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Nick Lane

Leben


Nick Lane

Leben Verbl端ffende Erfindungen der Evolution Aus dem Englischen von Ilona Hauser


Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel Life Ascending. The Ten Great Inventions of Evolution. bei Profile Books Ltd., London, UK. Copyright © Nick Lane 2009, 2010 Copyright der Übersetzung © 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Der Primus Verlag ist ein Imprint der WBG. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth Einbandabbildung: © picture-alliance/Bildagentur-online/Wildlife/Chromorange Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-26276-2 Die Buchhandelsausgabe erscheint beim Primus Verlag Einbandabbildung: Christian Hahn, Frankfurt Einbandgestaltung: © picture-alliance/Bildagentur-online/Wildlife/Chromorange ISBN 978-3-86312-361-1 www.primusverlag.de Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-86312-942-2 eBook (epub): 978-3-86312-943-9


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Die Entstehung des Lebens Aus dem rotierenden Erdball

Rasch folgte die Nacht auf den Tag. Ein Tag auf der Erde war zu jener Zeit nur fünf oder sechs Stunden lang. Der Planet drehte sich wild um die eigene Achse. Der Mond hing schwer und furchteinflößend am Himmel, wesentlich näher an der Erde als heute, wodurch er um Einiges größer wirkte. Sterne schienen selten, da die Atmosphäre voller Dunst und Staub war, jedoch durchzogen eindrucksvolle Sternschnuppen regelmäßig den Nachthimmel. Die Sonne – wenn sie durch den trüben, roten Dunst hindurch überhaupt sichtbar war – war verschwommen und schwach, ohne die Kraft ihrer strahlenden Schönheit. Menschen könnten hier nicht überleben. Unsere Augen würden zwar nicht anschwellen und zerspringen wie auf dem Mars, aber unsere Lungen würden keinen Sauerstoff zum Atmen finden. Wir würden eine Minute lang verzweifelt kämpfen und dann ersticken. »Erde« wäre ein schlechter Name. »Meer« würde es besser treffen. Auch heute noch bedecken Ozeane zwei Drittel unseres Planeten und dominieren ihn auf Bildern aus dem Weltraum. Zur damaligen Zeit bestand die Erde nahezu aus Wasser mit wenigen kleinen vulkanischen Inseln, die über die turbulenten Wellen hinausragten. In der Knechtschaft jenes bedrohlichen Mondes war der Tidenhub überdimensional groß und bewegte sich in Bereichen von mehr als 100 Metern. Einschläge von Asteroiden und Kometen waren seltener als zuvor, da der größte von ihnen dem Mond entrissen und ins All geschleudert wurde. Doch selbst in dieser Zeit relativer Ruhe kochten und schäumten die Ozeane und


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auch darunter brodelte es. Die Erdkruste war von Rissen durchzogen, Magma quoll auf, schoss nach oben und Vulkane machten die Unterwelt dauerhaft gegenwärtig. Es war eine Welt im Ungleichgewicht, eine Welt rastloser Betriebsamkeit, ein fieberndes Kind von einem Planeten. Es war eine Welt, in der Leben entstand, vor 3800 Millionen Jahren – möglicherweise angetrieben durch eine Kraft aus dem unruhigen Planeten selbst. Dies belegen wenige Gesteinskörner aus jener vergangenen Zeit, welche die ruhelosen Äonen bis zum heutigen Tag überlebten. In ihnen sind winzigste Spuren von Kohlenstoff eingeschlossen, die in ihrer atomaren Zusammensetzung den unverkennbaren Abdruck des Lebens selbst tragen. Wenn dies auch wie ein fadenscheiniger Vorwand für einen hohen Schadensersatzanspruch klingt, was es vielleicht auch ist, so gibt es darüber unter Experten keinen einstimmigen Konsens. Streifen wir jedoch einige weitere Häute von der Zwiebel der Zeit ab, werden vor 3400 Millionen Jahren untrügliche Lebenszeichen sichtbar. Damals war die Welt voller Bakterien, die ihre Spuren nicht nur in Kohlenstoffsignaturen hinterließen, sondern in formenreichen Mikrofossilien und in jenen domartigen Kathedralen bakteriellen Lebens – den meterhohen Stromatolithen. Bakterien dominierten unseren Planeten weitere 2500 Millionen Jahre, bevor die ersten komplexen Organismen im Fossilbericht auftauchten. Und einige sagen, sie tun es immer noch, denn die Fülle von Pflanzen und Tieren kann es nicht mit der Biomasse der Bakterien aufnehmen. Was war es, das anorganischen Elementen auf der frühen Erde Leben einhauchte? Sind wir einzigartig oder außerordentlich selten oder ist unser Planet nur eine von Millionen Milliarden Brutstätten, die über das Universum verstreut sind? Gemäß dem anthropischen Prinzip ist dies kaum von Bedeutung. Wenn die Wahrscheinlichkeit von Leben im Universum eins zu einer Million Milliarden beträgt, dann gibt es unter einer Million Milliarden Planeten genau einen möglichen, auf dem sich Leben entwickelt. Und weil wir uns auf einem belebten Planeten wiederfinden, müssen wir offensichtlich auf diesem einen leben. Wenngleich Leben besonders selten sein mag, so gibt es in einem unendlichen Universum immer eine Eintrittswahrscheinlichkeit, dass sich auf einem Planeten Leben entwickelt – und wir leben wohl auf diesem Planeten.


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Wenn Sie, wie ich, allzu kluge Statistiken unbefriedigend finden, erhalten Sie hier eine weitere unbefriedigende Antwort, die von keinen geringeren Staatsmännern der Wissenschaft vorgebracht wurde als Fred Hoyle und später Francis Crick. Das Leben begann irgendwo anders und »infizierte« unseren Planeten, entweder zufällig oder durch die Machenschaften einer gottähnlichen, extraterrestrischen Intelligenz. Womöglich war es so – wer würde für die Behauptung, dass es anders war, seine Hand ins Feuer legen? –, aber die meisten Wissenschaftler distanzieren sich aus gutem Grund von einer solchen Argumentation. Sie ist gleichbedeutend mit der Aussage, dass die Wissenschaft die Frage nicht beantworten kann, bevor wir uns überhaupt bemüht haben, der Frage nachzugehen, ob die Wissenschaft tatsächlich darauf antworten kann. Die übliche Begründung oder rettende Lösung für andere Rätsel irgendwo im Universum ist die Zeit: Die Erde hatte noch nicht genug Zeit, um die verblüffende Komplexität des Lebens zu entwickeln. Doch wer weiß? Der nicht minder bedeutende Nobelpreisträger Christian de Duve argumentiert noch vehementer, Zufallsunabhängigkeit in der Chemie bedeute, dass das Leben sich schnell entwickeln musste. Im Wesentlichen sagt er, dass chemische Reaktionen entweder schnell ablaufen oder gar nicht. Braucht eine Reaktion ein Jahrtausend, um vollständig abzulaufen, ist es wahrscheinlich, dass sich alle Reaktionspartner in der Zwischenzeit einfach umwandeln oder aufspalten, sofern sie nicht durch andere, schnellere Reaktionen kontinuierlich angereichert werden. Die Entstehung des Lebens war zweifellos eine chemische Angelegenheit, auf die man die gleiche Logik anwenden kann: Die grundlegenden Reaktionen, aus denen Leben hervorging, müssen spontan und schnell abgelaufen sein. So ist es nach de Duve wesentlich wahrscheinlicher, dass sich das Leben in 10 000 Jahren entwickelt hat als in 10 Milliarden. Wir werden niemals in Erfahrung bringen, wie das Leben auf der Erde wirklich begann. Auch wenn es uns gelingt, Bakterien oder Bazillen herzustellen, die aus einem Strudel von Chemikalien aus einem Reagenzglas herauskrabbeln, werden wir niemals wissen, ob das Leben auf unserem Planeten wirklich so entstanden ist. Wir wissen nur, dass es auf diese Weise möglich wäre und vielleicht wahrscheinlicher, als wir früher dachten. In der Wissenschaft geht es aber nicht um Ausnahmen, sondern um Regeln. Und die Re-


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geln, die das Auftreten von Leben auf unserem eigenen Planeten steuern, müssen im gesamten Universum gelten. Die Suche nach der Entstehung von Leben ist kein Versuch zu rekonstruieren, was am Donnerstagmorgen um 06:30 Uhr im Jahr 3 851 000 000 v. Chr. passierte, sondern eine Suche nach allgemeingültigen Regeln, die jegliches Auftreten von Leben steuern – überall im Universum und besonders auf unserem Planeten, dem einzigen Beispiel, das wir kennen. Obwohl die Geschichte, die wir verfolgen, höchstwahrscheinlich nicht in jedem Detail vollkommen richtig ist, ist sie allgemein plausibel, wie ich finde. Ich möchte zeigen, dass die Entstehung des Lebens nicht das große Geheimnis ist, zu dem sie manchmal gemacht wird, sondern dass das Leben womöglich fast unvermeidlich aus der Drehung unseres Erdballs hervorgeht. * In der Wissenschaft geht es natürlich nicht nur um Gesetze; es geht ebenso um die Versuche, diese Gesetze zu erklären. Unsere Geschichte beginnt im Jahre 1953, ein annus mirabilis, ein schicksalhaftes Jahr, das durch die Krönung von Queen Elisabeth II. geprägt wurde, durch die Erstbesteigung des Mount Everest, den Tod Stalins, die Aufklärung der Struktur der DNA und – nicht zu vergessen – das Miller-Urey-Experiment, den symbolischen Ursprung in der Erforschung des Ursprungs von Leben. Stanley Miller war zu diesem Zeitpunkt ein eigensinniger Doktorand im Labor des Nobelpreisträgers Harold Urey. Er starb, vermutlich ein wenig verbittert, im Jahre 2007, immer noch für die Ansichten kämpfend, die er tapfer ein halbes Jahrhundert lang vertrat. Doch lassen wir das Schicksal seiner eigenen, speziellen Ideen außer Acht. Millers wahres Vermächtnis ist der Forschungsbereich, der sich auf seinen bemerkenswerten Experimenten gründete, deren Ergebnisse die Kraft besitzen, uns auch heute noch in Staunen zu versetzen. Miller füllte einen großen Glaskolben mit Wasser und einer Gasmischung, um die von ihm angenommene Zusammensetzung der ursprünglichen Erdatmosphäre zu simulieren. Spektroskopischen Untersuchungen zufolge bilden die ausgewählten Gase heute die Atmosphäre des Jupiters und waren vermutlich ebenso reichlich auf der jungen Erde vorhanden, nämlich Ammoniak, Methan und Wasserstoff. Durch diese Mischung leitete Miller elektrische Funken, die Blitze simulieren sollten. Dann wartete er.


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Nach einigen Tagen, Wochen und Monaten nahm er Proben und analysierte sie, um herauszufinden, was er da eigentlich zusammenbraute. Seine Ergebnisse übertrafen selbst seine kühnsten Erwartungen. Er kochte eine Ursuppe, eine beinahe mythische Mischung aus organischen Molekülen, einschließlich einiger Aminosäuren – den Bausteinen von Proteinen und die wohl symbolträchtigsten Moleküle des Lebens zu einer Zeit, bevor die DNA Berühmtheit erlangte. Noch eindrucksvoller war, dass sich bevorzugt solche Aminosäuren in Millers Suppe bildeten, die auch von Lebewesen benutzt werden, neben anderen, die sich unter den unzähligen möglichen Strukturen fanden. Mit anderen Worten setzte Miller eine einfache Gasmischung unter Strom und die grundlegenden Bausteine des Lebens traten daraus hervor. Es war, als warteten sie darauf, in Erscheinung treten zu dürfen. Auf einmal erschien die Entstehung des Lebens so einfach. Diese Idee muss etwas vom damaligen Zeitgeist eingefangen haben, denn die Geschichte kam auf das Titelblatt des Time-Magazins – eine noch nie dagewesene Öffentlichkeit für ein wissenschaftliches Experiment. Mit der Zeit jedoch geriet die Vorstellung einer Ursuppe in Verruf. Ihr Erfolg erlitt einen Rückschlag, als Analysen alter Gesteine zeigten, dass die Erde niemals reich an Methan, Ammoniak und Wasserstoff gewesen war, zumindest nicht nach dem großen Asteroiden-Bombardement, bei dem der Mond abgesprengt wurde. Dieses gewaltige Bombardement zerriss die erste Atmosphäre unseres Planeten und fegte sie hinaus ins Weltall. Realistischere Simulationen der ursprünglichen Atmosphäre erwiesen sich als enttäuschend. Versuchen wir elektrische Entladungen durch ein Gemisch aus Kohlendioxid und Stickstoff mit Spuren von Methan und anderen Gasen zu leiten, nimmt der Anteil organischer Moleküle drastisch ab – kaum eine Aminosäure in Sicht. Die Ursuppe entpuppte sich lediglich als Kuriosität. Sie war nicht mehr als eine anschauliche Demonstration dafür, dass organische Molküle unter einfachen Laborbedingungen hergestellt werden können. Durch die Entdeckung zahlreicher organischer Moleküle im Weltall, insbesondere in Kometen und Meteoriten, widerfuhr der Ursuppe eine Ehrenrettung. Einige dieser Himmelskörper schienen fast vollkommen aus schmutzigem Eis und organischen Molekülen zu bestehen und wiesen eine Reihe von Aminosäuren auf,


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die jenen auffallend ähnelten, die sich in elektrisch geladenen Gasen bilden. Neben der überraschenden Tatsache, dass sie existieren, begann es so auszusehen, als ob die Moleküle des Lebens speziell bevorzugt wurden – ein kleiner Teil aus der großen Bibliothek aller möglichen organischen Moleküle. Das gigantische Asteroiden-Bombardement bekam nun ein ganz neues Gesicht: Es war nicht länger nur zerstörend. Die Einschläge waren letztendlich die Quelle, aus der Wasser und organische Moleküle hervorgingen, die wiederum dazu nötig sind, das Leben in Gang zu bringen. Die Suppe hatte ihren Ursprung nicht im Inneren der Erde, sondern wurde aus dem Weltall geliefert. Und obwohl die meisten organischen Moleküle bei den Einschlägen wohl in Fetzen gerissen wurden, belegen Berechnungen, dass genug von ihnen überdauert haben könnten, um die Zutaten einer Ursuppe zu bilden. Auch wenn das Leben nicht aus dem All ausgesät wurde, wie es der Kosmologe Fred Hoyle vertritt, so verband diese Idee dennoch die Ursprünge des Lebens – oder letztendlich die Ursuppe – mit dem Bau des Universums. Leben war nicht länger eine einsame Ausnahmeerscheinung, sondern eine maßgebende kosmologische Konstante, unabwendbar wie die Schwerkraft. Unnötig zu erwähnen, dass Astrobiologen von dieser Idee begeistert waren. Viele sind es heute noch. Abgesehen davon, dass es eine schöne Idee ist, sichert sie ihnen ihren Arbeitsplatz. Die Ursuppe ist nebenbei auch gut mit der Molekulargenetik vereinbar, insbesondere mit der Idee, dass es im Leben um Replikation geht, um spezielle Gene, die aus DNA oder RNA bestehen, welche sich selbst genauestens kopieren können und an die nächste Generation weitergegeben werden (mehr dazu im nächsten Kapitel). Es ist sicherlich richtig, dass natürliche Selektion nicht ohne eine gewisse Art von Replikator funktionieren kann, und es ist ebenso richtig, dass die Entwicklung von komplexem Leben ausschließlich unter der Federführung der natürlichen Selektion möglich ist. Für viele Molekularbiologen ist der Ursprung des Lebens auch der Ursprung der Replikation. Und eine Ursuppe passt gut zu dieser Idee, da sie alle Zutaten enthält, die konkurrierende Wettstreiter brauchen, um zu wachsen und sich zu entwickeln. In einer schönen dicken Suppe nehmen sich die Replikatoren, was sie brauchen, formen immer längere, komplexere Polymere und verwandeln letzten Endes andere Moleküle in ausgeklügelte Strukturen wie Proteine und Zellen. So gesehen ist diese Suppe ein alpha-


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betisches Meer, in dem Buchstaben schwimmen, die nur darauf warten, dass die natürliche Selektion sie herausfischt und sie in unvergleichliche Prosa verwandelt. Im Grunde ist die Idee einer Ursuppe tückisch. Nicht weil sie zwangsläufig falsch wäre – es mag vor langer Zeit tatsächlich eine Ursuppe gegeben haben, auch wenn sie viel stärker verdünnt war, als ursprünglich angenommen. Sie ist tückisch, weil sie unsere Aufmerksamkeit von den eigentlichen Grundlagen des Lebens ablenkt. Nehmen wir eine keimfreie Dosensuppe (oder Erdnussbutter) und lassen sie für einige Millionen Jahre stehen. Wird sich Leben entwickeln? Nein. Warum nicht? Weil die Bestandteile sich lediglich zersetzen würden, wenn sie sich allein überlassen sind. Wenn wir auf die Dose wiederholt einschlagen, wird es auch nicht besser. Die Suppe verdirbt sogar noch schneller. Zeitweilige gewaltige Entladungen, wie Blitze, mögen einige verbindungsfreudige Moleküle dazu bewegen, sich zu Klumpen zusammenzuballen, jedoch zerreißen diese sehr wahrscheinlich wieder in ihre Einzelteile. Kann auf diese Weise eine Population hochentwickelter Replikatoren entstehen? Ich bezweifle es. Wie schon der Arkansas-Reisende aus dem Lied sagt: »Du kannst von hier aus nicht dorthin gelangen.« Es ist thermodynamisch einfach nicht möglich, genauso wie ein Körper durch wiederholte Stromschläge nicht wiederbelebt werden kann. Thermodynamik ist eines dieser Wörter, die in populärwissenschaftlichen Büchern gerne vermieden werden. Die Bedeutung des Wortes wird verbindlicher, wenn man Thermodynamik als das sieht, was sie ist: die Wissenschaft des »Verlangens«. Die Existenz von Atomen und Molekülen wird von »Anziehung«, »Abstoßung«, »Mangel« und »Entladungen« bestimmt. Das geht so weit, dass es geradezu unmöglich wird, über Chemie zu schreiben, ohne einen gewissen Anthropomorphismus einzustreuen. Moleküle »wollen« Elektronen abgeben oder aufnehmen, ziehen gegensätzliche Ladungen an, stoßen gleiche Ladungen ab oder verbinden sich mit Molekülen, die gleiche Eigenschaften haben. Eine chemische Reaktion läuft spontan ab, wenn alle molekularen Partner das Verlangen haben, sich daran zu beteiligen; ansonsten können sie mithilfe einer größeren Kraft dazu gezwungen werden, widerwillig zu reagieren. Und natürlich gibt es Moleküle, die ein wirkliches Verlangen danach haben, zu reagieren, aber nur schwer ihre angeborene Schüchternheit überwinden können. Ein kleiner, netter Flirt mag eine gewaltige Flut der Begierde auslösen, eine


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Entladung purer Energie – aber ich sollte an dieser Stelle wohl besser aufhören. Ich bin der Meinung, dass Thermodynamik die Welt bewegt. Wenn zwei Moleküle nicht miteinander reagieren wollen, können sie nur schwer davon überzeugt werden, es dennoch zu tun. Wollen sie miteinander reagieren, werden sie dies auch tun, auch, wenn es einige Zeit dauern mag, bis sie ihre Schüchternheit überwunden haben. Unser Leben wird durch eine solche Art des Verlangens bestimmt. Die Moleküle in unserem Essen wollen unbedingt mit Sauerstoff reagieren, aber glücklicherweise reagieren sie nicht spontan (sie sind ein wenig schüchtern), sonst würden wir alle in Flammen aufgehen. Die Flamme des Lebens jedoch, die langsam brennt und uns alle am Leben erhält, ist eine Reaktion von exakt dem gleichen Typ: Wasserstoff, der dem Essen entzogen wird, reagiert mit Sauerstoff, wodurch die Energie frei wird, die wir zum Leben brauchen.1 Im Grunde wird alles Leben durch eine ähnliche »Hauptreaktion« aufrechterhalten: eine chemische Reaktion, die ablaufen will und bei der Energie frei wird. Diese Energie kann nun dazu verwendet werden, alle Nebenreaktionen in Gang zu setzen, die den Stoffwechsel ankurbeln. All diese Energie, all unser Leben läuft auf die Gegenüberstellung zweier Moleküle hinaus, die völlig aus dem Gleichgewicht geraten sind: Wasserstoff und Sauerstoff – zwei Gegenspieler, die sich in trauter molekularer Zweisamkeit verbinden, wodurch massenhaft Energie frei wird. Übrig bleibt nichts weiter als eine kleine, heiße Wasserpfütze. Und das ist das Problem mit der Ursuppe: Sie ist thermodynamisch gesehen im Gleichgewicht. Nichts in dieser Suppe will wirklich reagieren, schon gar nicht so, wie Wasserstoff und Sauerstoff es tun. Es gibt kein Ungleichgewicht, keine treibende Kraft, die das Leben den unsagbar steilen energetischen Hang hinaufjagen könnte, an dessen Ende die Bildung wirklich komplexer Polymere steht – Proteine, Lipide, Polysaccharide und ganz besonders RNA und DNA. Die Idee, dass Replikatoren wie die RNA, die ersten Erfindungen des Lebens waren, die jeglicher thermodynamischen Kraft vorausgingen, ist Mike Russell zufolge so, »als ob man den Motor eines Autos ausbauen und erwarten würde, dass die Computersteuerung das Fahren übernimmt«. Aber wenn nicht aus einer Suppe, woher kam der Motor dann? *


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Der erste Schlüssel zu einer Antwort wurde in den frühen 1970er Jahren gefunden, als entlang der Galápagos-Verwerfung, unweit der Galápagos-Inseln, Schlote entdeckt wurden, aus denen heißes Wasser aufstieg. Passenderweise boten diese Inseln, deren Artenvielfalt Darwin einst auf die Idee zur Entstehung der Arten brachte, nun eine Erklärung für die Entstehung des Lebens selbst. Einige Jahre lang tat sich wenig. Dann, im Jahre 1977, acht Jahre nachdem Neil Armstrong seinen Fuß auf den Mond gesetzt hatte, tauchte das US-Marine-U-Boot Alvin zu der Verwerfung hinab. Es suchte die untermeerischen hydrothermalen Quellen, die vermutlich die heißen Schlote speisten, und fand sie ordnungsgemäß. Während ihre Existenz nicht wirklich überraschte, war die schiere Fülle des Lebens, die in den dunklen Tiefen der Verwerfung herrschte, ein wahrer Schock. Hier gab es riesige Würmer – einige davon fast zweieinhalb Meter lang – und Muscheln, die so groß wie Essteller waren. Auch wenn Riesen in solchen Meerestiefen keine Seltenheit sind – denken wir nur an Riesenkalmare –, so war ihre Häufigkeit dennoch erstaunlich. Die Populationsdichten an Tiefseeschloten sind mit denen eines Regenwaldes oder Korallenriffs vergleichbar. Der Unterschied besteht darin, dass das Leben hier nicht durch die Sonne, sondern durch die Exhalationen der Schlote gespeist wird. Wahrscheinlich waren die Schlote selbst das Spektakulärste an der Sache. Sie erhielten bald den Namen »Schwarze Raucher« (s. Abb. 1.1). Wie sich herausstellte, waren die Schlote der Galápagos-Verwerfung eine harmlose Angelegenheit, verglichen mit einigen der anderen 200 Schlotfelder, die seitdem entdeckt wurden und die entlang der Mittelozeanischen Rücken des Pazifischen, Atlantischen und Indischen Ozeans verteilt sind. Schwankende schwarze Schornsteine, manche so hoch wie Häuser, pumpen schwarze Rauchschwaden in das darüberliegende Meer. Der Rauch ist jedoch kein richtiger Rauch. Es handelt sich um kochende metallische Sulfide, die ins Meerwasser eindringen und aus der heißen Magmakammer darunter hervorquellen. Sie sind sauer wie Essig und erreichen unter dem großen Druck der Meerestiefen Temperaturen von 400 °C, bevor sie sich in das kalte Wasser ergießen. Die Schornsteine selbst werden von Schwefelmineralen wie Eisenpyrit (besser bekannt als Katzengold) aufgebaut, die sich aus dem schwarzen Rauch abscheiden und über weite Bereiche in dicken Ablagerungen ansammeln. Manche Schornsteine wachsen rasch –


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Abb. 1.1 Ein durch Vulkanismus gesteuerter Schwarzer Raucher auf dem Juan-deFuca-Rücken im nordöstlichen Pazifik, der bei Temperaturen von 350 °C entgast. Der eingezeichnete Maßstab beträgt einen Meter. Abb. 1.2 Nature Tower, ein 30 Meter hoher, aktiver basischer Schlot an der Hydrothermalquelle Lost City, der aus dem umgebenden Serpentinit aufsteigt. Die aktiven Bereiche sind strahlend weiß. Der eingezeichnete Maßstab beträgt einen Meter.

bis zu 30 Zentimeter am Tag – und können 60 Meter erreichen, bevor sie in sich zusammenfallen. Diese bizarre und abgeschiedene Welt erinnerte an eine Vision der Hölle, vollgestopft mit Schwefel und dem faulen Gestank von Schwefelwasserstoff, der aus den Schwarzen Rauchern ausströmte. Vermutlich konnte sich nur der wirre Verstand eines Hieronymus Bosch riesige Röhrenwürmer vorstellen, denen entweder ein Mund oder ein Anus fehlte, oder die augenlosen Garnelen, von denen es auf den Felsenriffen zwischen den Kaminen nur so wimmelt – grotesk wie eine Heuschreckenplage. Das Leben an den Schwarzen Rauchern erträgt diese höllischen Bedingungen nicht


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nur, es kann ohne sie nicht existieren. Es gedeiht durch sie. Aber wie? Die Antwort liegt im Ungleichgewicht. Während Meerwasser zum Magma unter den Schwarzen Rauchern durchsickert, wird es stark erhitzt und mit Mineralen und Gasen angereichert, insbesondere mit Schwefelwasserstoff. Schwefelbakterien können den Wasserstoff aus dieser Verbindung lösen, ihn mit Kohlendioxid verbinden und so organisches Material bilden. Diese Reaktion ist die Grundlage für das Leben an den Schloten. Sie erlaubt den Bakterien zu gedeihen, ohne dass dazu Sonnenlicht nötig wäre. Jedoch kostet die Umwandlung von Kohlendioxid in organisches Material Energie und um diese zu gewinnen, brauchen die Schwefelbakterien Sauerstoff. Durch die Reaktion zwischen Schwefelwasserstoff und Sauerstoff wird die Energie frei, die die Welt an den Schloten zum Leben erweckt. Sie ist mit der Reaktion von Wasserstoff und Sauerstoff vergleichbar, die unser eigenes Leben in Gang hält. Es entsteht Wasser, wie zuvor, aber auch elementarer Schwefel, jener biblische Schwefel, der den Schwefelbakterien ihren Namen gab. Es ist wichtig anzumerken, dass die Schlotbakterien keinen direkten Nutzen aus der Hitze oder irgendeiner anderen Eigenschaft des Schlotes ziehen. Sie nutzen lediglich den Schwefelwasserstoff.2 Dieses Gas ist von Natur aus nicht energiereich. Erst durch die Reaktion mit Sauerstoff wird Energie frei. Diese Reaktion ist wiederum auf die Kontaktzone zwischen Schlot und Meerwasser angewiesen, auf die Gegenüberstellung zweier Welten in einem dynamischen Ungleichgewicht. Nur die Bakterien, die in direkter Nachbarschaft der Schlote leben und von beiden Welten gleichzeitig zehren, sind in der Lage, diese Reaktionen ablaufen zu lassen. Die Tiere, die an den Schloten leben, weiden entweder die Bakterienmatten ab, wie die Garnelen, oder züchten Bakterien in ihrem Inneren und kümmern sich quasi um ihre eigene Farm. Dies erklärt beispielsweise, warum die riesigen Röhrenwürmer keinen Verdauungstrakt brauchen – sie werden in ihrem Inneren von Bakterienherden gefüttert. Jedoch bringen die besonderen Anforderungen, sowohl Schwefelwasserstoff als auch Sauerstoff zu beschaffen, die tierischen Gastgeber in ein Dilemma. Sie müssen nämlich etwas von den beiden Welten in sich vereinen. Einige Eigenheiten in der merkwürdigen Anatomie der Röhrenwürmer rühren von dieser unvermeidbaren Bindung.


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Es dauerte nicht lange, bis Wissenschaftler die Entstehung des Lebens mit den Bedingungen an den untermeerischen Schloten in Verbindung brachten. Der Erste unter ihnen war der Ozeanograph John Baross von der University of Washington in Seattle. Die Schlote lösten umgehend viele der Probleme, die man mit der Ursuppe hatte, besonders das der Thermodynamik. In dem aufsteigenden schwarzen Rauch herrschte kein Gleichgewicht. Die Kontaktzone zwischen den Schloten und dem Meerwasser muss auf der frühen Erde allerdings anders ausgesehen haben, denn damals gab es nur wenig oder noch gar keinen freien Sauerstoff. Die Reaktion zwischen Schwefelwasserstoff und Sauerstoff kann demzufolge nicht die treibende Kraft gewesen sein, wie das heute bei dieser Form der Atmung der Fall ist. Wie auch immer, die Zellatmung ist ein komplizierter Prozess, der einige Zeit benötigt haben muss, um sich zu entwickeln, und kann nicht die ursprüngliche Energiequelle gewesen sein. Stattdessen, so behauptet der revolutionär denkende deutsche Chemiker und Patentanwalt Günter Wächtershäuser, war die spontan ablaufende Reaktion zwischen Schwefelwasserstoff und Eisen der ursprüngliche Motor des Lebens. Bei dieser Reaktion bildet sich das Mineral Eisenpyrit, wobei eine kleine Energiemenge freigesetzt wird, die, zumindest theoretisch, eingefangen werden kann. Wächtershäuser entwickelte ein chemisches Modell für die Entstehung des Lebens, das genauso aussah. Da die Energie, die bei der Bildung von Eisenpyrit frei wird, nicht ausreicht, um Kohlendioxid in organisches Material umzuwandeln, kam Wächtershäuser auf die Idee, Kohlenmonoxid als reaktionsfreudigeres Zwischenprodukt zu verwenden. Dieses Gas wurde tatsächlich auch an sauren Schloten entdeckt. Er überlegte sich weitere träge, organische Reaktionen mit unterschiedlichen Eisen-Schwefel-Mineralen, die außergewöhnliche Katalysekräfte zu haben schienen. Darüber hinaus gelang es Wächtershäuser und seinen Kollegen, viele dieser theoretischen Reaktionen im Labor nachzuweisen. Sie waren also mehr als nur plausibel. Wächtershäuser gelang eine Meisterleistung, die jahrzehntealte Vorstellungen darüber, wie das Leben entstanden sein könnte, über den Haufen warf. Der Schauplatz, eine höllische Umgebung, in der die am wenigsten zu erwartenden Zutaten zu finden waren, nämlich vorwiegend Schwefelwasserstoff, Kohlenmonoxid und Eisenpyrit – zwei giftige Gase und Katzengold. Ein Wissenschaftler, der zum ersten Mal Wäch-


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tershäusers Werk las, bemerkte, dass es sich so anfühlte, als sei er über eine wissenschaftliche Abhandlung gestolpert, die durch ein Zeitloch aus dem ausgehenden 21. Jahrhundert gefallen war. Aber hat er recht? Harsche Kritik wurde auch an Wächtershäuser geübt – teilweise, weil er ein wahrer Revolutionär war, der lang vertretene Ideen umwälzte, teilweise, weil er mit seiner hochmütigen Art dazu neigte, wissenschaftliche Kollegen auf die Palme zu bringen, und teilweise, weil es berechtigte Zweifel an dem Bild gab, das er zeichnete. Die wohl heikelste Schwachstelle ist das »Konzentrationsproblem«, das auch das Bild von einer Ursuppe trübt. Alle organischen Moleküle lösen sich in einem Meer von Wasser und es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie sich jemals begegnen und miteinander reagieren werden, um Polymere wie RNA und DNA zu bilden. Es gibt nichts, worin sie aufgefangen werden könnten. Wächtershäuser entgegnete, dass alle seine Reaktionen auf der Oberfläche von Mineralen wie Eisenpyrit ablaufen können. Hierbei gibt es jedoch eine Schwierigkeit, denn die Reaktionen können nicht vollständig ablaufen, wenn die Endprodukte nicht von der Oberfläche des Katalysators abgelöst werden. Entweder verklebt alles oder es verteilt sich.3 Mike Russell, der heute im Jet Propulsion Laboratory in Pasadena arbeitet, machte in den 1980er Jahren einen Lösungsvorschlag zu diesen Problemen. Russell ist eine Art prophetischer Wissenschaftsbarde, der zu »geopoetischen« Zauberformeln neigt. Seine Lebensanschauung, die in Thermodynamik und Geochemie wurzelt, erscheint vielen Biochemikern obskur. Im Laufe der Jahrzehnte zogen Russells Ideen jedoch eine zunehmende Reihe von Befürwortern an, die in seinen Visionen eine durchaus einleuchtende Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Lebens sehen. Wächtershäuser und Russell stimmen darin überein, dass hydrothermale Quellen bei der Entstehung des Lebens eine bedeutende Rolle spielen. Abgesehen davon, sieht der eine schwarz, wo der andere weiß sieht. Während der eine Vulkanismus voraussetzt, ist der andere dagegen; der eine bevorzugt ein saures Milieu, der andere ein basisches. Für zwei Ideen, die manchmal miteinander verwechselt werden, haben sie auffallend wenig gemeinsam. Lassen Sie mich erklären. *


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