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Vita Activa!
In ihrem Buch Vita Activa beschreibt die Philosophin Hannah Arendt die Bedeutung des bewussten Schrittes in den öffentlichen Raum. Dieser lässt das Individuum in seiner Menschwerdung reifen und ist unabdingbar für eine Offene Gesellschaft im Sinne des Philosophen Karl Popper.
Der Ansatz, dem individuellen Leben einen Sinn fürs Gemeinwohl zu geben, begleitet mich auch als Lehrerin und ist Kern der politischen Bildung. Es beginnt mit dem Buchstabieren der Politik: Was ist der Nationalrat, was der Bundesrat, das Präsidium, das stenographische Protokoll, der Ordnungsruf? Was ist eine parlamentarische Anfrage, die Erste Lesung, ein Ausschuss, eine NGO? Warum ist die Gewaltenteilung wichtig? Wie entsteht ein Gesetz? Wie setzen sich Klub, Partei und Akademie sowie Landtage zusammen? Was ist die Verfassung? Welche Werkzeuge der Bürgerbeteiligung gibt es?
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In der 10. Klasse stehen auch Besuche von Parlament und ORF sowie ein fiktiver Wahlkampf am Programm: Gründung von Parteien mit Wahlprogramm, Slogans, Plakaten, politischer Rhetorik, „Elefantenrunde“, Interview der Parteispitzen durch „Armin Wolf“ und die Wahl selbst.
Strahlende SiegerInnen und überraschende Wahlniederlagen inklusive.
In der 11. Klasse steht das Erfassen von tagespolitischen Zusammenhängen im Vordergrund: von der Kryptowährung über Österreichs Abstieg im internationalen Ranking der Pressefreiheit bis zum Gerrymandering in den USA. Der zweite Schwerpunkt umfasst die ersten Schritte ins Projektmanagement, da Politik immer auch Management ist. Wer organisieren kann, kann die Welt mitgestalten. Der dritte Schwerpunkt ist die Gründung eines Vereines. Da Vereins- und Parteirecht quasi deckungsgleich sind, können die Jugendlichen danach reale Vereine und Parteien gründen. Ein Werkzeugkoffer für die eigene Vita Activa.
Der öffentliche Raum ist auch immer Raum für Kunst. So war es ein Glück, dass unsere Schülerin Maryna Marmazinskaja alias KüR den FM4 Protestsongcontest gewann. Als jüngste Gewinnerin und mit der höchsten Punktezahl ever! Das Event im Rabenhof gedenkt seit 20 Jahren der Kämpfe am 12. Februar 1934 und dem Beginn des Austrofaschismus. Neben Jury-Bewertungen wie „Bombe!“ und „Gänsehautmomente“ begründete Sigi Horn das überwäl- tigende Voting mit folgenden Worten: „Sie hat uns dort abgeholt, was wir alle kennen. Menschen gehen spazieren, verlieben sich, es ist schön, und dann sagt sie einfach nur: Es sind Menschen. Alles, was sie nicht sagt, sind Sachen, die wir wissen, die wir in den Nachrichten lesen, und genau da erwischt sie uns. Mit den Sachen, die sie nicht sagt. Und das ist so großartiges Songwriting“.
Dem ist nichts hinzuzufügen, und es sei lediglich erwähnt, dass Maryna ihr berührendes Friedenslied Ljudi (Menschen) zwei Tage später im Parlament sang, am 24. Februar 2023 vom Wiener Bürgermeister zum Empfang in den Roten Salon des Rathauses geladen wurde und das Lied vor dem Parlament vor 10.000 Menschen performte. Gigs am Wiener Kultursommer (7.7. um 18:30 am Herderplatz) und in Deutschland werden folgen. Vita Activa als musikalisches Kleinod.
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Und dann gibt es noch das Tanzen. Spätestens seit Rolando Toro, dem chilenischen Begründer des Biodanza, kennen wir die Kraft des Tanzens im öffentlichen Raum. Die 11. Klasse studierte die Choreografie von Break the Chain ein. Der Tanz ist Bestandteil der internationalen Kampagne One
Billion Rising, die 2013 von der New Yorker Künstlerin Eve Ensler ins Leben gerufen wurde. Seither wird Break the Chain am Valentinstag als vitaler Protest gegen Gewalt an Frauen und Mädchen auf allen Kontinenten getanzt. Wir tanzten zum 10-Jahres-Jubiläum im historischen Sitzungssaal des Parlaments und lauschten dann gemeinsam mit der 10. Klasse internationalen Speakerinnen, die über die Situation ihrer Länder berichteten. So gibt es in Österreich, dem europäischen Frauenmordland Nr. 1, monatlich zwei bis drei Femizide. Getanzte Vita Activa, um patriarchale Strukturen aufzubrechen und Menschenleben zu retten.
Die 9. Klasse beschäftigte sich währenddessen eurythmisch mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Für manche das wichtigste Schriftstück der Menschheit. Geronnen aus leidvollen Erfahrungen und aus dem hellen Geist von Vernunft und Menschlichkeit geschrieben, sind die Absätze geradezu prädestiniert, getanzt zu werden. Denn, so Hannah Arendt: „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen.“ ¶
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Selbst wirksam werden
Lieber Lorenz, kannst Du uns kurz Deinen eingeschlagenen Lebens- und Bildungsweg nach Abschluss der Rudolf Steiner-Schule Wien-Mauer schildern?
Ich habe einen Bachelorabschluss in Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien und absolviere derzeit den Master dieses Studiengangs in den Fachbereichen Klima und Regionale Entwicklung. Zwei Jahre war ich bei Global2000 engagiert und habe dort verschiedene Veranstaltungen zur Bewusstseinsbildung mitorganisiert. Ab Ende 2021 war ich dann bei der Regionalgruppe Wien der Gemeinwohlökonomie aktiv und seit September 2022 bei der Letzten Generation. Dort bin ich derzeit Mobilisierungskoordinator, organisiere und halte Vorträge und war schon an vielen Straßenprotesten beteiligt.
Du bist Teil der „Letzten Generation“, die gegen die Ignoranz gegenüber dem Klimawandel kämpft und durchaus Anfeindungen ausgesetzt ist, als „Klima-Kleber“ – was für eine außerordentlich blöde Wortkreation! – bezeichnet wird und im medialen Widerhall anfangs mehr negativ als positiv dargestellt wurde. Warum stellte die „Letzte Generation“ die Möglichkeit dar, die Du ergriffen hast, um gegen das NichtsTun von Politik und Gesellschaft anzugehen?
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Im Sommer letzten Jahres haben mich einige Klimapolitikseminare und gleichzeitig die schockierenden Nachrichten über die derzeitigen Auswirkungen der Klimakrise dazu bewegt, in den zivilen Widerstand zu gehen. Es hat mir nicht mehr gereicht, Bewusstseinsbildung zu betreiben, denn auch die Dringlichkeit zu handeln wurde mir immer klarer. Wir stehen vor der größten Menschheitsherausforderung und kurz vor dem Kollaps des Klimasystems der Erde.
Bei der Letzten Generation habe ich das Gefühl, selbst wirksam zu sein, etwas bewegen zu können. Lieber würde ich normal demonstrieren, doch die Nachricht an die Politik, endlich wirksame Maßnahmen zu setzten, darf nicht länger ignoriert werden können. Deswegen braucht es jetzt zivilen Ungehorsam und entschlossene Menschen, die auch bereit sind, Strafen und Gefängnisaufenthalte in Kauf zu nehmen.
Für mich ist der gewaltfreie Protest eine Möglichkeit, meinen Politikverdruss und die Wut über die Untätigkeit der Regierung zu kanalisieren. Ich möchte meine Verantwortung als privilegierter Mensch hier in Europa wahrnehmen und einsetzten. Bei der Letzten Generation kann ich das, gemeinsam mit einer starken Gemeinschaft, mit der ich mich inzwischen sehr verbunden fühle.
In letzter Zeit habe ich das Gefühl, dass die Stimmung gegenüber der Letzten Generation in der Allgemeinheit besser wird. Ihr hattet ja gerade eine Aktionswoche in Wien. Hast Du das Gefühl, dass Eure Aktionen die Politik langsam in Bewegung bringen?
Es stimmt durchaus, dass wir immer mehr Solidarisierung erfahren. Auf der Straße, wo z.B. RadfahrerInnen uns bei der Blockade zujubeln, aber auch in der Politik. Die Stadt Bregenz hat sich bereits offiziell hinter unsere Forderungen gestellt und diese an die Regierung herangetragen. Auch die Wissenschaft steht hinter uns. Regelmäßig beteiligen sich führende KlimawissenschaftlerInnen an unseren Protesten und zeigen ihre Unterstützung.
Aber auch zivilgesellschaftliche Organisationen wie z.B. viele „For Future“-Bewegungen gehen inzwischen mit uns auf die Straße.
Auf der anderen Seite sehen wir natürlich immer häufiger die Äußerungen von ÖVP-PolitikerInnen nach härteren Strafen. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese eingeführt werden, ist jedoch sehr gering.
Wie gehst Du mit Aggressionen um, die Dir bei Deinen „Einsätzen“ sicher begegnen? Und erlebst Du auch positive Rückmeldungen?
Ich versuche, mich nicht von Aggressionen abschrecken zu lassen. Ich kann die Wut der AutofahrerInnen ja verstehen, aber leider bekommt der Protest nur so genügend Aufmerksamkeit. Die Medien berichten auch deswegen darüber, weil es eine Debatte auslöst und eine Störung verursacht wird. Viele PassantInnen bekräftigen jedoch oft, wie wichtig dieser Protest ist und vermitteln uns ihre Dankbarkeit. Generell steigt die Zustimmung. Gleichzeitig ist es uns aber egal, ob man unsere Blockaden gut findet oder nicht. Solange das Thema auf der Agenda ist und politischer Druck entsteht, können die Menschen unsere Methode auch verteufeln. Die Letzte Generation ist eine Art Feueralarm. Entweder wir handeln jetzt sofort oder haben für Jahrtausende lebensfeindliche Bedingungen auf diesem Planeten. Wenige wollen so etwas hören. Viele verdrängen oder verleugnen das Pro- blem. Das ist nachvollziehbar, da wir einerseits in einem fossilen Wirtschaftssystem leben und gleichzeitig sehen, wie diese Art des Zusammenlebens unsere Welt zerstört. Durch unsere Aktionen sind wir der Überbringer schlechter Nachrichten, und dass dadurch Aggressionen entstehen, ist verständlich. Wir bieten den Menschen oft eine Projektionsfläche für viele verschiedene Emotionen.
In den letzten Monaten habe ich Dich ein paar Mal in den Nachrichten und in einer ORF-Reportage gesehen. Wie erging es Dir damit, Dich da selbst zu sehen? Hattest Du das Gefühl, dass das verwendete Material dem gerecht wurde, was Du sagen wolltest? Oder fehlten Dir da Teile Deiner Aussagen, die Dir aber wichtig gewesen wären?
Oft bleibt in Interviews nur so viel Zeit, dass ich die wichtigsten Inhalte und Zusammenhänge erklären kann. Manchmal kommt es auch vor, dass ich gern mehr sagen wollen würde, als dann möglich ist. Generell versuche ich einfach jede Chance zu nutzen, um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen und die Aktivitäten der Letzten Generation in Kontext zu setzen.
Wir veranstalten jede Woche ein Krisengespräch in Wien, bei dem wir auch detaillierter erklären, wie der Ist-Zustand der Klimakrise aussieht, was ziviler Ungehorsam bedeutet und was wir als Letzte Generation für Schlüsse daraus ziehen.
Gibt es etwas, das Du uns noch verbal mitgeben möchtest, als SchülerInnen, Eltern und PädagogInnen?
Ich würde mir wünschen, dass sich mehr Menschen für unsere Zukunft einsetzen. Egal in welcher Position, es gibt immer Möglichkeiten, an Lösungen zu arbeiten, wie wir kollektiv die Klimakrise eindämmen und unsere Lebensgrundlagen schützen können. ¶
Lorenz Trattner ist ehemaliger Schüler unserer Schule. Nachgefragt hat Nadja Berke.
Gemeinschaftsgeist verlebendigen
„Heilsam ist nur, wenn im Spiegel der Menschenseele sich bildet die ganze Gemeinschaft und in der Gemeinschaft lebet der Einzelseele Kraft.“
Rudolf Steiner
Wie können wir als einzelne Individuen etwas zur Gemeinschaft, die im Waldorfkindergarten lebt, beitragen? Jede/r einzelne von uns hat einen oft getakteten Alltag zu beschreiten, und am Ende des Tages bleiben keine Initiativkräfte mehr, um noch etwas für sich oder gar für die Gemeinschaft zu tun. Die Beziehung zwischen Eltern und Kind, Kind und PädagogIn sowie PädagogIn und Eltern ist uns sehr wichtig. Wenn wir mit den Kindern in der Gruppe arbeiten, haben wir stets die ganze Familie dabei. Durch die Gespräche, wenn auch kurz, wissen wir um die Not und kennen sowohl die Bedürfnisse als auch die Sorgen.
Wie können wir helfen, einerseits den Wunsch nach einer Gemeinschaft zu erfüllen, andererseits als Gemeinschaft zu wachsen und etwas gemeinsam für uns zu schaffen?
Von der „Gatschküche“ zum „Erdenreich“
Schon vor längerer Zeit ist bei uns im Kindergarten der Wunsch nach einer „Gatschküche“ für den Garten entstanden. Am ersten Wochenende nach den Osterferien war es dann soweit. Beim Gartentag der Kindergartengruppe 3 kamen fleißige HelferInnen zusammen und gruben, schaufelten und schwitzten. Erde wurde ausgehoben, gestampft, fein gerecht und sorgfältig verteilt. Eine lustig-leichte Stimmung kam auf und belebte den Garten an diesem Samstagvormittag mit
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Die drei Kolleginnen dieser Gruppe, Esther Schmidt, Xu Chen und Claudia Tiedge, hatten im Vorfeld alles gut durchdacht und vorbereitet. Die Lage im seitlich-hinteren Bereich des Gartens erlaubt den Kindern, sich auf das Spielen zu konzentrieren, ohne beim Graben, Bauen und Gatschen unterbrochen zu werden. Auch der Weg zum Wasseranschluss ist nicht weit. Baumstämme für die Begrenzung waren vorhanden und wurden eingegraben. Erde gibt es dort in Hülle und Fülle. Rundherum darf nun ein neuer Rasen wachsen.
Anfangs dachten wir, dass „Gatschküche“ zwar nicht besonders schön klingen würde, aber dass es genau das sein soll. Denn Gatsch wird über kurz oder lang auf jeden Fall entstehen, und wir sind uns sicher, dass dort ordentlich gerührt, in Kübelchen gefüllt, umgeleert und mit kleinen Sandförmchen „gebacken“ werden wird. Darum dann die „Küche“.
Am Ende des Tages waren wir jedoch mit dem Namen gar nicht mehr so recht zufrieden, denn es war durch das gemeinsame Tun ein ganz besonderer Platz in unserem Garten entstanden: Ein wunderschönes „Erdenreich“ ist entstanden, in dem sich die Kinder ganz gewiss sehr wohl fühlen werden.
Vom Kopf bis zum Fuß
Mit unserem Gartenprojekt „Erdenreich“ wollten wir nicht nur einen schönen Spielort schaffen, sondern den Kindern – im wahrsten Sinn des Wortes – helfen, sich zu erden. Durch das Tätigsein in der reinen Natur schärfen die Kinder ihre Sinne. Da das junge Kind ganz Sinnesorgan ist, will es sich mit dem ganzen Körper bewegen, mit Händen und Füßen tätig sein, seine Umwelt ergreifen und begreifen. Die schönsten Spiele entstehen dort, wo es „nichts“ zum Spielen gibt, es aber sinnlich stark angeregt wird. Unser „Erdenreich“ ist dafür geschaffen.
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Alle Sinne werden angeregt: Hören, wie die Erde „krümelt“, wenn sie trocken ist, wie der Gatsch „schmatzt“, wenn er nass ist. Die Augen erleben, wie sich die Farben verändern, wie das Wasser von klar zu braun changiert. Kinder erleben den erdigen trockenen Geruch bis hin zum vielleicht modrigen Gatsch. Trockene Erde in den Händen und an den Füßen fühlt sich anders an als nasser Gatsch, wenn er mit den bloßen Händen und Füßen erlebt wird. An warmen Tagen ist der Boden anders, als wenn der Frost ihn hart gemacht hat.
Und durch all diese Sinneserfahrungen und das Tun mit und in der Erde kann sich das Kind mit dem Ur-Element Erde verbinden und so auf der Erde ankommen.
Wir freuen uns schon auf die warmen Tage, an denen wir auch mit nackten Füßen so richtig ins Erleben eintauchen können. ¶
Sachen MACHEN lassen
von Verena Ott
Wenn ich an den Überbegriff „Machen“ denke, dann fällt mir zunächst mein Erstklässler ein, wie er seine Hausübungen erledigt. Manches ganz ruhig und gewissenhaft und anderes wieder schnell und hudelig – Hauptsache, es wird gemacht. Ein Lernprozess der Erstklasskinder ist ganz bestimmt der, dass einige Dinge eben gemacht werden sollen. Viel wichtiger allerdings empfinde ich den Prozess, dass etwas entstehen und gedeihen darf. Sich mit einer Sache beschäftigen und durchhalten oder üben, bis es gelernt wurde, dass ist der Prozess, den es braucht, um etwas gut zu machen. Viel Übung, Geduld und Fleiß benötigt der Mensch, um Dinge gut und richtig zu erledigen. Geben wir uns allen also die Zeit und den Raum, um üben zu dürfen. Man muss eben auch Fehler machen (dürfen).
Unsere Kinder sind nun angekommen und dürfen neue Erfahrungen „machen“, viele neue Dinge lernen, Freundschaften schließen, als Klasse zusammenwachsen und gedeihen. All das passiert in einem ersten Schuljahr und viele Jahre darüber hinaus, denn manche Dinge kann man eben auch nicht zu Ende bringen oder fertig machen. Manches ist ein Prozess, der immer andauert. So hoffe ich auf noch viele schöne weitere Jahre des gemeinsamen „Tuns“ für unsere großartigen Kinder. ¶
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Verena Ott ist Mutter in der 1. Klasse.