auch, dass es schon immer einen Hang zum Negativen gab – auch im Journalismus. Ich komme gleich noch darauf zurück, warum das so ist. Das Problem ist aber jetzt, dass sich das mit dem Digitalen verstärkt. Es gibt eine groß angelegte Untersuchung, die in 130 Ländern Millionen von Nachrichten ausgewertet hat, und wir sehen ganz klar eine Tendenz zu noch mehr Negativem. Der Fokus, der eh schon immer auf dem Negativen lag, hat sich noch verstärkt. Über das Digitale haben wir das Resultat – wenn wir wollen, oder wenn wir das zulassen – 24 Stunden am Tag auf allen Kanälen. Woher kommt der Hang zum Negativem? Auf der einen Seite, weil wir alle noch mit einem Steinzeitgehirn durch die Welt laufen und dieses Steinzeitgehirn darauf programmiert ist, zu überleben. Was ja erstmal eine sinnvolle, gute Sache ist. Unser Hirn ist nicht für die Welt da draußen, wie wir sie heute vorfinden, gemacht. Wir haben es ja nicht mehr mit Gefahren zu tun wie vor tausenden von Jahren. Wir leben heute – zumindest in unseren Kulturkreisen – in einer sehr sicheren Umgebung. Das Problem ist, dass wir durch dieses Negativitätsbias – also die Tendenz, negative Nachrichten als wichtiger zu empfinden – in der digitalen Welt, unserer 24-Stunden-Welt von Nachrichten, einfach kontinuierlich diesem Negativen ausgesetzt sind und die Gefahr besteht, damit potenziell in so eine Art chronischen Stress zu gelangen. Was bedeutet chronischer Stress in diesem Zusammenhang? Das ist nicht dieses „Ich hab’ keine Zeit.“ und „Ich muss noch dieses und jenes …“. Wir sind ja alle gestresst heutzutage. Das bedeutet vielmehr die komplette Bandbreite an biologischen Reaktionen, die mit so einer Stresssituation einhergehen. Im akuten Fall
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sorgt das fürs Überleben, im chronischen Fall aber dafür, dass wir krank werden können. Und dass auch alle Zivilisationskrankheiten begünstigt werden. Tatsächlich basiert die Mehrzahl der Hausarztbesuche auf stressbedingten Ursachen – nicht alle durch Medien bedingt, aber sie spielen eine tragende Rolle. Wie reagieren die Menschen? „Warum bin ich eigentlich immer so negativ und fast depressiv? – Ahh, das kommt durch die Medien, die ich konsumiere. Die sind immer alle so negativ. – Und was mach’ ich jetzt? Ich wende mich davon ab.“ Da liegt natürlich eine Gefahr: Wenn Menschen sagen, dass sie die Zusammenhänge gar nicht mehr interessieren, weil es sie stresst, und sie sich in ihr Privates, in ihr „neues Biedermeier“ zurückziehen, dann ist das psychologisch gesehen ihre Bewältigungsstrategie, ihr Coping, das sie davor schützt, diesem endlosen negativen Dauerstress ausgeliefert zu sein. Menschen, die Medien machen, wissen natürlich, dass der User lieber auf Negatives klickt, als auf Zukunftsorientiertes, Positives, Konstruktives. Ist das nicht inzwischen ein fatales Wechselspiel zwischen Leser*innen und Journalist*innen, eine geradezu unumkehrbar scheinende Spirale? Die Angst, etwas zu verpassen – im Englischen gibt es ja sogar einen Begriff dafür, die FOMO (Fear of missing out) – auf der einen Seite und das Füttern (müssen) auf der anderen Seite? Klar, das bedingt sich. Wir haben auf der einen Seite die Tatsache, dass wir alle mit unserem Steinzeitgehirn, das auf Negatives fokussiert ist, durch die Welt laufen. Auf der anderen Seite haben wir Online-Journalismus, der sich durch Werbeeinnahmen finanziert und auf Clicks angewiesen ist. Das motiviert den Journalisten noch einmal mehr dazu, negativer zu berichten, weil er weiß, dass sich damit mehr Geld verdienen lässt. Und da sind wir in so einem Teufelskreis, der immer weiter – fast schon ins Perverse – getrieben wird. Wie kann aber ein verantwortungsvoller Journalist seiner Aufgabe gerecht werden, wenn sich Ereignisse überschlagen? Ein Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin, ein Erdbeben in Albanien usw. Ich kenne das aus vielen Gesprächen mit Journalisten, die sich fragen, was sie denn als einzelne Journalisten – quasi bottom up – machen können. Sie möchten gern gut recherchierte umfassende Beiträge veröffentlichen, bekommen das dann aber nicht verkauft. Also bleibt die Frage: Wie können wir arbeiten und nicht zu den Getriebenen gehören? Meine Gegenfrage: Wer sagt denn, dass wir uns so treiben lassen müssen? Häufige Antwort: Die Leute wollen das so. Aber, was die Leute wollen und was gut, wichtig und richtig
Passion | #05 | 20
Insidergespräch
Wann immer ich Menschen erkläre, welche Verantwortung die Medien haben, stelle ich ihnen eingangs ein paar Fragen zum Zustand der Welt. Nachfolgend siehst du vier Fragen mit jeweils drei Antwortmöglichkeiten. Deine Aufgabe ist es, die jeweils richtige Antwort zu finden. Auf Seite 46 erfährst du die richtigen Lösungen und außerdem, wie rund 1.000 Deutsche die Fragen beantwortet haben.
ist, ist nicht immer deckungsgleich. Was für eine ökonomische und gesellschaftliche Landschaft brauchen wir für den Journalismus, damit das nicht mehr der Fall ist? Und – vielleicht als konstruktiven, positiven Outlook – wofür zahlen die Konsumenten letztendlich, wenn’s um Journalismus geht? Sicherlich nicht für die kurzen Geschichten. Da weiß jeder, das können die KIs machen: die Fußballergebnisse, die Wahlergebnisse oder was auch immer — das kann ein Algorithmus. Das, wofür wir Menschen noch brauchen – und da sind die Rezipienten auch bereit, dafür zu zahlen –, das sind die langen, einordnenden Stücke. Das sind die Hintergrundsachen, wo Dinge zusammenfließen und in Verbindung zueinander gebracht werden. Was stellen wir als Branche – also top down – bereit und welche Finanzierungsmodelle werden wie unterstützt? Und da ist auch die Frage erlaubt, ob das staatlich finanziert werden soll. Ich finde das immer ganz spannend, dass dann häufig der Vorwurf der Staatspresse aufkommt. Im Rundfunk ist das schließlich ganz normal. Darüber sollte man reden können. Die Frage sollte sein: Was wollen wir erreichen und nicht, wer hat den längeren Atem. Und dann müssen Journalistinnen und Journalisten überdies noch mit Parallelöffentlichkeiten in den sozialen Medien um100 Deutungshoheiten und Wahrheiten ringen. Das macht es nicht einfacher!? Ja und nein. Journalisten lieben es, sich über Journalismus zu unterhalten. Sie gehen aber zu schnell davon aus, dass das alle gern machen. Das ist nicht der Fall.
Prof. Maren Urners aktueller Bestseller Schluss mit dem täglichen Weltuntergang (2019), erschienen im Droemer Verlag 16,99 Euro ISBN 978-3426277768
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Gehen Journalisten kritisch mit sich um? Ja, schon kritisch. Aber sehr auf die eigene Welt, die eigene Filterblase oder Echokammer bezogen. Da muss man realistisch sein. Wieviel Medienkonsum hat denn der nichtjournalistisch arbeitende Mensch? Das sind dann nicht die Meta-Analysen, über die er sich informiert, sondern da ist eher das Bedürfnis, sich über den Tag informieren zu wollen. Und dort liegt – wie in vielen anderen Bereichen – der Fokus auf dem Negativem. Fake News gab es schon immer und auch die Kämpfe darüber, was wahr und was falsch ist. Es ist eine klare Herausforderung, dass es jetzt scheinbar wieder in Ordnung ist, offene Lügen und Bullshit zu verbreiten. Damit müssen wir lernen, umzugehen. Es gibt inzwischen einige Untersuchungen dazu, wer besonders empfänglich für solche Art News ist, warum sich solche Sachen schneller verbreiten usw. Und da sind wir wieder bei der Psychologie – beim confirmation bias, d. h. dass wir eher Dinge glauben, die in unser eigenes Weltbild passen. Wenn ein Algorithmus mir dann, wenn er mich gut kennt, die Dinge liefert – egal, ob sie wahr oder falsch sind – dann glaube ich sie eher und verbreite
1. Wie viel Prozent erwachsener Menschen können weltweit lesen und schreiben?
a) 80 Prozent b) 60 Prozent c) 40 Prozent
A 1990 A 1990 2000 2010 2000 2010
a) 20
Tabelle 1
B
C
9 B
9 C
Tabelle 1 9
9 10,3
9 9,2
9 7,7
12,7 10,3
8,9 9,2
5,1 7,7
12,7
8,9
5,1
2. Wie hat sich die Zahl der Toten durch Naturkatastrophen seit Tabelle 1 1970 weltweit entwickelt? b) a) Mehr alsc) verdoppelt 50 80 b) Ungefähr gleich geblieben c) Auf weniger als 1die Hälfte gesunken 3. 1990 starben 9 Prozent der Kinder weltweit vor dem Erreichen des 5. Lebensjahres. Welche Linie zeigt die Entwicklung der weltweiten Kindersterblichkeit seitdem? A B C
a) Linie A b) Linie B c) Linie C 4. Wie viel Prozent aller einjährigen Kinder auf der Welt sind gegen Masern geimpft? 1 1
a) 20 Prozent b) 50 Prozent c) 80 Prozent Das Magazin von BerlinDruck
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Insidergespräch
sie eher. Auch da gilt – top down: Müssen wir das regulieren? Wenn ja, wie? Wie verändert sich unsere Weltsicht, wenn wir uns einem solch negativen Dauerfeuer ausliefern? Wir sind auf Medien angewiesen. Wenn wir da hauptsächlich Negatives bekommen, was macht das mit uns? Es sorgt dafür, dass wir alle im Mittel ein zu negatives Weltbild haben. Ist das schlimm? Man könnte ja annehmen, dass die Menschen dann besonders aktiv an den Problemen arbeiten und alle Herausforderungen annehmen, weil sie sich ja verbessern wollen. Ergebnisse aus der Psychologie zeigen uns aber, dass das nicht der Fall ist. Menschen mit negativen Emotionen sind weniger handlungsfähig und -bereit, als wenn sie mit positiven Emotionen ausgestattet sind. Passivität, Hoffnungslosigkeit, Zynismus und eine erlernte Hilflosigkeit sind die Folgen, weil die Leser immer wieder gezeigt bekommen: Das sind die Probleme, die sind unlösbar und du als Einzelner kannst eh nichts dagegen machen. In deinem Bestseller „Schluss mit dem täglichen Weltuntergang“ gibst du Tipps, was wir als User verändern können. Hast du ein paar Erste-Hilfe-Maßnahmen für uns? Ich bin keine Self-Help-Tante! Aber es ist wichtig, gerade mit einer lösungsorientierten Denke, die ich absolut vertrete und auch versuche, sie weiter zu verbreiten, daran zu gehen. Als erstes kann sich natürlich jeder immer die Frage stellen, die du grad gestellt hast: Was jetzt? Wie gehen wir damit um? Der erste Schritt ist, sich das Problem bewusst zu machen. Also zu merken, dass hier irgendwas passiert. Wie nehme ich gerade diese Information wahr und wieso habe ich dieses zu negative Weltbild? – Ich bemühe dann immer den Begriff der Medienhygiene. Man sollte die Bereitschaft mitbringen, seine eigenen Routinen und Gewohnheiten in Frage zu stellen. Wie möchte ich denn informiert sein? Welche Informationen möchte ich wirklich an mich heranlassen? Das heißt nicht, dass man Dinge ausblendet, weil sie schlecht sind. Wie informiere ich mich, dass ich weder ein zu negatives, noch ein zu positives Weltbild bekomme, sondern ein realistisches? Es gibt so viel hochwertigen Journalismus da draußen – Magazine, Podcasts, Bücher usw. Man muss sich nur die Mühe machen, den richtigen Weg mit den richtigen Medien einzuschlagen, dass dieser zur Routine wird. Und was die digitalen Helfer angeht, einfach zu bestimmen, wann am Tag ich eMails abrufe, ob ich wirklich alle Push-Nachrichten brauche, wann am Tag ich mein Handy auslasse usw. Schon die schiere Anwesenheit eines Mobiltelefons zweigt einen Teil meiner kognitiven Ressourcen dafür ab, bereit dafür zu sein, dass es gleich klingeln, piepen, vibrieren oder blinken wird. Ein vibrierendes Smartphone ist das Mammut von früher.
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Du publizierst auf perspective-daily.de und über eure App PD. Da ist die Rede von lösungsorientiertem Journalismus. Was ist das, was macht ihr anders, was besser? Die Idee war, praktisch an die Umsetzung zu gehen. Gegründet haben wir Perspective Daily 2016, inzwischen sind wir ein Team von ungefähr 20 Leuten. Was war der Ursprung? Wir wissen, wir haben große Herausforderungen in unserer Gesellschaft – allen voran den menschengemachten Klimawandel. Warum diskutieren wir so wenig über Lösungen? Wir sind auf den im deutschsprachigen Raum noch unbekannten Konstruktiven Journalismus gestoßen und haben ein Crowdfunding organisiert, um lösungsorientierten Journalismus mit eigenem Team umsetzen zu können. Die Kurzantwort auf deine Frage „Was ist anders?“ ist, immer die Frage mitzuführen: „Was jetzt?“ – „What now?“ Das ändert nicht die Realität da draußen, aber die Sicht auf die Welt. Das ändert auch die Auswahl der Quellen, der Themen, der Gesprächspartner und auch die Fragen an die Gesprächspartner. – Das Reden über Probleme schafft Probleme, das Reden über Lösungen schafft Lösungen. Dieses Zitat von Steve de Shazer ist der Kern dieser konstruktiven Denke. Wie wird sich das weiterentwickeln? Was sind eure Ziele? Auf der einen Seite wollen wir noch nutzerfreundlicher werden, mehr in den Dialog mit den Lesern kommen und die Interaktivität steigern. Und mehr Audio – da liegt die Zukunft! Neben deinem Treffen mit uns hattest du diese Woche noch einen weiteren wichtigen Termin: bei unserem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue. Worum ging es da und was nimmst du aus Berlin mit? Frank-Walter Steinmeier hatte mich – neben Ian McEwan und Steven Pinker – zum 8. Forum Bellevue, Zukunft der Demokratie eingeladen. Und ich dachte, wow, das ist eine interessante Kombination – ich war tatsächlich beeindruckt! Ich bin da, glaub’ ich, sehr unbefangen, offen und neugierig reingegangen. Das war einfach eine tolle Erfahrung, mit Steven Pinker, der mich schon während meines Bachelor-Studiums begleitet hat, und mit Ian McEwan, dessen Bücher ich gelesen habe, während ich in London promoviert habe, über einige der großen Fragen unserer Zeit zu diskutieren. Das war schon großartig! Und ich bin überzeugt davon, dass solche Events wichtig sind, um auf einigen Ebenen – eben top down – die richtigen Impulse zu setzen. Vielen Dank, Maren, dass du Zeit für uns gefunden hast und danke für dieses Gespräch!
Perspective Daily ist das erste mitgliederfinanzierte, lösungsorientierte und werbefreie Online-Magazin in Deutschland. PD setzt nicht auf Schreckensnachrichten und Einzelereignisse, sondern auf einen Konstruktiven Journalismus mit Blick nach vorn. perspective-daily.de
Passion | #05 | 20
Nachhaltigkeit
Axel Fischer, INGEDE, über Nachhaltigkeit, Altpapiereinsatzquoten und Deinkbarkeit
Spezial Nachhal tigkeit
PAPIER – DAS ZEITGEMÄSSE MEDIUM Der gedruckte, ausgehängte Fahrplan war der Retter in der Not, als ein Cyber-Angriff 2017 wieder einmal die Infoschirme an unzähligen Bahnhöfen lahmlegte. „Bitte Aushangfahrplan beachten“ war auf den blauen Tafeln zu lesen. Nur ein – nicht zu unterschätzender – Vorteil von Gedrucktem auf Papier? Oder ist da noch mehr, was Papier zu einem wertvollen Medium macht?
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Das Magazin von BerlinDruck
Nachhaltigkeit
Klar, Papier ist nachhaltig, denn es ist aus nachwachsenden Rohstoffen – basierend auf Holz –, einem wiederverwertbaren und vollständig erneuerbaren Material. Es kann immer und immer wieder zu neuem Papier rezykliert werden. Dieser Papierkreislauf ist immens wichtig, denn es ist kaum vorstellbar, wie viele Wälder nötig wären, wenn für alles, was bisher auf Recyclingpapier gedruckt wird, neues Papier eingesetzt werden müsste. Ohne Altpapier geht es nicht. Ein schöner Bildband, ein aufwendig gebundenes Buch, eine Kunst-Illustrierte mit vielen großformatigen Abbildungen – so etwas kommt natürlich auf weißem, voluminösen Papier besser zur Geltung. Hier ist es wenig sinnvoll, extremen Aufwand beim Recycling zu treiben, nur um ein hochweißes Recyclingpapier zu erhalten, das von Frischfaser nicht mehr zu unterscheiden wäre. Denn dabei gehen zu viele Fasern verloren, die Ausbeute sinkt, der ökologische Nutzen auch. Frischfaser ist hier besser. Dafür müssen die Wälder so nachhaltig bewirtschaftet werden, dass ihre vielfältigen Funktionen für die Artenvielfalt, das Klima, das Grundwasser etc. möglichst vollständig erhalten bleiben. Altpapier ist also gut für die Umwelt. Im Jahr 2017 waren es 17 Millionen Tonnen Altpapier, eine Altpapiereinsatzquote von 75 Prozent! Altpapier ist der ideale Rohstoff für Zeitungen, Zeitschriften, Prospekte und Anzeigenblätter, das eine oder andere Taschenbuch, aber auch für jegliche Korrespondenz – und natürlich für Hygienepapiere. Also: Der ökologische Papierkreislauf bedeutet ein gesundes Nebeneinander von Frischfaser aus nachhaltig bewirtschaftetem Wald und Recyclingpapier. Und noch ein nachhaltiger Aspekt, der nicht zu vernachlässigen ist: Gedruckte Informationen auf Papier überdauern Jahrhunderte. Die größte Bibliothek der Welt, die
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Axel Fischer ist Chemiker, leitet die Öffentlichkeitsarbeit der INGEDE und berät Drucker in Sachen Nachhaltigkeit. www.ingede.com
Im Jahr 2017 wurden 17 Millionen Tonnen Altpapier verarbeitet, eine Altpapiereinsatzquote von 75 Prozent.
Heutiges Recyclingpapier hat nichts mehr mit den grauen, kratzigen Produkten aus den 1980er Jahren gemein. Längst lässt sich recyceltes Papier in beinahe allen Bereichen einsetzen.
Passion | #05 | 20
Nachhaltigkeit
Die British Library ist die Nationalbibliothek des Vereinigten Königreichs. Sie beherbergt mit über 170 Millionen Werken den weltweit größten Medienbestand aller Bibliotheken. www.bl.uk
British Library, beherbergt über 170 Millionen Bücher, darunter das älteste Buch Europas: „St. Cuthbert Gospel“. Es stammt aus dem siebten Jahrhundert und enthält eine Abschrift des Johannes-Evangeliums. Bei einem E-Buch reicht oft schon ein neuer Computer, damit die Datei nicht mehr zu öffnen ist. Nicht zu reden von den verschiedenen Speichermedien, die schon nach wenigen Jahren nicht mehr zugänglich sind – begonnen hat es mit den guten alten Floppy Disks, Disketten und den ZIP-Laufwerken, abgelöst von verschiedenen magnetooptischen Medien und USBSticks. Zur Zeit sterben gerade CDs und DVDs. Unsere Daten schweben in irgendeiner Cloud – was fehlt, wird gestreamt. Um Informationen elektronisch bereitzustellen, seien es E-Mails, Zeitungen, Telefonrechnungen oder Kontoauszüge, werden enorme Mengen an Ressourcen benötigt: Lauter Serverfarmen, gigantische Fabrikhallen voller Computer, die 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, was produzieren? Wärme! Und deshalb bauen Google und Facebook direkt in der Arktis, um dort teure Kühlanlagen zu sparen und die Wärme direkt an die Umgebung abzugeben. Schätzungen zufolge wird der Anteil der Digitalindustrie am weltweiten Stromverbrauch von derzeit etwa 14 auf 22,6 Prozent im Jahre 2025 anwachsen. Ein großer Teil des Stroms wird in Abwärme umgewandelt. Parallel erhöht sich auch der Elektronik-bedingte CO2-Fußabdruck: Zwischen 2013 und 2018 ist der Beitrag an den globalen Treibhausgasemissionen von 2,5 auf 3,7 Prozent um etwa die Hälfte
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angestiegen, 2025 werden es laut Prognose 7 Prozent sein – Tendenz steigend. Das Internet verursacht schon jetzt mehr CO2-Emissionen als Flugreisen. Und Elektro- und Elektronikabfall ist eine der am schnellsten wachsenden Abfallfraktionen, wegen des Gehalts an giftigen Inhaltsstoffen oft Sondermüll. Alte iPads und weiterer unreparierbarer Elektronikschrott werden teilweise immer noch in afrikanischen Ländern auf offenem Felde verbrannt, Kinder scharren mit bloßen Füßen in der Asche, um die wertvollen Metalle zusammenzukratzen. Ist das alles umweltfreundlich? Nein, kein Material lässt sich so leicht und so nachhaltig recyceln wie Papier. Aus dem Papier der Zeitung oder Werbebroschüre von heute, die im Altpapier landet, wird oft schon eine Woche später die nächste Zeitung gedruckt. Oder: Der Altpapieranteil der deutschen Anzeigenblätter liegt mit 84,2 Prozent über der durchschnittlichen Altpapiereinsatzquote von 75 Prozent, rund ein Drittel der Anzeigenblätter besteht ausschließlich aus Altpapier.
22,6 % Anteil der Digitalindustrie am weltweiten Stromverbrauch 2025 (Schätzung)
304.200.000 t CO2-Verbrauch für E-Mail-Dienste, p. a.
7 %
Beitrag der Digitalindustrie an den globalen Treibhausgasemissionen 2025 (Schätzung)
102.000.000 t CO2-Verbrauch für Streamingdienste wie Netflix oder AmazonPrime, 2018
22,8 kg Elektro-Schrott produziert jeder Deutsche im Durchschnitt, p. a.
44,7 Millionen Tonnen Elektroschrott sind laut The Global E-waste Monitor 2017 weltweit angefallen.
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Nachhaltigkeit
1 %
#05 | 20 | Passion
Nutzen und Vorteile der Altpapierverwertung auf einen Blick: Reduktion des Energiebedarfs um über 60 %. Pro Tonne Papier: ca. 11.000 kWh bei Neupapier zu ca. 4.000 kWh bei recyceltem Papier.
Beitrag der Zellstoff-, Papier- und Print-Wertschöpfungskette an den globalen Treibhausgasemissionen
Senkung der Abwasserbelastung um ca. 94 % durch geringeren Chemikalieneinsatz bei Sulfit / Sulfat, Chlor und Wasserstoffperoxid.
84,2 %
Reduktion des Wasserverbrauchs um 96 %. Pro Tonne Papier: ca. 250.000 Liter bei Neupapier zu ca. 10.000 Liter bei recyceltem Papier.
Altpapieranteil der deutschen Anzeigenblätter
Reduktion des Restmülls um 40 %.
54 % Nutzung von erneuerbarer Energie durch die europäische Papierindustrie
Wenn schon Papier, dann muss es grün sein. Aber: Viele Druckerkollegen werben im Internet mit Umweltaussagen. Sie veranstalten Eco-Audits, drucken auf Recyclingpapier – mit Gemüsefarben und werben mit kompostierbaren Druckprodukten. Bei näherem Hinsehen sind etliche Aussagen zweifelhaft – manche schlichtweg falsch. Sojaöl beispielsweise macht Druckfarben in der Regel undeinkbar, weil dieses Öl beim Trocknen stark vernetzt und dabei die Pigmente fest an die Fasern bindet. Das Ergebnis sind Schmutzpunkte im Recyclingpapier. Papier wird recycelt, nicht kompostiert. Deshalb müssen Druckfarben erst einmal recyclebar sein. Wenn sie dann auch noch kompostierbar sind, ist das sicher gut. Wenn sie nur kompostierbar sind und nicht deinkbar, ist das Greenwashing. Fazit: Papier ist DAS zeitgemäße, weil nachhaltigste Medium für jegliche Information von Dauer. Ohne Cloud, ohne technische Uploads, ohne Bereitstellung elektronischer Lesegeräte – also einfach so! D
„Um unsere Umwelt zu schonen, ist der Papierverbrauch für uns eine wichtige Stellschraube. Wir arbeiten fast ausschließlich mit Papier, daher ist auch dessen Entsorgung ein essentielles Thema für uns. Generell ist Papier ein sehr umweltfreundlicher Rohstoff, da er aus natürlichen und nachwachsenden Ressourcen gewonnen wird. Nichtsdestotrotz sollte Papier nicht verschwendet werden, da der Abbau, die Herstellung und der Transport von Papier Umweltbelastungen darstellen“, weiß Frank Rüter, Geschäftsführer von BerlinDruck. „Schon seit vielen Jahren ist die Altpapierquote eine sehr wichtige Kennzahl für uns. Diese Quote zeigt den prozentualen Anteil der Altpapierentsorgung am Papiereinkauf und wird von uns monatlich nachgehalten. Durch diese ständige Kontrolle stellen wir sicher, dass
unsere Altpapierquote gering bleibt. Der Branchendurchschnitt bei dieser Quote beträgt laut einer Erhebung von Heidelberger Druckmaschinen zwischen 20 und 30 Prozent. Druckereien, die ohne geschultes Personal und mit veralteter Technik arbeiten, erreichen sogar bis zu 35 Prozent. In den letzten sieben Jahren haben wir bei dieser, aus unserer Sicht so wichtigen Kennzahl, einen durchschnittlichen Wert von 17,68 Prozent erreicht, was zeigt, dass wir diesem Thema schon seit langer Zeit eine hohe Relevanz bemessen“, meint Rüter und ergänzt: „Natürlich halten wir es für selbstverständlich, unser Altpapier auch zu 100 Prozent in den Papierkreislauf zurückzuführen. Wichtig ist aus unserer Sicht bei dem Punkt der Abfallentsorgung, dass eine genaue Trennung der Materialien erfolgt, denn Altpapier kann nur dann recycelt werden, wenn es nicht mit künstlichen Rohstoffen vermischt wird, wie es zum Beispiel beim UV-Druck der Fall ist. Dort wird das Papier mit UV-härtender Druckfarbe bedruckt, wodurch keine Trocknungszeiten mehr anfallen, da die
dort eingesetzten UVLampen die Farbe sofort aushärten. Dadurch wird der Rohstoff Papier mit künstlichen Materialien überzogen, was eine zusätzliche Belastung für die Umwelt darstellt. Allein die UV-Druckfarbe darf z. B. nur mit Schutzkleidung verarbeitet werden, was die Gefahr für unser Ökosystem verdeutlicht. Außerdem wird bei der UV-Trocknung oftmals eine Aushärtung der Farbe von nur 80 Prozent erreicht, was das Druckprodukt für die Personen, die es in den Händen halten, gefährlich macht, indem es z. B. Hautreizungen oder Allergien hervorrufen kann. Wir von BerlinDruck haben uns gegen UV-Druckmaschinen entschieden, da sich diese Produktionsart mit unserer Überzeugung von Umweltschutz und Nachhaltigkeit nicht vereinbaren lässt. Wir nutzen nur Farbe aus nachwachsenden Rohstoffen, die sowohl mineralöl- als auch palmölfrei ist. Durch neueste Maschinentechnik und Farbzuführungen wird die Farbrestmenge reduziert. Das ist unser Verständnis von Umweltschutz und Nachhaltigkeit!“ D
Passion | #05 | 20
Gesellschaft
Publizist Rafael Seligmann Ăźber aufflammenden Rechtspopulismus und Antisemitismus
Einfach zugucken und sagen, das wird sich schon auswachsen – so geht das nicht Fotografie: Michael Jungblut
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Gesellschaft
Rafael Seligmann (geboren 13. Oktober 1947 in Tel Aviv) ist ein deutscher Schriftsteller, Publizist, Politologe und Zeithistoriker. Er promovierte 1982 über „Israels Sicherheitspolitik“. Seligmann schreibt seit 1978 als Redakteur Essays, Kommentare und Kolumnen unter anderem für den Spiegel, Die Welt sowie die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, die taz und die Jüdische Allgemeine. Seligmann schreibt in seinen Romanen und Sachbüchern provokant und schonungslos über das deutsch-jüdische Verhältnis.
Herr Seligmann, der Antisemitismus kehrt durch die neuen Medien mit Macht wieder und feuert weltweit Verschwörungsglauben, Hass und Gewalt an. Der Anschlag in Halle im vergangenen Oktober hätte weit mehr Menschenleben kosten können. Längst wird Antisemitismus in der deutschen Politik wieder ratund hilflos hingenommen. Scheint es so, als sei es zu viel geworden, sich andauernd zu empören? Ich schrieb vor 26 Jahren einen Essay für den Spiegel mit dem Titel „Republik der Betroffenen“. Man empört sich, verspricht dieses und jenes. Und nach einer Weile wurschtelt man weiter. Ich glaube, wichtig ist, dass man entschlossen die Ursachen von Menschenfeindlichkeit bekämpft – das ist nicht nur Antisemitismus. Das hat man bei den Nazis gesehen, bei Faschisten im Allgemeinen. Das ist ein Hass, der von einem selbst ausgeht und dann auf Minderheiten projiziert wird. Gegen Juden, gegen schwache Minderheiten, sexuelle Minderheiten, Arme, Asoziale, vermeintlich Vermögende und beispielsweise auch gegen Moslems. Das Entscheidende ist, dass kein Kind als Antisemit geboren wird. Die Ursachen werden andressiert. Man kann jetzt natürlich nicht jedes Elternhaus kontrollieren, und man soll es auch nicht. Aber die Schule, selbst die Vorschule oder der Kindergarten haben in meinen Augen die Funktion, die Menschen zu Humanität zu erziehen. Das Ziel ist, so wie es im Grundgesetz steht, die Menschenwürde zu achten. Wenn das einigermaßen gelingt, dann muss man sich nicht mehr groß um Antisemitismus oder ähnliches kümmern. Wenn er dennoch auftritt, dann müssen die Gesetze greifen. Es genügt nicht, wenn man ein Gesetz gegen Volksverhetzung hat oder gegen Körperverletzung. Diese Gesetze müssen auch angewandt werden. Wenn jemand auf der Straße schreit: Juden ins Gas! Dann ist das zumindest Volksverhetzung. Wenn jemand auf eine Synagoge mit einem gezogenen Messer losrennt und wird dann aus der Haft entlassen, weil das „schlimmstenfalls“ Hausfriedensbruch ist, dann begreift die Justiz ihre Aufgabe nicht.
Ich meine, obwohl es Antisemitismus immer gab und wahrscheinlich immer geben wird, können dessen Auswirkungen oder Ausläufer in einer demokratischen Gesellschaft beherrscht werden. Und wenn es Antisemitismus in einer Demokratie gibt, dann ist diese Demokratie hoch gefährdet. Das haben wir in Weimar und Italien nach dem Ersten Weltkrieg gesehen. Ist denn nicht inzwischen durch die zahlreichen Anschläge eine Gewöhnung eingetreten? Wenn ich unsere Politiker ernst nehme, wenn man ihren Worten folgt und Glauben schenkt, dann sollte man meinen, dass man sich nicht daran gewöhnt hat. Das wäre furchtbar! Mir kommen die Juden vor wie einst die Gänse auf dem Kapitol. Die haben bei Gefahr geschnattert. Wir haben in Deutschland heute 100.000 Juden. Das ist quantitativ keine große Sache. Aber wenn’s denen schlecht geht, dann können Sie davon ausgehen, dass auch Ausländer, Homosexuelle, andere sexuelle Minderheiten, religiöse Minderheiten – kurz gesagt, dass die Schwachen angegriffen werden. Das ist das Ende von Freiheit und Demokratie. Was ich anmahne ist, dass die Politiker vielleicht weniger reden und dafür mehr tun. Was könnten sie tun? Beispielsweise dafür sorgen, dass Gesetze geachtet werden, die Rechtsprechung konsequent genutzt wird und dass wir ein humanistisches Erziehungssystem haben. Dass unsere Werte tatsächlich nicht nur einfach heruntergeleiert werden. Wenn Pädagogen Menschlichkeit vorleben, dann nehmen es die Kinder und die Jugendlichen ernst. Das ist für mich das Entscheidende.
#05 | 20 | Passion
Publizist und Zeithistoriker Rafael Seligmann im Gespräch mit Chefredakteur Eckard Christiani
Ich denke, dass unser Bildungssystem einen solch idealisierten humanistischen Ansatz gar nicht konsequent verfolgt! Das wäre ein großer Fehler! Dann hat die Demokratie wenig zu verkaufen, wenn sie nicht von vornherein höchsten Wert auf Humanismus in ihren Schulen legt. Ein Lehrer, vierzig Schüler, so bin ich aufgewachsen. Da gab es strenge Disziplin. Wenn man sich nicht weiterhelfen konnte, mit dem Rohrstock. Vor dreißig Jahren wurden die Themen kurz abgehandelt. Da sagte die Lehrerin meines Sohnes: ‚Heute haben wir Antisemitismus gehabt, nächste Woche machen wir Antiislamismus und dann sind wir damit durch.’ Einige Jahre später hat man die ganze jüdische Problematik auf den Holocaust reduziert. Der Holocaust ist aber keine jüdische Errungenschaft – er ist vielmehr eine Katastrophe in einer undemokratischen Gesellschaft, in einer Diktatur. Dass unser Bildungssystem seit den Fünfzigerjahren humaner geworden ist, heißt noch nicht, dass es Humanität vollständig reproduziert. Ich
Passion | #05 | 20
Insidergespräch Gesellschaft
meine, gute Pädagogen können viel bewirken – aber nie vollständig. Es müssen qualifizierte Lehrer sein. Ich habe an der Uni zehn Semester werdende Lehrer unterrichtet. Die haben bei uns Politologen ein oder zwei Hauptseminare belegt. Nach der Prüfung wurden sie auf die Kinder losgelassen. Das ist noch nicht genug. Ein guter Lehrer muss von sich aus schon eine gewisse Menschenliebe innehaben. Wenn er die weitergibt, dann hilft das allen. Aber wenn einer nur ein guter Mathematiker, Germanist oder was auch immer ist, ist er noch kein guter Erzieher. In dem Fall unterstütze ich die Gewerkschaft. Es genügt nicht, einen Ingenieur zum Mathematik-Lehrer umzuschulen. In den sozialen Fächern brauchen wir Leute, die menschlich qualifiziert sind. Was hat das Judentum zu bieten? Das wäre durchaus im Sinne von Demokratie, von Erziehung zur Demokratie, wenn man aufzeigen würde, dass aus dem Judentum heraus die zwei anderen großen Weltreligionen entstanden sind. Da gibt es humane Werte: Du sollst nicht töten, du sollst deinen Nächsten lieben … Es gibt also durchaus eine Tradition des Lernens der Menschlichkeit. Und es gab immer ein gutes Miteinander. Darum hab’ ich auch mein Buch „Lauf, Ludwig, lauf!“ geschrieben, um zu zeigen, wie man gut und friedvoll 600 Jahre miteinander an diesem Ort gelebt hat. Und dann erschien plötzlich eine neue Ideologie der Niedertracht. Was sagt der antisemitische Ideologe? Mach die Leute kaputt, dann geht’s dir besser. Wenn also die Umwertung aller Werte stattfindet, bedeutet dies das Ende von Demokratie und von Menschlichkeit. 20 | 21
Haben wir durch aufkommenden Rechtspopulismus und vor allen Dingen durch die unzähligen HaterKommentare in den sozialen Medien nicht genau eine solche Situation wieder? Genauso ist es nicht. Noch überwiegen die demokratischen Parteien. Es ist zwar unschön, wenn die AfD in manchen ostdeutschen Ländern von einem Fünftel bis einem Viertel der Wähler goutiert wird. Aber das heißt immer noch, dass Dreiviertel für demokratische Parteien eintritt. Das Internet wird missbraucht. Ich warne aber davor, das Internet für alles verantwortlich zu machen. Hitler mit seiner Bande kam vor dem Internet an die Macht, Napoleon und Dschingis Khan auch. Die Unmenschlichkeit ist keine Erfindung des Internets. Das Internet ist ein Spiegel der Gesellschaft. Aber das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein. Wenn ich einen Aufruf zu einem Mord starte, ist das eine strafbare Handlung. Wenn ich mich per Internet zur Volksverhetzung verabrede und sie betreibe, muss das unterbunden werden. Und da werden ja jetzt die Maßnahmen ergriffen und die Gesetze beschlossen. Sie werden nichts nützen, wenn sie nicht durchgesetzt werden. Ich kann beschließen, dass jeder ewige Gesundheit und Jugend hat. Das ist eine gute Absicht. Das Durchsetzen ist das Wesentliche. Die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel meint, dass Judenfeindlichkeit kein Vorurteilssystem, sondern ein kulturell verankertes Glaubenssystem ist. Antisemiten hätten ein geschlossenes Weltbild. Sie würden glauben, dass Juden das Übel der Welt seien. Mit Aufklärung sei dem nicht beizukommen, denn selbst gebildete Antisemiten seien faktenresistent. Wie werden wir dann unserer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht? Jetzt muss ich mal was über Antisemitismusforschung sagen: Die wird so weiterhelfen wie Kamillentee gegen Krebs. Das kann nicht schaden, wenn man sich damit auseinandersetzt. Aber zu glauben, mit einigen wenigen Wissenschaftlern
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Gesellschaft
den Antisemitismus auszuhebeln oder sogar seine Ursachen beseitigen zu können, ist unsinnig. Sie können manche Anregungen geben, aber mehr wird da nicht herauskommen. Antisemitismus hat vielfache Ursachen. Es gibt religiöse Ursachen, ideologische Ursachen, soziale Ursachen. Der größte gemeinsame Nenner aber ist die Psychopathologie des Antisemiten. Wenn jemand es nötig hat, Menschen zu hassen – überhaupt zu hassen oder gar kollektiv zu hassen –, dann ist die- oder derjenige psychisch nicht gesund. Das hängt nicht vom Bildungsgrad ab. Goebbels war kein Idiot und auch nicht ungebildet, und Herr Höcke hatte auch sein Studium. Ich kümmer’ mich jetzt nicht darum, ob er Antisemit ist oder nicht, aber das was er tut, ist ein Zündeln mit Vorurteilen. Siehe die Rede zum „Mahnmal der Schande“. Das hat er jetzt zurückgenommen – morgen oder übermorgen wird er es wieder gebrauchen. Man sollte sich darauf konzentrieren, dass eine Gesellschaft human bleibt. Und wer da aus der Reihe denkt, der wird sich immer wieder neue Ziele suchen. Es gibt ja sogar Länder, wo es keine Juden mehr gibt oder nie gab, wie beispielsweise Korea oder Japan, wo es aber trotzdem Antisemitismus gibt. Hat das irgendeine Logik? Ja, das hat die Logik des Pathologen. Es ist ein Fehler, dass wir bei vielem sagen, das sei unlogisch. Das ist die gängige normale Logik von uns, nach der ein Antisemit unlogisch handelt. Aber nach seinem Weltbild handelt er vollkommen logisch. Aber wie kommt er zu seinem Weltbild? Ach, durch tausend Gründe. Das kann wie bei Richard Wagner sein, dass er einfach eifersüchtig auf Jacques Offenbach und andere jüdische Künster war. Das kann sein, weil jemanden seine Freundin verlassen hat oder er kein Geld hat. Ich muss nicht in jedes kranke Hirn hineinschauen und das genau analysieren.
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Passion | #05 | 20
Gesellschaft
Leseempfehlungen zum Thema:
Rafael Seligmanns aktueller Bestseller Lauf, Ludwig, lauf! (2019), erschienen im Langenmüller Verlag, 24,– Euro ISBN 978-3784434667
Michael Blume, Warum der Antisemitismus uns alle bedroht Wie neue Medien alte Verschwörungsmythen befeuern, erschienen 2019 im Patmos Verlag, 19,– Euro ISBN 978-3843611237
Das Haus der drei Religionen von Gregor Hohberg und Roland Stolte. Der Titel thematisiert eine bislang ungedachte Bautypologie: ein Bet- und Lehrhaus für die drei größten monotheistischen Religionen, erschienen 2013 im Verlag DOM publishers, ca. 160,– Euro ISBN 978-3869222608
Die Juden eignen sich von je her für jedwede Verschwörungstheorien, eben weil sie diese monotheistische Religion gegründet haben und stur genug sind, nicht im Islam oder Christentum aufzugehen. Das sind tradierte Vorurteile. 2020 ist die Grundsteinlegung des House of One. Das auf dem Berliner Petriplatz geplante Gebäude soll als gemeinsamer Sakralbau für Judentum, Christentum und Islam dienen. Eine gute Idee? Das ist eine sehr gute Idee. Menschen, die diese Synagoge, Moschee und Kirche besuchen, die sind nicht übergriffig gegen Moslems, Christen oder Juden. Wir müssen auch die anderen erreichen.
Sind Sie zuversichtlich? Ich bin bestürzt, dass eine Partei, die nichts als Ressentiments zu verkaufen hat, in ostdeutschen Ländern bis zu einem Viertel der Wähler anzieht. Man muss kein Historiker sein, um folgendes zu sehen: Die NSDAP hatte 1928 bei den Reichstagswahlen 2,6 Prozent. Zwei Jahre später waren es 18,3 Prozent. Über diese Hürde ist die AfD schon gesprungen. Die AfD-Politiker sind zum Großteil keine Nazis, aber einfach zugucken und sagen, das wird sich schon auswachsen – so geht das nicht. Da müssen nicht nur die demokratischen Parteien, sondern auch die Gesellschaft zusammenstehen. Im House of One sind sich die Parteien auch nicht über alles einig, aber das große Gemeinsame ist Gott. In der Gesellschaft ist es das Grundgesetz. Darüber muss Konsens herrschen. Wenn das gegenseitige Misstrauen, die gegenseitige Feindseligkeit größer ist als die gemeinsamen Werte, dann schütze uns Gott.
Andit, Bereket, Moussi und Teklit besichtigen 2015 die Druckerei
Andit Weldemariam mit Konstantin Wecker. Er finanzierte der WG anfangs Telefon- und Internetzugang
Lieber Herr Seligmann, vielen Dank für dieses Gespräch! D 22 | 23
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Menschen bei BerlinDruck
Es war selbstverständlich Andit Weldemariams langer Weg zu BerlinDruck oder: Wie Integration mit Mut und Leidenschaft gelingen kann
Generell ist uns soziale Verantwortung sehr wichtig. Schon seit Firmengründung haben wir stets darauf geachtet, kein Unternehmen zu sein, was auf die besten Zeugnisse bei Auszubildenden oder Mitarbeitern setzt, sondern auf die Person an sich und wie sie in unseren Betrieb passt. Der Grund, warum wir erfolgreich sind, sind schließlich die Menschen, nicht die Maschinen oder Noten. Bei uns bekommen alle die gleichen Chancen, egal welche Hautfarbe oder welchen Hintergrund diese Person mitbringt.
Andit Weldemariam arbeitet seit mehr als drei Jahren als Buchbinder bei BerlinDruck
Ein Beispiel aus jüngerer Vergangenheit: Es war im Februar 2015. Es war ein Bild in der Bassumer Regionalausgabe des WeserKurier, das Hedda Berlin sehr bewegte: Vier junge Eritreer – nur mit T-Shirts bekleidet – auf dem Fahrrad in Richtung Syke. Im Februar! Sie waren auf dem Weg zum Deutschunterricht in der Volkshochschule. Im Bericht einige Details über den Unterricht und die Fortschritte der Schüler. Kein Wort über das verstörende Foto. Für Hedda Berlin war es selbstverständlich, zu helfen. Sie fuhr drei Tage später mit den vier sehr schüchternen jungen Eriträern ins Ochtumpark-Outlet in Brinkum. Andit, Bereket, Moussi und Teklit bekamen die dringend benötigten Kleidungsstücke. Zurück in Bassum dann der zweite Schritt. Alle vier waren bis dahin in einem inzwischen abgerissenen „Behelfsheim für Obdachlose“ untergebracht. In dem inzwischen zu einem Mehrfamilienhaus umgebauten Gründungshaus von BerlinDruck war eine Wohnung frei: Ein passender Ort für die neue WG! Es waren viele beteiligt, die den Flüchtlingen einen guten Start ermöglichten. Leute aus der Bassumer Stadtverwaltung, ein Lehrerehepaar, das die Sprachförderung maßgeblich vorantrieb und die vier durch den fast undurchdringlichen Bürokratendschungel leitete. Konstantin Wecker, der Telefon- und Internetzugang finanzierte, und Hedda Berlin, die „Ersatzmutter“ von Andit, Bereket, Moussi und Teklit – von ihnen liebevoll „Frau Hedda“ genannt.
Fünf Jahre später sprechen die Eriträer ein sehr passables Deutsch und haben die ersten beruflichen Erfahrungen längst hinter sich. Andit hat bei BerlinDruck ein neues berufliches Zuhause gefunden, Teklit lernte Maurer und Bereket hat sich ganz der Musik verschrieben. Als Diskjockey verdient er sein Geld in Bremer Clubs. Moussi hat die schulische Ausbildung noch nicht abgeschlossen. Sicher haben die Vier Glück gehabt. Nach ihrer monatelangen Flucht über den Sudan, Ägypten, Italien und Frankreich sind sie in einer Kleinstadt gelandet, die mit insgesamt etwa 150 Flüchtlingen sicherlich nicht überfordert war. Aber natürlich gab es neben den Hochs auch deutliche Tiefs. Zum Beispiel als Andit in der Berufsschule im ersten Lehrjahr einfach sprachlich nicht mitkam. Schließlich gab es für ihn eine doppelte Hürde. Begriffe wie Falzen, Heften oder Prägen gibt es in seiner Sprache Tigrit nicht. Diese Klippe hat er nun hinter sich. Andit arbeitet jetzt seit mehr als drei Jahren in der Buchbinderei bei BerlinDruck. Die Arbeit a n d e r Fa l z m a schine macht ihm dabei am meisten Spaß. In der Freizeit spielt Andit gern Fuball und ist gerade auf der Suche nach dem richtigen Verein. In seiner neuen Heimat Deutschland angekommen ist er, als die sprachlichen Barrieren überwunden waren, er seinen Beruf erlernt und sein erstes Geld verdient hat. An Deutschland beeindruckt ihn die üppige grüne Natur und das „andere“ Wetter. Sein größter Wunsch jedoch bleibt: Seine Familie endlich wiederzusehen und in Eritrea besuchen zu können. D
Andit, Bereket, Moussi und Teklit mit ihrer Ersatzmutter „Frau Hedda“
#05 | 20 | Passion
Passion | #05 | 20
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Kunst
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Street Photography Kunst
Uli Westphal
FRUIT STUDIES IMITATIONS CULTIVAR SERIES SUPPLEMENTS Der in Berlin lebende K체nstler Uli Westphal befasst sich in seinen Arbeiten damit, wie der Mensch Natur wahrnimmt, darstellt und ver채ndert. Seit 체ber zehn Jahren haben seine Werke einen besonderen Fokus auf die Urspr체nge unseres Essens und dessen Transformation im Zuge der Industrialisierung und Globalisierung unserer Lebensmittelsysteme.
#05 #03 #05||20 19 20 | Passion
Passion | #05 | 20
Kunst
Fruit Study I 2016 – heute Der Beginn einer fotografischen Sammlung aller essbaren Frßchte.
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Kunst
Supplements 2018 A collection of dietary supplements
Imitation Series Eine globale Sammlung von SĂźĂ&#x;igkeiten, die Obst imitieren. Opaque 2017 vorherige Doppelseite: Transparent 2017
#05 | 20 | Passion
Passion | #05 | 20
Kunst
Cultivar Series – Zea Mays I 2018 Das Werk konzentriert sich auf die Vielfalt der Maissorten, die vor dem Zeitalter der industriellen Monokulturen angebaut wurden. Für diese Arbeit hat Westphal mit Saatgutbanken in Tucson, Arizona, und Texcoco, Mexiko, zusammengearbeitet, deren Standorte besucht und Hunderte von Exemplaren dokumentiert.
Was wir essen ist schon lange keine Frage des reinen Nährwertes oder Geschmacks. Neuromarketing, Agrar-Industrie, Logistik und Politik nehmen einen immer größeren Einfluss darauf, was auf unseren Tischen landet. Wir zeigen ein Spektrum von Arbeiten, die in diesem Themenfeld entstanden sind.
Mutato #384 2012
„Die Faszination für die Natur und den Menschen steht für mich an erster Stelle. Die Sorge um beide ist wohl eher eine Folgeerscheinung, die entsteht, wenn man sich tiefer mit unserem heutigen Lebensmittelsystem beschäftigt“, meint Westphal. Seine Fotoserien wie die links abgebildete Zea mays I machen die Formen- und Sortenvielfalt sichtbar, die durch Handelsnormen, die Monopolisierung des Marktes und der damit verbundenen Standardisierung verloren gehen. „Viele meiner Arbeiten sind beeinflusst durch Erlebnisse aus meiner Kindheit. Ich bin aufgewachsen in einem großen Garten, zwischen vielen Tieren. Naturwissenschaften hatten in unserer Familie eine besondere Bedeutung. Meine Großeltern waren Sammler und ihr Haus 28 | 29
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Kunst
glich einer Wunderkammer. Meine erste künstlerische Arbeit war ein lebensgroßes Modell eines Blauwals, das ich baute, um das Größen-Verhältnis zwischen Mensch und diesem Tier zu verstehen. Mit Lebensmitteln beschäftige ich mich, seitdem ich auf einem Berliner Wochenmarkt unter anderem einer fünfköpfigen Aubergine begegnet bin. Ich war zunächst vor allem von deren Form fasziniert, jedoch kamen auch schnell Fragen auf: Warum sieht das Gemüse, was ich aus dem Supermarkt kenne, so extrem gleichförmig aus, und warum gibt es hier auf dem Markt so eine außergewöhnliche Formenvielfalt?“ erzählt Westphal. „Dass wir unser Verhalten im Umgang mit der Umwelt ändern müssen, ist schon lange deutlich und Umweltaktivismus ist keine neue Erscheinung. Allerdings spüren viele erst jetzt konkrete Konsequenzen aus vielen Jahrzehnten Missmanagement. Ressourcen wie Öl, Wasser und Phosphor werden knapp. Antibiotika und Pestizide verlieren ihre Wirkung. Meine Bilder sind visuelle Anziehungspunkte und oft Auslöser dafür, sich überhaupt mit Themen wie Lebensmittelverschwendung und dem Verschwinden von Biodiversität in der Landwirtschaft auseinanderzusetzten.“ Uli Westphal (Bochum, 1980) studierte bildende Kunst an der Akademie für Bildende Kunst und Formgebung in Enschede (NL), am Maryland Institute College of Art in Baltimore (USA) und erhielt seinen Master (Kunst im Kontext) von der Universität der Künste in Berlin. Seine Arbeiten werden weltweit in Galerien und Museen ausgestellt und in einem breiten Spektrum von Medien veröffentlicht. D www.uliwestphal.com
#05 | 20 | Passion
Chimaerama 2004/2013
Suicide Soda 2018 Mais wird heute als industrieller Rohstoff und kaum noch als Lebensmittel verwendet. In den USA ist das für den menschlichen Verzehr verwendete Hauptprodukt von Mais kein Mehl, sondern High Fructose Corn Syrup (HFCS). HFCS wird in Tausenden von Nahrungsmitteln verwendet und führt bei übermäßigem Verzehr zu einer Vielzahl von Erkrankungen. Die Arbeit Suicide Soda basiert auf einer Sammlung von HFCS-haltigen Erfrischungsgetränken.
Passion | #05 | 20
Medizin
Prof. Dr. Hüseyin Ince: „Digitalisierung, KI und Big Data erweitern unsere Handlungsfelder und sollten Patienten-zentriert und verantwortungsvoll eingesetzt werden!“
MEDIZIN VON MORGEN Passion war dabei, als zum ersten Mal in Berlin im Vivantes Klinikum Am Urban einem Patienten ein Microprozessor ins Herz gepflanzt wurde. Der nicht einmal erbsengroße MiniComputer hilft den Ärzten, bei Veränderungen und Auffälligkeiten der Herzleistung entsprechende Diagnosen zu stellen und Therapien festzulegen. Ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Medizin der Zukunft?
Fotografie: Michael Jungblut
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Medizin
In Berlin ein bislang einmaliges Verfahren – ein Minicomputer im Herzen. Dabei wird ein neuartiger drahtloser Sensor ins Herz eingepflanzt, mit dem der Patient „von zuhause aus“ überwacht werden kann. Wenn etwas auffälliges auftritt, kann der Patient informiert werden. Bei höherem Füllungsdruck im Herzen kann bei herzschwachen Menschen die Medikamentendosis gesteigert werden, beim Abfall des Drucks werden die Medikamente reduziert. Damit werden gefürchtete Komplikationen der Herzschwäche wie zum Beispiel ein Lungenödem deutlich reduziert. In diesem Jahr wurde zum ersten Mal im Vivantes Klinikum Am Urban ein solcher Microsensor ins Herz eingesetzt.
Minimalinvasiv wird durch die Leistenvene der Sensor durch einen Katheter bis in das Herz vorgeschoben. Durch Röntgen und modernsten 3D-Ultraschall überwacht der Kardiologe immer wieder, wo genau er sich im Gefäßsystem seines Patienten befindet. Im Herzen wird ein sehr kleines Loch in die Vorhofscheidewand punktiert. Hier fixiert der Spezialist den weniger als erbsengroßen Computer mit zwei Schirmchen. Wenn der Chip richtig sitzt, misst der Microsensor direkt in der linken Vorhofkammer die Druckverhältnisse. Der Chip hilft dem Patienten, die gefährlichen Auswirkungen seiner Herzschwäche zu verringern. Wir haben mit
#05 | 20 | Passion
Draht- und batterieloser Sensor, für dessen energetische Versorgung über Induktion eine Art Brustgurt getragen werden muss, der die Daten auch ausliest und sie an ein Cloud-System überträgt.
Die Ärzte hoffen, dass die bahnbrechende Technologie die Lebensqualität von Patienten mit Herzinsuffizienz sehr verbessern wird und entscheidend dabei hilft, die Erkrankung durch hämodynamisches Monitoring besser zu kontrollieren. Damit wird auch die Anzahl stationärer Krankenhausaufenthalte wegen Herzinsuffizienz reduziert werden können.
Passion | #05 | 20
Medizin
Prof. Dr. Hüseyin Ince, der diesen Eingriff vorgenommen hat, gesprochen. Herr Prof. Ince, welche Vorteile verprechen Sie sich von der neuen Technologie? Chronische Herzschwäche ist ein schleichendes Krankheitsbild. Der Patient merkt erst sehr spät, dass es ihm nicht gut geht – die Vorzeichen spürt er nicht. Mit dieser revolutionären Technologie haben wir jetzt die Möglichkeit, die Druckveränderungen im Herzen frühzeitig zu messen, und zwar bevor es dem Patienten schlecht geht. So können wir auch rechtzeitig die Therapie optimieren. Mindestens einmal am Tag werden durch einen Gurt die Messdaten des Sensors ausgelesen. Die Daten fließen dann weiter an eine Cloud. So bin ich als betreuender Arzt jederzeit informiert und kann bei
Bedarf die Therapie aus der Ferne anpassen. Der Microchip ist sehr klein, aber ein Fremdkörper im Herzen. Sind damit nicht Risiken verbunden? Den Einsatz von diesen feinen Schirmchen, mit denen der Sensor im Herzen justiert wird, kennen wir schon seit Jahrzehnten, um beispielsweise Löcher in der Vorhofscheidewand zu schließen. Das Risiko ist abschätzbar und sicherlich sehr gering. Werden wir in Zukunft in mehreren Organen solche Minicomputer einsetzen? Ich denke, das wird so kommen! Wenn diese Sensoren dann messen, wie wir uns beispielsweise ernähren oder womit wir uns gerade umgeben, dann wird das sicherlich sehr aufschlussreich. Die Medizin erlebt durch die Digitalisierung, KI und Big Data eine Revolution, die mit der Entdeckung des Penicillins vergleichbar ist. So werden wir mit solchen Sensoren und der KI viel mehr über uns und unsere Krankheiten lernen. Es sind vor allem drei Schauplätze der Medizin, die sich durch Datenmassen gepaart mit KI grundlegend verändern dürften: Monitoring, Diagnostik und Effizienz in der Suche nach neuen Arzneimitteln und Behandlungsmethoden. Die Erwartungen an das ärztliche Gelingen sind umfassend, weil die Gesundheit nicht verloren gehen darf.
Der neuartige Sensor lässt sich gut über einen venösen Leistenzugang minimalinvasiv im Herzen implantieren.
Der Brustgurt wird nicht ununterbrochen getragen, sondern nur für die Messungen angelegt. Auf Seiten des Arztes gibt es eine Entscheidungsunterstützungssoftware, die mit Hilfe von Maschinenlernalgorithmen die Messdaten so aufbereitet, dass der Kardiologe etwas damit anfangen kann.
Herr Prof. Ince, vielen Dank für dieses Gespräch. D
Prof. Dr. med. Hüseyin Ince, 47, ist Leiter des Departments der Klinik für Kardiologie, Allgemeine Innere Medizin und konservative Intensivmedizin am Vivantes Klinikum im Friedrichshain und Vivantes Klinikum Am Urban in Berlin. Seit 2008 ist er Professor für Kardiologie, Universitätsmedizin Rostock, und dort Direktor der Kardiologie im Zentrum für Innere Medizin. www.vivantes.de kardio.med.uni-rostock.de
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Medizin
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Die Herde schützt den Skeptiker Wer sich und seine Kinder impfen lässt, übernimmt auch Verantwortung für andere
Sven Siebert ist Journalist und Biologe und lebt mit seiner Familie in Berlin. Gemeinsam mit dem Kinder- und Jugendarzt Dr. Thomas Schmitz von der Charité hat er ein Buch übers Impfen geschrieben. Impfen ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit, sagen die Autoren. „Klartext: Impfen!“ ist bei HarperCollins erschienen (2019) und kostet 15,– Euro. ISBN 978-3959673389
Es gibt ein Problem mit dem Impfen. Es hat Erfolg. Impfen ist so wirkungsvoll, dass wir viele Krankheiten gar nicht mehr kennen, die noch vor wenigen Jahrzehnten Gesundheit und Leben der Menschen gefährdet haben. Wer weiß heute noch, was Diphtherie ist? Wann sind Sie das letzte Mal jemandem begegnet, der an den Folgen der Kinderlähmung Polio litt? Wann hatte in ihrer Familie das letzte Mal ein Kind Masern?
heit vor Ansteckung beruht darauf, dass praktisch alle anderen geimpft sind. Der Ungeimpfte ist umgeben von Menschen, die sich und ihre Kinder haben impfen lassen. Ein Masernvirus hat es heute schwer, eine anständige Epidemie auszulösen, weil es auf lauter potenzielle Wirte trifft, deren Immunsystem bereits zum Gegenschlag bereit ist. Und wer geimpft ist, gibt eine Infektion nicht weiter. Man nennt das Herdenimmunität.
Diese Krankheiten (und viele andere) sind aus unserem Leben praktisch verschwunden. Sie leben nur noch in Geschichten von früher, sie begegnen uns in berührenden Berichten über Menschen aus Weltregionen, in denen Not und Armut herrschen. Viele Menschen sehen in Impfungen deshalb keinen Sinn mehr. Wieso sollte ich mich gegen eine Krankheiten impfen lassen, an die sich selbst Oma nur noch undeutlich erinnern kann?
Der Einzelne ist umgeben von einer „Herde“, die ihn schützt. Jeder profitiert von diesem Gemeinschaftsschutz. Aber jeder kann auch etwas dazu beitragen. Wer selbst geimpft ist, übernimmt nicht nur für sich Verantwortung, sondern auch für seine Mitmenschen. Und unter denen gibt es nicht nur Menschen, die ungeschützt sind, weil sie sich und ihre Kinder nicht impfen lassen wollten. Es gibt viele Menschen, die nicht geimpft werden können. Säuglinge, zum Beispiel, deren Immunsystem mit den Impfstoffen gegen Masern, Mumps, Röteln und Windpocken noch nicht so gut zurecht käme. Schwangere, die die nötigen Impfungen versäumt haben. Menschen, die an angeborenen oder erworbenen Immunschwächen leiden. Menschen, denen Organe transplantiert wurden oder die an AIDS erkrankt sind. Sie alle sind auf den Herdenschutz angewiesen.
Skepsis und Ablehnung nehmen zu. Impfen war immer schon ein bisschen unheimlich. Man ist gesund und wird trotzdem mit einer Nadel gestochen. Und man hört und liest ja so viel über mögliche Nebenwirkungen … Diese Skepsis ist unbegründet. Impfungen sind – ebenso wie andere medizinische Eingriffe oder die Anwendung von Arzneimitteln – mit einem gewissen Risiko verbunden. Doch dieses Risiko ist viel, viel geringer als die Gefahren, die mit den entsprechenden Krankheiten verbunden sind. Vor 50 Jahren musste man Eltern das nicht lange erklären. Und in vielen Ländern Afrikas oder Asiens legen die Menschen auch heute bereitwillig große Wege zurück, um ihre Kinder impfen zu lassen. Ihnen wird täglich vor Augen geführt, wie bedrohlich Krankheiten sind. Doch bei uns ist die Wahrscheinlichkeit an Masern, Röteln, Diphtherie oder Polio zu erkranken heute tatsächlich sehr gering. Mit Ausnahme der bevorstehenden Masern-Impfpflicht steht es jedem frei, dieses Erkrankungsrisiko einzugehen. Allerdings sollte man eins wissen: Die relative Sicher-
Wer sich auf seine Freiheit beruft, auf empfohlene Impfungen verzichten zu können, schränkt damit die Freiheit von jungen Eltern, ihren Babys oder Menschen mit Immunschwäche ein. Denn wer damit rechnen muss, dass ungeimpfte Masernkranke ins Einkaufszentrum oder in die Kita kommen, wird sein eigenes noch ungeschütztes Kind dieser Infektionsgefahr nicht leichten Herzens aussetzen wollen. Und noch ein letztes Argument: Eine Reihe von Krankheiten ließe sich vollständig ausrotten, wenn genügend Menschen geimpft sind. Bei den Pocken ist das schon gelungen, bei Polio steht es kurz bevor. Bei den Masern scheitert es bisher an zu großer Impfzögerlichkeit, weil wir die Krankheit nicht mehr ernst nehmen. D
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Parabel
Vom Scheitern der Keas – Eine Parabel
Volker Arzt, 78, hat einen Abschluss in Theoretischer Physik. Seit 50 Jahren macht er TV-Sendungen. Zunächst mit Hoimar von Ditfurth über naturwissenschaftliche Themen in der Reihe „Querschnitt“. Später rücken vor allem Fragen der Evolution, der Entwicklung der Tierund Pflanzenwelt, in den Mittelpunkt seiner Filme, seiner Bücher und Artikel.
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Es gibt einige Dinge, die man allein erledigen kann. Zum Beispiel ein Glas Wein genießen oder einen Artikel verfassen. Doch, genau besehen, bedarf es auch hier der Kooperation mit anderen Menschen. Der Wein will angebaut, gekeltert und abgefüllt sein. Und auch diese Zeilen würden hier nicht stehen ohne die eingespielte Zusammenarbeit von Papierproduzenten, Transportunternehmen, Druckern, Grafikern … bis hin zum unverzichtbaren Beitrag der Kaffeebauern. Illustrationen: Julia Ochsenhirt
Unser gesamtes Leben ist durchwirkt von Arbeitsteilung und Zusammenarbeit, schon immer. In der Familie, in der Schule, im Beruf, in der Politik. Doch jetzt haben wir uns in eine Sackgasse manövriert, aus der herauszukommen nur durch ein neues, noch nie dagewesenes Ausmaß an Kooperation gelingen kann: Wir stecken in der Klimakrise. Die zunehmende Erderwärmung droht, schleichend aber unerbittlich, unsere Zivilisation aufzulösen: überschwemmte Landstriche, Dürrekatastrophen, Klima-Migranten,
Verteilungskämpfe um Land und Ressourcen. Das Aberwitzige an diesen düsteren Aussichten ist, dass die Lösung so klar auf der Hand liegt: Wir müssten weniger Treibhausgase wie CO2 oder Methan in die Atmosphäre schicken. WIR – das meint die Industrie; die Landwirtschaft; die Verkehrsteilnehmer; jeden einzelnen. Warum sollte das so schwierig sein? Leider ist es schwierig. Problem Nr. 1: Es handelt sich um eine globale Angelegenheit. Kein Land schafft es allein. Die Nationen müssten ihr Konkurrenz- und Rivalitätsdenken (meist gepaart mit einem dröhnenden Wir-Gefühl) erheblich einschränken. Sie müssten weltweit kooperieren, und das wäre ein Novum in der Menschheitsgeschichte. Problem Nr. 2: Wir müssten allesamt jetzt etwas leisten und Opfer bringen, die sich erst später, in Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten, auszahlen. Auch für eine derartige Investition in die Zukunft gibt es keinen Präzedenzfall. Das Magazin von BerlinDruck
Parabel
Problem Nr. 3: Der Gegner ist nicht zu fassen. Es handelt sich nicht um wilde Killerhorden oder böse Außerirdische. Das CO2-Gas, das uns bedroht, ist unsichtbar, geruchlos, und mit jedem Atemzug entströmt es harmlos unserer Lunge. Wir können unseren Feind nicht mit Wut und Kampfeslust angreifen. Wir können ihn nur bekämpfen, indem wir gegen unseren eigenen bequemen und vertraut gewordenen Lebensstil antreten. Es ist wirklich viel verlangt! Könnte schon sein, dass unsere Kooperationsfähigkeit einfach nicht ausreicht, um diesen Satz von Problemen zu bewältigen. Auch Homo sapiens ist schließlich ein Geschöpf der Evolution, das – wie andere Tierarten auch – nur mit begrenzten Auch Homo sapiens ist körperlichen und schließlich ein Geschöpf der geistigen PotenEvolution, das – wie andere zialen ausgestattet ist. Sind Tierarten auch – nur mit wir als Spezies begrenzten körperlichen einfach überfordert? Sind und geistigen Potenzialen Eigennutz und ausgestattet ist. Vorteilnahme zu sehr in unseren Genen verwurzelt, um ein Gemeinschaftsprojekt dieser Größenordnung zu stemmen? Homo homini lupus, der Mensch sei gegenüber seinem Mitmenschen ein Wolf, hat Thomas Hobbes schon vor 400 Jahren verkündet, und Charles Darwin sieht im eigennützigen Kampf ums Dasein den Motor der Evolution überhaupt. Sind wir gefangen in unserem biologischen Erbe? Oder müssten wir uns
nur einen Ruck geben, um – in einem kooperativen Kraftakt – vereint an einem Klimastrang zu ziehen? Immerhin finden sich schon bei unseren tierischen Verwandten komplexe Gemeinschaftsaktionen, die auf einen späteren Nutzen zielen – vor allem bei hochsozialen, als besonders intelligent geltenden Tieren. Bei Orcas zum Beispiel. Die schwarzweißen Zahnwale sind bekannt dafür, dass sie im Pack jagen; dass sie Fischschwärme einkreisen und gegen die Oberfläche treiben, wo ein Entkommen kaum mehr möglich ist. Orcas in der Antarktis haben sogar eine neue, kooperative Technik entwickelt, mit der sie Robben von einer vermeintlich sicheren Eisscholle holen können. Als erstes heben sie ihre Köpfe aus dem Wasser und prüfen die Lage. Ist die Scholle zu sehr von Treibeis eingeschlossen, wird sie samt Robbe in freieres Wasser bugsiert. Dann starten die Wale ein wohlkoordiniertes Gemeinschaftsunternehmen. Drei oder vier von ihnen bilden ein Einsatzkommando und entfernen sich von der Scholle, 30 bis 40 Meter weit. Jetzt machen sie kehrt, rücken dicht zusammen, Seite an Seite, und wie auf ein Kommando preschen sie los. Als geschlossene Formation, in Höchstgeschwindigkeit, schießen sie auf die Eisscholle zu. Synchron mit den Schwanzflossen schlagend. Erst im letzten Augenblick tauchen sie mit einem finalen Flukenschlag ab in die Tiefe und erzeugen so eine sich meterhoch auftürmende Welle. Sie schwappt über die Scholle und spült die unglückliche Robbe hinunter ins Wasser … wo die Beute gerecht geteilt wird.
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Passion | #05 | 20
Parabel
Energie zu entkoppeln, ist offenkundig. Aber warum sollen gerade wir damit beginnen? – so ein gängiger Einwand. Dann profitieren nur die anderen – die Chinesen oder Trumps Amerikaner. Solange sie nichts tun, warten wir ebenfalls ab!
Intelligenz scheint ein wesentlicher Schlüssel für erfolgreiche Zusammenarbeit. Das sollte uns doch Hoffnung machen, schließlich sind wir „on top“ aller Intelligenzbestien. Doch was nützen Weitsicht und Intelligenz, wenn sich der Drang nach Macht und Dominanz dagegen sträubt? Wenn Verstand und Emotion gegeneinander arbeiten? Nicht einmal Tiere bleiben von diesem inneren Dilemma verschont … Keas, die Bergpapageien Neuseelands, gehören zu den besonders intelligenten Vögeln. Ihr Verstand in Sachen Technik und Alltagsphysik ist sogar beängstigend gut. Sie wuchten die Deckel von Mülltonnen hoch; sie schlüpfen durch Katzenklappen; schrauben die Deckel von Getränkeflaschen auf. Und natürlich wissen sie, wie man Plastikbeutel oder Butterdosen öffnet. Aber von Autos scheinen sie besonders viel zu verstehen: Sie verbiegen die Antennen; zerbröseln die Scheibenwischergummis, zerren die Fensterdichtungen heraus oder nutzen das Fließheck als Rutschbahn. Manchmal verstecken sie sich sogar auf einem Dachträger, um sich ein Stück weit mitnehmen zu lassen. Bei so viel Cleverness sollten Keas auch soziale Intelligenz zeigen und vernünftig miteinander kooperieren – so dachten Wissenschaftler am Kea-Lab der Universität Wien, und sie versahen ihre Kea-Voliere mit einem Futterautomaten, der – bei kluger Zusammenarbeit – leckere Butterröllchen aus einer Box freigibt. Kernstück ist eine Art Wippe (s. Illustration). Am einen Ende ist ein Deckel angebracht, der genau auf die Futterbox passt und sie verschließt. Er hebt sich nur, wenn sich ein Kea auf der anderen Seite (auf einer Sitzstange) niederlässt. Dann können sich alle bedienen – alle, bis auf den „Wohltäter“. Fliegt er ab, neigt sich die Wippe wieder nach der anderen Seite und verschließt die Box. Der Deckelöffner hat keine Chance und geht leer aus. Es dauerte keine zwei Tage, dann hatten die Keas ohne jede Anleitung begriffen, wie das Ganze funktioniert; dass die Sitzstange besetzt werden muss, um das Butter-Buffet
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zu öffnen. Für die Techniker unter den Vögeln kein Problem! Aber wie würden sie das regeln? Würden sie durchrotieren? Und jeder müsste mal die undankbare Position auf der Sitzstange einnehmen? Oder würden sie dem Deckelöffner etwas abgeben für seine gemeinnützige Tat? Eine vernünftige Lösung sollte nicht allzu schwer sein für die intelligenten Papageien. Tatsächlich unternahmen sie nichts dergleichen. Sie beharrten auf der angestammten Hierarchie in der Gruppe. Ranghöhere versuchten Rangniedere auf die Sitzstange zu treiben; jagten und bedrängten sie. Anfangs mit Erfolg. Doch schon bald spielten die Untergebenen nicht mehr mit und weigerten sich, die Sitzstange anzufliegen. Mit dem Ergebnis, dass die Futterbox verschlossen blieb. Dauerhaft. Und für alle. – Keas mögen noch so clever und technisch versiert sein, Rivalität und Machtstreben stehen ihrer Kooperation im Weg. Wider besseres Wissen. Sie erkennen die Zusammenhänge, sie haben die Lösung vor Augen, und kommen trotzdem nicht gegen ihr gewohntes, von Rang und Rivalität geprägtes Verhalten an. Liegt es nicht nahe, in diesem Scheitern der intelligenten Vögel eine Parabel auf unsere eigene Lage zu sehen? Wir wissen um die Folgen des Klimawandels; wir kennen die Maßnahmen, um die Katastrophe aufzuhalten und wir können uns trotzdem nicht durchringen, sie zu ergreifen. Die Notwendigkeit, unsere Lebensweise und Wirtschaft von fossiler
Dass diese Haltung auf Stillstand oder allenfalls minimale Fortschrittchen hinausläuft, liegt auf der Hand, und es ist nur zu verständlich, wenn junge Klima-Aktivisten ungeduldig, gar mit verzweifelter Wut dagegen ankämpfen. Sie haben die Logik auf ihrer Seite: Je länger geeignete Maßnahmen und Vorschriften ausbleiben, umso härter müssen sie später ausfallen – bis auch sie, wenn die berüchtigten Kipppunkte erreicht sind, das Heißlaufen der Klimamaschinerie nicht mehr verhindern können. Das Zeitfenster des Handelns schließt sich zusehends. Trotzdem ist von Hysterie und Panikmache die Rede. Angst sei ein schlechter Ratgeber. Aber womöglich ist Angst der einzige Ratgeber, der aus dieser Situation noch herausführen kann. So wie die Angst vor Aids oder Aber womöglich ist Angst Lungenkrebs, der einzige Ratgeber, der aus vor Bleivergiftung oder dieser Situation noch herausAsbestfasern in führen kann. der Lage war, unser Verhalten zu ändern. Es mag zynisch und böse klingen: Vielleicht braucht es noch mehr an Missernten, noch mehr Dürre-Katastrophen und Hitzewellen, um sinnlich spürbar werden zu lassen, wovor seriöse Klimaforscher seit einem halben Jahrhundert warnen. Unsere Einsicht und Intelligenz allein scheinen nicht auszureichen. D
Aktueller Bestseller von Volker Arzt: Kumpel & Komplizen (2019), erschienen im Verlag C. Bertelsmann, 25,– Euro ISBN 978-3570103388
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Medien
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überleben würde – diese Warnung war für die meisten wohl zu ungeheuerlich. Und auch zu weit weg: Was kümmert mich das Wetter im Jahr 2050? Hinzu kamen die Ewig-Gestrigen. Für die gilt „Der Ast, auf dem wir sitzen“ – man kann die Sendung ja auf YouTube aufrufen – selbst heute noch als „Klimaquatsch von 1978“. Schön wär’s, aber der „Quatsch“ ist eben leider sehr, sehr ernste Realität geworden.
Der „Quatsch“ ist eben leider sehr, sehr ernste Realität geworden 5 Fragen an TV-Legende Volker Arzt
Hoimar v. Ditfurth und Volker Arzt 1978 in der ZDF-Sendung „Querschnitt“ – „Der Ast, auf dem wir sitzen“
Herr Arzt, wie kommt man als Theoretischer Physiker ins Fernsehen? Kleine Filmchen drehen war schon immer mein Hobby. Aber eigentlich wollte ich nach dem Diplom gar nicht zum Fernsehen, sondern wollte Spielfilme machen. So wie Alexander Kluge zum Beispiel. Aber der hat gesagt: Ich habe gerade kein Geld, geh erst mal zum Fernsehen. Und dann bin ich da hängen geblieben. Sie haben mit Hoimar von Ditfurth schon vor einigen Jahrzehnten eine ZDFSendung mit dem Titel „Der Ast, auf dem wir sitzen“ produziert, in der es um die gleiche Thematik geht, die uns heute so sehr beschäftigt: den Klimawandel. Haben Sie rückblickend das Gefühl, etwas bewirkt zu haben? Ehrlich gesagt, wir haben wohl herzlich wenig erreicht. Kein Umdenken. Keine Aufbruchsstimmung. Keine Protestbewegung. Ich frage mich immer wieder, woran es gefehlt hat. Hätte man damals schon angefangen, gegenzusteuern, wäre es heute um vieles leichter. Aber Hoimars überzeugend vorgetragene Warnung – vor 40 Jahren! –, dass wir, wenn wir so weiter wirtschaften, unweigerlich die Erde aufheizen, und dass die Zivilisation das kaum
Können die „Öffentlich Rechtlichen“ ihrer Verantwortung heute noch gerecht werden, einen Beitrag zur Information und Bildung sowie zur Sicherung der Meinungsvielfalt und somit zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten? Oder werden sie durch „Fake Facts“ vor allem in den sozialen Medien übertönt? Das Problem ist, zumindest in meinen Augen, dass in den sozialen Medien falsche Daten und Behauptungen gleichberechtigt und gleichgewichtet neben korrekten Infos stehen. Dann ist die Frage: Was ist zurechtgebogen oder gar frei erfunden? Und was ist gut recherchiert und belegbar? Da drängt sich – bewusst oder unbewusst – die bequemste Lösung auf: Man glaubt das, was man glauben möchte. Und du findest in den sozialen Medien ja auch immer Zustimmung und Bestätigung. Es gibt immer Gleichgesinnte – für alles und jeden Schwachsinn: Man bleibt wohlig in seiner Meinungsblase. Hier hat guter Journalismus – im Fernsehen und anderswo – eine unheimlich wichtige Funktion. Wir brauchen Medien, unabhängige Medien, die sich einer wahrheitsgemäßen Berichterstattung verpflichtet fühlen. Die Öffentlich Rechtlichen gehören meiner Meinung nach dazu. Sie sind ja als Urgestein im Bereich Bildungsfernsehen Wegbereiter für dieses Genre. „Galileo“, „Planet Wissen“, „Quarks & Co“ oder etwa „Wissen macht Ah!“ sind nur ein paar Beispiele für aktuelle Wissenschaftssendungen. Haben Sie eine Lieblingssendung? Ich mag „Quarks & Co.“ Da steckt meist eine gute monothematische Dramaturgie dahinter. Hinzu kommt eine angenehme, unbemühte und sachkundige Moderation. Und – sorry, da bin ich etwas altmodisch: Ich muss mir keine Werbeblöcke über Reizdarm oder Vergleichsportale zumuten. Aktuell gibt es in Podcasts, Internetportalen für Videofilme (Youtube) und Streaming-Diensten (Netflix, Prime) unzählige neue Formate für Wissensvermittlung. Reizt Sie das, hier nochmal was neues auszuprobieren? Na klar. Das sind spannende Möglichkeiten, um auch junge Leute zu erreichen. Gerade, wenn es um den Klimawandel, das Bevölkerungswachstum oder andere globale Probleme geht. Aber einfach ist das nicht; du musst gegen Beiträge antreten, die extrem flott und süffig daherkommen, aber inhaltlich wenig zu bieten haben und nur auf maximale Click-Zahlen schielen. Lieber Herr Arzt, vielen Dank für dieses Gespräch! D
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Klimakrise
WWF-Klimachef Michael Schäfer über Artenschutz und Wege aus der Klimakrise
Es geht darum, Mut zu machen, sich für eine Wende einzusetzen Fotografie: Michael Jungblut
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Klimakrise
Die Mission des WWF ist die Bewahrung der biologiüberfordert. Man kann ja nicht, indem man zum Beispiel schen Vielfalt, die Bewahrung eines lebendigen Planeklimafreundlich einkauft, selber diese Krise stoppen. ten für uns und unsere Kinder. Herr Schäfer, gestaltet Deshalb ist es für uns als Umweltorganisation so wichtig, sich dieses Ziel in Zeiten des Klimawandels mehr und deutlich zu machen, dass wir die Verantwortung nicht als mehr zu einer Sisyphos-Aufgabe? viele Einzelne tragen können. Als Einzelner kann man auf Nüchtern betrachtet haben wir es bisher nicht die nächste Flugreise verzichten. Aber den Flugverkehr zu einmal geschafft, die Geschwindigkeit, mit der wir den dekarbonisieren, also unabhängig zu machen von fossiRaubbau an der Natur betreiben, zu verringern, gelen Energieträgern, das können wir nur als Gesellschaft. schweige denn zu stoppen. Das ist eine extrem große Wir können uns als einzelne vegan ernähren, aber die Herausforderung. Wir haben ja gerade ein Jahr hinter klimaschädliche Massentierhaltung beenden, das können uns, in dem die Klimakrise quasi wie nie zuvor die wir nur als Gesellschaft durch politische Entscheidungen. Menschen nicht nur in Deutschland Man kann sich selber zu 100 Prozent stärker bewegt hat, als in all den Jahaus erneuerbaren Energien versorgen, Wir laufen in das sechste ren zuvor. Das macht schon Mut. Auf aber aus der Kohle auszusteigen, das der anderen Seite muss man aber auch Massenartensterben der können wir nur als Gesellschaft. Dessagen: Wir rennen als Klimaschüt- Erdgeschichte hinein. Diehalb versuchen wir als Umweltverbänzer oft gegen die Wand. Wir sind de deutlich zu machen, dass wir uns ses Mal wäre es von uns noch nie mit so viel Anlauf gegen die zusammen politisch dafür einsetzen, Wand gerannt wie letztes Jahr. Mit Menschen verursacht. dem Erhalt der natürlichen Lebensgroßem Erfolg, als im September 1,4 grundlagen endlich Priorität einzuräuMillionen Menschen in Deutschland für mehr Klimaschutz men – egal welche Regierung wir haben. Und da sind wir auf die Straße gegangen sind, und mit der großen Nieder- leider noch ein großes Stück von entfernt – das hat das lage, dass am selben Tag die Bundesregierung ein Klima- Klimapaketchen aus dem September gezeigt. paketchen verabschiedet hat, was noch nicht einmal ihre selbst gesteckten Ziele auch nur im Ansatz erreichen kann. Artensterben ist ein Symptom des Klimawandels. In den vergangenen 27 Jahren ist zum Beispiel die Biomasse Was unzählige Aktionen von Umweltschützern und von fliegenden Insekten insgesamt um über 75 Prozent Dokumentationen in den Medien sowie die Arbeit der zurückgegangen. Das Fazit des kürzlich veröffentlichpolitischen Parteien nicht geschafft haben: Fridays for ten Berichtes des Weltbiodiversitätsrates (IPBES) ist Future hat die Gesellschaft endgültig wachgerüttelt. erschreckend: Eine Million Tier- und Pflanzenarten sind Haben Sie das Gefühl, dass die Dramatik des Klimawan- betroffen. Wie wird der Klimawandel, ein Ansteigen der dels jetzt in unseren Köpfen angekommen ist? Temperatur um 2 bis 3 Grad, aus heutiger Sicht unsere Ich finde, die Schülerinnen und Schüler, die sich Umwelt verändern? bei Fridays for Future engagieren, sehen sehr klar, dass es Wir laufen, wenn wir so weitermachen, in das ihre Zukunft ist, die auf dem Spiel steht, wenn wir so weisechste Massenartensterben der Erdgeschichte hinein. ter machen wie bisher. Langsam sickert das durch. Es ist Dieses Mal wäre es von uns Menschen verursacht. Das eine Riesenaufgabe, dass wir als Industrieland Treibhaus- hat viele Ursachen, aber die Erderhitzung entwickelt sich gas-neutral werden wollen, und das möglichst im Gleichzum Haupttreiber des Biodiversitätsverlusts. Die Kollegen klang mit allen anderen Ländern der Erde. Die Größe der vom WWF Großbritannien haben eine sehr umfangreiche Herausforderung und die Dringlichkeit des Handelns wird wissenschaftliche Studie mit unabhängigen Experten immer klarer. Ich glaube, dass die Menschen schon sehr gemacht, was der Klimawandel für die 35 ökologischen Schwerpunktregionen der Erde von den Galapagosinseln, viel über die Klimakrise gelesen und gelernt haben, aber dass angesichts der Größe des Problems oft ein Verdränüber die afrikanischen Jamo-Wälder bis hin zu Borneo gungseffekt einsetzt, der bei uns Menschen ganz natürbedeuten würde mit dem erschreckenden Ergebnis, dass lich ist. Viele fühlen sich als Individuum von dieser Krise dort fast die Hälfte der Tier- und Planzenarten regional
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WWF-Klimachef Michael Schäfer im Gespräch mit Chefredakteur Eckard Christiani
Michael Schäfer, Leiter des Bereichs Klimaschutz und Energiepolitik beim WWF Deutschland und Mitglied des Leitungsteams Klima und Energie beim WWF International. Er ist zudem ein Sprecher der Klima-Allianz Deutschland. www.wwf.de
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Klimakrise
aussterben würde. Das bedroht die Naturschutzerfolge, die wir als WWF haben. Deshalb wird das auch eine immer stärker werdende Priorität, uns dem Klimawandel entgegenzustellen. Welche Kipppunkte dürfen wir nicht überschreiten? Kipppunkt heißt ja, dass sich die Klimakrise von selbst verstärkt. Es gibt mehrere solcher Kipppunkte. Ein Beispiel: Die Regenwälder trocknen aus, brennen ab, zusätzliches CO2 steigt in die Atmosphäre und heizt den Klimawandel dadurch weiter an. Weitere Beispiele: Die Permafrostböden in Sibirien – das sind große Landschaften, die zugefrostet sind – tauen durch die Erderwärmung auf. Dort ist unter dem Eis Methan gebunden. Methan ist ein Klimagas, das rund 25-mal so treibhauswirksam ist wie CO2. Beim Auftauen der Böden würde das Gas in die Erdatmosphäre entweichen und dort die Erderhitzung weiter anheizen. Oder das Abschmelzen des grönländischen Eisschildes. Eis reflektiert einen großen Teil der Sonnenstrahlung wieder zurück ins Weltall. Schmilzt das Eis ab, wird die Hitze der Sonneneinstrahlung vom Wasser aufgenommen und trägt zur weiteren Erderhitzung bei. Um diese Kipppunkte zu vermeiden, ist das Ziel des Pariser Klimaschutzabkommens, die Erhitzung auf deutlich unter 2° Grad, möglichst auf 1,5° Grad zu begrenzen. Die Wissenschaftler geben uns die Hoffnung, dass, wenn wir das 1,5° Grad-Limit einhalten, eine solche Erhitzungsspirale vermieden werden kann. Unter anderem deshalb haben wir eine so große Dringlichkeit. Um dieses Limit einzuhalten, haben wir nur noch ein bestimmtes Budget an Treibhausgasen, was wir ingesamt als Menscheit emitieren dürfen, bevor die CO2-Konzentration in der Erdatmosphäre so groß ist, dass eine Erhitzungsspirale in Gang kommt.
Möchten Sie das klimapolitische Engagement des WWF unterstützen? www.wwf.de/klimaspende
oder WWF Deutschland IBAN: DE06 5502 0500 0222 2222 22 BIC: BFSWDE33MNZ Bank für Sozialwirtschaft Stichwort „Klimaspende“
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Was können wir tun, um unserer Verantwortung gegenüber unserem Lebensraum Erde gerecht zu werden? Ich finde es wichtig, dass sich immer mehr Menschen fragen, wie kann ich meinen Beitrag zum Klimaschutz noch erhöhen. Wir haben das große Glück, dass wir in einer Demokratie leben, wo wir uns völlig gefahrlos dafür einsetzen können, dass Politik sich ändert. Die Politik muss reagieren – das hat letztes Jahr noch nicht funktioniert –, wenn wir hartnäckig genug und viele sind. Bei uns haben Klimawandelleugner bisher kaum Erfolg im öffentlichen Diskurs, weil wir uns in der Gesellschaft an wissenschaftlichen Fakten orientieren. Und wir haben auch das Glück, in einem der fünf größten Industrieländer zu leben, die einen richtigen Unterschied machen können. Unsere Aufgabe als Industrieland ist, ein Wohlstandsmodell und eine Industrie zu entwickeln, die unseren Lebensstandard treibhausgasneutral macht. Das
ermöglicht es auch anderen Ländern nachzuziehen. Diese Stärke haben wir früher auch genutzt: Wir haben ja mit dem Erneuerbaren-Energien-Gesetz vor fast zwanzig Jahren Solarenergie und Windkraft erstmals einen Massenmarkt gegeben, dadurch sind sie preiswerter und effizienter geworden. Das hat dazu geführt, dass weltweit mehr in Solarenergie und Windkraft investiert wird, als in Kohle, Gas, Öl, Atomkraft und Wasserkraft zusammen. Das zeigt, welche Power ein Industrieland wie Deutschland entfalten kann. Die globale Energiewende findet statt und ist nicht mehr aufhaltbar. Aber sie ist noch nicht schnell genug, um die Erderhitzung bei möglichst 1,5° Grad zu stoppen. Es ist von der Veränderung unseres Lebensstils die Rede. Ist Bildung das Schlüsselwort? Ich glaube, dass Bildung eine extrem wichtige Rolle spielt. Wir haben deshalb beim WWF auch viele entsprechende Formate. Wir arbeiten zum Beispiel eng mit Volkshochschulen zusammen, um wissenschaftliche Fakten über den Klimawandel transportieren und bekannter zu machen. Uns geht es auch darum, Mut zu machen, sich für eine Wende einzusetzen. Und wir machen seit mehreren Jahren für Kinder und Jugendliche einen sogenannten 2°-Campus, wo wir nicht nur die Fakten erklären, sondern auch die verschiedenen Möglichkeiten von persönlichem Engagement aufzeigen und den Austausch ermöglichen. Ein Möglichkeit ist das Engagement in der WWF-Jugend. Wir hören auch immer mehr, wie die Vorstände aus Unternehmen, aber auch der eine oder andere Politiker zuhause von seinen Kindern am Abendbrottisch ganz schön in die Verantwortung genommen wird. Da bewegt sich was. Sind Sie zuversichtlich, dass die Menschheit als Ganzes noch die Kurve kriegt? Die große Herausforderung ist, dass unsere Forderungen mit jedem Jahr dringlicher werden. Einfach, weil die Menge des CO2, was wir noch in die Erdatmosphäre ausstoßen dürfen, begrenzt ist, um dieses 1,5° Grad-Limit einzuhalten. Und so werden mit jedem Jahr des Nichtstuns die Forderungen der Umweltschützer radikaler, und es wird schwieriger, sich allgemein zum Pariser Abkommen zu bekennen und dann aber bei jeder konkreten Maßnahme zu erklären, dass das aus unterschiedlichen Gründen nicht geht. Wir müssen wirklich schnell handeln und politisch zu Potte kommen, um eine Spaltung unserer Gesellschaft entlang der ökologischen Frage zu verhindern, wie man es zum Beispiel in den USA sieht. Es muss uns gelingen, tatsächlich Maßnahmen auf den Weg zu bringen, um unseren Beitrag zum Pariser Abkommen auch leisten zu können. Leider reicht das, was im September letzten Jahres beschlossen und angekündigt wurde, nur zu einem Drittel aus, um die eigenen Ziele zu erreichen. Die Lücke müssen wir jetzt ganz schnell schließen. Wenn die Wählerinnen und Wähler in der nächsten Zeit deutlich machen, dass der Umgang mit der Klimakrise wahlentscheidend ist, dann bin ich mir sicher, dass die Parteien darauf reagieren. Dafür müssen sich aber noch mehr Menschen öffentlich engagieren. Herr Schäfer, vielen Dank für dieses Gespräch.
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Leseempfehlungen zum Thema:
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Naomi Klein’s aktueller Bestseller Green New Deal (2019), Hoffmann & Campe Verlag, 24,– Euro ISBN 978-3455006933
Mit der Naturwissenschaft kann man keine Kompromisse machen. Ein Gespräch mit Volker Quaschning , Ingenieurwissenschaftler und Professor für Regenerative Energiesysteme (HTW) über die Machbarkeit der Energiewende
Friederike Otto, Wütendes Wetter. Das derzeit beste Buch zum Klimawandel, sagt Johannes Kaiser (DLF), erschienen 2019 im Ullstein Verlag, 18,– Euro ISBN 978-3550050923
Ihr habt keinen Plan, darum machen wir einen, Eine Generation, die lange Zeit als unpolitisch belächelt wurde, steht auf und organisiert Proteste. Sie stellen die Forderung nach nachhaltigem Klima- und Umweltschutz, erschienen 2019 im Karl Blessing Verlag, 12,– Euro ISBN 978-3896676566
Herr Prof. Quaschning, am 20. September letzten Jahres sind 1,4 Millionen Menschen auf die Straße gegangen. Warum hat die GroKo diesen Tag bei dieser gesellschaftlichen Bewegung nicht genutzt, um nicht nur ein „Klimapaketchen“ abzuliefern, sondern einen guten großen Schritt in die richtige Richtung zu machen? Weil die GroKo mehr Angst vor der AfD und den Wutbürgern hat, als vor dem Klimawandel und der jüngeren Generation. Ganz klar, wir haben eine alternative Partei, die alternative Fakten vorlegt, die da lauten: Es gibt keinen Klimawandel. Leute, ihr braucht euch gar nicht zu verändern, wir können alles so lassen, wie es ist. Echte existenzbedrohende Probleme scheinen für die Mehrheit der Politiker nicht mehr so wichtig zu sein. Wenn ich im Bundestag säße, könnte ich einem solchen Gesetzentwurf nicht zustimmen – schließlich bin ich ja meinem Gewissen verpflichtet. Das scheint allerdings für viele im Hams-
terrad Politik, in das sie eh nur durch etliche Kompromisse gekommen sind, nicht mehr zu gelten. Mit der Naturwissenschaft kann man allerdings keine Kompromisse machen. Physik passiert einfach so. Das haben halt viele noch nicht verstanden. Sie sagen: Ok, dann erreichen wir die Klimaziele halt 10 Jahre später. Eigentlich haben wir’s schon verdaddelt, weil wir in den letzten 30 Jahren nichts Richtiges gemacht haben. Das Bisschen, das für die Energiewende getan wurde, hatte eher „Spielzeugcharakter“ – ernsthaft wurde das nicht betrieben. Deswegen wird die Zeit jetzt relativ knapp, d. h. wir bräuchten inzwischen radikalere Umbrüche. Wenn wir davon ausgehen wollen, dass wir 2035 oder 2040 klimaneutral sind, haben wir grad einmal 20 Jahre Zeit. Öl- oder Gasheizungen halten 20 Jahre. Ab jetzt dürften keine neuen mehr eingebaut werden. Das ginge noch einigermaßen umzusetzen. Schwieriger würde es zum Beispiel beim Verbrennungsmotor. Wenn wir davon ausgingen, dass ein herkömmliches Auto 15 Jahre hält, dürften die letzten 2025 vom Band laufen. Das hat radikale Umbrüche zur Folge. Tesla sagt beispielsweise, deren Autos bräuch-
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Klimakrise
ten keine Wartung mehr. Das hat Auswirkungen auf das Werkstattgeschäft. Wieviele Menschen arbeiten in den Kfz-Werkstätten? Die müssen zukünftig keinen Ölwechsel mehr machen oder den Vergaser überprüfen. Dadurch ändert sich die Berufswelt in sehr kurzer Zeit sehr radikal. Wir verlangen von der Gesellschaft durch alle Bereiche hinweg einen radikalen Wandel, der wahrscheinlich unser Land besser macht, aber von jedem einer Veränderung bedarf. Damit ist unser Land und unsere Bevölkerung überfordert. Und deswegen traut sich auch kein Politiker, das seinen Wählern zuzumuten. Aber so wird er seiner Verantwortung in keiner Weise gerecht. Dafür finden sich keine Mehrheiten. Wäre ich in einer Position, in der ich Entscheidungen herbeiführen kann, dann könnte ich es nicht verstehen, dass ich dieser Verantwortung nicht gerecht werden würde. Wir haben eine parlamentarische Demokratie. Die Idee dabei ist, dass sich die gewählten Abgeordneten mit komplexen Zusammenhängen auseinandersetzen – unter Einbindung von wissenschaftlichen Beratern –, Lösungen präsentieren und entsprechend „verkaufen“. Ich verstehe auch nicht, warum sich bei einem solchen Thema nicht alle Parteien zusammentun. Das ist so ähnlich, als wenn ein Haus in Flammen steht und alle diskutieren, wer das beste Löschkonzept hat, und solange man das nicht ausdiskutiert hat, nicht anfängt zu löschen. Das ist absolut unbegreiflich. Klimawende ist eine Sache, die alle Parteien betrifft. Für die CDU ist es die Bewahrung der Schöpfung, bei der FDP wären es die modernen Technologien, für die Grünen ist es eh das Urthema, und der Klimawandel ist auch komplett unsozial. Es trifft zuerst die Ärmsten der Armen. Ich finde für alle Parteien ihren Werten entsprechend Gründe genug, um gegen den Klimawandel anzukämpfen. De facto tut es aber so gut wie keine. Rein wirtschaftlich betrachtet findet das Geschäft, das man anstoßen und entwickeln könnte, in Asien statt. Das ist ja das Schlimme. 2009 waren wir Weltmarktführer in der Photovoltaik. Die meisten ModulProduzenten und auch verbauten
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Anlagen waren in Deutschland. Das haben wir ohne Not nach Asien durchgereicht, weil man der Ansicht war, hier ginge das zu schnell. Dass wir einfach diese Umbrüche in Deutschland erzwingen, wollte man nicht. Also stand man vor der Wahl, die Kohle oder die Solarenergie zu opfern. So wurde die Solarenergie und gleichzeitig Zukunftsfähigkeit geopfert, um ein paar wenige nicht zukunftsfähige Arbeitsplätze noch
ein paar Jahre über Wasser zu halten. Klar, natürlich kostet die Energiewende Geld. Deutschland ist aber ein reiches Land und kann es sich leisten. Langfristig gesehen ist es eine Zukunftsinvestition. Mit Braunkohlebaggern wird man in Zukunft kein Geld verdienen, mit Solaranlagen in fünfzig Jahren auf alle Fälle. Das haben die Chinesen erkannt. Die Deutschen haben da immer großzügig weggeguckt, wenn es um dieses Thema ging. Bei Batterien sind wir Entwicklungsland. Das ist eine der Schlüsseltechnologien fürs nächste Jahrhundert, um überhaupt klimaneutral werden zu können. Wenn VW Elektro-Autos produzieren will, müssen sie in China kratzen gehen, damit sie Batteriezellen geliefert kriegen. Da sind Abhängigkeiten entstanden, die für Deutschland ungesund sind. Die Energiewende kostet Geld. Aber sind die Kosten der Wende nicht überschaubarer als die Kosten für die Beseitigung oder Bearbeitung der Klimaschäden? Das Schlimme ist, dass wir nie fair rechnen. Die Solarenergie muss alles komplett selber bezahlen, bei den fossilen Energien wird ganz viel outgesourct: die ganzen Umwelt- und Gesundheitsschäden, die Klimaschäden sowieso. Die Kosten dafür finden Sie woanders. Wenn der Kohlekraftwerksbetreiber verdonnert würde, alle Gesundheitsschäden, die
durch seine Abgase entstehen, zu bezahlen und wenn er Rücklagen bilden müsste, um alle künftigen Klimaschäden zu bezahlen, dann würden wir kein Kohlekraftwerk mehr betreiben können, weil die so teuer wären, dass es nicht mehr funktioniert. Das heißt, die Gemeinschaftsschäden solidarisieren wir und legen sie auf alle um und sagen dann: Ach guck mal, wie billig die Kohle ist. Wir haben also einen sehr unfairen Wettbewerb. Aber selbst unter diesen unfairen Bedingungen ist es mittlerweile so, dass die Solarenergie – wenn ich neue Anlagen baue – heute günstiger ist als Kohle. Das besagen auch Studien vom Fraunhofer Institut.
Temperaturveränderung in den letzten 22.000 Jahren – mit Prognose für 2100
CO2-Emissionen in Mt in Deutschland. Die bisherige Entwicklung vs. Reduktionspfad, der für das Pariser Klimaabkommen eingehalten werden sollte.
Wie sieht es denn weltweit aus? Haben Sie da ein gutes Gefühl, dass wir als Menschheit den richtigen Weg eingeschlagen haben? Nein, überhaupt nicht. Es gibt Selbstverpflichtungen im Rahmen des Pariser Abkommens, die die Länder unterzeichnet haben. Wenn alle Länder ihre Verpflichtungen einhalten würden – und wir sehen ja in Deutschland, wie toll das funktioniert – dann würden wir sowieso schon bei 3° Grad plus landen. Wenn die Länder Ihre Selbstverpflichtungen nicht einhalten, dann eher bei
4° Grad. Der Worst Case ist vielleicht 5° Grad plus Ende dieses Jahrhunderts. – Es gibt einige Länder, die besser unterwegs sind als die Deutschen, es ist also kein kollektives Versagen. Die skandinavischen Länder, China und auch ein paar Schwellenländer sind deutlich besser. Und dann gibt es noch das eine oder andere Entwicklungsland, das sich mehr ins Zeug legt als die Deutschen. Ja, weil’s günstiger ist!? Ja, genau! Wir haben ja inzwischen die Situation, dass Solarenergie die preiswerteste Energie-
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Klimakrise
form ist. Auch die Batterien werden sehr schnell günstiger. Ich würde sagen, in 15 Jahren ist die Kombination von Solarenergie und Batterie die preiswerteste Art, sich in vielen Ländern der Erde insgesamt mit Strom zu versorgen. Das haben die Chinesen erkannt. Deswegen können sie Photovoltaik und sie können Batterie, denn sie wollen zukünftig auch wirtschaftlich davon profitieren. Diese knallharten wirtschaftlichen Interessen abseits vom Klimaschutz hat Deutschland einfach beiseite geschoben. Woher nehmen Sie Ihren Optimismus? Den nehme ich eben aus der Kostenentwicklung der Solarenergie. Als ich vor knapp 30 Jahren in dieser Branche tätig wurde, lagen wir bei 2 € pro kWh. Zu der Zeit war in der öffentlichen Wahrnehmung Solarenergie irre teuer. Dieses Problem haben wir gelöst. Die Solaranlagen, die heute ausgeschrieben werden, liegen in der Größenordnung von 4 Cent pro kWh – eine Reduktion auf ein Fünfzigstel. Das ist enorm. Man geht davon aus, dass die Kosten in den nächsten 10-15 Jahren noch einmal halbiert werden können. Wir haben also eine Technologie, die für alle Länder in der Welt bezahlbar ist. Jetzt hapert es nur noch beim Einsetzen und Umsetzen. Wie schnell ist das machbar für Deutschland und Europa? Man braucht für das Aufbauen eine endliche Zeit. 20 Jahre wären wahrscheinlich noch machbar. Für 15 Jahre – das fordert ja Fridays for Future – braucht man ein bisschen Phantasie, dann ist das vielleicht auch noch möglich. Aber darunter wird es völlig unrealistisch. Politisch oder technisch? Wir haben derzeit um die 50.000 Menschen in der Photovoltaik. Wir müssten, um klimaneutral zu werden, mindestens vier- bis fünfmal so viele Anlagen bauen. D.h. wir brauchen zusätzlich 200.000 Menschen erst einmal nur, um Solaranlagen aufzubauen. Wir brauchen 100.000 zusätzlich in der Windenergie, wir brauchen 100.000, die Ladesäulen montieren usw. So viele Menschen gibt der Arbeitsmarkt ad hoc nicht her – auch wenn ein paar Tausend Arbeitsplätze in den alten Techno-
logien wegfallen. Man stößt an ganz natürliche Grenzen, wenn man die Wende in 15-20 Jahren schaffen will. Das ist enorm ambitioniert. Man müsste das Steuer sofort komplett herumreißen, dann würde man das wahrscheinlich noch hinbekommen. Es gibt ja zwei Punkte, die wir noch gar nicht diskutiert haben: Ernährung und Mobilität. Liegen hier eher machbare Potenziale? Wir wissen, dass ein Sechstel der Treibhausgase aus der intensiven Landwirtschaft und der Tierproduktion kommt. Bei der Tierproduktion haben wir beispielsweise keine technische Lösung. Ehrlicherweise dürften wir uns höchstens noch den Sonntagsbraten gönnen oder müssten gleich auf vegane Ernährung umschwenken. Thema Mobilität: Wir brauchen ganz neue Mobilitätskonzepte, wo man nicht im Berufsverkehr allein im Auto eine Stunde im Stau steht und dann eine halbe Stunde einen Parkplatz sucht. Mehr körperliche Bewegung ist angesagt! Fürs Fliegen haben wir auch noch keine technische Lösung – zumindest nicht in den nächsten 20 Jahren. Die Lösung müsste dann ehrlicherweise sein: Urlaub, ja, aber bitte so wie vor 50 Jahren. Und alle paar Jahre ganz bewusst mit dem Flugzeug in ferne Länder. Was bei allem auffällt ist, dass die Ehrlichkeit mit dem Thema und auch mit sich selbst fehlt. Das sieht man auch in der Politik. Man kann über den Dreisatz ausrechnen, wie viel CO2 wir noch ausstoßen können. Alle Parteien versprechen, sich ums Klimaschutzabkommen zu kümmern, aber keine von ihnen hat bislang eine tragfähige Lösung vorgelegt. Im Moment geht es nur darum, ein paar gute Sprüche rauszuhauen – siehe Söder –, um die Leute am Stammtisch abzuholen. Und das zieht sich durch: Die Leute, die den Klimawandel anzweifeln oder auch die Elektromobilität, lügen sich irgendwas zurecht, um sich der Verantwortung entziehen zu können. Alternative Wahrheiten scheinen zum Zeitgeist zu werden. Was bleibt? Sich zu informieren, ehrlich zu sein und dem Zeitgeist entgegenzutreten! Herr Prof. Quaschning, vielen Dank für diese interessanten Einblicke!
„Unsere Produktion, insbesondere unsere Druckmaschinen, benötigen große Mengen an Strom. Daher ist es für uns selbstverständlich, unseren Stromverbrauch so gering wie möglich zu halten“, meint Dirk Lellinger, Leiter der Druckvorstufe bei BerlinDruck. „In den letzten Jahren wurden unsere Druckmaschinen wieder einmal durch die neueste Generation aus dem Hause Heidelberger ersetzt. Diese neuen Maschinen bedeuten für uns eine höhere Effizienz und gleichzeitig einen verringerten Stromverbrauch im Vergleich zu älteren Maschinen. Doch nicht nur unsere Produktion soll so effizient wie möglich gestaltet sein, um den Energieverbrauch zu reduzieren, sondern wir wollen auch die anderen Stromfresser in unserem Betrieb weiter einschränken. Dazu haben wir schon vor drei Jahren die komplette Beleuchtung in unserem Unternehmen auf moderne LED-Technik umgestellt. Um unseren Stromverbrauch weitergehend verträglich für die Umwelt zu gestalten, haben wir uns vor zwei Jahren entschieden, nur noch Ökostrom aus erneuerbaren Energien zu beziehen. Die Erzeugung von Ökostrom ist CO2neutral. Damit leisten wir unseren wichtigen Beitrag zur Erreichung der klimapolitischen Zielsetzungen.“
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Logistik
Neben unbedingter Qualität ist Termintreue und Flexibilität in den logistischen Herausforderungen unsere wichtigste Verantwortung gegenüber unseren Kunden. Gerhard Böse, Geschäftsführer von Oetjen Logistik, über komplexe Herausforderungen in der Logistik-Branche
PÜNKTLICHKEIT IST KEINE ZIER „Die Logistik nimmt als Nachhaltigkeitstreiber der Wirtschaft einen bedeutenden Stellenwert ein.“
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Logistik
Wir bei BerlinDruck versuchen, den Ausstoß von CO2 überall niedrig zu halten. Dies fängt aus unserer Sicht schon dabei an, keine unnötige Energie zu verschwenden. Unsere Produktion läuft, wie bereits auf Seite 43 von Herrn Lellinger beschrieben, so energiesparend wie möglich. Schadstoffarme Motoren sind in unseren Firmenfahrzeugen selbstverständlich. Noch wichtiger: Unsere Fahrten werden so effizient wie möglich geplant. Oetjen Logistik aus Rotenburg ist dabei einer unserer Partner. Unsere Verbindung und Geschichte ist “Zuverlässigkeit“ – über 365 Tage! Herr Böse, in Zeiten des Klimawandels ist es um so wichtiger geworden, die Verkehre auf der Straße so effizient wie möglich zu gestalten. Was kann ein Logistik-Partner hier leisten? Welche technischen oder digitalen Lösungen gibt es in Ihrem Unternehmen Oetjen Logistik? Die Logistikbranche ist besonders gefordert, einen Beitrag zum Klimawandel zu leisten. Wir beschäftigen uns seit Jahren intensiv mit diesem Thema. So haben wir bereits vor fünf Jahren die ersten Fahrzeuge mit Erdgas begonnen einzusetzen. Weiterhin haben wir seit Jahren ein bewusstes Monitoring und eine Steuerung der Euroklassenquote im Einsatz. Alle Fahrzeuge über 18 Tonnen Gesamtlast haben inzwischen die EURO-Klasse 6. Bei den Verteilerfahrzeugen haben wir eine Quote von 90 Prozent erreicht. Um den Dieselverbrauch zu reduzieren, wurden mehrere Maßnahmen getroffen: 1. Die Fahrzeugaufbauten sind glattwandig 2. Es werden Seitenverkleidungen an den Zugfahrzeugen angebracht, um den Wind besser abgleiten zu lassen. 3. Es werden rolloptimierte Reifen berücksichtigt. 4. Alle Fahrer müssen zweimal jährlich an Schulungen zu einer sparsamen Fahrweise teilnehmen. 5. Die Dieselverbräuche werden für jeden Fahrer monatlich ausgewertet. Weiterhin werden die Touren digital optimiert, um Umwege einzusparen. Insbesondere achten wir auf Bünde-
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lungen bei den Ausliefertouren, indem wir vorgegebene Anlieferungstermin optimieren. Bei allen Gedanken an den Umweltschutz darf aber die zuverlässige, termingerechte Lieferung an andere Dienstleister oder Weiterverarbeiter und Kunden nicht vernachlässigt werden. BerlinDruck schätzt Sie als zuverlässigen Partner. An welche kuriose Aufgabe können Sie sich erinnern? Als Dienstleister im Speditionsbereich der Stückguttransporte kommen täglich Fälle vor, die man nicht verstehen kann und die man dem Bereich der „Kuriositäten“ zuordnen kann. Dies liegt daran, dass man von uns immer einen zuverlässigen Service verlangt, nämlich zu einem vorgegebenen Termin die Ware unversehrt anzuliefern. Dies ist aufgrund vieler Faktoren wie Verkehrsstaus, Baustellen auf
Autobahnen, Fahrerknappheit und vorgeschriebener Arbeitszeiten nicht immer möglich. So eskalierte es auch bei einer Anlieferung von 17 Paletten zu einem Großkunden. Eine Palette ist bei der Entladung umgekippt und wurde vom Fahrer wieder aufgepackt. Der Fahrer meinte es gut und aus seiner Sicht war überhaupt keine Beeinträchtigung der Drucksachen festzustellen. Obwohl die Entladungen immer im Aufgaben-und Gefahrbereich des Empfänger liegen und wir somit schuldlos waren, gab es von BerlinDruck eine außergewöhnlich harte Reklamation: Herr Rüter schrieb: „Guten Morgen Herr Böse, so langsam geht bei uns große Angst um, überhaupt noch eine Palette von
Gerhard Böse, 70, ist seit über 40 Jahren Geschäftsführer von Oetjen Logistik. Das Unternehmen zählt heute mit täglich mehr als 90 eigenen Fahrzeugen und 435 Mitarbeitern zu den großen deutschen Flächenlogistikern und Stückgutspezialisten.
Seit Anfang 2020 ist der neue „BerlinDruck-LKW“ von Oetjen auf den Straßen unterwegs.
Das Firmengelände von Oetjen Logistik
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Auflösung des Wissenstests
Auflösung des Wissenstests von Prof. Maren Urner von Seite 12 Ihnen transportieren zu lassen“. Dennoch hatte dies keine Auswirkungen auf die weitere Zusammenarbeit. (lacht)
Eine Frage vorweg – quasi als Bonus: Glaubst du, du hast alle Fragen richtig beantwortet? Schauen wir mal …
Mit weit über 400 Mitarbeitern und knapp 100 Fahrzeugen ist Ihr Unternehmen einer der relevanten Player Ihrer Branche in Norddeutschland. Wie sieht die Zukunft von Oetjen aus? Wir betrachten uns als mittelständisches Unternehmen und stellen uns den Anforderungen der Zukunft. Den ersten großen Schritt haben wir zum 1. Januar 2020 vollzogen, indem wir die Nachfolge geregelt haben. Mein Sohn und meine Tochter sind mehrheitlich als Gesellschafter ins Unternehmen eingetreten. Dies ist in unserer Branche nicht immer so reibungslos. Seit Jahren sind wir organisch gewachsen und haben langjährige Kunden, die weit gestreut sind. Wir sind von keinem Kunden abhängig. Unser größter Kunde erreicht etwa 2,5 Prozent vom Gesamtumsatz. Diese Strategie werden wir beibehalten. Weiterhin werden wir den Bereich der Kontraktlogistik intensivieren. In diesem Jahr wird eine weitere Logistikhalle gebaut. Damit wird der Bau einer Fotovoltaikanlage verbunden. Uns ist bewusst, dass wir unseren Fuhrpark weiterhin verändern müssen, so dass große Investitionen notwendig sind. Im Verteilerverkehr zeichnet sich ab, dass die Fahrzeuge mit Elektroantrieben laufen. Im Fernverkehr ist ein Trend zu Antrieben mit Wasserstoff zu erkennen. Weiterhin wird auch Biogas eine Rolle spielen. Da sich neben unserem Betriebsstandort eine Biogasanlage mit 2,5 Megawatt befindet, stehen wir mit dem Betreiber in einem engen Kontakt, um die Möglichkeiten des Einsatzes von Biogas zu prüfen. Durch diese Möglichkeiten tragen wir dazu bei, dass die Logistik als Nachhaltigkeitstreiber der Wirtschaft einen bedeutenden Stellenwert einnehmen wird.
Die richtige Antwort auf die erste Frage lautet: 80 Prozent. So viele Menschen ab 15 Jahren können weltweit lesen und schreiben. Und weil der Anteil ständig wächst, waren es 2016 mittlerweile sogar schon mehr als 86 Prozent. Allerdings hat von 1.000 befragten Deutschen weniger als ein Drittel die Frage richtig beantwortet: Nur 28 Prozent der Befragten wählten Antwort A. Wie sieht es bei der Anzahl der Toten durch Naturkatastrophen aus? Seit 1970 ist sie tatsächlich auf weniger als die Hälfte gesunken. Nur 6 Prozent der Befragten haben diese Frage richtig beantwortet. Über die Hälfte glaubten, dass sich die Anzahl der Toten mehr als verdoppelt habe.
Herr Böse, vielen Dank für dieses Gespräch. D
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Die richtige Antwort auf Frage Nummer 3 scheint einfacher zu sein, denn immerhin tippen gut 40 Prozent, dass sich die Kindersterblichkeit seit 1990 halbiert hat. Mit Blick auf die aktuellsten Daten von 2016 ist sie sogar um 56 Prozent gesunken. Bleibt die letzte Frage nach den Masernimpfungen. Vielleicht ahnst du es schon – auch hier ist die Antwort „unerwartet gut“ – 80 Prozent ist richtig. Vor allem durch den Einsatz einiger großer Stiftungen und Hilfsorganisationen sind mittlerweile sogar knapp 85 Prozent aller einjährigen Kinder weltweit gegen Masern geimpft. Das ist allerdings bei den meisten Befragten noch nicht angekommen, nur jeder Zehnte der gut 1.000 Deutschen wählte die richtige Antwort. Fassen wir also zusammen: Wir alle haben wenig Ahnung von dieser Welt – zumindest wenn es um wirklich wichtige, langfristige Entwicklungen geht. D
Ihre Ansprechpartner bei BerlinDruck Hedda Berlin Telefon +49 (0) 421 43871-0 hedda@berlin.sc Reinhard Berlin Telefon +49 (0) 421 43871-0 reinhard@berlin.sc Sonja Cordes Kalkulation und Auftragsmanagement Telefon +49 (0) 421 43871-21 sonja.cordes@berlindruck.de Björn Gerlach Kundenberatung Telefon +49 (0) 421 43871-24 Mobil +49 (0) 172 9438717 bjoern.gerlach@berlindruck.de Nele Gores Mediengestalterin Telefon +49 (0) 421 43871-22 nele.gores@berlindruck.de Katrin Harjes Kalkulation und Auftragsmanagement Telefon +49 (0) 421 43871-30 katrin.harjes@berlindruck.de Stephan John Kalkulation und Auftragsmanagement Telefon +49 (0) 421 43871-25 stephan.john@berlindruck.de Ilka König Mediengestalterin Telefon +49 (0) 421 43871-50 ilka.koenig@berlindruck.de Dietmar Kollosché Kundenberatung Büro Hamburg Telefon +49 (0) 40 5714-6486 Mobil +49 (0) 172 8438714
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Dirk Lellinger Leitung Druckvorstufe Telefon +49 (0) 421 43871-23 Mobil +49 (0) 172 8843717 dirk.lellinger@berlindruck.de Katja Lindemann Leitung Buchbinderei Telefon +49 (0) 421 43871-38 katja.lindemann@berlindruck.de
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Vorschau Unsere Sommer-Ausgabe #6 hat das Thema „Wissen“. „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ ist ein geflügeltes Wort antiken Ursprungs. Es ist eine bekannte Aussage des griechischen Philosophen Sokrates. Wissen ist Macht! sagt man auch. Doch wie erhält man Wissen? Das Wort „Wissenschaft“ bezeichnet die Gesamtheit des menschlichen Wissens, der Erkenntnisse und der Erfahrungen einer Zeitepoche, welches systematisch erweitert, gesammelt, aufbewahrt, gelehrt und tradiert wird. Somit ist Wissen der Bauplan für alles Denken und Handeln. Aber was bringt uns umfangreiches Wissen oder besser: eine gute Allgemeinbildung? Gestalten schlaue Designer besser als dumme? Ist unser Bildungssystem für die Zukunft richtig aufgestellt? Und was muss man als Azubi wirklich wissen? Das alles erfahren Sie von namhaften Autoren und durch inspirierende Interviews in Heft #6. Wir freuen uns wie immer auf Ihre Anregungen und Ihr Feedback – gern an: passion@quintessense.de
Frank Rüter Geschäftsführer Telefon +49 (0) 421 43871-15 frank.rueter@berlindruck.de Walter Schwenn Betriebsleiter Telefon +49 (0) 421 43871-31 walter.schwenn@berlindruck.de
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Essay
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Eigentlich alles prima. Aber.
Ein Essay von Mario Sixtus
Dass Regierenden ein nahes, ein gegenwärtiges Vorhaben – die Große Koalition zusammenhalten und die Bürgerinnen und Bürger nicht durch unangenehme Regeln und Verbote verärgern – wichtiger ist als ein fernes, zukünftiges, großes Ziel, ist kein neues Phänomen. Dabei ist die Unfähigkeit, mit Zukunft umzugehen, keine exklusive Schwäche der Politikerklasse. In dieser Beziehung agieren wir alle nahezu gleichsam unbeholfen. Die Welt in vielleicht dreißig Jahren vor dem Komplettkollaps zu retten, ist für Regierungspolitiker zwar prinzipiell ungleich erstrebenswerter und ruhmreicher als das schnöde Überleben einer glanzlosen Regierungskoalition zu sichern. Letzteres erscheint aber durch seine zeitliche Nähe den Beteiligten viel wertvoller als ersteres. Man könnte diesen Effekt in Anlehnung an den Begriff der optischen Täuschung eine temporale Täuschung nennen, und wäre damit angenehm nah an Star-Trek-Vokabular. Das Anthropozän, also die jetzige, die menschengemachte Erdzeitphase mit all ihren seltsamen Überlebensregeln und komplizierten zwischenmenschlichen Ritualen, ist nicht die Umwelt, für die das menschliche Hirn ursprünglich konstruiert wurde. Da wäre beispielsweise das sogenannte Belohnungssystem, das uns in der Hauptsache mit zwei Chemikalien auf Trab hält. Zum einen Dopamin, das mit dem – in der Psychologie so bezeichneten – „Wanting“ verschränkt ist: Verlangen, Lust, Vorfreude, Begehren, Gier. Dopamin lässt uns auf ein Ziel zurennen und alles links und rechts davon vergessen, es verleiht uns dabei ein Gefühl von Stärke und Selbstsicherheit. Dopamin spielt auch beim Kokainrausch eine maßgebliche Rolle. Es ruft die ganze Zeit „Ich, ich, ich“ und „will, will, will“. Das reicht ihm als Kommunikation. Das Wanting ist kein Feingeist. In der Steinzeit gab es für dieses Konzept sicherlich häufig Verwendung, etwa auf der Jagd oder bei der allabendlichen Prügelei um das Fleisch auf dem Feuer. Wenn Dopamin Mister Hyde ist, dann ist Serotonin Winnie Puuh. Es kommt gemeinsam mit dem „Liking“ daher. Serotonin lässt uns ruhig werden, schenkt Zufriedenheit und Entspannung, reduziert Ängste und Aggressionen. Hier ist es doch hübsch, wozu woanders hingehen? Oh, schau, ein Schmetterling!
Die Herkunft dieser beiden Chemikalien aus dem Sex-Betrieb ist dabei ziemlich offensichtlich: Dating → Flirting → Wanting → Dopamin → Sex → Liking → Serotonin → Relaxing → Sleeping. Eigentlich alles prima. Aber. Dopamin lässt uns kurzentschlossen doch noch auf diese Party gehen, obwohl wir eigentlich nicht wollten und morgen früh doch ein wichtiger Termin im Kalender steht. Es lässt uns dort mehr Alkohol konsumieren, als noch auf dem Hinweg vorgenommen, und es lässt uns mit dieser sympathischen Person flirten, obwohl … ach egal! Und den Termin morgen früh? Schaffe ich! Morgen habe ich Superkräfte! Die Stimme der Bürgerinnen und Bürger muss lauter werden, um das Politiker-Wanting zu übertönen. Das Wanting ist Zukunft, allerdings eine Art Primitivversion. Der Inhalt ist immer nur ein einziger Impuls, aber der ist stark, denn er rückt stets im Team mit chemischer Unterstützung aus der Frühzeit an: die berüchtigten Dopamin-Desperados. Und so kommt es, dass unsere feineren, höheren, neueren Hirnregionen, die gerne eine ausgeklügelte Zukunft für uns planen, voller Vernunft und Hoffnung, im internen Zielringkampf selten eine Chance haben gegen einen deutlichen Kommandoruf des Wanting: Weltretten? Lass es! So gesehen gibt es nur eine Lösung: Das Planen, das Ausrichten des Jetzt auf das Kommende, das Übernehmen von Verantwortung für die noch nicht anwesende Zeit – kurz: die Zukunft – muss zu einer Belohnung der politischen Entscheider im Jetzt führen. Der DopaminKick muss die Politik in die richtige Richtung stupsen. Wir Bürgerinnen und Bürger müssen von den Regierenden Zukunft verlangen! Und zwar laut und deutlich, etwa so wie es „Fridays for Future“ tut, nur noch lauter und noch deutlicher – und nicht nur Freitags, sondern auch jetzt und eigentlich immer. Nur wenn die fordernde Stimme der Bürger nach sofortigen Lösungen für das heranrollende Klima-Desaster lauter wird als das Politiker-Wanting nach einer putzigen Gegenwart, könnte es noch etwas werden mit der Zukunft. D
Mario Sixtus, 54, lebt und arbeitet als freier Autor und Filmemacher in Berlin. Zunächst schrieb er u. a. für die „Frankfurter Rundschau“, „c’t“, „DIE ZEIT“, „FAS“ und „brand eins“. Seit vielen Jahren produziert er vor allem für Arte und ZDF Dokumentarund Fernsehfilme, darunter die mit dem Grimme Online Award ausgezeichnete Reihe „Elektrischer Reporter“ und den 2017 für einen Grimme-Preis nominierten Film „Operation Naked“. Sein Buch Warum an die Zukunft denken? erschien 2019 im Duden Verlag. ISBN 978-3411756346
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