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Dem Zukünftigen real begegnen –

Ein Gespräch zwischen Tobias Richter und Leonhard Weiss

Tobias Richter: Lieber Leonhard, das letzte Mal hatten wir uns unterhalten über das Thema „Dankbarkeit“, jetzt sag mal du, über welches Thema wir uns heute austauschen wollen?

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Leonhard Weiss: Ich hab’ es jetzt mal für mich mit „AktivWerden“, „Tätig-Werden“, „Machen“ gefasst. Auf jeden Fall alles Themen, die meinem Verständnis nach viel mit dem zu tun haben, was Steiner „Wille“ nennt. Und damit ist ein Motiv berührt, das für das waldorfpädagogische Selbstverständnis sehr zentral ist: Schule hat die Aufgabe von „Willenserziehung“ – was auch immer damit gemeint ist …

TR: Wenn ich versuche, eine kleine Brücke zu schlagen zu dem Thema Dankbarkeit, dann fällt mir ein, dass Steiner in seinem Lehrerbildungskurs am vierten Tag über den ersten Schultag spricht. Er extemporiert eine erste Schulstunde. Dabei hat er ErstklässlerInnen vor sich und spricht ungefähr so: „Ihr kommt also in die Schule, um etwas zu lernen und habt zwei Hände, eine rechte Hand und eine linke. Die Hände habt ihr zum Arbeiten, damit könnt ihr allerlei machen.“ Und im weiteren Verlauf dieser imaginären Schulstunde geht es meiner Meinung darum, den Kindern zu zeigen, dass sie dankbar sein dürfen, zwei Hände zu haben, mit denen sie etwas machen können: Welt verändern, Welt gestalten – eben auch das machen, was die Großen machen. Da gibt es so einen Motivstrang, der da durch geht, denn Steiner lässt nun diese imaginierten Kinder gleich etwas an der Tafel machen: Eine gerade Linie und eine gebogene Linie sollen sie zeichnen. Er redet nicht über das Machen, sondern lässt die Kinder etwas machen, etwas zeichnen. Und so fängt die Schulbiografie von Generationen von WaldorfschülerInnen an: mit Machen und Dankbarsein, dass man etwas machen kann.

LW: Ja, diese Verbindung ist interessant, weil Dankbarkeit sich ja immer auf etwas bezieht, was schon war oder ist: Ich kann dafür dankbar sein, dass ich zwei Hände (bekommen) habe und damit so tätig werden kann, wie es die Großen können und dabei vielleicht sogar etwas schaffen, was die Großen bis jetzt noch nicht konnten. Zum „Willen“ gehört aber bei Steiner doch immer auch ein Zukunftsaspekt dazu. Im Willen werden wir von dem angesprochen, was noch nicht da ist. Man könnte sagen, die Zukunft „zieht“.

TR: Natürlich! Es geht um die Zukunft – und für das Kind ist das Können der Erwachsenen die erste, die nächste Zukunft. Wenn dies erreicht ist, geht es nicht darum, das zu überwinden, zu übersteigen? Du hast gesagt, dass Steiner das Machen immer in Verbindung mit dem Willen sieht und den Willen verbunden mit dem Zukünftigen. Da gebraucht er solche Formulierungen, dass Wille in seinem Zukunftscharakter immer so etwas wie ein „Keim“ sei, der nie ausgeschöpft werden kann. Er ist inhaltslos. Wir können dem Willen Inhalt geben, ihm Anlässe zu seiner Realisierung schaffen im Machen, Gestalten, Bewegen, Denken usw. usw. Aber wie das Meer nach stürmischer Tätigkeit wieder glatt ist, so ist auch der Wille immer wieder rein, bereit zu neuen Aktionen, bereit, einen zu neuen Ufern zu tragen. Er bleibt also nicht „besetzt“.

LW: Möglicherweise stellt Steiner deswegen in der Menschenkunde das Willenshafte dem Vorstellungsmäßigen gegenüber. Was sich aus einem Keim alles entwickeln kann, das geht oft über das hinaus, wovon wir uns zunächst konkrete Vorstellungen machen. Daher ist ein Keim nicht einfach ein Ausläufer oder eine Fortsetzung.

TR: Du hast dich jetzt ja auf zwei Vorträge der Allgemeinen Menschenkunde bezogen, in denen „Wille“ versus „Vorstellung“ beschrieben wird, und es ist dann irgendwie konsequent, wenn Steiner im weiteren Verlauf des Kurses meint, dass, wenn man eine Zukunftspädagogik begründen will, man ein genaues Bild braucht von dem, was Wille ist, den er dann in sieben Stufen charakterisiert: vom Instinkt über Trieb, Begierde zum Motiv, Wunsch, Vorsatz, Entschluss. Schließlich möchte diese Pädagogik etwas in die Welt bringen, was es vorher noch nie gegeben hat. Vielleicht ist das Signum der Waldorfschulen, dass es neben so einer Rindenund Stammbildung – zu der auch all die Traditionen gehören – auch permanent neue Keime geben muss, die die Pädagogik weiter impulsieren, damit diese Offenheit am Leben erhalten wird.

LW: Allerdings könnte man natürlich auch sagen, dass, wenn Generationen von WaldorfschülerInnen die erste Schulstunde in gleicher Weise erleben, hier etwas doch schon recht fest geworden ist. Das gehört vielleicht zur Rindenbildung…

Was mir bei der Gegenüberstellung des Vorstellungshaften und Willenshaften auch wichtig erscheint, ist, dass das Vorstellungsmäßige stärker die Gefahr des Egoismus in sich birgt, weil wir uns leicht Vorstellungen bilden von dem, was wir kennen und auch von dem, was wir für uns vielleicht wollen, wogegen das Willenshafte, das Keimhafte offener ist für Impulse, die von außen kommen und vielleicht zunächst nicht im eigenen „Interesse“ sind. Mir scheint dies ein großes Thema unserer Zeit zu sein: der Gegensatz zwischen dem egoistisch Vorstellungshaften und dem zukunftsoffenen Willenshaften. Ganz banal zeigt sich das für mich in der aktuellen Diskussion über E-Fuels. Geht es vielen hier nicht einfach darum, eine Vorstellung zu finden, die uns erklärt, dass wir unser Leben so weiterführen können, wie wir es bisher getan haben, ohne auf etwas verzichten zu müssen, dass wir etwa ganz genauso bequem und oft Auto fahren können wie bisher? Das ist doch eine ziemlich eingeengte Vorstellung des Zukünftigen.

Dagegen versuchen gerade die jetzt protestierenden jungen Menschen zu zeigen, dass heutiges Handeln von dem ausgehen sollte, was die Zukunft braucht, nicht von dem, was wir, aus der Vergangenheit kommend, gewohnt sind.

TR: Ist denn nicht die Frage der Kinder oder Jugendlichen an uns LehrerInnen oder Eltern die: „Wie macht ihr denn das, wofür engagiert ihr euch?“ Sich da zurückzuziehen und zu meinen, „Die Zukunftsprobleme betreffen euch, nicht uns, die müsst ihr lösen“, gilt nicht! Die Erwartung, zu erfahren, wie wir uns selbst dazu verhalten, ist zutiefst berechtigt.

Für mich ist da interessant gewesen, dass mit aus dem Grund, sich dem Neuen gegenüber offen zu halten und situationsgemäß zu agieren, Steiner zwei Übmöglichkeiten anbietet: Das Eine ist die Selbstverwaltung von Organisationen wie z. B. Schulen. Dort kann erlebt werden, dass eine Organisation wie etwa eine Schule eine im Werden begriffene Struktur hat. Daran sollen sich LehrerInnen und damit befasste Eltern üben – mit allen Schwierigkeiten, die damit verbunden sind: Es gilt, professionell zu werden im Aufgreifen dessen, was werden will und werden muss und nicht, diese Herausforderungen einem Direktor umzuhängen, der dann sagt: „So wird’s gemacht!“ Dann verabschiedet man sich davon, dass es gilt, ein neues, ein richtigeres Modell zu finden. – Das Andere hängt mit dem von Steiner immer wieder benutzten Begriff der „Erziehungskunst“ zusammen: Wenn Unterrichten auch ein künstlerischer Akt, ein künstlerisches Ereignis sein soll, dann muss ich offen sein für das Zukünftige, für das, was es noch nicht gibt und dem ich zu seinem Erscheinen beistehen will. Was ja die Aufgabe für jeden Künstler ist. Dazu muss ich Formen suchen, Techniken finden, unterschiedliche „Sprachen“ kennenlernen, in denen es sich artikuliert, ein entsprechendes Klima schaffen, in dem es zur Erscheinung kommen kann… Kurzum: Beide, Selbstverwaltung und Erziehungskunst, hängen für mich mit dem Ziel zusammen, den Kindern und Jugendlichen erlebbar zu machen: Wir setzen uns mit Fragen auseinander, die aus der Zukunft auf uns zukommen und sind so auch Teil dieses Zukunftsstromes.

Besonders die Künste können einen immer wieder heranführen an das, was werden will. – Gerade gestern durfte ich im Eurythmieunterricht einer 11. Klasse dabei sein, in welchem die jungen Damen und Herren Eurythmie-Soli probten für eine Eurythmie-Performance mit eigenen Texten, mit selbstgewählten Musikstücken und Gedichten. Dabei konnte ich wahrnehmen, wie sie sich auch auseinandersetzen mit ihrem Können, das, was sie wollen, zu gestal- ten. Es gilt, sich zu disziplinieren, dieses Können zu entwickeln, um dem Zukünftigen – also ihrem Vorhaben – real zu begegnen.

LW: Ja, das ist oft das Schöne bei solchen Prozessen: Das Zukünftige ist offen, hat aber doch auch eine gewisse Ordnung in sich, die es zu entdecken gilt. Also muss man sich in beidem üben, in Offenheit und Gestaltungsfähigkeit. Offenheit heißt ja nicht, dass ich immer irgendwie wechsle, sondern dass ich zu erkennen versuche, welche Tendenz zu einer neuen Ordnung, zu einem neuen Sinn in der Zukunft liegt. Das scheint mir auch eine wichtige Polarität unserer Zeit zu sein.

Möglicherweise hat damit auch das von dir angesprochene Thema der ersten Schulstunde zu tun: das Erleben von gerader und gebogener Linie!

TR: Es ist ja interessant, dass nirgendwo geschrieben steht, man müsse die erste Schulstunde immer so machen, an allen Waldorfschulen! Steiner greift nach einem in seiner Einfachheit und Prägnanz anscheinend nicht zu überbietenden Beispiel, das nicht nur bei den Bedürfnissen des Kindes ansetzt, etwas gestalten zu wollen, sondern sofort zwei Gestaltungspolaritäten ins Spiel bringt: eine Gerade, zielgerichtet, eine eindeutige Richtung vorgebend, stringent, unerbittlich, klar usw. Wogegen eine gebogene Form sämtliche Möglichkeiten der Spannung, der Dynamik, des Hineinschwingens in einen Raum offenlässt. Steiner ist damit etwas eingefallen, das vielleicht mit der Polarität, von der du vorher sprachst – Vorstellungsmäßiges, Willenshaftes –, zu tun hat. Anscheinend „sitzt“ dieses Beispiel so, beinahe wie eine Naturerscheinung, dass man sich fragen muss: Warum soll Kindern das vorenthalten werden?

Aber gelobt sei der, der etwas Treffenderes findet – denn das wird es sicher geben, wenn man genügend sucht.

LW: Das ist doch ein schöner Schluss für ein Gespräch übers „Machen“: Ein Lob auf alle, die aus dem, was als Tradition da ist, etwas Neues entwickeln! ¶

Leonhard Weiss und Tobias Richter sind Dozenten am Zentrum für Kultur und Pädagogik.

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