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Passion
# 10 2022
Das Magazin von BerlinDruck
NG5
Dieses Druckerzeugnis ist mit dem Verantwortung Blauen Engel ausgezeichnet.
übernehmen BerlinDruck und der Blaue Engel
Mehr Platz für gesellschaftspolitische Themen Louisa Dellert über die Verantwortung der Influencer:innen
Übergänge
In ein offenes Gespräch gehen Der 8. Tag. Ein Podcast von und mit Alev Doğan – Deutschland neu denken Wollen wir uns wirklich dem Markt überlassen? André Dillinger über den Umgang mit Krisen
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Einstieg
„Ein bisschen frische Luft würde dir schon guttun!“ Mütter der Welt
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Das Magazin von BerlinDruck
Einstieg
Logistik
Peter Zindl
seit 2017 bei BerlinDruck Sein Motto: „Man lernt nie aus!“
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Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser, es ist in letzter Zeit sehr viel von Zeitenwende die Rede, dem Beginn einer neuen Ära. Tragisch ist, dass der Klimawandel und das Artensterben, die Corona-Pandemie und das weltweite Impfgefälle durch den Krieg in der Ukraine weit in den Schatten gestellt und aus unseren Köpfen verbannt wurden. Und es ist für jede:n Einzelne:n von uns nicht einfach, zum Beispiel Mittel und Wege gegen die Radikalisierung der Gesellschaft oder für den Umgang mit immer neuen Migrationswellen zu finden. Das globale Lieferkettenchaos spüren wir bei BerlinDruck jeden Tag, wenn es darum geht, Papier oder anderes Material zu besorgen. Was kann also jede:r tun? „Wir ziehen mit unserem täglichen Leben eine Spur der Verwüstung über die Erde und kümmern uns nicht darum“, sagte kürzlich Wirtschaftsminister Robert Habeck. – Kümmern wir uns: Nehmen wir als Unternehmen die Anforderungen an nachhaltiges Wirtschaften ernst! BerlinDruck trägt seit Kurzem den Blauen Engel als Beweis dafür, dass uns verantwortliches Handeln wichtig ist. Wie und warum erfahren Sie ab Seite 38. Lesen Sie in dieser zehnten Ausgabe der Passion von und über Menschen, die Übergänge geschaffen haben und von denen Zeitenwenden gestaltet werden: Louisa Dellert, Pia Klemp, André Dillinger, Alev Doğan, Anne Swierczynski und Samira El Ouassil. Ich wünsche Ihnen eine inspirierende und aufmunternde Lektüre – bleiben Sie zuversichtlich und gesund! Ihr Frank Rüter Geschäftsführer BerlinDruck GmbH + Co. KG
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Dieses Druckerzeugnis ist mit dem Blauen Engel ausgezeichnet.
IMPRESSUM Passion – Das Kundenmagazin von BerlinDruck erscheint dreimal jährlich im Eigenverlag | Herausgeber BerlinDruck GmbH + Co KG | Oskar-Schulze-Straße 12 | 28832 Achim | Telefon: +49 (0) 421 43871- 0 | Telefax: +49 (0) 421 43871-33 | E-Mail: info@berlindruck.de | www.berlindruck.de | Auflage 2.300 | Redaktion Presseinfos, Anregungen, Reaktionen bitte an: Passion c / o fotoetage | Reuterplatz 2 | 12047 Berlin | Telefon: +49 (0) 30 80954609 | E-Mail: agentur@quintessense.de Verantwortlich für den Inhalt V. i. S. d. P.: Frank Rüter | CD und Chefredakteur Eckard Christiani | Redaktionsbeirat Reinhard Berlin | Björn Gerlach | Autoren und Interviewpartner dieser Ausgabe André Dillinger | Louisa Dellert | Alev Doğan | Samira El Ouassil | Axel Fischer | Pia Klemp | Stefanie Liskow | Norbert Möller | Daria Petrelli | Marvin Rönisch | Anne Swierczynski | Kerstin Wiskemann | Peter Zindl | Fotografie Adobe Stock (20) | Rachel Louise Brown (14) | coach@school e. V. (33) | Louisa Dellert (12, 13) | Michael Jungblut, fotoetage (Titel, 2 – 9 , 10, 17, 28 – 31, 39) | Room.Building.Partner. (19) | Bettina Theuerkauf (10) | Woltersburger Mühle (21) | Illustration/Kunst Daria Petrelli (22-27) | Anne Swierczynski (34, 35) | Schrift Carnas von Hoftype, Dieter Hofrichter | Merriweather, Sorkin Type | Papier Circle Volume White von Igepa, FSC®, Blauer Engel | Layout und Editorial Design quintessense | Reuterplatz 2 | 12047 Berlin | Telefon: +49 (0) 30 80954609 | E-Mail: agentur@ quintessense.de
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Inhalt
Inhalt Ein bisschen frische Luft würde dir schon guttun Impressumalt
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Menschen bei BerlinDruck Sich zentrieren, durch die Natur radeln und das Gedankenkarussell kurz anhalten rät Hobbyfotograf Peter Zindl Alles Möller oder was? – Designkolumne Zwei Farben voller Haltung und ein Buchstabe ohne Alphabet Louisa Dellert Mehr Platz für gesellschaftspolitische Themen Pia Klemp Wut ist ein dringend benötigter Ausbruch – eine Offensive! Wollen wir uns wirklich dem Markt überlassen? Ein Gespräch mit André Dillinger EXTRA: Virtuelle Objekte im realen Raum Yoga – lerne wichtige Lektionen über dich selbst Aus der Region: Über yo.land Yogareisen GEWINNSPIEL: Ein Yoga-Wochenende in Uelzen Träume Bilder der italienischen Künstlerin Daria Petrilli In ein offenes Gespräch gehen Ein Gespräch mit der Podcasterin Alev Doğan EXTRA: Der Bücherkoffer von coach@school Seinem Leben eine neue Farbe geben Anne Swierczynski über den Übergang in die Selbstständigkeit EXTRA: Leseempfehlung Reinzeichnung Verantwortung übernehmen Marvin Rönisch im Gespräch – BerlinDruck und der Blaue Engel C2C + Print = Greenwashing Axel Fischer im Gespräch
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Sagmeister & Walsh: Beauty Eine Ausstellung in Bregenz, Österreich
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Die Verzählung der Zukunft Ein Essay von Samira El Ouassil
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Naturfotograf Peter Zindl
Sich zentrieren, durch die Natur radeln und das Gedankenkarussell kurz anhalten In Japan gilt das Prinzip des Shinrin Yoku, übersetzt „heilsames Waldbaden“, bereits seit Jahren als bewährte Medizin gegen Stresssymptome. Waldbaden bedeutet, in die Atmosphäre des Waldes einzutauchen: den würzig-holzigen Geruch zu riechen, die sauerstoffreiche und saubere Luft zu atmen und die Tiere im Wald zu beobachten. Peter Zindl braucht, um vom Arbeitsalltag runterzukommen, auch die Natur. Dann schnappt er sich seine Kameraausrüstung, schwingt sich auf sein Raleigh- E-Bike und fährt einfach los.
Fotografie: Michael Jungblut, fotoetage
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Schon Mutter wusste: „Der Junge muss an die frische Luft.“ Peter Zindl flaniert regelrecht durch die Natur. Immer wieder bleibt er stehen oder setzt sich hin, ruht und rastet, beobachtet und fotografiert.
Peter Zindl 56 Jahre Peter Zindl ist gebürtiger Bremer und lebt auch heute in der Hansestadt. 1983 schloss er die Ausbildung zum Druckformhersteller ab.
Unbestritten ist, dass die Natur und insbesondere der Wald dem Menschen guttun. Biophilie nannte das vor 40 Jahren der Evolutionsbiologe Edward O. Wilson. Er wusste: Der Mensch ist quasi genetisch dazu bestimmt, die Natur zu lieben. Und der Japaner Yoshifumi Miyazaki fand heraus, dass beim Waldbaden die Stresshormone Adrenalin und Cortisol abnehmen. Außerdem sinken der Blutdruck und die Pulsfrequenz. Die Anzahl der Killerzellen und Anti-Krebs-Proteine steigt unterdessen. Wer gelernt hat, sich bewusst auf die Natur einzulassen und mit allen Sinnen zu erleben, bringt den Kreislauf von Regeneration und Erneuerung in Schwung. „Ich kombiniere das Radeln mit einer weiteren Leidenschaft, dem Fotografieren. So bekomme ich zum einen die notwendige Bewegung, kann der Fotografie nachgehen und gelange manches Mal an Plätze, die sehr ruhig, teilweise abgeschieden sind. Diese
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Ruhe tut der Seele gut, denn in der stressigen Arbeitswelt bleibt kaum Zeit, sich intensiv und ausführlich mit sich selbst zu beschäftigen. Das ist aber wichtig, um im Gleichgewicht zu bleiben“, weiß Peter Zindl. „Genau deshalb hat die Fotografie für mich auch überhaupt erst den hohen Stellenwert Man muss heute erreicht.“ Seine flexibel bleiben und Kamera ist die seine Übergänge im hochauflösende SpiegelreflexBerufsleben selbst kamera Canon gestalten. EOS 80D. „Ein schöner Apparat, den wollte ich mir leisten“, schwärmt Zindl. Dabei steht bei ihm der Akt des Fotografierens im Vordergrund. „Die Aufnahmen archiviere ich in meinem Rechner. Das sind bleibende Erinnerungen an meine Ausflüge“, weiß Peter Zindl. Bei BerlinDruck ist Zindl seit fünf Jahren in der Logistik beschäftigt. Er hatte mehrfach berufliche Übergänge zu meistern, denn sein Anfang der 1980er-Jahre erlernter Beruf Druckformhersteller wird nicht mehr gebraucht. Seit 1998 wird heutzutage zur Mediengestalter:in Digital-/Printmedien und Medientechnik ausgebildet. Bevor Zindl bei BerlinDruck anheuerte, arbeitete er als CTP-Operator bei einem Wettbewerber. „Man muss heute flexibel bleiben und seine Übergänge im Berufsleben selbst gestalten. Das ist lebenslanges Lernen“, weiß Zindl. Die Kraft dafür holt er sich auf seinen Ausflügen in die Natur. D
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Eine Kolumne zu schreiben, ist naturgemäß etwas sehr Subjektives: Es geht schließlich um die persönliche Meinung zu einem Thema. Meistens ist es auch der letzte Beitrag, der für ein Magazin oder eine Veröffentlichung geschrieben wird – somit weitestgehend aktuell. Das soll als Einleitung zu meinen Gedanken dienen. Das Heftthema „Übergänge“ weckt in diesen Zeiten – Mitte April 2022 – bei mir nicht nur positive Assoziationen. Im Gegenteil: Ich erlebe das Gefühl, von einer Krise in die nächstgrößere zu stürzen. Ich habe keine Vorstellung, was in einem halben Jahr sein wird; habe Angst, denn ich bin mit dem Kalten Krieg aufgewachsen und die Vorstellung von einem Krieg in Europa macht mich schlaflos. Hinzu kommt: Das Leid der betroffenen Menschen ist noch unmittelbarer geworden. Soziale Medien und persönliche Videos vermitteln die Erlebnisse noch direkter und machen sie für mich kaum erträglich.
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Designkolumne
Zwei Farben voller Haltung und ein Buchstabe ohne Alphabet
ALLES MÖLLER ODER WAS?
DIE DESIGNKOLUMNE VON NORBERT MÖLLER
Wie viel ist uns Haltung wert? Etwas mehr als zwei Jahre ist es her, dass wir den Klimawandel als existenzielle Gefahr unserer Zeit ausmachten – und er ist es ehrlich gesagt weiterhin. Ich frage mich, ob die notwendigen Maßnahmen, diesem entgegenzuwirken, angesichts von Krieg und Pandemie in den Hintergrund treten oder ob uns die kurzfristige Sorge um den eigenen Wohlstand doch wichtiger ist: Schon jetzt erleben wir die Diskussionen darüber, ob man den Ausstieg aus Atomkraft und Kohle noch etwas verschieben könnte und Benzin vergünstigen sollte. Wir befinden uns in einer nicht kalkulierbaren Übergangsphase. Wir erleben, dass Strukturen festgefahren sind, Abhängigkeiten hinterfragt werden und ein Umdenken erforderlich ist. Eine Übergangsphase also. Und in dieser erscheint ein Schritt zurück in das Bekannte meist sicherer, als ein beherzter Sprung in die Zukunft. Es fällt mir in diesem Kontext schwer, über Design zu schreiben. Aber dennoch spielt Gestaltung auch in den aktuellen Krisenzeiten eine wichtige Rolle: Kommunikationsdesign ist ein wesentliches Mittel, um der eigenen Haltung Ausdruck zu verleihen und sie in allgemeinverständliche visuelle Motive zu übersetzen. Das Blau-
Gelb der ukrainischen Flagge ist auch bei uns omnipräsent: vom selbstgemalten Plakat auf der Demo über die Beleuchtung an Häusern bis hin zu Beiträgen in sozialen Netzwerken. Das Statement ist klar, die Umsetzung einfach. Und Mitgefühl zeigen zu können, gibt vielen Menschen Halt. Schwierig wird es hingegen für mich, wenn das öffentliche Statement zur Werbung wird. Wenn Unternehmen einen blau-gelben Post absetzen oder ihre Logofarben ändern, so mag das zwar Ausdruck einer ehrlichen Haltung sein. Sie mit kommerziellen Interessen zu verknüpfen, erscheint mir jedoch unangebracht. Glaubwürdiger handeln da schon Unternehmen wie die Telekom oder die Deutsche Bahn, die nicht mit Symbolen, sondern mit konkreter Hilfe reagieren: indem sie Telefongespräche in die Ukraine kostenlos machen und so Geflüchteten ermöglichen, den Kontakt zu Freund:innen und Familien zu halten. Oder indem ein ukrainischer Pass als Fahrschein in die Sicherheit ausreicht. Wie selbst gemacht ist SelfmadeKommunikation wirklich? Wenn wir über den Überfall der russischen Armee auf die Ukraine sprechen, dann gibt es noch ein weiteres Symbol, dass zurzeit eine
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große Rolle spielt: Das russische Militär hat bei dem Angriff auf die Ukraine seine Fahrzeuge und Panzer mit einem großen Z gekennzeichnet. Einem Buchstaben, den es im kyrillischen Alphabet übrigens gar nicht gibt. Meine Mutmaßung ist, dass die kommunikative Wirkung nicht geplant war, aber mittlerweile von der russischen Propaganda umfassend genutzt wird. Es wird behauptet, dass das Z zu einem populären Symbol geworden ist – russische Zivilist:innen kleben es sich auf ihre Autos, ein Sportler trug es stolz auf seinem Trikot. Auf mich wirkt es, als werde das Z zum Teil einer gezielten Kampagne, um organisierte Unterstützung als eine Art Grassroots Movement zu tarnen. Objektiv wichtig aber auch hier: Das Symbol ist einfach anzufertigen und lässt sich beliebig applizieren. Wohin uns die Symbolik führt? Wir wissen es noch nicht – denn die Zeit des Übergangs ist eben immer auch einer der Ungewissheit. Der Grat zwischen Werbung und Propaganda bleibt schmal und trotz aller Faszination für das Visuelle bleibt eine Erkenntnis aktueller denn je: Nie war es wichtiger, den Blick auf die Fakten hinter dem plakativen Bild zu werfen. D
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Das Kulturelle Gedächtnis Influencerin
Fotografie: Bettina Theuerkauf
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Influencerin
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Ein Gespräch mit Louisa Dellert
Louisa Dellert, 32, in Niedersachsen geboren, hat nach dem Abitur eine Ausbildung zur Kauffrau für Bürokommunikation abgeschlossen und im Familienunternehmen Fotovoltaikanlagen auf Dächer montiert. Seit 2013 beschäftigt sie sich täglich mit Social-Media-Plattformen wie Instagram, Facebook, LinkedIn und TikTok. Täglich bespielt sie dort eigene Kanäle und erreicht damit mehr als eine halbe Millionen Menschen. Seit Sommer 2021 interviewet Lou für deep und deutlich (NDR) Menschen, die etwas zu erzählen haben, im Fernsehen. Außerdem betreibt sie seit 2019 den Podcast LOU. louisadellert.com
Mehr Platz für gesellschaftspolitische Themen Lou, du bist ausgebildete Bürokauffrau, ehemalige Fitness-Influencerin, Feministin, Aktivistin gegen Bodyshaming und für Body Positivity, Moderatorin, Gründerin eines Onlineshops für nachhaltige Produkte, politische Aktivistin gegen Rassismus, Chancenungleichheit und Klimakrise, Social-Media-Beraterin, Autorin, Speakerin und Podcasterin. Ja, krass, da hast du ganz schön viel gefunden über mich! Was davon – mal abgesehen von Bürokauffrau – konntest du dir vor zehn Jahren für dich überhaupt vorstellen? Ehrlicherweise: tatsächlich gar nichts davon. Ich dachte immer, ich werde bei meinem Vater im Büro arbeiten oder auf den Dächern auf den Baustellen mithelfen und Fotovoltaikanlagen installieren und in Betrieb nehmen. Das ist das, was ich damals mit ihm gemacht habe. Alles, was dann mit Instagram passiert ist, war null Prozent geplant. Das hätte ich mir auch nie so vorstellen können, und ich hatte auch überhaupt keine Ahnung davon. Du hast sehr viel aufgezählt, was ich mache. So eine Aufzählung setzt mich immer unter Druck. Ich verstehe, dass die Medien mich in eine Schublade stecken wollen oder müssen, um mich so ein bisschen einordnen zu können. Es ist einfach so vieles, was du aufgezählt hast. Bestimmt mache ich auch was in all den Bereichen. Es ist auch einfach zu sagen, ich sei Aktivistin
für dieses oder jenes Thema. Mich persönlich interessiert und berührt so vieles, dass ich es super schwierig finde, überhaupt zu erklären, was ich so mache – außer einfach zu sagen: Ich bin Lou! Du hast angefangen als Fitness-Influencerin auf deinem Instagram-Kanal. Was war eigentlich der Auslöser, das zu machen? Ich habe mich damals zu dick gefühlt. Die Plattform Instagram bot Fitness-Workouts und FitnessFotos. Damit wollte ich mich ein bisschen motivieren. Gleichzeitig habe ich für meine Freundinnen angefangen zu dokumentieren, was ich so treibe und welche Fortschritte ich mache. Irgendwie war ich dann zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Plötzlich haben mir mehr Leute als nur meine Freundinnen zugeguckt. So hat sich das irgendwie entwickelt. Und dann gab es eine Diagnose, die dich aus der Bahn geworfen hat. Was wurde da diagnostiziert? Genau. Ich hatte damals ein sehr gestörtes Verhältnis zum Essen und zu Sport. Man kann fast sagen, ich hatte einen Sportwahn. Irgendwann wog ich nur noch 46 Kilo, wollte das aber nicht sehen. Ich fühlte mich immer noch zu dick, wollte immer noch mehr Sport treiben und bin dann des Öfteren, als ich so dünn war, beim Sport umgekippt. Ich dachte, vielleicht müsse ich doch einmal mehr Nudeln essen. Nachdem sich aber die Aus-
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Influencerin
fälle mehr und mehr gehäuft hatten, haben mich mein damaliger Freund und mein Vater zum Arzt geschickt. Es stellte sich heraus, dass ich schon lange ein Loch in einer Herzklappe habe. Durch meinen exzessiven Sport und das ungesunde Leben hat meine Herzklappe nicht mehr mitgemacht. Und ich wurde dann ein paar Wochen später operiert. Wurde dir eine neue Herzklappe eingesetzt? Man wusste vorher nicht genau, was zu tun ist. Das heißt, es wurde erst dann entschieden, als ich aufgeschnitten war und geschaut werden konnte. Letztendlich musste nur geflickt werden. Das war für mich Glück im Unglück – es musste nichts ausgetauscht oder irgendwie rekonstruiert werden. Bis heute ist alles tipptopp. Wie hast du diesen Übergang – von fit zu krank, von hundert auf null – gemeistert? Du durftest schließlich keinen Sport treiben. Wie hast du das alles bewältigt? Was ging dir da durch den Kopf? Es war für mich in der ersten Zeit total schwierig. Das muss man sich vorstellen, wenn du konstant dreimal am Tag Sport getrieben hast und genau das dann auf einmal nicht mehr kannst. Du liegst die ganze Zeit im Bett, der Brustkorb ist aufgeschnitten, und du kannst nicht einmal mehr richtig auf Toilette gehen. Es hat schon viel mit mir gemacht. Und ich habe dann auch relativ schnell eine Therapie angefangen – nicht nur deswegen, sondern weil die OP bei mir ziemlich viel emotional aufgewühlt hat. Ich habe mir dann einfach Hilfe gesucht und konnte so eigentlich relativ schnell total gut damit umgehen. Der Prozess war letztendlich – so komisch sich das anhört – eher ein Segen und eine Erlösung, diesen
harten Cut zu haben, wieder zu essen und sich keine Gedanken mehr darüber zu machen, kein Sixpack mehr zu haben oder dass die Muskeln heute nicht so aufgepumpt sind – fürs Foto auf Instagram. Wenn man sich deine Aktivitäten in den letzten fünf Jahren anguckt, hat man das Gefühl, dass dich ziemlich viele Themen interessieren und beschäftigen. Dass du aber auf der anderen Seite auch angefangen hast, viele Ideen in die Tat umzusetzen. Du drehst ziemlich viele Teller auf einmal. Wofür könnte das Ausdruck sein? Ich finde deine Frage total schwer zu beantworten. Ich interessiere mich einfach für so viele Dinge. Und wenn mir Menschen Geschichten erzählen, die sie beschäftigen oder die Herausforderungen für sie sind, bin ich voll empathisch und versuche mich einzufühlen. Ich habe eine coole Reichweite, mit der man viel bewirken kann. Deswegen ist es mir einfach lieb, wichtige Themen anzusprechen. Daher auch der Bauchladen mit unterschiedlichen Themen, die ich jedes für sich super relevant finde. Es gibt nicht die eine Herausforderung auf unserem Planeten, sondern unglaublich viele unterschiedliche Lebensrealitäten. Genau das ist es, was ich auf meinem Account ausdrücken will. Du hast fast 500.000 Follower auf Instagram. Was, denkst du, macht dich so erfolgreich? Damals war es, glaube ich, einfach Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Und dann? Ich weiß nicht, ob es vielleicht an meiner Art liegt. Ich bin vor der Kamera nicht anders als ohne Kamera, weil ich es viel zu anstrengend finden würde, da irgendwie ein Schauspiel hinzulegen. Vielleicht ist es auch, dass ich immer probiere, Brücken zu bauen. Ich ver-
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Annalena Baerbock und Louisa Dellert am 7. März 2022 auf einer Veranstaltung anlässlich des International Women’s Day 2022. internationalwomensday.com
suche immer, beide Positionen zu verstehen und alle zueinanderzubringen. Das ist, wie du dir vorstellen kannst, in der heutigen Zeit mit den vielen Themen und Gefühlen nicht immer so einfach. Aber ich glaube, dass die Leute mich und meine Arbeit dafür zu schätzen wissen und vielleicht gerade deswegen auf meinem Account sind, um das auch zu lernen. Und vielleicht bist du auch einfach „die von nebenan“, der man gern zuhört. Du bist nicht abgehoben, stehst nicht auf einem Sockel, sondern bist einfach so, wie du bist. Und man nimmt dir das ab. Eine Followerin hat mir neulich geschrieben, dass ich für sie so etwas wie eine digitale Schwester bin. Ich kann es natürlich nicht nachempfinden, weil ich auf der anderen Seite stehe. Aber ich fand das ein Ich weiß, dass ich sehr viel Verantwortung trage, wenn sehr schönes Kompliment – ich bei solch einer Reichund gleichzeitig super viel Verweite etwas sende. antwortung. Ich weiß, dass ich sehr viel Verantwortung trage, wenn ich bei solch einer Reichweite etwas sende. Dein Podcast Lou gibt viele Einblicke in dein Leben. Du führst Gespräche mit Menschen wie unserem neuen Kanzler Olaf Scholz oder mit Annalena Baerbock. Könnte das dein Weg in die Zukunft sein? Lou als Moderatorin – vielleicht auf anderen Kanälen wie Fernsehen oder Streamingdiensten? Tatsächlich schon! Das ist das, was mir Spaß macht: mit Menschen zu reden, Fragen zu stellen, Das Magazin von BerlinDruck
Influencerin
auch ruhig mal die Fragen so zu stellen, dass man dann auch versteht, was man als Antwort bekommt. Ich finde genau das sehr wichtig. Darüber hinaus bin ich ja jetzt schon im NDR-Talkshow-Format deep und deutlich dabei. Aminata Belli und ich produzieren gerade die zweite Staffel. Und da darf ich genau das machen: Fragen stellen, mit Menschen reden. Und deswegen mache ich auch meinen Podcast. Der Podcast ist eher ein Herzensprojekt. Damit verdiene ich nichts, im Gegenteil, da stecke
ich manchmal noch was rein. Aber es macht mir Freude. Ich habe einfach Bock, mit Menschen zu sprechen und diese Gespräche dann mit anderen Menschen zu teilen. Und letztendlich ist es ja für einen selbst auch immer eine Bereicherung, weil man jedes Mal aus den Gesprächen was mitnehmen kann. Für mich bist du die Meisterin des Übergangs. Du schwimmst viele, oft auch neue Bahnen. Welche Tipps kannst du jungen Leuten geben, die auch viele Ideen haben, aber oft orientierungslos sind? Ich habe ein extrem gut ausgeprägtes Bauchgefühl. Ich habe schon einige Male nicht auf mein Bauchgefühl gehört, weil ich ver-
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eingeladen hast, deine Reichweite zu nutzen, um mit euch über dieses Thema zu sprechen. Das fordern auch immer mehr Menschen, die Influencer:innen folgen.
standesmäßig lieber auf meinen Kopf hören wollte. Das Resultat: Ich hätte jedes Mal auf meinen Bauch hören sollen. Es gibt manchmal Momente im Leben, in denen man intuitiv spürt, dass diese oder jene Idee jetzt genau die richtige ist, und es sich gut anfühlt: Dann muss man das einfach machen. Egal was passiert – ob das eine Entscheidung ist, die mich letztendlich vor eine krasse Herausforderung stellt oder mich noch einmal zwei Schritte zurückgehen lässt. Selbst wenn ich irgendwann einmal einen wirklich großen Fehler mache, dann habe ich zwei gesunde Hände, mit denen ich bestimmt irgendwo Arbeit finden kann, um Geld zu verdienen.
Dunja Hayali und Louisa Dellert am 20. März 2022 auf der Veranstaltung Sound of Peace. Von der großen Bühne und von der Straße des 17. Juni ging die Nachricht in die Welt: Beendet den Krieg! sound-of-peace.com
Du bist nebenbei auch noch SocialMedia-Beraterin – steht auch in deiner langen Liste. Wenn man auf Instagram als Influencer:in unterwegs ist, darf das alles natürlich kein eitler Selbstläufer sein. Wie geht man zum Beispiel in Corona- und Kriegszeiten mit seinen Posts um? Ich kann dazu natürlich immer nur Empfehlungen geben und aus meiner Erfahrung sprechen. Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass es in den nächsten Jahren so sein wird, dass es Krieg gibt, dass sich durch die Klimakrise eine veränderte Situation in Deutschland oder irgendwo anders auf der Welt einstellt und so weiter. Damit müssen wir dann in der Öffentlichkeit umgehen. Influencer ist ein Job. Wir müssen uns alle dessen bewusst sein, dass wir Reichweite haben und dass in solchen Zeiten, in denen wir jetzt leben und die auch in den nächsten Jahren nicht leichter werden, neben all dem Coolen, was wir machen, immer auch Platz sein muss für gesellschaftspolitische Themen. Und ich rate meinen Kolleg:innen, die sich in politischen Themen nicht sicher fühlen, ihre Reichweite einen Nachmittag an eine:n Expert:in abzugeben. Sag deiner Community, dass dir ein Thema, das uns alle beschäftigt, sehr am Herzen liegt und du deswegen jemanden
Wohin führt dich dein Weg? Gewährst du uns vielleicht einen Ausblick? Man wird mich mehr auf Bühnen sehen. Oder vielleicht das ein oder andere Mal im TV. Und ich möchte gerne das, was ich zehn Jahre gelernt habe, Unternehmen beibringen. Andere Influencer:innen möchte ich mehr und mehr beraten, in Zukunft mit wichtigen Themen unserer Gegenwart ein bisschen besser umzugehen und über Werbung, Nachhaltigkeit und die Kommunikation noch mal anders nachzudenken. Das sind die großen Themen, die ich mir aufgeschrieben habe. Zusätzlich darf ich Teil einer Produktionsfirma sein, die wir gegründet haben. Mit diesem Unternehmen schauen wir, dass wir journalistische Inhalte auf allen Ausspielwegen noch einmal auf ein ganz neues Level heben und noch mehr Menschen aus den unterschiedlichsten Lebensrealitäten zusammenbringen. Wenn du jetzt die letzten zehn Jahre noch mal Revue passieren lässt, ist dir deine Entwicklung auch manchmal unheimlich? Ob du es glaubst oder nicht: Ich denke gar nicht so oft zurück oder reflektiere das Geschehene. Dafür habe ich nicht so viel Zeit. Ich denke eher an die Zukunft. Was passiert beispielsweise jetzt gerade am Hauptbahnhof mit den Menschen, die aus der Ukraine kommen? Ich nehme viele Dinge aus meiner Vergangenheit hin und würde auch nichts verändern wollen. Durch all das, was ich gemacht habe – auch die Fehler –, bin ich da, wo ich jetzt bin. Lou, ich bedanke mich. D
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Insidergespräch Gesellschaft
Pia Klemp
Wut ist ein dringend benötigter Ausbruch – eine Offensive. Fotografie: Rachel Louise Brown
Ich bin eine wütende Menschenrechtsaktivist und Frau, Gott sei Dank. Oft brauche ich bloß ein Geschäftsführer von Reporter paar Zeilen zu lesen, einen Satz zu ohne Grenzen, Christian Mihr, hören oder eine kleine Szenerie über Pressefreiheit zu beobachten und schon geht es
los. Bis ins Mark zwirbelt plötzlich die Wut und beißt sich durch mich hindurch, aus mir heraus. Manchmal muss ich auch nur nachdenken und ich spüre meine Oberlippe bereit zum Zähnefletschen zucken. Das Gefühl ist alles andere als ohnmächtig. Es bäumt sich auf und pocht. Es stülpt sich über nichts drüber, es ist eher eine Amphetaminspritze für das, was bereits da ist. Hier ist so eine Standardsituation, bei der mir unausweichlich der Kragen platzt: Jemand guckt mich mit verschwiemeltem Blick an und fragt in karitativem Ton: „Sag doch noch mal, wie war das für dich mit dem toten Jungen in der Tiefkühltruhe?“
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Dabei kniepen sie kräftig mit ihren feuchten Augen. Gerne wollen sie auch was von Todesschreien und anderen aufwühlenden Ereignissen hören. Sie wollen so richtig betroffen sein, als versprächen sie sich einen Freibrief durch ihre kurze Anteilnahme, und ein bisschen Katastrophentourismus geht eh immer gut rein. Ich merke, wie es in mir wächst und sich mir die Nüstern blähen. Sie fragen auch diesmal nicht, warum diese Menschen auf der Flucht sind, wer oder was sie dazu getrieben – vertrieben – hat, warum es ihnen nahezu unmöglich gemacht wird, einen sicheren Ort zu erreichen. Sie fragen nicht einmal nach der psychischen Verfassung oder dem Asylstatus der Mutter, die das alles überlebt hat. „Nein“, presse ich also heraus und bemühe mich, all den Unmut in
meinen Blick zu legen, „frag doch lieber mal nach Frontex oder den Deals der EU mit Libyen.“ Sie tun es nicht. Stattdessen schlucken sie mitleidig und nicken schlau. „Das war bestimmt schlimm für dich, hm?“, bleiben sie säuselnd bei ihrem Anliegen und gucken mich an, als sollte ich am besten sofort in Tränen ausbrechen. Mein roter Knopf ist damit unwiderruflich gedrückt: „Ja, scheiß doch die Wand an! Kannst du was noch Irrelevanteres fragen?!“ Mit einem Schlag sind sie pikiert, weil mir nicht einfiel, traurig zu sein und in schmerzlicher Verzweiflung über einen original EU-
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Gesellschaft
Grenztoten zu vergehen. Ich habe ihnen nur meinen Zorn vorzuweisen und sie wollen nichts damit anzufangen wissen. „Aber die Menschen wollen so was hören. Solche Geschichten bewegen!“ „Es ist Zeit für die Leute zu begreifen, dass es nicht immer darum geht, was sie hören wollen, verdammt!“ „Also! Jetzt reg dich doch nicht gleich so auf“, wedeln sie enttäuscht mit den Armen durch die Luft und schnauben mit vorgeschobenem Kinn über meine mutmaßliche Pietätlosigkeit. „Ne! Hör du mal auf, dich nicht aufzuregen“, setze ich ihnen verärgert entgegen.
aufgebracht sein, bei allem, was dort passiert und wenn nichts als ein gefühlsduseliger Seelen-Striptease meinerseits als Reaktion gewünscht wird? Ich habe keinen Anlass, öffentlich in Trauerbewältigung zu schwelgen, wir sind ja noch mittendrin im Verlust. Diese Menschen sterben weiterhin und sie sterben nicht zufällig. Sie fallen keiner Naturkatastrophe, keiner göttlichen Allmacht, keinem Schicksal zum Opfer. Es ist Ich weiß, wo meine Wut herskrupellose Politik – Unterschrifkommt. Da ist noch einiges mehr ten, Stempel und Handschläge in zu holen. Ich war Kapitänin der klimatisierten Rettungsschiffe Iuventa und SeaBüros –, die diese Toten fordert. Watch 3. Ich war auch maßgeblich Warum also nicht dem Elend entan dem Kollektiv beteiligt, das die gegenwirken, anstatt heuchlerisch Louise Michel aufs Wasser brachzu wehklagen und die, die gar te. Es sind Schiffe, deren Aufgabe nicht sterben müssten, damit es ist, Menschen aus Seenot vor zu verraten? Es ist ein bedenkder Küste Libyens zu retten – liches Zeugnis unseres GesellMenschen, denen keine andere schaftszustands, wie häufig dem Wahl bleibt, als ihr Leben auf der Thema mit stumpfer Kondolenz, zentralen Miterschreckentelmeerroute Das Gefühl von Schmirgelder Gleichzu riskieren, um papier auf der Kopfhaut gültigkeit in Europa Schutz oder unverkönnte ich umgehen und mir zu suchen. Auf hohlenem meinen Ein- die Schultern tätscheln lassen. Rassismus sätzen habe ich begegnet nicht nur gesehen, wie Männer, wird. Warum geht kaum eine:r die Frauen und Kinder jämmerlich Wände hoch? untergehen, sondern auch, dass Es ist anmaßend und gleichsam Menschenrechtsverletzungen ignorant, die Toten betrauern an der Haustür Europas auf der zu wollen, ohne sich über ihre Tagesordnung stehen. Die EU Todesursache zu ereifern, sie lässt Flüchtende wissentlich und gänzlich unberührt hinzunehmen willentlich ertrinken, während sie sowieso. Das gilt für das persönzivile Rettungsschiffe blockiert liche Gespräch genauso wie für und stattdessen libysche Milizen den gesellschaftlichen Diskurs. finanziert, die Menschen geAber nicht nur fehlt es allgemein waltsam in ein Bürgerkriegsland an der angebrachten Empörung, verschleppen, wo ihnen Vergewal- zudem wird meine noch als lästig tigung, Folter oder Tod drohen. abgetan. Der Wut wird mit UnverSo viel zur Realität an Europas ständnis und Ablehnung begegnet, Außengrenzen. Als Ergebnis dieser im besten Fall wird sie belächelt. brutalen Abschottungsstrategie Irgendwen wollte man ja heute ist das Mittelmeer die tödlichste bemitleiden. Grenze der Welt. – Herzlich willIch bin jetzt also gleich mehrfach kommen also, liebe Wut! Wie und sauer: auf Fluchtursachen und vor allem warum sollte ich nicht europäische Grenzpolitik, darü-
ber, dass sie niemanden wütend machen, dass ich es nicht sein soll und darauf, wie es sich alles gegenseitig bespielt. Ich könnte dieses aufwühlende und manchmal sogar erschreckende Gefühl natürlich auch ignorieren, die Wut wegdrücken und in mich hineinfressen. Das Gefühl von Schmirgelpapier auf der Hirnhaut könnte ich umgehen und mir die Schulter tätscheln lassen, anstatt anzuecken und auf einmal mit einer tosenden Emotion dazustehen, die nicht nur den anderen, sondern auch mir selbst so viel abverlangen will. Ich könnte der unschönen Ahnung eines anstehenden Zerwürfnisses nachgeben und mich vor der inneren und äußeren Konfrontation wegducken. Nur ist es allemal so, dass ich weder dieses Empfinden noch die Auseinandersetzung missen möchte. „Aus meiner Angst vor der Wut habe ich nichts gelernt. Auch ihr werdet aus eurer Angst vor der Wut nichts lernen“, schrieb Audre Lorde. Wut ist ein dringend benötigter Ausbruch – eine Offensive. D
Pia Klemps aktuelles Buch, Wutschrift, erschien im März 2022 als Taschenbuch im Penguin Verlag. 192 Seiten, 10,– Euro ISBN 978-3328109273
Pia Klemp, Kapitänin, Aktivistin und Seenotretterin, fordert mehr Wut von uns allen. Wut, die zu Engagement führt, die uns antreibt, zu ändern, was schiefläuft. Es scheint, wir leben in wütenden Zeiten: Frauen fordern ihre Gleichberechtigung mit Männern, People of Colour die ihre mit Weißen, junge Leute einen verantwortungsvollen Umgang mit unserem Planeten, Menschenrechtsaktivist:innen ein humanes Verhalten gegenüber Geflüchteten.
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André Dillinger im Gespräch
Wollen wir uns wirklich dem Markt überlassen? André, du berätst Unternehmen, auch solche, die sich in Schieflage befinden. Was genau macht DW-PARTNER? Wir beschäftigen uns mit unterschiedlichen Situationen in Unternehmen und versuchen, unter Einbindung von Mitarbeiter:innen- und Geschäftsführer:innengesprächen herauszufinden, was die Gründe für eine mögliche Schieflage sind. Es gibt sogenannte Krisenstufen. Anhand einer Krisenstufe ist erkennbar, in welcher Phase sich das Unternehmen befindet und was es in Zukunft zu tun gibt, um das Unternehmen in eine durchgreifende Sanierung zu bekommen. Hattet ihr Lösungen parat, wie mit der Corona-Pandemie, also mit den Lockdowns und dem wegbrechenden Geschäft, umzugehen ist? War – mit anderen Worten – in eurer Toolbox genug drin, um damit sofort richtig durchzustarten? Oder wart ihr – wie die meisten anderen auch – erst einmal in so einer Art Schockstarre? Für unsere Arbeit ist Prognosegüte etwas sehr Wichtiges. Eine verlässliche Prognosegüte war zum Zeitpunkt, als die Corona-Pandemie begann, so erst einmal nicht mehr gegeben. Keiner wusste, wie sich das Geschäft von Unternehmen und Branchen weiterentwickeln wird.
Das hat natürlich zu besonderen Herausforderungen geführt. Für uns war es in den ersten Pandemie-Wochen sehr wichtig, ganz nah am Markt zu sein, um zu wissen, was passiert. Wie entwickelt sich das Mindset der Mitarbeiter:innen? Wie entwickelt sich das Verhalten von Zulieferern und Branchen? Was konntest du an Reaktionen auf die Corona-Pandemie beobachten, und wie sind die Unternehmen damit umgegangen? Ein Teil der Unternehmer:innen hat die Krise nach geschätzt zwei Monaten als Chance verstanden – als Chance insofern, als dass sie verstanden haben, dass sie in eine aktive Veränderung eintreten und sie mit den veränderten Marktbedingungen umgehen müssen. Sie haben sich mit ihrer Belegschaft viel intensiver auseinander- und zusammengesetzt, um zu kommunizieren. Und das war ein sehr wichtiger Schritt. Denn Kommunikation ist in vielen Bereichen schon ein großer Teil der Lösung. Und weil sie sich damit auseinandergesetzt haben, konnten viele Situationen auch umfangreicher und aus unterschiedlichen Perspektiven bewertet werden. Dann gab es wiederum natürlich auch Unternehmen, in denen sich die Inhaber:innen zurückgezogen haben, weil sie mit der Situation nicht richtig umgehen konnten und sich lieber in eine Warteposition begeben haben. Alles für sie Gewohnte funktionierte nicht mehr: Nachfragen reduzierten sich, die Warenlager waren gefüllt, die Konten liefen in den Minusbereich. Es gab in diesem Moment für viele erst einmal augenscheinlich keine Lösung.
André Dillinger, ausgebildeter Fachassistent für steuer- und wirtschaftsberatende Berufe, ist seit 1999 Inhaber der Beratungsfirma Commendo Strategie Planung mit dem Schwerpunkt Vertriebsund Ertragsplanung. Mit seiner weiteren Unternehmung DWPARTNER übernimmt er unter anderem Verantwortung als Interimsmanager, entwickelt Vertriebskonzepte und sorgt für ein laufendes Reporting.
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Unternehmensführung
Und da kamen wir als Beratungsteam ins Spiel. Konntest du eine durch die Pandemie befeuerte Kreativität in den Unternehmen spüren? Jedes Unternehmen stand plötzlich vor Problemen, die es schnell lösen musste, zum Beispiel der Wegfall des persönlichen Kundenkontakts oder die Einrichtung von Homeoffice. Neues Denken, Tabula rasa waren gefragt. Welche kreativen Lösungen haben dich bei deinen Klient:innen oder in deinem direkten Umfeld besonders beeindruckt? Wichtig war – so einfach das auch klingen mag –, dass man als Unternehmer:in erkannte, dass man etwas unternehmen muss. Es waren Entscheidungen zu treffen, und das, obwohl zu diesem Zeitpunkt nicht absehbar war, ob es die richtigen sein würden. Verfolgte man ein Geschäftsmodell, das vor der Pandemie einträglich war, so würde es in den allermeisten Fällen auch danach noch funktionieren und so weiterlaufen. Sicherlich würde es einige Veränderungen geben müssen. Ein Teil meiner Klient:innen hat beispielsweise Teile seiner Werkshallen umgestaltet, um den Mitarbeiter:innen coronabedingt neue Arbeitsplätze zur Verfügung stellen zu können. Wenn es die Connectivity möglich machte, konnte plötzlich auch von zu Hause aus gearbeitet werden – ein Gedanke, der in mancher Geschäftsleitung neu war. 18 | 19
Gab es auch Unternehmen, die kreative Lösungen entwickelt haben, die quasi aus der Not heraus geboren wurden? Da war sehr viel Pragmatismus. Es ging in erster Linie darum, herauszufinden, welche Technik benötigt wurde, um vom Küchentisch aus arbeiten zu können. Ich kenne Büroeinrichter, die gesagt haben: „Mensch, jetzt kommen die goldenen Zeiten. Ich kann höhenverstellbare Schreibtische verkaufen ohne Ende.“ Das war natürlich nicht der Fall, weil zu Hause die Räumlichkeiten nicht unbedingt immer so gegeben sind. Aber es ist so, dass sich in der Arbeitswelt – im Nachgang betrachtet – eine Menge gewandelt hat. Wir sind verändert unterwegs, und einiges werden wir beibehalten. Ein Klient von uns, Room.Building. Partner., hat zum Beispiel in Zusammenarbeit mit Neusta das Produkt OutlinesMR entwickelt, das durch die Pandemie eine unglaubliche Dynamik entfaltet hat. Du kannst durch Zuhilfenahme einer Mixed-RealityBrille die Einrichtung deines Büros schon im Planungszustand erleben. Die Leute haben nach einem halben Jahr festgestellt, wenn sie den ganzen Tag am Küchentisch auf dem Küchenstuhl sitzendarbeiten, wird es einfach unangenehm. Dann haben sie aufgerüstet und schöne Bürostühle gekauft, die am Küchentisch stehen bleiben können und die man nicht verschämt verstecken muss. Und was sich auch durchgesetzt hat, sind sogenannte mobile Leuchten mit Akku. Insofern haben die Inneneinrichter schon ihr Geschäft gemacht. Man muss sich also keine Gedanken um diese Branche machen. Nein, das muss man nicht. Nach einem Jahr war das eine neue Normalität und es wurde die neue Realität gelebt. Man hatte erkannt, dass es diese neue Routine gibt, dass durch dieses Muss diese Realität die neue Routine der Zukunft ist. Ich bin davon überzeugt, dass Hybrid-Arbeit zwischen Homeoffice und Headquarter ein zukünftiger Bestandteil moderner Arbeit sein wird. Würdest du sagen, dass Unternehmer:innen resilienter sind als noch vor der Krise? Wie definierst du Resilienz? Ich meine damit Widerstandsfähigkeit. Glaubst du, dass die Pandemie die Unternehmen aus ihrem Run
herausgerissen hat, diese sich so neu fokussiert haben und sich gefragt haben: Was ist denn nun wirklich wichtig? Sind jetzt nach der Pandemie die Unternehmer:innen krisengeschulter und resilienter? Das ist tatsächlich so. Die Unternehmen haben einen unausweichlichen Veränderungsdruck gespürt. Und sie haben gelernt, mit starken Veränderungen umzugehen. Das betrifft die Digitalisierung und andere Prozesse. Diese Veränderungen ziehen wiederum weitere Veränderungen nach sich. Ob die gesteckten Ziele alle erreicht werden, bleibt abzuwarten. Was konntet ihr als Unternehmensberater beitragen, um den Übergang der Unternehmen – vor der Pandemie, nach der Pandemie – möglichst erfolgreich zu gestalten? Belegschaften wie Geschäftsführer:innen haben die Aufgabe, eine intensivere Kommunikation miteinander zu vereinbaren. Kommunikation ist, gerade wenn man Change-Maßnahmen macht, eine der wesentlichen Positionen. Kommunikation unterstützt einen Wandel. Mangelnde Kommunikation wiederum führt dazu, dass man diese Veränderung nicht aufsetzen kann. Was zählt, sind auch die Perspektiven der Mitarbeiter:innen, der Es ist definitiv so, Führungsdass Kommunikation das kräfte, aber auch der wichtigste Instrument ist. Produktioner:innen oder der Sekretär:innen des Vorstands – aller Leute aus der Belegschaft mit all ihren Ideen oder Bedenken. Wie sehen eigentlich ihre Ziele aus? Wenn man das so mit der Gemeinschaft kommuniziert, dann hast du auch einen sehr guten Kenntnisstand in der Belegschaft und kannst ernsthafte Maßnahmen aufgrund dieser zahlreichen Gespräche tatsächlich auch in die Umsetzung führen. Es gibt das Prinzip EVA: erklären, verstehen, anwenden. Wenn ich also erkläre, warum es diese allgemein Das Magazin von BerlinDruck
Unternehmensführung
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festgestellte Herausforderung gibt, dann muss man sich im Folgenden auch damit auseinandersetzen: Wie läuft das? Was sind die Gründe dafür? Sind es exogene Faktoren? Sind es interne Themen? Wir erarbeiten dann gemeinsam, wie man den nächsten Schritt geht. So entwickelt man bei allen ein Verständnis für Veränderungen. Noch einmal: Es ist definitiv so, dass Kommunikation das wichtigste Instrument ist.
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Virtuelle Objekte im realen Raum: Einrichtungs-Software perfektioniert vermischte Realität Eine Wand in einen Raum einziehen. Ein Möbelstück im Wohnzimmer platzieren und aus jeder Perspektive betrachten – Größe, Winkel und Entfernung passen sich dynamisch und in Echtzeit an. Ganze Gebäudeetagen innenarchitektonisch gestalten, standortunabhängig durch Immobilien führen, Kundenwünsche direkt im realen Raum umsetzen: Das Unternehmen Room.Building. Partner. hat eine in der Branche bislang einzigartige Mixed-RealitySoftware entwickelt, die ein lebensechtes Erlebnis von realistischen 3D-Hologrammen ermöglicht. Die Technologie soll vor allem Möbelhändlern und -herstellern, Immobilienmaklern und Architekten die Digitalisierung ihrer Verkaufs- und Beratungsprozesse erleichtern. „OutlinesMR bedeutet die virtuelle Raumplanung per Fingertipp. Unsere Entwicklung stellt einen Meilenstein dar“, erklärt René Weber, Geschäftsführer von Room.Building. Partner. Seit über drei Jahren arbeitet Room. Building.Partner. intensiv an der Vermarktung und Weiterentwick-
lung der Anwendung, mit der sich digitale Objekte in einem beliebigen Raum platzieren lassen. Dafür benötigen Interessent:innen eine Mixed-Reality-Brille – die HoloLens 2 von Mircrosoft. Dann lassen sich Räume durch Gesten intuitiv und in Echtzeit mithilfe von hochauflösenden 3D-Hologrammen flexibel und
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wirklichkeitsgetreu anpassen. „Das ist die nächste Stufe der visuellen Darstellung“, sagt René Weber. Während fotorealistische Renderings für das Auge sehr ansprechend sind, vermitteln sie kaum ein Verhältnis zu Größen, Abständen oder gar ein Raumgefühl. Die Vermischung von Realität und digitalen Elementen ist seit jeher in jedem Science-Fiction-Kontext, neben KI, immer der höchste technologische Stand. D
Was hast du persönlich aus der Krise gelernt und konntest du das Erfahrene im Kontakt mit deinen Kund:innen anwenden? Ich bin Menschenfreund und sehr kommunikativ. Hier hat mich die Pandemie natürlich deutlich eingeschränkt. Für unsere Arbeit war vieles leichter, weil es einen Veränderungsdruck bei unseren Klient:innen gab. Veränderungsdruck erzeugt eine bessere Zielwahrnehmung. Alles, was draußen passiert – in Corona- und gerade auch in Kriegszeiten –, ist für viele Unternehmen nicht wirklich vernünftig planbar. Man muss Verständnis dafür haben, dass wir alle manchmal ein bisschen schwimmen, weil es für diese Zeiten keine Blaupausen gibt. Und: Erfolge sind manchmal Misserfolge. Aber auch aufgrund von Misserfolgen kann man wachsen und Wege korrigieren. Das wünsche ich mir, dass das in jedem Unternehmen so erkannt und auch gelebt wird. Es gibt nicht nur die Corona-Pandemie und den Ukraine-Krieg. Auch Themen wie die Digitalisierung und die Klimakrise stehen vor den Unternehmen, bei denen sie noch nicht richtig aufgestellt sind. Bei einer Pandemie wirst du als Unternehmer:in in eine Situation geworfen, bei der du dich nicht dafür oder dagegen entscheiden kannst. Das macht dich möglicherweise, wie du eben gerade gesagt hast, auch stärker, mit solchen Dingen zielgerichteter umzugehen. Als Führungskraft oder als Inhaber:in hat man eigentlich nur die Möglichkeiten, sich dieser Herausforderung zu stellen oder aufzugeben. Wenn ich nichts unternehme, dann überlasse ich mich dem Markt. André, vielen Dank für dieses Gespräch! D
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Tipp aus der Region Produktionswissen
Lerne wichtige Lektionen über dich selbst
Yoga kann unterschiedliche Bedeutungen und Schwerpunkte haben, je nachdem, wen man fragt. Für die einen ist es eine Übung für den Körper, für die anderen eine Übung für den Geist, für wieder andere eine Entspannungsübung. Und für manche ist es alles gleichzeitig. Yoga hat viele großartige Aspekte, in denen letztendlich das Geheimnis des Yoga liegt. Beim Yoga kann man zur Ruhe kommen, entschleunigen, sich erden und auf sich selbst konzentrieren. Schon das ist eine äußerst wertvolle Fähigkeit, die man erlernen sollte, denn sie hilft uns, mit den bewegten - und oft hektischen - Zeiten zurechtzukommen. Beim Yoga konzentriert man sich auf die Tatsache, dass jede Übung anders ist, so wie jeder Tag in Geist und Körper anders ist. Das lehrt
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uns wichtige Selbstreflexion, im Moment zu leben und achtsam zu sein. Beim Yoga gibt es keine Notwendigkeit, die aktuelle Übung mit einer vergangenen oder zukünftigen Übung zu vergleichen. Yoga baut Stress ab, was sich wiederum direkt auf das Wohlbefinden, den Stoffwechsel, die Schlafqualität und das hormonelle Gleichgewicht auswirkt. Außerdem fördert Yoga nachweislich die Kreativität und Konzentrationsfähigkeit und verbessert die Koordination. Yoga wirkt sich auch positiv auf den Blutkreislauf und die Flüssigkeitszirkulation im Körper aus. Yoga lehrt Demut und Geduld – mit sich selbst und der krisengeschüttelten Welt. Doch wie fängt man mit Yoga an? Wie können wir den Alltag weit hinter uns lassen und uns neu
erden? Wir haben mit Stefanie Liskow von yo.land Yogareisen gesprochen. Sie betreibt eine Reiseunternehmen für YogaFreund:innen. Stefanie, wie ist die Idee für yo.land Yogareisen entstanden? Nach einer gemeinsamen Yogastunde hatten Frank und ich den Gedanken: Das tut so gut, wir wollen mehr Yoga, häufiger, ein ganzes Wochenende lang – mit gutem Essen an besonderen Locations. Wir packten unsere sieben Sachen und fuhren los, um geeignete Locations für unsere Idee zu finden. Wir mussten feststellen, dass es
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Gewinnspiel
ganz so einfach dann doch nicht ist. Wo sind die tollen großen Yogaräume kombiniert mit der Möglichkeit einer Verpflegung nach unseren Vorstellungen? Und das alles in unserer unmittelbaren Umgebung? So entstand die Idee, selbst Wochenenden auszugestalten und die Teilnehmenden bei allem zu begleiten. Wie läuft so eine Reise ab? Reisende wählen aus unserem Gesamtangebot ihren Wunsch-Yoga oder ihr Wunschziel aus und buchen über die yo.land-Website. Viele Yogis und Yoginis möchten gerne mit ihrer oder ihrem Yogalehrer:in mitfahren. Wir stehen für die Betreuung jederzeit zur Verfügung - egal, ob es um Besonderheiten bei der Verpflegung geht oder um spezielle Fragen zum Yoga, die wir bez. der oder die Yogalehrende im Vorfeld beantworten können. Welche Ziele bietet ihr an? Und wird es neue Ziele geben? Während und nach der Corona-Pandemie sind wir mit einer kleinen feinen Auswahl am Start: Da ist die Woltersburger Mühle in Uelzen, der Einbecker Sonnenberg im Leinebergland, der Seminarhof Drawehn im Wendland und die Villa Viriditas im Harz.
Menschen, die in ihrem Tun mit viel Begeisterung und Energie dabei sind. Auf Sicht wird es natürlich weitere tolle Ziele geben. Yoga passt sehr gut in die Zeit, um sich zu erden. Was sagen die Teilnehmenden, was sie mit nach Hause nehmen? Da gibt es Rückmeldungen von „Ich bin einfach nur noch entspannt!“ über „Was für ein wunderbarer Ort. Ich könnte hier stundenlang nur sitzen.“ bis „Ich habe die Zeit rundum genossen und fühle mich aufgetankt.“ Natürlich ist es jenseits des Alltags einfacher, freie Stunden für sich zu nutzen - es gibt nichts, was einen anguckt und erledigt werden will. Aber es zeigt sich schon nach einem Wochenende, wie gut es tut, bewusst diesen Abstand zu nehmen und mit Yoga wieder in Einklang zu kommen – in der Bewegung, mit dem Atem, mit dem Geist. Dein Wunsch für die Zukunft? Offenheit, all dieses zu genießen. Es muss nicht zwingend das exklusive Retreat im fernen Bali sein - oft sind es doch die kleinen Impulse, die uns berühren, inspirieren und Veränderung anstoßen. Sei es ein Gedanke, der aus einem guten Gespräch entsteht, oder die Feststellung, dass der Blick auf das Bergland um Weser oder Werra durchaus Toskana-Qualitäten haben kann. Vielen Dank, Stefanie! Das klingt sehr verlockend. D yoland-yogareisen.de
All diesen Locations ist gemeinsam, dass sie mit viel Herzblut betrieben werden, ergänzt um soziale Aspekte oder inhabergeführt mit hohem Engagement. Wir schätzen die Kooperation mit
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Wohnhäuser auf dem Gelände der Woltersburger Mühle in Uelzen
Gewinnspiel BerlinDruck verlost ein YogaWochenende für zwei Personen in der Woltersburger Mühle in Uelzen! Wunderbar am Wasser gelegen, mit restaurierter Wassermühle, einem Skulpturengarten für den persönlichen Rückzug oder für Yogakurse outdoor bei schönem Wetter. Dazu ein Meditationsraum für Ruhe und Stille, ein kleines Café auf der Sonnenterrasse zum Verweilen und Genießen. Frei stehende Gästehäuser verteilen sich über das Gelände wie ein Miniatur-Dorf – ausgestattet mit jeweils drei
Die Küche versorgt uns in Bio-Qualität – regional, saisonal, frisch zubereitet: ein vollwertiges Frühstück, das keine Wünsche offenlässt. Das Gelände der Woltersburger Mühle in Uelzen
Zimmern, einem gemeinsamen Bad und einer Wohnküche als zusätzlichem Raum für gemütliches Beisammensein und Austausch in kleinen Gruppen. Das Wochenende findet statt vom 30. September bis 02. Oktober 2022. Und wie kann man dieses Wochenende gewinnen? Einfach Ihre Daten und das Stichwort YOGA unter www.berlindruck.de/gewinnspiel2022/ bis zum 24. Juni eingeben. Der Gewinner wird bis 01. Juli 2022 informiert. – Viel Glück! D Der Rechtsweg ist wie immer ausgeschlossen.
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Kunst
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Kunst
Daria Petrilli
Träume Es ist leicht, sich in die weiblichen Figuren von Daria Petrilli zu verlieben. Die Kunstwerke sind surreal und ätherisch. Die Figuren haben spitz zulaufende Finger in der Art von Bronzino. Sie sind fantastische Kreaturen mit Flügeln und Federn. Eingehüllt in Kleider aus Muscheln und Blumen. In Szenen mit Tieren und Pflanzen dargestellt, verschmelzen sie mit der Natur in einer Metamorphose, die sie zum Göttlichen erheben.
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Kunst Vorherige Doppelseite: The dreamer Rechts: Ibis in volo
Damen in Kleidern des frühen 20. Jahrhunderts, viktorianische Schönheiten, die regungslos dastehen, als wären sie versteinert. Frauen, die sich in traumhaften Umgebungen, in zeitlosen Räumen bewegen. Frauenfiguren, die Geschichten der Einsamkeit erzählen. Ihr Blick ist woanders, aber wenn sie den Blick heben, ist es ein durchdringender. Manchmal doppeln sie sich in einem Spiegelspiel, das die stille Beziehung zwischen zwei Frauen offenbart. Intimität wird durch den Dominanz des Hintergrunds verborgen und geschützt. Die Frauen von Daria Petrilli – eine für jeden Traum, jede Leidenschaft und eine für jede Besessenheit. Ihre magnetischen Protagonistinnen laden jenseits des Spiegelbilds ein, die Schwelle zu überschreiten, die den Traum von der Realität trennt. Visuelle Übergänge in andere Welten.
The Lady of the ibis
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Hinzu kommen Boten ursprünglicher Obsessionen. Flamingos und Papageien, Rotkehlchen, Gänse in Herden und stolzierende Elche, die, wenn sie des Gartens Eden nicht würdig sind, dann zumindest des Fegefeuers. Sie scheinen in der Lage zu sein, die Grenzen zu verschieben, die die Technik der Vorstellungskraft der Künstlerin auferlegt. Es sind allesamt digitale Illustrationen. Figürlich als Endergebnis, das an klassische Kunst erinnert und dabei rein digital produziert wurde.
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Fotografie Kunst
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Kunst
Crossed glances
Daria Petrilli ist bewusst provokativ: „Ich überarbeite Fotografien mit digitalen Malinterventionen, ich erstelle eine Collage mithilfe von Photoshop! Ich hätte auch traditionelle Werkzeuge verwenden können, aber diese Illustrationen wurden aus persönlichem Spaß geboren – ohne Veto eines Kunden – und auf die unmittelbarste Art und Weise. Ich hoffe, noch viel mehr zu produzieren, wenn ich nicht zu oft von dem gestört werde, was außerhalb meines MacBildschirms zu sehen ist!“ Darias Werke überschreiten Grenzen zwischen Realität und Vorstellungskraft mit einer eleganten und erhabenen Sprache, die mit dem roten Faden der Mehrdeutigkeit spielt. Sie ist eine Künstlerin, die in den Zauber der italienischen Renaissance und in die UndergroundSprache des Pop-Surrealismus eingetaucht ist. Daria, wie kamst du zur Kunst? Ich habe mich schon immer für Kunst interessiert ... seit ich denken kann. Ich folgte meiner Leidenschaft hartnäckig und absolvierte eine klassische akademische Ausbildung, besuchte die Kunsthochschule und anschließend das Instituto Europeo di Design, das ich als Illustratorin und später als Innenarchitektin abschloss. Als Illustratorin habe ich viele Jahre lang hauptsächlich für die Verlags- und Werbeindustrie gearbeitet, aber mit der Zeit konnte ich mir einen persönlichen Raum schaffen und begann, diese Werke zu meinem eigenen Vergnügen zu schaffen.
Alice dream
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Welche Menschen in deiner Umgebung beeinflussen dich? Ich hatte in der Vergangenheit Lehrer, die mich sehr inspiriert und motiviert haben. In meinem täglichen Leben werde ich natürlich von meiner Familie unterstützt, aber mein kreativer Prozess beinhaltet, dass ich mich von der Normalität löse und in meine geheime Welt eintauche und das Bekannte ausblende.
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Kunst
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Fade to green
Daria Petrilli wurde 1970 in Rom geboren und studierte Kunst am IED Istituto Europeo di Design Roma. Als Illustratorin hat die Künstlerin mehrere Kinderbücher veröffentlicht. Sie erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, unter anderem von der Accademia Pictor Award of Turin. Sie ist zudem Mitglied der Italian Illustrators Association. Ihre Werke waren weltweit Teil von vielen Einzelund Gruppenausstellungen, zum Beispiel in Teheran, Bologna und Lissabon.
Lenor
Deine größte Leidenschaft abseits der Kunst? Ich liebe Musik, Architektur und Interior Design, die Leidenschaft für Raumgestaltung habe ich von meiner Mutter geerbt. Ich bin neugierig auf die Welt und versuche immer, mit offenen und aufmerksamen Augen alles zu betrachten, was mich umgibt und darüber hinausgeht. Daria, vielen Dank für dieses kurze Gespräch! D
Red Fishes
Fotografie: Michael Jungblut | fotoetage
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Künstliche Der 8. Tag Intelligenz
Fotografie: Michael Jungblut, fotoetage
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Der 8. Tag
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Alev Doğan im Gespräch mit Chefredakteur Eckard Christiani Die aus Bad Honnef stammende Alev Doğan studierte Politikwissenschaften an der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg. Nach dem Studium hat die 31-jährige Journalistin für Regionalzeitungen wie den General-Anzeiger, die Kieler Nachrichten und die Rheinische Post gearbeitet. Vom Fachblatt Medium Magazin wurde Doğan zu den zehn besten regionalen Reporter:innen im Land gewählt. Sie verstärkt seit April 2020 als Chefreporterin das Team von Media Pioneer in Berlin. Ihr Lieblingsprojekt ist ihr Podcast Der 8. Tag – Deutschland neu denken. mediapioneer.com
In ein offenes Gespräch gehen Alev, in deinem Interview für den ADC habe ich gehört, dass du als Kind Nachrichtensprecherin werden wolltest. Wie war dein Weg von diesem „ersten Berufswunsch“ auf das Redaktionsschiff PioneerOne? Nachrichtensprecherin war ich nur als Kind (lacht). Nachrichten zu gucken, war für uns zu Hause ein familiäres Happening, weil wir türkische Nachrichten geschaut haben, um zu erfahren, was in der Heimat passiert ist. Wir versammelten uns alle vor dem Fernseher – ein klassisches Lagerfeuergefühl. Ich saß tatsächlich immer auf dem Teppich, hatte eine Zeitung in der Hand und habe so getan, als ob ich Nachrichten vorlese. Die Erinnerung daran kam mir spontan bei der Frage, was ich eigentlich als Kind werden wollte. Danach kam aber noch jede Menge anderes. Ich meinte auch einmal, ich müsse Sängerin werden. Ein anderes Mal wollte ich Ärztin werden. Und Jura habe ich auch studiert. Zur PioneerOne kam ich auf einem sehr konventionellen Weg – eine durchaus gradlinige journalistische Laufbahn. Ich habe als Praktikantin und dann
als freie Mitarbeiterin beim Bonner Berlin war eigentlich nie auf meinem General-Anzeiger angefangen. Nach Zettel. Ich bin eher dem Rheinland meinem Studium arbeitete ich dort verbunden, wo ich auch geboren als freie Autorin. Danach habe ich bei wurde. Darüber hinaus hätte ich den Kieler Nachrichten und beim RND mir noch Hamburg gut vorstellen Redaktionsnetzwerk Deutschland können. Aber die Aussicht darauf, so volontiert, wurde übernommen und ein Medienunternehmen von Anfang schrieb über landespolitische Themen. an mitaufzubauen, mitzuprägen, war Bei der Rheinischen Post arbeitete ich letztlich so attraktiv, dass ich heute in als Politikredakteurin – Essays, KomBerlin lebe. Ich dachte damals, dass mentare, Analyein solches Ansen und Leitartigebot in dieser Die Aussicht darauf, kel. Medienbranche Mein Chef bei der so ein Medienunternicht so schnell Rheinischen Post, nehmen von Anfang noch einmal Michael Bröcker, kommen würde. wechselte Ende an mitaufzubauen, war Und jetzt sind’s 2019 zu Media Pio- letztlich so attraktiv, zwei Jahre. neer. Es hat nicht dass ich heute in Berlin Was ist das Besehr lange gedauert, bis er an- lebe. sondere, Journalistin zu sein? rief und mich fragte, ob ich Lust auf Berlin hätte Menschen kennenzulernen – ganz und darauf, das Kernteam von Theklar! Letztlich geht es im Journalismus darum, die Welt zu verstehen, Pioneer mitaufzubauen. in der wir leben. Das ist eigentlich eine unwahrscheinlich transdisziplinäre Geschichte. Wir setzen uns als Politikjournalist:innen in erster Linie natürlich politisch, aber auch psycho-
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Der 8. Tag
logisch, soziologisch und philosophisch mit der Welt auseinander. Die Welt? Das sind Menschen, und ich finde Menschen interessant. Menschen kennenzulernen, Menschen zu verstehen. Und dann natürlich die Transferleistung, die Journalist:innen erbringen, eben nicht nur das für sich zu verstehen, sondern dann auch zu erzählen und zu informieren. Und dafür Geld zu bekommen, empfinde ich als Privileg. Und dann noch, auf einem Schiff zu arbeiten … (lacht) … das kommt noch erschwerend hinzu! Am Anfang dachte ich, okay, das klingt so ein bisschen nach größenwahnsinnigen Männern. Mich hatte das nicht getriggert und auch nicht so richtig interessiert. Ich glaube, dass Männer prinzipiell mehr darauf abfahren. Dann aber habe ich verstanden, worum es geht. Auf der einen Seite geht es natürlich um die Frage, wie eine Medienmarke etabliert werden kann. Eine Marke ist dann etabliert, wenn ich die Augen schließe, den Namen höre und ein Bild vor AuOft waren es die unbekannten Namen, von gen habe. Wenn ich vom Spiegel denen ich wahnsinnig höre, sehe ich die Lettern, wenn viel gelernt habe. ich Die Zeit höre, ebenso. Wenn es um die Tagesschau geht, höre ich schon die Anfangsmelodie. Wie schaffe ich so etwas mit einer neuen Medienmarke? Mit einem Schiff an den Start zu gehen, sorgt natürlich dafür, dass es nicht so furchtbar lange dauert, bis sich da ein Bild etabliert hat. Das andere ist natürlich, dass das Schiff symbolisch mit der Mission aufgeladen ist, im Regierungsviertel zu patrouillieren und gleichzeitig auch eine transparente Plattform zu bieten für den Journalismus, den wir machen wollen. Das ist einer, der eben mehr auf Augenhöhe ist mit unseren Leser:innen, Hörer:innen und Zuschauer:innen. Jeder Pioneer kann aufs Schiff. Das ist die Idee eines Club-Hauses. Auch wenn es logistisch herausfordernd ist, auf einem Schiff zu arbeiten, weil es jede:n in der Flexibilität enorm einschränkt, macht es natürlich auch Spaß. Für jemanden, der Ästhetik liebt, bietet Berlin vom Wasser aus gesehen eine sehr schöne Arbeitsatmosphäre. Wir sind täglich 30 | 31
ab zwölf Uhr dreißig im Regierungsviertel unterwegs, fahren einstündige Touren, jeweils unterbrochen für eine halbe Stunde. Was bedeutet es für dich, den Podcast Der 8. Tag – Deutschland neu denken zu machen? Für mich persönlich war das tatsächlich eine totale Veränderung. Ich bin übers Schreiben an den Journalismus gekommen, übers Geschichtenschreiben. Über alle Stationen war Schreiben mein Ding. Den Podcast Der 8. Tag zu machen, war für mich der Sprung ins kalte Wasser. Zu Beginn – am Anfang der Corona-Pandemie – war Der 8. Tag Gabor Steingarts Podcast. Wir hatten damals das Bedürfnis, als wir alle ein Stück weit überfordert waren von den täglichen Zahlen – tägliche Todeszahlen, Inzidenzen, R-Wert –, aufzuklären, was da gerade passiert. Gleichzeitig hatten wir das Gefühl, immer noch nicht richtig verstanden zu haben, was geschieht und auch was passieren wird. Also wollten wir dieser tagesaktuellen Krisensituation ein Format entgegenstellen, das uns jeden Abend so ein bisschen pausieren hilft und – unabhängig von den Zahlen – fragt, was passiert eigentlich gerade in dieser Krise und darüber hinaus – sinnbildlich Der 8. Tag. Womit werden wir aus dieser Krise rausgehen? Der Podcast war dann tatsächlich so erfolgreich, dass wir ihn nach dem ersten akuten halben Jahr nicht beendet haben, sondern entschieden haben, noch größer weiterzumachen. Wir befreiten ihn vom Corona-Korsett und planten, Deutschland gesamtgesellschaftlich neu zu denken. Wir nehmen uns den Luxus – ich empfinde das tatsächlich als solchen –, uns jeden Abend ca. eine halbe Stunde lang hinzusetzen – frei und unabhängig vom tagesaktuellen Geschehen – und nachzudenken. Natürlich hat es immer eine gewisse Aktualität. Aber wir wollen über den Tellerrand hinausschauen, nicht nur informieren oder kritisieren, sondern inspirieren und auf allen gesellschaftlichen Feldern zum Weiterdenken animieren. Dass mir der Podcast wirklich so viel Spaß macht, ich ein Audio-Medium verantworten und es irgendwann so sehr mein Baby würde, mit dem ich Das Magazin von BerlinDruck
Der 8. Tag
mich so sehr identifiziere, hätte ich am Anfang nicht erwartet. Gott sei Dank ist der Podcast sehr erfolgreich. Welche Interviewpartner:innen sind dir in Erinnerung geblieben? Wer hat dich am meisten beeindruckt? Tatsächlich wirklich alle, bei denen ich viel gelernt habe. Ich hatte glücklicherweise auch großen Namen: Es war natürlich ein Highlight, mit Ferdinand von Schirach zu sprechen. Es war toll, zum Beispiel mit den erfolgreichen Buchautoren Sebastian Fitzek und Martin Suter zu sprechen. Mit Fitzek haben wir vierzig Minuten lang über Vergänglichkeit gesprochen. Einem solchen Thema so viel Raum zu bieten, ist wirklich Luxus. Aber oft waren es die unbekannten Namen, von denen ich wahnsinnig viel gelernt habe: ob es Saskia Bruysten war, die Social Business macht, die in Regionen, die von Armut betroffen sind, Kleinstunternehmen unterstützt. Das war für mich wahnsinnig inspirierend. Oder ob das die Umweltmedizinerin Professorin Claudia Traidl-Hoffmann war, die ganz genau erklären konnte, welche Auswirkungen der Klimawandel nicht nur auf die Umwelt – ganz zu schweigen von der Biodiversität –, sondern ganz direkt auf uns persönlich, auf unsere Gesundheit hat. Oder ein Astrophysiker, der mir erklärt hat, warum das Entdecken des Schwarzen Lochs eigentlich so revolutionär für die gesamte Physik war. Ich habe so viel gelernt. Interessant sind Menschen, die tief in ihren Themen stecken. Hast du das Gefühl, dass es Gespräche gab, aus denen du für dich persönlich etwas mitgenommen hast, die dich wirklich verändert haben? Im Endeffekt aus allen Gesprächen, die sich um Psychologie und Philosophie drehten. Neben dem Journalismus sind Literatur und Philosophie meine Lieblingsthemenfelder. Wie gehen wir persönlich mit Depressionen um? Wie gehen wir als Gesellschaft mit mentaler Gesundheit und mentalen Krankheiten um? Am Ende unserer Gespräche ging es in achtzig Prozent der Fälle darum, welches Menschenbild wir haben. Haben wir eins, das bei den kapitalistischen Neoliberalen in all seinen Strukturen reinpasst oder haben wir eigentlich ein anderes, und sollten wir nicht
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Alev Doğans Podcast Der 8. Tag, u. a. zu hören über die App The Pioneer. thepioneer.de/originals/ der-achte-tag
Der 8. Tag
lieber das unterstützen? Das hat sehr viel damit zu tun, wie ich die Welt wahrnehme. Und wo ich immer wieder das Gefühl habe, dass wir uns in etwas verrennen und Scheuklappen aufhaben, ohne es zu bemerken. Alle Gespräche eigentlich, bei denen die Gesprächspartner:innen offen waren und Schubladen sprengten. Das ist immer das Beste, wenn man vorher denkt, man wüsste, wer diese Person ist, und man wüsste, welche Position sie vertritt, und dann kommt sie ins Studio und sagt Dinge, die man zunächst einmal gar nicht erwartet hat. Vielleicht noch nicht einmal mit dieser Person vereinbaren kann. Und dann fragt man natürlich nach, und der scheinbare Widerspruch löst sich auf. Oder man merkt, dass Widersprüche okay sind und dass wir vielleicht wieder lernen müssten, sie zuzulassen. Ambiguitätstoleranz ist die Kompetenz, die uns im Moment sehr, sehr helfen würde und von der wir zu wenig haben: anzuerkennen, dass es gesellschaftliche Widersprüche gibt. Widersprüche finden wir eben auch in den Menschen, was okay ist. Wir müssen nicht immer fertig sein, sondern können auch mit offenen Fragen leben. Es ist ja durchaus ein weites Feld, das ihr beackern könnt. Wie wählt ihr die Themen und die Menschen, die ihr interviewen wollt, aus? Es ist für uns das Wichtigste, dass wir im Podcast Der 8. Tag niemals nur auf der Stufe bleiben, den Status quo zu kritisieren. Bei uns geht’s darum, über die Stufe des Jammerns hinauszukommen, entweder Visionen zu skizzieren – wo wollen wir eigentlich hin? –, vielleicht eine Forderung aufzustellen, vielleicht aber auch nur eine Prognose zu wagen oder Dinge, die alle schon wissen, aus einer neuen Perspektive zu beleuchten. Man muss für Der 8. Tag kein Promi sein, aber Expert:in in seinem oder ihrem Feld. Und man muss Lust haben auf ein ergebnisoffenes Gespräch. Das ist auch vielleicht ein Unterschied zu anderen Talkformaten: Wir sind weniger ein Interviewformat, in dem der Gast nur sendet. Der Gast muss eine Idee oder eine These haben, und mit dieser soll und darf er in ein offenes Gespräch gehen. Es geht darum, diese Person zu verstehen, aber auch – und das erfordert Mut – sich einem Gespräch zu öffnen. Ich führe Gespräche im
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besten Sinne. Ich spreche immer von einer Kamingesprächsatmosphäre. Es soll wirklich darum gehen, dass sich zwei Menschen über ein Thema unterhalten und dass beide auch authentisches Interesse daran haben. Was ich nicht mache, ist, irgendwelche Politiker:innen einzuladen und nach Agenturmaterial zu suchen. Im Gegenteil: Man soll am Ende inspirierter und wissender herausgehen, als man reingegangen ist. Welches von all den Umbruchthemen oder gesellschaftlichen Themen interessiert dich persönlich am meisten? Mich persönlich interessiert tatsächlich alles, was mit dem menschlichen Umgang miteinander zu tun hat. Wie gehen wir eigentlich miteinander um? Ich bin nicht konservativ, was meine politische Ausrichtung angeht – eher das Gegenteil. Was mir aber sehr wichtig ist, sind gewisse Werte. Mir fehlt oft der Anstand im Umgang miteinander. Damit meine ich nicht Benimmregeln, sondern den Respekt, den man seinem Gegenüber und dessen Meinungen entgegenbringt – immer davon ausgehend, dass er eventuell recht haben könnte, auch wenn er etwas anders sieht als man selbst. Diese Dialogbereitschaft, dieses Wertschätzen des anderen und auch das Akzeptieren anderer Meinungen, wie wird das besser? Wie können wir so etwas kultivieren und lernen, besser zu streiten? Das sind so Dinge, die mir wichtig sind. Darüber hinaus engagiere ich mich seit einiger Zeit im Verein coach@ school, ein tatsächlich sinnvolles Projekt: Seit 2016 setzt sich der Verein für mehr Chancengleichheit im Bildungssystem ein. In Zeiten, in denen sozialer Status, Hautfarbe, Herkunft und Sprache als gesellschaftsspaltende Kriterien missbraucht werden, will coach@school e. V. gesellschaftliche und sprachliche Vielfalt fördern. Alev, vielen Dank für dieses Gespräch! D
Kerstin, warum kommt das Bücherkoffer-Programm genau zur richtigen Zeit? Iglu 2016 und andere Studien offenbaren, welcher Handlungsbedarf im Bereich der Lesekompetenz besteht: Jeder fünfte Viertklässler kann nicht richtig lesen. Kinder in sozioökonomisch schwierigem Umfeld mit und ohne Migrationshintergrund sind von dieser Tendenz besonders betroffen. Lesekompetenz gilt als der Schlüssel zum sozialen Aufstieg und wird als die „Universallösung für zentrale gesellschaftliche Herausforderungen der Gegenwart“ beschworen. Leseförderung ist die effizienteste und effektivste Bildungsinvestition überhaupt. coach@school e. V. unterstützt den Erwerb von Lesekompetenz in Kitas, Grundschulen und anderen Einrichtungen für Kinder dieser Altersklasse. Auch in Zeiten von Schulschließungen kann der Bücherkoffer in die Haushalte rollen und ist unabhängig von digitalen Anforderungen, die in sozial benachteiligten Haushalten oftmals sehr begrenzt sind. An wen richtet sich das Angebot? Wir bieten in Hamburg den Hamburger Bücherkoffer in ersten und zweiten Grundschulklassen sowie Vorschulklassen
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coach @ school
coach@school – der Verein für mehr Chancengleichheit im Bildungssystem
und Kitas mit einem niedrigen Sozialindex an. Diese Bildungseinrichtungen betreuen Kinder, die sozial benachteiligt sind und/oder einen Migrationshintergrund haben. In den Hamburger Bücherhallen werden die mehrsprachigen Bücher bzw. das Bücherkoffer-Programm ausgestellt und beworben. Das standardisierte Programm wird national skaliert, damit kooperieren wir überregional mit eigenständigen Vereinen oder direkt mit Ministerien, die die Umsetzung personell und finanziell mit betreuen. Warum Mehrsprachigkeit? Wieso ist die Familiensprache so wichtig? Über ein Drittel der Schüler:innen in Deutschland an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen haben einen Migrationshintergrund. Die mehrsprachigen, interkulturellen und inklusiven Bücher im Bücherkoffer unterstützen Kinder in ihrer Lernentwicklung und bestärken sie darin, wer sie sind. Basierend auf der Vielfalt der Sprachen in den Bildungseinrichtungen,
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Kerstin Wiskemann, 1. Vorsitzende und Gründerin des Vereins coach@school bietet das erste mehrsprachige Bücherkoffer-Programm allen Familien die Möglichkeit, gemeinsam mit ihrem Kind in ihrer Herkunftssprache zu lesen. Studien belegen, dass Kinder, die ihre Familiensprache perfekt beherrschen, deutlich schneller und effektiver jede weitere Sprache erlernen. Die Entwicklung von Mehrsprachigkeit ist ein Wert an sich. Mehrsprachigkeit eröffnet viele Vorteile (Kontakt zu mehr Gesprächspartner:innen, Welten, Vorteile auf dem Arbeitsmarkt, auf Reisen, Toleranz etc.). Durch das Vorlesen in der Muttersprache erhalten die Familien einen Zugang zu Lese- und Schreibkompetenzen, sie üben die Praxis häufiger aus und entwickeln Routinen. Außerdem erwerben die Kinder metasprachliche Kompetenzen, wie Wissen über den Aufbau von Texten, Erzählmuster, Lesestrategien, Lesemotivation etc. Dieses stellt eine gute Grundlage zum Erwerb von Lese- und Schreibfähigkeiten auch in anderen Sprachen dar. Voraussetzung ist allerdings, dass auch in diesen Sprachen
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ausreichend Input erfolgt. Lesen ist eine Reise, die keine Grenzen kennt. Auch deshalb rollen unsere Bücher in vielen Sprachen und einem Koffer zu ihren kleinen und großen Leser:innen. Wurde das Programm evaluiert? Wer ist die Schirmherrin? Das Bücherkoffer-Programm wurde 2019 von der Universität Paderborn evaluiert und als wirkungsvoll eingestuft. Das Programm wurde im Rahmen von startsocial 2018 von Bundeskanzlerin a. D. Angela Merkel ausge-
zeichnet und hat 2019 den Deutschen Integrationspreis der Hertie-Stiftung gewonnen. Das Programm steht unter der Schirmherrschaft von Cornelia Funke. Was macht ihr genau? Kernstück ist ein bunter Koffer, angefüllt mit Büchern und sorgfältig ausgewählten und konzipierten Materialien für die Zielgruppen. Dazu gehören mehrsprachige Bücher, Informationsmaterialien in achtzehn Sprachen für Eltern, Kinder und Fachkräfte sowie unterstützende Begleitmaterialien. Ein standardisierter Ablaufplan für Grundschulen und Kitas macht den Programm-
verlauf für alle Beteiligten transparent und sichert die wirkungsvolle Durchführung. Der Bücherkoffer rollt in die Bildungseinrichtungen. Die Kinder nehmen den Koffer oder einzelne Bücher für eine gewisse Zeit mit nach Hause und können dort mit ihren Eltern gemeinsam darin stöbern, vorgelesen bekommen, Bilder anschauen und Geschichten erfahren. Bis 2026 soll in zwanzig Städten das Bücherkoffer-Programm umgesetzt werden. Danke für deine Ausführungen, Kerstin. Das Projekt ist wirklich sehr empfehlenswert! D
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Der Sprung ins kalte Wasser
Fotografie: Michael Jungblut, fotoetage
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Der Sprung ins kalte Wasser
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Ein Gespräch mit Anne Swierczynski
Seinem Leben eine neue Farbe geben Anne, du hast dich vor gar nicht allzu langer Zeit selbstständig gemacht. Erzähl doch einmal, wie es dazu kam. Dieser Schritt war grundsätzlich nicht geplant. Zuletzt arbeitete ich in zwei lang andauernden Arbeitsverhältnissen. Was heißt eigentlich lang? Es waren immerhin jeweils fast neun Jahre, die ich dort beschäftigt war. Nach und nach wuchs in mir die Idee, dass ich irgendwie noch einmal etwas anderes machen möchte – hab’s aber nie in die Tat umgesetzt. Es war dann doch ganz gemütlich so, wie es war, meine Kolleg:innen waren alle sehr nett und die Agentur toll. Und dann kam Corona, mit der Pandemie kam das Homeoffice und mit dem Homeoffice kam das Alleinsein, das ich grundsätzlich nicht so schlimm finde. Die Folge war aber, dass das große Plus der Agentur – die netten Kolleg:innen – nicht mehr zum Tragen kam. Da ich vorher schon den Gedanken hatte, dass eine Freiberuflichkeit oder Freelancertätigkeit interessant für mich sein könnte, habe ich das Gespräch mit anderen, auch erfahreneren Leuten gesucht. Sie haben mich in meiner Idee bestärkt. Ich wäre sehr kompetent, mein Angebot so breit aufgefächert, und ich hätte vor allen Dingen auch das ausreichend große Netzwerk. Versuch das doch mal! Also habe ich die Möglichkeit beim Schopfe gepackt, einen Gründungszuschuss beantragt und geschaut, wie ich mich aufstellen und was genau ich machen kann. Ohne Corona hätte es wahrscheinlich länger gedauert. So war es der berühmte Sprung ins kalte Wasser, Entscheidungen zu treffen, die vielleicht unbequem sind.
Man muss aber nicht unbedingt auf eine neue Corona-Pandemie warten, um sich selbstständig zu machen. Kann man sich nicht einfach ein Herz fassen, seinen Mut zusammennehmen und einfach tun? Klar! Das liegt ja immer bei einem selbst und welche Gefühle man in sich trägt. Wenn man eine Umtriebigkeit in sich spürt und etwas anderes erleben und erfahren will, vielleicht auch mal ein bisschen mutig sein will, dann würde ich es auf jeden Fall einfach tun. Verlieren kann man im Prinzip nichts. Klar, man braucht definitiv ein griffiges Angebot. Und man braucht eben auch einen gewissen Mut. Mut auch insofern, dass Selbstständigkeit nicht mehr so viel Sicherheit bedeutet wie eine Festanstellung. Die Pandemie hat einem aber auch gezeigt, dass die Sicherheit eines Arbeitsplatzes trügerisch sein kann. In der Tat, ja. Ohne sich Gedanken gemacht zu haben, welches Angebot und welche Expertisen man konkret bietet, ist der Übergang vom Angestellten zum Selbstständigen vielleicht nur schwer zu schaffen. So wird man keinen Übergang schaffen, schon allein, weil man den Anspruch daran gar nicht für sich formuliert hat. Wenn man aber einen Anspruch an sich hat, seinem Leben eine neue Farbe zu geben oder eine neue Richtung einzuschlagen, dann würde ich diese Gedanken auf jeden Fall immer weiterführen und neue Wege gehen. Manchmal braucht es natürlich auch einen kleinen Tritt in den Hintern.
Genau. Und dafür war die CoronaPandemie doch ganz gut. Exakt. Ich denke aber, ich hätte es ohnehin gewagt. Aber wie gesagt, ich hatte meine Kolleg:innen wahnsinnig lieb. Agenturleben ist wie eine kleine Familie, wenn man so viel Zeit miteinander verbringt. Wenn man in der Agentur arbeitet, dann spürt man oft familiären Zusammenhalt. Worin unterscheidet sich das Freelancerdasein noch? Wenn du selbstständig bist, bist du in erster Linie auf dich alleine gestellt. Ein schneller fachlicher Austausch oder ein Back-up in der Organisation durch Berater:innen oder andere Kolleg:innen fallen da natürlich zum Großteil weg. Die Gedanken um Steuerangelegenheiten und allgemeine Vorsorgen kommen noch on top, da kommt natürlich keine fertige Gehaltsabrechnung ins Haus geflattert. Das bedeutet, du musst das alles abfedern. Und du hast natürlich viel, viel mehr Verantwortung. Wenn man in einer Agentur arbeitet, bekommt man Feedback aus allen
Anne Swierczynski, 40, gelernte Mediengestalterin und seit Jahren in der Hamburger Agenturwelt unterwegs.
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Der Sprung ins kalte Wasser
Richtungen, gutes wie auch schlechtes. Wenn man allein zu Hause sitzt, muss man sich das Feedback anders einholen. Oder freundet man sich nach und nach damit an, auch ohne Feedback zu leben? Das ist grob unterschiedlich. Ich habe gerade erst angefangen, aber schon gemerkt, dass auch Kund:innen sehr unterschiedlich ticken. Manche nehmen deine Dienstleistung in Anspruch, du schreibst eine Rechnung, fertig. Andere sind im Austausch ganz offen und bedanken sich
später für die tolle Zusammenarbeit. Ich fordere das definitiv nicht ein. Vielleicht sollte ich das irgendwann einmal tun. Es gibt auch Momente, in denen man gedanklich oder technisch mit seiner Arbeit nicht weiterkommt. In solchen Situationen suche ich den Austausch mit alten Kolleg:innen oder Freund:innen, die in der gleichen Branche arbeiten. Wenn man so frisch selbstständig ist wie du, ist es da nicht überraschend, was passiert? Man muss sich schließlich selbst darum kümmern, dass überhaupt etwas passiert. Wie sieht jetzt dein Alltag aus? Genau, jeder Tag birgt Überraschungen. Es kann sein, dass die Anfragen sich häufen und das 36 | 37
Telefon ständig klingelt, an manchen Tagen habe ich wiederum die Zeit, mich um administrative Sachen zu kümmern oder einfach frühstücken zu gehen. Ich habe mich zu Anfang intensiv über Plattformen wie Xing oder LinkedIn darum bemüht, mich sichtbar zu machen. Die Aufträge kommen mittlerweile von alleine, das Netzwerk ist da recht aktiv. Manchmal bin ich drei Wochen in einer Agentur gebucht – dann sitze ich dort vor Ort, weil der Austausch in der Agentur viel besser organisiert werden kann. Das sind große Buchungen, bei denen das Volumen sehr intensiv ist. – Ich sitze aber eben auch sehr, sehr häufig zu Hause und arbeite hier. Da geht es mehr um Projektarbeiten, meist auch beauftragt von Agenturen. Dann stehe ich morgens auf, drehe eine Runde, setze mich an meinen Schreibtisch und fange an zu arbeiten. An solchen Tagen kann es auch durchaus sein, dass ich mehrere Kunden gleichzeitig betreue. Ist das ein anderes Lebensgefühl? Tatsächlich habe ich gedacht, Selbstständigkeit bedeutet mehr Freiheit. Ich sage dir: Die 32-Stunden-Woche war auf jeden Fall mehr Freiheit als das jetzt hier. Es ist definitiv ein anderes Lebensgefühl, wenn man nicht mehr diese Sicherheit im Rücken hat, aber trotzdem mehr für sich selber entscheiden kann. Es ist ein Weg, der selbstbewusste Entscheidungen erfordert. Wie plane ich meine Freizeit? Nehme ich jede Anfrage an, auch wenn das zulasten meiner Balance geht? Momentan verzichte ich auf viel freie Zeit, wiederum mit der Aussicht, wieder mehr davon zu haben – wenn mein Gefühl es zulässt. Erst mal will ich natürlich meine Basis festigen. Man ist seine eigene Frau. Das Wunderbare ist, dass man auch Entscheidungsbefugnis darüber hat, ob man Fehler zulässt. Kannst du dir deine Fehler heute verzeihen? Fehler sind, wenn man sie als Gruppe macht, leichter abzufedern, weil viele Leute daran beteiligt sind oder sein können. Wenn mir
in meiner neuen Situation Fehler passieren – ich verkaufe schließlich eine Dienstleistung –, finde ich das schwerer zu ertragen. In der Gruppe bist du kein Chef. Jetzt bist du deine eigene Chefin. Ja, genau. Erzähl noch einmal, was genau dein Angebot ist. Ich bin gelernte Mediengestalterin, habe also einen technischen und auch gestalterischen Background. In meinen Festanstellungen hab ich für sehr große Kunden wie IKEA, VW und Porsche in der Realisierung gearbeitet. Außerdem durfte ich sehr schöne Corporate-Publishing-, also Magazin-Projekte realisieren. Mein selbstständiges professionelles Angebot umfasst eine Dienstleistung im Bereich Final Artwork (Reinzeichnung), gepaart mit einer guten Portion Bildbearbeitung und gestalterischem Know-how. Im Prinzip spiel ich die ganze Klaviatur der Adobe Creative Suite für den Bereich Print, und helfe meinen Kunden dabei, ihre Ideen einwandfrei umzusetzen, weiterzudenken und produktionsfähig auszuspielen. Dabei geht’s um Template-Erstellungen, Gestaltung nach Corporate-Standards, Umsetzung von Verpackungsdesigns, Mengensatz, Farbanpassungen bis hin zu technischen Workflows, also PDF-Standards und Colormanagement. Ich gestalte außerdem wahnsinnig gerne, kritzle in Illustrator herum und mache Photoshop-Collagen – das hilft mir auch dabei, Projekte für große Kunden gestaltungssicher umzusetzen. Noch einmal zurück zum Colourmanagement: Als Grafikdesigner:in hat man oftmals nicht die Kenntnisse, alles produktionstechnisch korrekt vorzubereiten. Woran muss man denn da denken? Das Thema ist hinlänglich bekannt, nicht zuletzt seit es das ICC (International Color Consortium) gibt. Man sollte vor allen Dingen daran denken, dass man es anwendet. Was ist ICC? Das ist ein Konsortium, das sich zusammengetan hat, um Farbmanagementsysteme zu vereinheitlichen, um farblich eine möglichst gleichbleibende Qualität zu erreichen. Sei es an Bildschirmen oder bei Ergebnissen aus Druckmaschinen. In der Grafik benutzen wir die bekannten ICCDas Magazin von BerlinDruck
Der Sprung ins kalte Wasser
Profile. Das ist bekannt und gehört eigentlich zum Standardrepertoire, das allerdings nicht immer beachtet wird.
Leseempfehlung
Eine Neuerscheinung aus dem Rheinwerk Verlag – Daniel Schulte, Reinzeichnung • Einstellungen für Bilder und Vektoren Sichten der Bilder, Prüfen der Druckbarkeit, Bildauflösung prüfen, Platzieren von Bildern, Illustrator-Dateien und Raw in InDesign platzieren, Bilddateien umwandeln • Fortgeschrittene InDesignFunktionen nutzen Objektformate, Bücher, Verankerte Objekte, IHV, Index, Das Buch Reinzeichnung von Mehrsprachensatz, Arabische Daniel Schulte ist das erste, Texte, Stanzformen, Verededas alle relevanten Informalungen, Liquid Layout, alternative Layouts, CC-Libraries, tionen versammelt. Es ist für Einsteiger:innen systematisch Datenzusammenführung, Korrekturfunktionen mit InCopy aufbereitet, aber auch für alte Grafikdesign-Hasen sehr nütz- und Acrobat, InDesign Review • Reinzeichnung in Illustrator lich: Das Handbuch gibt auf über 350 Seiten klare Empfeh- Farben, Bildverknüpfungen, drucktechnische Einstellungen, lungen und bietet Checklisten Icons aufbereiten, Stanzforsowie Hinweise auf Stolpermen fallen und beachtet alle neuen • Ausgabe Standards der Branche. Druckermarken, Umwandeln von Fonts, Grobdaten/FeinAus dem Inhalt: daten, technische Vorschaumöglichkeiten, Farben konver• Aufgaben der Reinzeichnung tieren, Haarlinien, Dokument Projektablauf, Projektorgani- sammeln und verpacken, InDesation sign-Preflight, PDF und perfekte • Farbmanagement und Farb- Druckdaten, Druckvorstufeneinstellungen in der Adobe Funktionen in Acrobat Creative Cloud • Hintergrundwissen DruckFarbräume, Farbkonvertierun- produktion gen, medienneutraler WorkHalbtonraster, Rasterweiten, flow Druckverfahren, Weiterver• Grundeinstellungen in arbeitung D InDesign Druckobjekte mit unterschiedlichen Seitengrößen, Falztechniken, Grundlinienraster, Templates, Musterseiten • Farbe Volltonfarben, Prozessfarben, Anpassen von Volltonfarben, Farbprobleme bei der Ausgabe lösen, Überdrucken, Überfüllen, maximaler Farbauftrag, Farbseparationen, Schwarzdarstellung, Transparenzen • Schrift und Mikrotypografie Prüfen der Druckbarkeit von Schriften, Optimierung des Textbildes, Einsetzen typografisch korrekter Zeichen, OpenType-Funktionen, GREPSuche und GREP-Stile
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Deiner Erfahrung nach ist das in großen Agenturen nicht so? Es ist ganz oft so, dass Designer:innen aus diesem ganzen Kosmos herausgenommen werden, weil oft Fehler passieren bzw. sie nicht richtig geschult sind. In anderen Agenturen ist alles komplett eingerichtet: von kalibrierten Monitoren bis hin zu kompletten Farbeinstellungen auf allen Rechnern. Ich finde, das sollte definitiv der Standard sein.
Reinzeichner:innen erstellen perfekt druckfähige und optisch einwandfreie Druckdaten. Klingt einfach? Bei Weitem nicht. Denn ein breit gefächertes Wissen zu technischen Hintergründen, Farbmanagement, Farbe, Typografie und Ausgabe sowie zur Druckproduktion ist hier nötig.
Daniel Schulte, Reinzeichnung erschien 2021 im Rheinwerk Verlag. 365 Seiten, 39,90 Euro ISBN 978-3836281515
Da machst du dich doch selber arbeitslos!? (lacht) Die technischen Standards der Agenturen haben mit meiner Arbeit ja nichts zu tun, ich helfe nur bei der Ausarbeitung und gebe Hinweise, wenn etwas nicht umsetzbar ist. Bei der Gestaltung sollte man sich schon im Klaren darüber sein, welches Medium produziert werden soll. Machen wir nur eine Internetseite, ist es natürlich total in Ordnung, im RGB-Farbraum zu arbeiten. Soll das Ganze aber eben auch noch gedruckt werden oder als Verpackungsdesign realisiert werden, dann ist es natürlich wichtig, sich von Anfang an darüber im Klaren zu sein, wie unterschiedlich Farben wirken können, und das zu berücksichtigen. Dein großes Steckenpferd ist die Prozessoptimierung durch präzise Vorarbeit. Was kannst du darüber erzählen? Die Creative Suite, ich spreche hier insbesondere über InDesign, bietet viele Möglichkeiten, Dokumente für den Gebrauch zu optimieren. Prozessoptimierung bedeutet, dass wir fertige Designs programmtechnisch so realisieren, dass ein entspannter Workflow daraus entsteht. Das ist insbesondere für die Realisierung von Magazinen, Katalogen und die Umsetzung von Corporate Designs wichtig. Viele Designer:innen sind damit nicht vertraut – müssen sie in erster Linie auch nicht –, sind aber sehr dankbar, wenn man ihnen Tools an die Hand gibt, die ihnen den Umgang damit erleichtern. Für einen effizienten Projektverlauf ist es sowieso unabdingbar. Anne, vielen Dank für dieses Gespräch! D
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Bei BerlinDruck
Einsatz von Klebstoffen Per- und polyfluorierte Alkylsubstanzen (PFAS) in Druckfarben und Lacken Anforderungen zum Energieverbrauch Kohlenwasserstoffe in Druckfarben und Lacken im Offset-Druckverfahren Ausblick auf umweltentlastende Materialien und Techniken in der Entwicklung Emissionen flüchtiger organischer Verbindungen beim Bogenoffset-Druckverfahren Anforderungen an Papiere und Kartonagen Zeichenbenutzung Druckluftanlage Azofarbstoffe Berechnung der Lösemittel-Emissionen Anforderungen an alle eingesetzten Stoffe und Gemische Nachträglich hinzugefügte Zusätze Entfernbarkeit von Klebstoffapplikationen Anforderungen an die Druckvorstufe Rohstoffe nicht aus gentechnisch veränderten Stoffen Heatset-Rollenoffsettrockner Anforderungen an Biozidprodukte und biozide Wirkstoffe Zeichennehmer und Beteiligte Anforderungen zu Emissionen Flüchtige organische Lösemittel Energieverbraucheraufstellung Anforderungen an Tinten, Toner, Druckfarben und Lacke Anforderungen zu Papierabfällen Reinigung von Maschinen und Maschinenteilen im Offset-Druckverfahren Zusätzliche Anforderungen an Manganverbindungen Deinkingtest nach INGEDE-Methode 11 Anforderungen an die Materialzusammensetzung Schwermetalle
Emissionen von Feinstaub bei allen Druckverfahren Zertifizierte nachwachsende Rohstoffe
Feuchtmittelzusätze im Offset-Druckverfahren Anforderungen zur Recyclingfähigkeit der eingesetzten Materialien
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Das Magazin von BerlinDruck
Bei BerlinDruck
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Ein Gespräch mit Marvin Rönisch
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Verantwortung übernehmen
Dieses Druckerzeugnis ist mit dem Blauen Engel ausgezeichnet.
Der Blaue Engel ist seit 1978 das Umweltzeichen der Bundesregierung für umweltfreundliche Produkte und Dienstleistungen. Recyclingpapier aus 100 Prozent Altpapier (DE-UZ 14a) ist wohl das bekannteste Produkt mit dem Blauen Engel. Es leistet einen wichtigen Beitrag zum Schutz der Wälder, weil weniger Bäume gefällt werden müssen. Im Vergleich zu sogenanntem Frischfaserpapier spart es zudem Energie, Wasser und Chemikalien bei der Herstellung. Der Forest Stewardship Council (FSC) ist eine nichtstaatliche, gemeinnützige Organisation, die sich seit 1993 für eine umweltgerechte, sozialverträgliche und ökonomisch tragfähige Nutzung der Wälder weltweit einsetzt. Je nach Label ist erkenntlich, ob das Papier aus FSC-zertifizierten Frischfasern, Recyclingfasern oder einer Mischung verschiedener Faserarten besteht. Der
Vergleich zeigt, dass das Umweltzeichen Blauer Engel sowohl beim Rohstoffeinsatz als auch bei der Papierproduktion und Qualität des Papiers anspruchsvoller ist als die FSC-Label. Wir bei BerlinDruck wollten noch einen Schritt weitergehen. Wir überlegten: Für die Herstellung von Druckerzeugnissen werden Energie und Ressourcen wie Papier und Farbe benötigt. Der Druckprozess und die Maschinenreinigung können zu Emissionen flüchtiger organischer Lösungsmittel führen, die zur Ozonbildung (Sommersmog) beitragen. Beim ökologischen Systemvergleich schneiden Papierprodukte aus Altpapier hinsichtlich Ressourcenverbrauch, Abwasserbelastung, Wasserund Energieverbrauch wesentlich günstiger ab als Papierprodukte mit überwiegendem Primärfaseranteil. Bei der Herstellung von Druckerzeugnis-
sen trägt somit die Verwendung von Papieren mit hohen Altpapieranteilen zur Schonung von Ressourcen, insbesondere des Ökosystems Wald, und zur Verminderung des Abfallaufkommens bei. Zudem sollte ein Druckerzeugnis durch Verwendung geeigneter Farben, Lacke und Klebstoffe die Wiederverwertung der enthaltenen Papierfasern ermöglichen. Durch Prozessoptimierungen können im Druckprozess Energieeinsatz, Papierabfall sowie Luft- und Wasser-Emissionen gemindert werden. Druckerzeugnisse mit dem Blauen Engel sind somit eine umweltschonendere Alternative zu herkömmlichen Druckerzeugnissen auf dem Markt. Für uns war schnell klar, dass wir uns mit dem Umweltzeichen Blauer Engel zertifizieren lassen konnten und wollten. Unser stellvertretender Betriebsleiter Marvin Rönisch hat den Zerti-
Marvin Rönisch, stellvertretender Betriebsleiter bei BerlinDruck, verantwortlich für Prozesse und Qualität
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Bei BerlinDruck
fizierungsprozess übernommen und erfolgreich zum Abschluss geführt. Marvin, wie lange hat der Prozess der Zertifizierung gedauert? Am Anfang gab es natürlich viele Hürden zu überwinden. So hat der gesamte Prozess etwa ein Jahr gedauert. Die Vorbereitung, das Sicheinarbeiten hat schon eine Menge Zeit beansprucht. Schnell war klar, dass sich jemand uneingeschränkt dieser Sache widmen sollte. Eine solche Zertifizierung mal eben nebenbei zu machen, ist unmöglich, weil der Prozess sehr aufwendig ist. Was war denn so aufwendig? Die Vergabekriterien für den Blauen Engel sind sehr streng und die werden auch immer weiter an die aktuellen Gegebenheiten und Umweltkriterien angepasst. Wir als Druckerei mussten Nachweise führen über zum Beispiel die eingesetzten
Materialien oder die abgegebenen Emissionen. Dieses Siegel zeichnet ja immer emissionsarme Produktion aus. Da mussten wir als Druckerei einmal komplett die Karten auf den Tisch legen: Welche Chemikalien setzen wir wirklich ein? Wie ist in dem Bereich die Synergie? Was ist mit flüchtigen Bestandteilen? Wie viel Emissionen geben wir vom Anfang bis zum Ende einer Produktion eigentlich ab? Alles muss gesammelt, erfasst und dann zur Prüfung eingereicht werden.
viel schmeißen wir davon weg? Zum Glück leben wir das eigentlich schon etliche Jahre, dass wir auf unsere Quoten auch achten. Das macht vieles in der Erfassung einfacher, als wenn man komplett neu denken müsste. Trotzdem bleibt die Dokumentation dieser Informationen, weil es niemand nach den Richtlinien der Zertifizierung schwarz auf weiß erfasst hat. Gab es etwas in diesem Prozess, das dich richtig überrascht hat? Eigentlich ist schon von Anfang an klar gewesen, was genau gefordert ist. Es gibt auch entsprechende Checklisten, die man abarbeiten kann. Aber der Umfang ist einfach etwas, womit man nicht unbedingt rechnen konnte. Allein das Einfordern von Datenblättern der Lieferanten war schon anspruchsvoll, da sie nicht älter als zwei Jahre sein durften. Das klingt jetzt fast so, als sei BerlinDruck Pionier auf diesem Gebiet, als wenn die Lieferanten gar nicht vorbereitet sind darauf, dass eine Druckerei kommt und diese Fragen stellt. Eigentlich müssten die doch die Informationen parat haben, oder nicht? Eigentlich schon, würde man meinen. Viele Lieferanten waren auch bereit. Aber es gab hin und wieder auch Fälle, in denen keine Informationen zu den Chemikalien, die wir eingesetzt haben, vorlagen. So mussten wir aktiv werden und im Material etwas ändern. Die Schwierigkeit lag auch darin, dass die Kriterien im letzten Jahr geändert und deutlich verschärft worden sind. Im Nordwesten Deutschlands ist BerlinDruck mit seiner Zertifizierung ganz vorne dabei, oder? Ganz sicher ist das ein Wettbewerbsvorteil – das haben wir in den letzten Jahren durch Kundenanfragen gespürt. Und nun tragen wir den Blauen Engel! Marvin, vielen Dank für dieses Gespräch! D
Nachhaltigkeit stand bei BerlinDruck schon immer im Fokus – erkennbar zum Beispiel an der Altpapierquote. Ja, im Bereich Papier sind bestimmte Kriterien einzuhalten. Wie viel Papier haben wir eingekauft, wie 40 | 41
Das Magazin von BerlinDruck
Greenwashing
europäischen Papierherstellern als Interessenvertretung für Unternehmen der Papierindustrie gegründet, die Altpapier zur Herstellung neuer grafischer Papiere einsetzen. Wir sprachen mit Axel Fischer, seines Zeichens PR-Verantwortlicher des Vereins, über Cradle to Cradle und Greenwashing.
C2C + Print = Greenwashing Cradle to Cradle (C2C) bedeutet sinngemäß „vom Ursprung zum Ursprung“. Es gilt als Ansatz für eine konsequente Kreislaufwirtschaft mit dem Ziel, den Idealfall des Recyclings zu erreichen: Alle eingesetzten Rohstoffe bzw. Bauteile sollen am Ende des Lebenszyklus eines Produkts wieder vollständig und gleichwertig in den Produktionsprozess oder Biokreislauf zurückgeführt werden können. Entwickelt wurde dieser philosophische Ansatz Ende der 1990erJahre von dem deutschen Chemiker Michael Braungart und dem US-amerikanischen Architekten William McDonough. Cradle-toCradle-Produkte sollen demnach entweder als biologische Nährstoffe in biologische Kreisläufe zurückgeführt oder als technische Nährstoffe kontinuierlich in technischen Kreisläufen gehalten werden. Eine C2C-Zertifizierung (Cradle-to-cradle-certified-Produktstandard) wird seit 2010 vom
Axel Fischer, Chemiker und Pressesprecher des Vereins INGEDE Non-Profit-Institut Cradle to Cradle Products Innovation Institute mit Sitz in San Francisco (USA) verliehen. Bewertet werden dabei fünf Kriterien: Materialgesundheit, Kreislauffähigkeit, Einsatz erneuerbarer Energien, verantwortungsvoller Umgang mit der Ressource Wasser sowie soziale Gerechtigkeit. Innerhalb dieser Kriterien werden fünf Zertifizierungsgrade vergeben: Basic, Bronze, Silber, Gold und Platin. Die vergebenen Siegel müssen alle zwei Jahre erneuert werden. Seit einiger Zeit hat diese Philosophie der Kreislaufwirtschaft auch die Druckbranche erreicht. Es kursieren verheißungsvolle Vorstellungen, man könne auch Druckprodukte nach dem Gebrauch bequem kompostieren und somit nicht nur einen technischen, sondern darüber hinaus auch einen biologischen Kreislauf schließen. Die Internationale Forschungsgemeinschaft Deinking-Technik e. V., INGEDE, wurde 1989 von führenden
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Cradle to Cradle bewertet nach einem Stufenprinzip, wie gut das Nachhaltigkeitsziel erreicht wird, in endlosen Kreisläufen zu produzieren.
Herr Fischer, was halten Sie von Cradle to Cradle im Printbereich? Das Konzept mag ein guter Ansatz für Modeartikel, Fernseher oder Fahrräder sein – hier können die Artikel entweder technisch oder biologisch (im Falle der Mode) in den Kreislauf zurückgeführt werden. Bei Papier und Druck ist das anders. Schlimmstes Beispiel ist für mich die C2C-Zertifizierung von Steinfolie. Das ist eine Mischung aus Gesteinsmehl und Plastik, für die die Bezeichnung Steinpapier gar nicht zutrifft, weil es nicht eine einzige Faser enthält. Das ist nicht einmal mit Bauschutt zu entsorgen, das kann man nur noch verbrennen, daran ist gar nichts nachhaltig. Ist C2C also Unsinn bei Druckerzeugnissen? Als zusätzliche Eigenschaft mag C2C noch okay sein, wenn ein Produkt ansonsten einem richtigen Umweltzeichen wie dem Blauen Engel oder dem EU-Ecolabel entspricht. Aber C2C darf kein Alibi für fehlende Rezyklierbarkeit sein, was es derzeit wird. Denn welche Druckerei vergräbt ihre Makulatur hinter dem Haus? Wer kompostiert seine alten Bücher? Bleiben wir beim Beispiel der Druckerzeugnisse. Der Papierkreislauf braucht ein gesundes
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Bei BerlinDruck
Nebeneinander von neuem und recyceltem Papier. Wie steht es damit? In Europa wurden im vergangenen Jahr 72 Prozent des Papiers recycelt. Diese sogenannte Recyclingquote bezieht sich auf den gesamten Papier-, Pappe- und Kartonverbrauch. In Deutschland sind das sogar 78 Prozent. Dafür muss sich ein Druckprodukt qualifizieren: Es muss optimal recycelbar sein, nicht kompostierbar oder essbar.
Was bedeutet Rezyklierbarkeit bei Papier genau? Wir müssen dafür sorgen, dass Druckprodukte auch rezyklierbar bleiben, dass man daraus wieder weißes Papier machen kann. Das gewährleistet das C2C-Prinzip nicht. Druckfarben sollten deinkbar sein, sich also beim Recycling von den Fasern ablösen und aus der Fasersuppe entfernen lassen. Und das sind viele Cradle-to-Cradlezertifizierte Druckfarben gerade nicht. Das Gegenteil ist der Fall: Bisher wurden eine Reihe von Druckfarben, die nicht deinkbar sind und sich deshalb nicht für Druckprodukte mit einem Blauen Engel eignen, für Cradle to Cradle angemeldet, um wenigstens irgendein Umweltzeichen zu haben. Das ganze Verfahren ist intransparent und teuer, viel teurer als ein richtiges, also ISO-konformes Umweltzeichen. Im Gegensatz zum Blauen Engel gibt es bei C2C keine öffentliche Diskussion der Kriterien – es ist ein privates, kommerzielles Zeichen, ein Geschäftsmodell. Um nicht zu sagen Greenwashing. Leider springen aktuell einige Marktteilnehmer teils aus Unkenntnis, teils aus Verzweiflung auf diesen Zug auf. Herr Fischer, vielen Dank für diese erhellenden Ausführungen. D
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Ausstellung in Bregenz, Österreich
Sagmeister & Walsh: Beauty Mit ihrem Ausstellungsprojekt Beauty liefern der in New York lebende Vorarlberger Grafiker Stefan Sagmeister und die USamerikanische Grafikdesignerin Jessica Walsh ein eindrucksstarkes multimediales Plädoyer für die Lust am Schönen. Die Ausstellung lotet aus, wovon sich Menschen angezogen fühlen und welche positiven Effekte Schönheit haben kann. Anhand von Beispielen aus den Bereichen Grafik, Produktdesign, Architektur und Stadtplanung demonstrieren Sagmeister & Walsh, dass schöne Objekte, Gebäude und Strategien nicht nur mehr Freude machen, sondern tatsächlich auch besser funktionieren. Die Moderne hat die Schönheit abgeschafft. Das ist eine Kernaussage der Ausstellung, bezogen auf gestalterische Fragen natürlich. Überall sehen Stefan Sagmeister und Jessica Walsh, wie Gestalter:innen die Schönheit auf dem Altar der Funktionalität
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geopfert haben. Und funktional ist, was den Zweck erfüllt, und das möglichst billig. Sagmeister macht den Beginn dieser Entwicklung im frühen 20. Jahrhundert fest, als der Wiener Architekt Adolf Loos 1913 in seinem berühmt gewordenen Vortrag „Ornament
Hedda Berlin Tel. +49 (0) 421 43871 - 0 hedda@berlin.sc Reinhard Berlin Tel. +49 (0) 421 43871 - 0 reinhard@berlin.sc Sonja Cordes Kalkulation und Auftragsmanagement Tel. +49 (0) 421 43871 - 21 sonja.cordes@berlindruck.de Björn Gerlach Kundenberatung Tel. +49 (0) 421 43871 - 24 Mobil +49 (0) 172 9438717 bjoern.gerlach@berlindruck.de Nele Gores Mediengestalterin Tel. +49 (0) 421 43871-22 nele.gores@berlindruck.de Katrin Harjes Kalkulation und Auftragsmanagement Tel. +49 (0) 421 43871-30 katrin.harjes@berlindruck.de Stephan John Kalkulation und Auftragsmanagement Tel. +49 (0) 421 43871-25 stephan.john@berlindruck.de
und Verbrechen“ alles Schmückende, dem Auge Schmeichelnde als spießig abtat. Die Kunst habe in jenen Jahren die Kategorie des Schönen aus ihrem Reich verbannt.
Dirk Lellinger Betriebsleiter Tel. +49 (0) 421 43871-23 Mobil +49 (0) 172 8843717 dirk.lellinger@berlindruck.de Rolf Mammen Buchhaltung, EDV Tel. +49 (0) 421 43871-20 rolf.mammen@berlindruck.de
Sagmeister & Walsh: Beauty 9. April-16. Oktober 2022 Vorarlberg Museum, Bregenz
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Frank Rüter Geschäftsführer Tel. +49 (0) 421 43871-15 frank.rueter@berlindruck.de Ilka Smelt Mediengestalterin Tel. +49 (0) 421 43871-50 ilka.smelt@berlindruck.de
Vorschau #11 Unsere Sommer-Ausgabe #11 hat das Thema „Schönheit!“. Sie liege im Auge des Betrachters, sagt man. Schönheit sei ein Merkmal von Objekten, das die Wahrnehmung dieser angenehm mache. Wir sprechen mit Karoline Herfurth über ihre filmische Spurensuche nach Schönheit. Und welche Rolle spielt Schöngeist bei der Gestaltung, Herr Stefan Sagmeister? Ist Schönheit eine Frage der Machbarkeit, eine Frage talentierter und motivierter Designer:innen? Wer definiert eigentlich, was schön ist, Frau Miku Sophie Kühmel? Und wie prägt der Kult um die Schönheit unser Leben? Freuen Sie sich auf namhafte Autor:innen und spannende Interviewpartner:innen in Heft #11. Wir freuen uns auf Ihre Anregungen und Ihr Feedback – gern an: passion@quintessense.de
„Die Ästhetik eines Designs fesselt und bezaubert den Betrachter. Denn das Streben und das Bedürfnis nach Schönheit ist uns Menschen angeboren“, meinte 1999 der Grafikdesigner Wolfgang Beinert.
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Essay
#10 | 22 | Passion
Ein Essay von Samira El Ouassil
Die Verzählung der Zukunft
Das Magazin, das Sie soeben in Ihren Händen halten, bleibt im Verlauf seiner Lektüre unverändert – aber Sie werden sich verändern, denn die hier enthaltenen Deutungsangebote besitzen transformative Kräfte. Es handelt sich um Erzählungen über Ihre Wirklichkeit, um Narrative zur Einordnung des Weltgeschehens. Sie bestimmen den Kern unseres Wesens, das – kognitiv bedingt und von uns unbeeinflussbar – in Kausalitäten und Chronologien denkt. Durch Erzählungen wird das konstruiert, was wir als unser Selbst wahrnehmen, sie strukturieren unsere Wahrnehmung, sie statten sie mit Sinn aus. Eine Antwort auf die Frage, wer wir sind, könnte lauten: Wir sind Geschichten, die wir uns gegenseitig erzählen, über uns und unsere Welt. Wenn es stimmt, dass „das Leben nur rückwärts verstanden werden kann, aber vorwärts gelebt werden muss“, wie der Philosoph Søren Kierkegaard meinte, dann gilt: Je besser wir „rückwärts verstehen“, desto besser werden wir leben können. Der Schlüssel zum „Vorwärtsleben“ liegt darin, Narrative für die Vorstellung einer zukünftigen Welt zu schaffen. Aber wie können wir mithilfe einer wirkmächtigen Erzählung unsere Zukunft gestalten, wenn die Herausforderungen der Zukunft unnarrativierbare Monster sind, die mit keiner Geschichte eingefangen werden können? Die Klimakrise ist solch ein Ungetüm, das uns an die Grenzen unserer geistigen Fähigkeiten bringt. Aus narrativer Sicht ein Biest, das intellektuell von uns nicht gezähmt werden kann. Es existieren in ihr keine klaren Antagonisten, keine leicht erzählbaren Konflikte, keine eindeutigen geografischen Schauplätze. Im Kampf gegen die Erderwärmung liegt der tiefste Punkt einer möglichen Heldenreise irgendwo in der Zukunft. Zudem handelt es sich um eine Herausforderung, die in Zeitlupe stattfindet. Es ist ein Schwertkampf gegen einen vielköpfigen Drachen, den wir als Gesellschaft seit Jahrzehnten unbemerkt ausfechten, während wir die Kreatur gleichzeitig täglich füttern. Eine Rettung erreichen wir nur, indem wir verhindern, dass der tiefste Punkt unserer Heldenreise, die Katastrophe, überhaupt erst eintritt. Das jedoch ist nicht besonders heroisch, denn wie wir spätestens seit der Corona-Krise wissen: There is no glory in prevention. Das gilt auch für die Klimakrise. Diese ruhmlose Prävention bedarf einer aktiven, genauer gesagt, proaktiven
transformatorischen Leistung unsererseits. Wir müssen uns selbst wandeln, bevor uns die Herausforderungen unserer Umwelt dazu zwingen, ohne dass wir auf Ruhm hoffen dürfen. Zugleich wirkt die präventive Aktion, die allein etwas verhindern, nie jedoch etwas grundsätzlich Neues hervorbringen will, wie eine schlechte Wahl. In diesem Handlungslimbus eines Helden, der schon weiß, was ihn im zweiten Akt erwartet, der den Ruf zum Abenteuer jedoch noch gar nicht angenommen hat (vielleicht auch, weil er ihn tatsächlich niemals annehmen möchte), befinden wir uns gegenwärtig. Wir, die Gesellschaft eines ganzen Planeten. Leider, so muss man sagen, haben wir noch nie eine Klimakrise erlebt. Deshalb hatten wir auch noch nie die Möglichkeit, an ihr zu scheitern, um schließlich klüger und stärker aus ihr hervorzugehen. Ein weiteres erzählerisches Dilemma liegt darin, dass im Kampf gegen den menschengemachten Klimawandel mit enormem Aufwand bestenfalls unser heutiger Status quo bewahrt werden soll. Für einen Teil der Gesellschaft liegt die Hoffnung einer weiterhin bewohnbaren Welt nicht in ferner Zukunft, sondern im Erhalt des gegenwärtigen Komforts. Die von manchen ersehnte Utopie ist, dass sich nichts verändern muss. Die Utopie ist offenbar eine Verzählung. „Der Mensch ist eine Maschine, die ihre Lebenswelt kollektiv erfindet“, sagt der Psychologe Wolfgang Prinz. Also müsste es doch auch möglich sein, dass wir diese entfinden und neu bauen. Nur wie? Vielleicht lassen sich diese Fragen am einfachsten beantworten, wenn man vom Ende her denkt, und zwar ausnahmsweise mal optimistisch. Wie sähe ein mögliches Happy End aus? Als Held:innen unserer eigenen Geschichte müssten wir etwas in uns entdecken, das uns in Handlung versetzt und vor uns eine neue Wirklichkeit entfaltet, die immer schon in uns steckte. Der narrative Trick muss sein, nicht eine Welt, die anders sein könnte, als wahrhaftige Utopie für unser Happy End zu imaginieren, sondern zu verstehen, dass die jetzige Welt ohne eine tiefgreifende Veränderung ein Ort ohne Zukunft ist. Klingt dystopisch? Nun, auch dieser Text hier ist nur eine angebotene Erzählung über unsere Zukunftsnarrative, die spannende Frage ist jedoch: Hat die Lektüre Sie verändert? D
Samira El Ouassil, 37, ist Kolumnistin, Schauspielerin und Autorin. Sie hat Kommunikationswissenschaft studiert und eine Schauspielausbildung absolviert. El Ouassil ist Kolumnistin bei Übermedien und beim SPIEGEL. 2019 erhielt sie den Bert-DonneppPreis für Medizinpublizistik und wurde jüngst vom Medium Magazin zur Kulturjournalistin des Jahres gekürt.
Samira El Ouassils aktueller Bestseller, Erzählende Affen, erschien 2021 im Ullstein Verlag. 528 Seiten, 25,– Euro ISBN 978-3550201677
Passion | #10 | 22
VIELFALT LEBEN!
LESEFREUDE WECKEN! BILDUNGSCHANCEN STEIGERN!
Das mehrsprachige Bücherkoffer Programm von coach@school e.v. steigert die Bildungschancen aller Kinder. Er fördert die Lesefreude der Kinder, ermöglicht Eltern das Vorlesen in ihrer Herkunftssprache und in den Bildungseinrichtungen fördern pädagogische Fachkräfte Mehrsprachigkeit/Vielfalt. Das Programm ist evaluiert, mehrfach ausgezeichnet, in mehreren Bundesländern bereits skaliert und steht unter der Schirmherrschaft von Cornelia Funke.
Alle Informationen gibt es auf unserer Website. www.coachatschool.org 44 | MF
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