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Erosionen bei Personen mit Essstörungen

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Essstörungen, gemeint sind hier die Anorexia Nervosa und die Bulimia Nervosa, können nicht nur mit gravierenden körperlichen Folgen wie Elektolystörungen und einer Knochendichteminderung einhergehen, sondern auch mit erheblichen Schäden an der Zahnhartsubstanz. Diese können zu einer Verschlechterung der Gesamtsituation essgestörter Patientinnen* beitragen.

Prof. Dr. med. dent. Nadine Schlüter 1 ,

Maxi Müller 1 ,

Prof. Dr. med. dent. Almut Zeeck 2

Laut internationaler Klassifi kation der Erkrankungen (ICD10) gibt es verschiedene Gruppen von Essstörungen [1]. Die Hauptgruppen sind die Anorexia Nervosa (Anorexie, AN) und die Bulimia Nervosa (Bulimie, BN). Beide Formen sind im Wesentlichen charakterisiert durch eine Unzufriedenheit mit oder sogar eine Ablehnung des eigenen Körpers, sowie eine Angst davor, zu dick zu sein bzw. zu werden. Während die AN über ein restriktives Essverhalten, ein selbst herbeigeführtes Untergewicht sowie eine Körperbildstörung (die Betroffenen erleben sich trotz Untergewichts als zu dick) defi niert ist, umfassen die diagnostischen Kriterien für eine BN Essanfälle und Verhaltensweisen, welche einer Gewichtszunahme entgegensteuern sollen. Diese können in selbstinduziertem Erbrechen, exzessivem Sport, Hungerphasen oder der Einnahme von Medikamenten bestehen (bspw. Schilddrüsenmedikamente zur Steigerung des eigenen Grundumsatzes, Laxanzien oder Diuretika sowie Appetitzügler). Menschen mit einer BN sind in der Regel normalgewichtig. Bei der AN werden zwei Formen unterschieden, eine «aktive» Form, bei welcher gegenregulierende Massnahmen wie selbstinduziertes Erbrechen und evtl. auch Essanfälle vorkommen, sowie eine «restiktive» Form, bei welcher das Untergewicht durch eine Einschränkung der Nahrungsmenge und intensive Bewegung erreicht und aufrechterhalten wird. Beide Formen, die AN und die BN, können im Verlauf ineinander übergehen [2]. Die Häufi gkeit liegt etwa bei 0,20,7 % für die AN und bei 0,41,6 % für die BN; Frauen sind deutlich häufi ger (>90 %) betroffen als Männer [2–4]. Beide Erkrankungen beginnen in der Pubertät oder Adoleszenz, wobei sich eine AN zumeist früher manifestiert als eine BN. Bei etwa 15 % der Patientinnen mit AN und bei etwa 20 % der Patientinnen mit BN kommt es zu einem langfristigen, chronischen Verlauf der Erkrankung [2, 4], vor allem bei einem späten Behandlungsbeginn. Aufgrund eines ausgeprägten Schamgefühls und einer grossen Ambivalenz bezüglich einer Veränderung ihrer Essstörung stellen sich jedoch viele Patientinnen erst spät einem Facharzt vor. Der Prävention und der Früherkennung durch alle Fachdisziplinen kommt somit eine besondere Bedeutung zu. Essstörungen sind mit einer Vielzahl von körperlichen Folgen vergesellschaftet, die es zu erkennen gilt (Tabelle 1). Zu den körperlichen Folgen zählen auch dentale Symptome, sodass der zahnmedizinischen Profession ein zentraler Stellenwert zukommt, da sie anhand der dentalen Situation Personen mit Essstörungen mitunter als erste und damit sehr früh identifi zieren kann. Zahnschäden können die Patientinnen zusätzlich belasten. So gaben in einer Umfrage 90 % der Bulimiepatientinnen an, dass für sie die Zähne von ausserordentlicher Bedeutung sind [5]; ein durchaus plausibles Ergebnis, da viele Patientinnen ihr Selbsterleben von ihrem äusseren Erscheinungsbild abhängig machen. Eine frühe zahnärztliche Mitbehandlung mit prophylaktische Massnahmen kann Zahnschäden vermeiden oder zumindest in Grenzen halten, sodass dadurch eine zusätzliche Belastung vermieden werden kann [6].

* Da mehr als 90% der Personen, die von einer Essstörung betroffen sind, weiblich sind, wird im gesamten Text die weibliche Form verwendet.

Sie soll gleichermassen männliche und weibliche Personen ansprechen. 1 Stiftungsprofessur für Kariesforschung, Klinik für Zahnerhaltungskunde und Parodontologie, Department f. Zahn Mund u. Kieferheilkunde,

Universitätsklinikum Freiburg, Medizinische Fakultät, AlbertLudwigsUniversität Freiburg, Deutschland 2 Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Freiburg, Medizinische Fakultät, AlbertLudwigsUniversität

Freiburg, Deutschland

Dentale Folgen einer Essstörung Die häufi gste dentale Folge einer Essstörung sind Erosionen. Sie entstehen durch den direkten Einfl uss von Säuren auf die plaquefreie, also saubere Zahnhartsubstanz [7]. Die Säuren können entweder von aussen zugeführt werden (exogen) oder vom Körper selbst stammen (endogen) (Tabelle 2). Exogene Ursachen sind vielfältig; dazu zählen Lebensmittel sowie Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel in Form von Brauseoder Kautabletten. Im Rahmen der Essstörung sind vor allem Lebensmittelsäuren relevant. In restriktiven Perioden leben die meisten Patientinnen nach einem strengen Diätplan, es werden vorzugsweise kalorienarme Speisen wie Obst, Gemüse und Salate sowie DiätGetränke zu sich genommen. Alle Sport und Erfrischungsgetränke, Obst, Säfte und Saftschorlen sowie aromatisierte Mineralwässer, Essigprodukte und Früchtetees können die Zähne schädigen [8]. Die genannten Lebensmittel sind untersättigt in Bezug auf das Zahnmineral, sodass deren regelmässiger Einfl uss Demineralisationen bewirken kann [9]. Liegt eine BN oder eine «aktive» Form der AN mit selbstinduziertem Erbrechen vor, dann spielt die Magensäure, die einzige endogene Säurequelle, eine Rolle. Der pHWert der Magensäure liegt bei etwa 11,5; damit ist die darin enthaltene Salzsäure eine starke Säure. Der pHWert des Mageninhaltes hängt von dem Grad der Magenfüllung ab und kann durch die Aufnahme grosser Mengen an Lebensmitteln mitunter auf Werte um pH 3,5 ansteigen [10]. Auch bei diesem pHWert kann regelmässiges Erbrechen erheblichen Schaden an den Zähnen verursachen. Zudem enthält der Mageninhalt verschiedene Verdauungsenzyme, die mit einer erosionsverstärkenden Wirkung in Verbindung gebracht werden [11].

psychisch

sozial

Folgen des Hungerzustands: • Schwächegefühl, Bradykardie, Hypotonie • Muskelatrophie • Haarausfall, Hautveränderungen • reduzierte Knochendichte (➞ Osteoporose) • Hirnatrophie • endokrine Störungen (veränderte Spiegel von

Serotonin, Östradiol, LH, Cortisol, Wachstums homon, Schilddrüsen hormonen u.a.) ➞ Amenorrhoe • Veränderungen der Speichelzusammensetzung

Folgen von selbstinduziertem Erbrechen und Abführmittel missbrauch: • Dehydratation • Elekrolytstörungen (v.a. Hypokaliämie) • Störungen des Säure/Basenhaushaltes (Alkalose oder

Azidose) • Kardiainsuffi zienz, Ösophagitis, Refl ux • Zahnschäden • Sialadenose (Schwellung der Ohrspeicheldrüse) • langfristig Nierenschädigung

• emotionale Veränderungen (Depressivität, Irritabilität,

Ängstlichkeit) • kognitive Defi zite

• eingeschränkte Freizeitaktivitäten • sozialer Rückzug • evtl. Verschuldung (bei ausgeprägten Essanfällen) • Schwierigkeiten in Ausbildung und Beruf

Nicht jeder, der eine Essstörung hat, zeigt auch Erosionen. Die Zahlen schwanken zwischen 45 % und 98 % für Personen mit einer BN oder aktiven AN und zwischen 20 % und 35 % für die restriktiven Formen (Normalbevölkerung etwa 2040 %) [12, 13]. Insgesamt steigt das Risiko, Erosionen zu entwickeln, bei beiden Formen von Essstörungen um etwa das 5,5 bis 8,5fache im Vergleich zur Normalbevölkerung an [12]. Vor allem Personen mit einer Essstörung, die sowohl säurehaltige Nahrungsmittel zu sich nehmen als auch selbstinduziert erbrechen, haben ein deutlich erhöhtes Risiko, an Erosionen zu erkranken. Ein weiterer Faktor, der zu einem erhöhten Erosionsrisiko führt, ist der bei BN vermehrt auftretende gastroösophageale Refl ux.

Tabelle 1: Wichtigste Folgen gestörter Nahrungsaufnahme

Exogene Ursachen

Saure Nahrungsmittel • Limonaden, Fruchtsäfte, Sportgetränke • Wein und Weinprodukte • Obst und Obstprodukte • Essig und Essigprodukte Medikamente (Kau- oder Brausetabletten) • Eisenpräparate • Azetylsalizylsäurehaltige Präparate • Alle Nahrungsergänzungsmittel und Vitaminzubereitungen mit Ausnahme von Kalziumpräparaten

Endogene Ursachen

Magensäure • Erbrechen • Refl ux • Regurgitation

Tabelle 2: Ursachen säurebedingter Zahnhartsubstanzschäden

Pathohistologie Ein regelmässiger Einfl uss von Säuren führt zu einer Demineralisation der Zahnhartsubstanz. Im Schmelz fi ndet ein langsam von aussen nach innen voranschreitender, vollständiger Verlust an Mineral, hauptsächlich Kalzium und Phosphat, statt, der zu fl ächenhaften Defekten führt. An der Oberfl äche entsteht eine Struktur, die dem klassischen Ätzmuster (Abbildung 1) gleicht [14]. Der Substanzverlust geht einher mit einer Reduktion der Oberfl ächenhärte und als Folge dessen mit einer erhöhten Anfälligkeit für mechanisch induzierte Substanzverluste [15]. Im Dentin bewirkt die Demineralisation zum einen eine Erweiterung der Dentintubuli, zum anderen wird das Mineral aus den organischen Strukturen der Zahnhartsubstanz herausgelöst [14]. Auch wenn derzeit nicht vollständig untersucht ist, welches Schicksal die exponierten organischen Strukturen in der Mundhöhle erfahren, so zeigt sich, dass diese strukturelle Veränderungen zumeist einen negativen Einfl uss auf adhäsiv verankerte Restaurationsmassnahmen haben [16].

Klinisches Erscheinungsbild Das erste klinische Symptom einer erosiven Veränderung der Zahnhartsubstanz ist der Verlust der oberfl ächlichen Strukturen. Dazu gehören die Perikymatien und der Glanz der Zahnhartsubstanz; die Oberfl äche erscheint bei Trocknung seidenmatt. Bei weiterem Voranschreiten erscheinen fl ächenhafte Defekte sowohl auf den Okklusal als auch auf den Glattfl ächen. Okklusal können sehr frühzeitig kleine muldenförmige Defekte auf den Höckerspitzen diagnostiziert werden. Nach und nach wird das HöckerFissurenRelief eingeebnet und die Zähne erscheinen strukturarm. Zudem kann sich die Farbe durch den dünner werdenden Schmelzmantel verändern; das Dentin scheint stärker hindurch und die Zähne erscheinen gelblicher und dunkler (Abbildung 2). Füllungen können über das Niveau der umgebenden Zahnhartsubstanz hinausragen. Schliesslich kann es zu einem vollständigen Verlust des gesamten HöckerFissurenReliefs sowie einem Absinken der vertikalen Dimension kommen. Auf den palatinalen und bukkalen Glattfl ächen bilden sich fl ache Defekte koronal der SchmelzZementgrenze, die in ihrer Tiefe kleiner als in ihrer Breite sind. Zervikal verbleibt zumeist ein intaktes Schmelzband. Oftmals werden die Schneidekanten ausgedünnt, sodass sie sehr durchscheinend wirken (Abbildung 3a). Dadurch können diese schnell verschleissen, was eine Verkürzung der Oberkieferschneidezähne zur Folge hat (Abbildung 3a). Bei einer Beteiligung des Dentins treten regelmässig durch die Erweiterung der Dentintubuli Überempfi ndlichkeiten auf, die zu einer zusätzlichen Belastung der Patientinnen führen können [17]. Hinsichtlich der Lokalisation ist eine eindeutige Zuordnung der Defekte zu einer bestimmten Form der Essstörung nur bedingt möglich. Allerdings sprechen Defekte, die vor allem im Oberkiefer oral liegen für eine endogene Beteiligung. Bisweilen werden die Unterkieferseitenzähne

Abbildung 1:

Strukturen auf einer Schmelzoberfl äche nach Einwirkung von Zitronensäure

durch die Lage der Zunge während des Erbrechens vor dem Einfl uss des Mageninhaltes etwas geschützt und zeigen dadurch oft aber nicht immer einen geringeren Destruktionsumfang. Die Vestibulärfl ächen sind bei Personen mit regelmässigem Erbrechen als Hauptursachen oft weniger betroffen. Exogene Einfl üsse können, je nach Verzehrgewohnheiten, im Prinzip jede Zahnfl äche betreffen, sie fi nden sich jedoch gehäuft auf den vestibulären Glattfl ächen. Personen, die sowohl restriktive als auch bulimische Episoden aufweisen, zeigen in der Regel ein gemischtes Bild der Erosionen.

Weitere Symptome einer Essstörung Es sollte zudem auf weitere intra und extraorale Hinweise für eine Essstörung geachtet werden. Typische extraorale Symptome sind rissige Lippen und Mundwinkelrhagaden. Ebenso können Schwellungen der Ohrspeicheldrüsen auftreten. Sie sind weich, nicht schmerzhaft, treten meist beidseitig auf und verstärken sich nach dem Erbrechen. Sie bilden sich in erbrechenfreien Perioden in der Regel spontan zurück. Die Häufi gkeit wird mit einer breiten Spanne von 1066 % angegeben [18]. Wird das Erbrechen mit den Fingern ausgelöst, können durch die Oberkieferfrontzähne verursachte Verletzungen und Verhornungen an den Fingerknöcheln beobachtet werden. Schreiten Erosionen schnell voran, dann kann sich zudem das gesamte faziale Erscheinungsbild der Patientinnen verändern. Neben einer Verkürzung der Oberkieferfrontzähne können sich durch einen Verlust der Vertikaldimension das untere Gesichtsdrittel verkürzen und die Lippen schmaler werden. Diese Kombination kann ein vorgealtertes Erscheinungsbild bewirken, was die Patientinnen zusätzlich belasten kann [5]. Intraoral sind oft Rezessionen der Gingiva zu fi nden (Abbildung 3a und 3b). Typisch sind ebenfalls Läsionen an der Gaumenschleimhaut, verursacht entweder durch Verätzungen durch die Magensäure oder durch Hilfsmittel zum Auslösen des Würgerefl exes. Der Speichelfl uss in Ruhe kann bei Personen mit einer rein restriktiven Form einer Essstörung vermindert sein, sodass ein Gefühl eines trockenen Mundes auftreten kann [5]. Dieses Gefühl kann durch die Gabe von bestimmten Psychopharmaka (v.a. Antidepressiva) im Rahmen einer Therapie der Essstörung und komorbider Störungen wie einer Depression noch verstärkt werden. Es gibt ebenfalls Hinweise darauf, dass sich die bakterielle Flora sowie die Zusammensetzung des Speichels

Abbildung 2: Erosionen bei einer Patientin mit einer Essstörung in Kombination mit Erbrechen. Deutlich zu erkennen sind die muldenförmigen Defekte auf den Okklusalfl ächen und die Einebnung des HöckerFissurenReliefs. Die Zähne erscheinen durch den dünner werdenden Schmelzmantel dunkler und gelber.

durch Essstörungen verändern können [11, 19, 20]. Diese veränderten Faktoren, Speichelfl iessrate und zusammensetzung, können wiederum die Mundgesundheit im Allgemeinen sowie die Progression von Erosionen im Speziellen ungünstig beeinfl ussen.

Prävention und Therapie

Kausale Therapiestrategien

Die Therapie von Erosionen ist primär kausal orientiert (Tabelle 3, Seite 36). Diese Therapiestrategie lässt sich jedoch bei Personen mit einer Essstörung nur bedingt durch die Empfehlungen eines Zahnarztes und die Mitarbeit der Patientinnen umsetzen. Es bedarf in der Regel eines längeren psychotherapeutischen Behandlungsprozesses, bis die Symptomatik (restriktives Essverhalten, selbstinduziertes Erbrechen etc.) verändert werden kann. Daher ist die Zusammenarbeit mit anderen Fachdisziplinen, wie vor allem ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten sowie Hausärzten bzw. Ärzten für Kinder und Jugendmedizin, von besonderer

3a

Abbildung 3: Verkürzte und durchscheinende Schneidekanten bei einer Patientin mit Bulimie. Die Patientin weist zudem deutliche Rezessionen im Bereich des Unterkiefers vestibulär (a) und an den ersten Molaren des Oberkiefers palatinal (b) auf. kiefers palatinal (b) auf.

3b3b

Mundhygiene

• Vermeiden von säurehaltigen Speisen und Getränken › Frequenz und Expositionszeit sind von hoher Relevanz:

Getränke sollten nicht lange im Mund behalten werden und nicht in kleinen Schlucken über den Tag verteilt konsumiert werden › Säurehaltige Getränke am ehesten zu den Mahlzeiten trinken › Mineralwasser oder Tee als Hauptgetränk (kein Früchtetee!) › Nicht zu säurehaltige Diät • Kombination von säurehaltigen Speisen und Milchprodukten

• Mundhygiene nach kariesprotektiven Standards (suffi zient, atraumatisch, zweimal täglich für zwei Minuten

Zähneputzen plus Interdentalraumhygiene) • Mundhygiene mit zinn- und fl uoridhaltigen Mundhygieneprodukten (Zahnpaste und Mundspüllösung) • Kein Verschieben des Zahnputzzeitpunktes nach einer sauren Mahlzeit • Direktes Zähneputzen nach einem selbstinduzierten

Erbrechen jedoch vermeiden • Nach dem Erbrechen den Mund mit einer zinn- und fl uoridhaltigen Mundspüllösung ausspülen • Kauen zuckerfreier Kaugummis zur Reduktion eines Refl uxes

Tabelle 3: Zahnmedizinische Empfehlungen für essgestörte Patientinnen zur Vermeidung einer Progression von säurebedingten Zahnschäden

Bedeutung (entsprechend der S3Leitlinie zur Diagnostik und Therapie von Essstörungen [6]). Erfolgt die Erstdiagnose durch die Zahnmedizin, sollte den Patientinnen in einem einfühlsamen Gespräch empfohlen werden, sich bei einem Psychotherapeuten oder in einer Fachambulanz vorzustellen. Zudem sollte bei Verdacht auf einen chronischen Refl ux zusätzlich die Konsultation eines Gastroenterologen empfohlen werden. Auch ein vollständiges Meiden von exogenen Säuren durch die Patientinnen ist im Rahmen durch die Kombination mit Milchprodukten ist hier eine gute Alternative [21]. Bestimmte Lebensmittel werden so nicht tabuisiert, sondern lediglich modifi ziert. Die Kombination mit Milchprodukten bewirkt, dass der Gehalt an Kalzium im säurehaltigen Lebensmittel steigt. Damit kann die Erosivität deutlich gesenkt werden [22]. Auch kalziumangereicherte Säfte können empfohlen werden.

Symptomatische Therapiestrategien

Symptomatische Massnahmen sind indiziert, wenn Säuren nicht vollständig gemieden werden können, im Prinzip also bei jeder Patientin mit einer Essstörung. Das Ziel ist es, zum einen die Reduktion der Oberfl ächenhärte und deren Folgen zu minimieren und zum anderen die Widerstandsfähigkeit der Zahnhartsubstanz gegenüber Säureeinfl üssen zu erhöhen. Als einfachste Massnahme wird oft das Verschieben des Zahnputzzeitpunktes nach einem Säureangriff empfohlen. Allerdings kann diese Empfehlung nach neuen Erkenntnissen nicht mehr aufrechterhalten werden und ist daher auch in internationalen KonsensusPapieren nicht mehr zu fi nden [23]. Anders als bei einer initialkariösen Läsion, die durch die oberfl ächliche pseudointakte Oberfl ächenschicht und den darunterliegenden Läsionskörper gekennzeichnet ist und damit Remineralisationsprozesse zulässt, entstehen bei der Erosion keine Strukturen, die remineralisiert werden können. Aber genau auf dieser Möglichkeit basiert die Empfehlung zum Zahnputzzeitpunkt. Es wurde lange Zeit davon ausgegangen, dass eine Speichelexposition im Mund über einen Zeitraum von etwa 3060 Minuten zu einer Remineralisation und damit zu einer «Wiedererhärtung» der Oberfl äche führt. Allerdings zeigten verschiedene

der Erkrankung meist nicht möglich. Allerdings können bestimmte Verhaltensregeln hilfreich sein, die eine übermässige Exposition vermeiden (Reduktion säurehaltiger Lebensmittel, zeitliche Einschränkung der Säureexposition). Jedoch sollte darauf geachtet werden, dass durch ein «Verbot» von bestimmten Lebensmitteln ein restriktives Verhalten nicht noch verstärkt wird. Die Reduktion der Erosivität von Lebensmitteln

Studien, dass das selbst nach vierstündiger Speichelexposition in der Mundhöhle nicht möglich ist [24, 25]. Das liegt daran, dass im Speichel zahlreiche Proteine vorhanden sind, die Kalziumionen daran hindern auf Glattfl ächen auszufallen. Im Falle einer initialkariösen Läsion werden diese Proteine von der pseudointakten Schicht zurückgehalten, nicht aber die Ionen, sodass diese innerhalb der Läsion präzipitieren

und zu Remineralisationsprozessen führen. Diese Schicht fehlt jedoch bei einer erosiven Läsion und damit auch die Möglichkeit einer Remineralisation. Es wird daher grundsätzlich bei Erosionen empfohlen, die herkömmlichen Mundhygienemassnahmen entsprechend kariesprotektiver Empfehlungen beizubehalten, sofern sie ausreichend effektiv und nicht trauma tisierend gegenüber den oralen Hart und Weichgeweben sind [23]. Patientinnen mit Essstörungen haben oft das Bedürfnis, nach dem Erbrechen die Zähne zu reinigen. Auch wenn die Studienlage dazu nicht eindeutig ist, so sollte davon abgeraten werden, nach jedem Erbrechen die Zähne zu putzen, da bei einem hochfrequenten Erbrechen pro Tag die Zähne sonst zu häufi g gereinigt würden. Zudem ist die Säureeinwirkung deutlich intensiver als bei exogenen Säurequellen. Alternativ sollte nach dem Erbrechen der Mund mit einer geeigneten Mundspüllösung ausgespült werden, um insgesamt die Säureresistenz der Zahnhartsubstanz zu steigern. Die Anwendung von antierosiven Therapeutika im Rahmen der täglichen Mundhygiene in Form von Mundspüllösungen und Zahnpasten hat sich als besonders geeignet erwiesen. Aus der Kariologie ist bekannt, dass Fluoride die Demineralisationsresistenz von Zahnhartsubstanzen erhöhen können. Allerdings sind nicht alle Fluoride gleichermassen karies und erosionsprotektiv. Bei Karies wirken eher milde Säuren aus der Plaque auf die Zahnhartsubstanz ein. In diesem Fall sind Fluoride unabhängig von der Verbindung nahezu gleichermassen wirksam. Bei Erosionen hingegen wirken stärkere Säuren ein; die Folge sind ausgeprägtere Demineralisationen. Damit verbunden ist ein zumindest partieller Verlust der Effektivität herkömmlicher Fluoride wie Natriumfl uorid oder

zusammen führen dazu, dass die Progression von Erosionen im Schmelz durch die Anwendung von F/SnMundspüllösungen auch bei sehr starken Säureeinfl üssen um knapp 70 % und im Dentin um knapp 50 % reduziert werden kann [29], F/SnZahnpasten sind etwas weniger effektiv [30]. Damit sollte Personen mit regelmässigen Säureeinfl üssen die tägliche Anwendung von F/SnMundhygieneprodukten empfohlen werden: bei milderen Säureexpositionen und ohne Anzeichen von Erosionen eine Zahnpaste, bei bereits bestehenden Erosionen oder schweren Säureeinfl üssen zusätzlich die tägliche Anwendung einer Mundspüllösung.

Abbildung 4: Zinnhaltige Deckschicht auf einer mit einer zinn und fl uoridhaltigen Mundspüllösung behandelten Schmelzoberfl äche.

Aminfl uorid [26]. Es hat sich jedoch gezeigt, dass andere Fluoridverbindungen, vor allem Fluoride in Kombination mit Zinn (F/Sn), bei Erosionen ausgesprochen wirksam sind. Sie bilden zum einen säureresistente Deckschichten auf der Zahnhartsubstanz (Abbildung 4), zum anderen wird Zinn in die oberen Schichten der Zahnhartsubstanz inkorporiert und reduziert damit deren Säurelöslichkeit [27, 28]. Beide Mechanismen

Bei Patientinnen mit BN sollte diese nach jedem Erbrechen angewendet werden; an erbrechenfreien Tagen ist der Anwendungszeitpunkt beliebig. Empfehlungen, nach dem Erbrechen den Mund mit Milch, Wasser oder einer Backpulverlösung auszuspülen, haben sich als wenig effektiv erwiesen [31]. Ebenso wenig effektiv sind Produkte mit Hydroxylapatit. Laut Hersteller sollen die Kalziumverbindungen erosive Defekte

zumindest teilweise wieder auffüllen können. Allerdings konnte diese Wirkung in Studien nicht gezeigt werden [32] und ist aufgrund des vorher beschriebenen Mechanismus zur Remineralisation von Erosionsdefekten aus dem Speichel auch nicht plausibel. Das Kauen von Kaugummi kann zu einer Reduktion einer Refl uxsymptomatik beitragen. In sehr ausgeprägten Fällen mit einer hohen Erbrechenfrequenz kann die Anfertigung von weichbleibenden Schienen für beide Kiefer in Erwägung gezogen werden, die vor dem selbstinduzierten Erbrechen zum Schutz der Zähne eingesetzt werden. Sollten in den Essanfällen hauptsächlich saure Speisen oder Speisen mit einem geringen Kalziumgehalt konsumiert werden, kann auf die erosionsreduzierende Wirkung eines Konsums von Milchprodukten während des Essanfalls hingewiesen werden. Dieser führt zur Anreicherung des Mageninhalts mit Kalziumionen und damit zu einer reduzierten Erosi vität. Liegen sehr ausgeprägte Erosionen mit einer breitfl ächigen Beteiligung des Dentins vor, dann kann zum Schutz vor einer weiteren Progression und zur Therapie von Dentinhypersensibilitäten auch die Versiegelung dieser Areale in Erwägung gezogen werden. Konventionelle Adhäsiv systeme und dünnfl iessende Komposite, wie sie für die Versiegelung von Fissuren verwendet werden, zeigen hier allerdings nur eine eingeschränkte Haltbarkeit [33–35]. Verschiedene Studien haben jedoch gezeigt, dass eine zinnangereicherte Dentinoberfl äche wirksam mit selbstkonditionierenden Adhäsiven versiegelt werden kann, die multifunktionale Mono mere (10MethacryloyloxydecylDihydrogenPhosphat; MDP) enthalten. Die Langlebigkeit ist zumindest unter Laborbedingungen sehr gut [36]. Daher scheint die Kombination aus der Anwendung einer zinnhaltigen Mundspüllösungen für den Schmelz und der Versiegelung von freigelegten Dentinarealen mit MDP haltigen Adhäsiven eine gute Möglichkeit zu sein [37]. Umfangreiche restaurative Massnahmen sollten möglichst lange vermieden werden. Sollten sie jedoch notwendig werden, so sollte auf minimalinvasive Konzepte zurückgegriffen werden [38]. Diese Konzepte umfassen im Regelfall die direkte Rekonstruktion mit Kompositmaterialien. Auch in diesem Zusammenhang sollte bei einer zeitgleichen symptomatischen Therapie mit zinnhaltigen Mundhygieneprodukten auf MDPhaltige Adhäsivsysteme zurückgegriffen werden, da sich deren Haftkraft durch die Zinnanreicherung verstärken lässt, die Haftkraft konventioneller Adhäsive durch eine Zinnanreicherung jedoch mitunter sinken kann [39]. Bei gesamthaften Rehabilitationen ist zunächst eine Behandlung der Grunder krankung und ein Stillstand der Erosionen anzustreben, um den langfristigen Erfolg der Restaurationen nicht zu gefährden.

Leitlinien – Stufenklassifi kation nach dem AWMF-Regelwerk Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften in Deutschland AWMF hat ein Stufenklassifi kationsschema entwickelt, mit dem Leitlinien in verschiedene Klassen eingeteilt werden. Es werden die Klassen S1Handlungsempfehlung sowie S2e, S2k und S3Leitlinie unterschieden. Für jede Klasse wird ein bestimmtes methodisches Konzept verwendet (siehe Tabelle). Dieses muss transparent für jeden Anwender defi niert und festgehalten werden. Welche Klasse für eine Fragestellung verwendet wird, richtet sich nach der Festlegung, welcher Aufwand zweckmässig und umsetzbar ist. Zudem ist entscheidend, ob eine Zielgruppe zur Umsetzung der Leitlinien ein höheres oder weniger hohes Mass an Legiti mation benötigt.

https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/051026l_S3_EssstoerungDiagnostikTherapie_201901.pdf

S3

Evidenz- und Konsensbasierte Leitlinie

S2e

Evidenzbasierte Leitlinie

S2k

Konsensbasierte Leitlinie

Repräsentatives Gremium, Systema tische Recherche, Auswahl, Bewertung der Literatur, Strukturierte Konsensfi ndung Systematische Recherche, Auswahl, Bewertung der Literatur Repräsentatives Gremium, Strukturierte Konsensfi ndung Konsensfi ndung in einem informellen Verfahren

Fazit Erosionen sind für Patientinnen mit Essstörungen ein ernstzunehmendes Problem, da sie zum einen sowohl zu ästhetischen als auch zu funktionellen Einschränkungen führen können. Zum anderen können sie Schmerzen verursachen, was die Lebensqualität der Patientinnen zusätzlich ein schränken und die Nahrungsaufnahme erschweren kann. Es ist daher wichtig, dass säurebedingte Schäden frühzeitig erkannt und therapiert werden, damit keine schweren Zerstörungen der Zahnhartsubstanz auftreten. Der Zahnmedizin kommt zudem auch eine wichtige Rolle in der Früherkennung von Essstörungen zu. Hier ist eine enge Zusammenarbeit zwischen der Zahnmedizin und den behandelnden ärztlichen bzw. psychologischen Psychotherapeuten sowie den Haus oder Kinderärzten anzustreben. Die Anwendung zinnhaltiger Fluoridpräparate in Form von Zahnpasten und Mundspüllösungen stellt derzeit das Mittel der ersten Wahl dar. Zusätzlich können freigelegte Dentinareale mit MDPhaltigen Adhäsiven überschichtet werden. Füllungen oder sogar Überkronungen stellen das Mittel der zweiten Wahl dar. Grundsätzlich sollten Restaurationen nach dem Stillstand der Progression mit minimalinvasiven Konzepten angestrebt werden. Meist können sie bei einer rechtzeitigen Diagnose und einer suffi zienten symptomatischen Therapie sogar vermieden werden.

Die Autorin Prof. Dr. Nadine Schlüter 19962001: Studium der Zahnmedizin an der GeorgAugustUniversität in Göttingen. 20022011: Assistenzzahnärztin/ wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Poliklinik für Zahnerhaltungskunde und Präventive Zahnheilkunde an der JustusLiebigUniversität in Giessen. 2004: Promotion zum Dr. med. dent. 20112017: Generalsekretärin der dgpzm. 20112015: Oberärztin in der Poliklinik für Zahnerhaltungskunde und Präventive Zahnheilkunde an der JustusLiebigUniversität in Giessen. 2012: Habilitation. 20122018: Vorstandsmitglied der European Organisation for Caries Research (ORCA). 2012: Forschungsaufenthalt an der Klinik für Zahnerhaltung, Präventiv und Kinderzahnmedizin der Universität Bern (Leitung: Prof. Dr. Lussi) in der Arbeitsgruppe «Dental Materials». 2013: Venia Legendi. 20142018: Schatzmeister der European Organisation for Caries research (ORCA). 2015: Ruf auf die Stiftungsprofessur für Kariesforschung an die AlbertLudwigsUniversität in Freiburg. Seit Oktober 2015: Leitung des Bereichs Kariologie im Department für Zahn, Mund und Kieferheilkunde der AlbertLudwigsUniversität in Freiburg. Seit 2017: Associate Editor des European Journal of Oral Sciences.

Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Nadine Schlüter Stiftungsprofessur für Kariesforschung Klinik für Zahnerhaltungskunde und Parodontologie Department f. Zahn, Mund u. Kieferheilkunde Universitätsklinikum Freiburg D79106 Freiburg i. Br. nadine.schlueter@uniklinikfreiburg.de

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