Meinrad v. Engelberg Die Neuzeit
WBG Architekturgeschichte Herausgegeben von Christian Freigang
Meinrad v. Engelberg
Die Neuzeit 1450 – 1800 Ordnung – Erfindung – Repräsentation
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliograie; detaillierte bibliograische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Redaktion: Barbara M. Eggert, Berlin Layout und Satz: schreiberVIS, Bickenbach Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Einbandabbildung: Rom, Palazzo Farnese, Teilansicht der Fassade: Fenster des ersten Geschosses. © akg-images / Andrea Jemolo Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-23985-6 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73261-6 eBook (epub): 978-3-534-73262-2
Vorwort des Herausgebers Die WBG Architekturgeschichte umfasst drei Bände und erläutert kompakt die bedeutendsten Entwicklungen, Hauptthemen und wesentliche Schlüsselwerke des Bauens ab ca. 800 bis heute in Europa und ausgewählten weiteren Gebieten. Der erste Band („Klöster – Kathedralen – Burgen“) umfasst das Mittelalter bis ca. 1500, der zweite („Ordnung – Erindung – Repräsentation“) behandelt die Architektur der Neuzeit von 1450 bis 1800, also Renaissance und Barock, der dritte ist einer ‚langen‘ Moderne, also der Epoche von der Französischen Revolution bis heute, gewidmet („Baukunst – Technik – Gesellschaft“). Die Epochenschwellen – um 1500 bzw. um 1800 – folgen einer lange bestehenden und gut begründeten Einteilung der europäischen Architekturgeschichte: Vor der Neuentdeckung der antiken Säulengrammatik, dem sog. Vitruvianismus, im 15. Jahrhundert und vor der gleichzeitigen Erindung des massenhaften Bilddrucks war das Bauen grundsätzlich anders: eine virtuos gehandhabte Technik im Dienst von Liturgie und Ritual, Verteidigung und Verkehr. Danach, im vitruvianischen Zeitalter, wurde das Bauen zu einer rhetorisch-künstlerischen Sprache, die vermittels eines universellen Kanons verstanden und bewertet sein wollte. Dies wiederum änderte sich seit 1800 in grundlegender Weise: Architektur sollte nunmehr (auch) unmittelbar wirken oder aber vielfältig ältere Stile abrufen oder neue Bautechniken gestalterisch steigern; der Vitruvianismus unterliegt seither einer grundlegenden Verdammung oder zumindest Revision. In jedem Band bildet die exemplarische Darstellung von jeweils 50 besonders signiikant erscheinenden, realisierten und erhaltenen Ensembles den Schwerpunkt. Das stellt sicherlich eine knappe Auswahl berühmter und auch weniger bekannter Bauten dar, ein kleiner Ausschnitt aus der immensen Geschichte des Bauens. Doch geht es darum, die faszinierende Vielzahl der Kriterien, aus denen Architektur entstanden ist und entsteht, an konkreten Gebäuden, weniger an theoretischen Entwürfen, zu erfahren. Bauen heißt im Gegensatz zu den anderen Künsten immer, in die Erde einzugreifen, mit der Schwere der Materialien richtig umzugehen, auf gesellschaftliche und politische Gegebenheiten zu reagieren und nicht zuletzt: omnipräsent zu sein, unübersehbar, wunderschön oder auch störend und beunruhigend, der Plege wie der Kommentierung bedürftig. Das ist die Besonderheit von Architektur als kulturellem Faktor, und deswegen bilden hier hauptsächlich konkrete Bauten den Ausgangspunkt, Bauten, an denen beispielhaft größere und theoretische Zusammenhänge erläutert werden: Was etwa sind die Vorteile des Spitzbogens, warum benötigt ein Herrscher ein Schloss, kann und soll Architektur ‚sprechen‘, in welchem Zusammenhang können Philosophie und Architektur stehen?
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Die Beschreibung der Schlüsselwerke folgt prinzipiell einer chronologischen Ordnung, ohne dass beabsichtigt ist, hier eine kontinuierliche Entwicklungsgeschichte in allen Verästelungen vorzulegen. Deren Grundzüge sind gleichwohl in einem eigenen Kapitel ausgeführt, ebenso wie Erläuterungen zu essentiellen Themen der Architekturtheorie sowie zur Entwicklung der Erforschung der Architekturgeschichte. Wichtige Einzelthemen, zum Beispiel zur Bautechnik, den Säulenordnungen, der Architektenausbildung, zu Baugattungen und Vermittlungsmedien sind in separaten Themenblöcken dargestellt. Querverweise sorgen dafür, dass sich die Kenntnisse vertiefen und erweitern lassen. Die Texte können also auch auswahlweise und springend gelesen werden. Literaturverweise ermöglichen es, weiteres zu den Themen in Erfahrung zu bringen. Zeittafel und Register tragen zur praktischen Benutzbarkeit der Bände bei. Die Absicht der Autoren, allesamt Hochschullehrer im Bereich der Architekturgeschichte, ist es, nicht Altbekanntes vorzutragen, sondern neuere Erkenntnisse in ihre Texte einließen zu lassen. Insofern beansprucht die WBG Architekturgeschichte, ein faszinierendes Thema aktuell und angemessen übergreifend zu überblicken: Intensiv, ohne zu überborden; vielfältig, ohne beliebig zu sein; unterhaltsam, ohne ins Oberlächliche zu gleiten; originell, ohne Einseitigkeit zu forcieren; didaktisch, ohne belehrend zu wirken. Sie wendet sich an alle, die an der Geschichte der Architektur interessiert sind oder berulich mit ihr zu tun haben. Berlin, im Mai 2013 Christian Freigang
Vorwort des Herausgebers
Inhalt Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung
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Von Büchern und Bauten: Das Vitruvianische Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Ordnung, Erfindung, Repräsentation: Bauen als Botschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16
Drei Wege durchs Labyrinth: Zum Konzept des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Grundzüge der Architekturgeschichte in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
Von der ‚Renaissance‘ zur ‚Revolution‘: Dem Wandel einen Namen geben . . . . . . . . . . . . .
23
Die Szene ausleuchten: Fragestellungen und Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36
Repräsentation: Architektur als Medium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
Ordnung: Maßstab und Ideal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52
Erfindung: Individualität und Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
III. Schlüsselwerke
93
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|1| Das Findelhaus in Florenz: Der Gründungsbau der Renaissance |2| |3| |4| |5| |6| |7|
.................
93
Themenblock · Säulenordnungen: Dekorum, Norm und Dekoration . . . . . . . . . . .
98
S. Lorenzo in Florenz: Die Wiedergeburt der Basilika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
100
S. Andrea in Mantua: Wandpfeilerkirche und ‚Etruskischer Tempel‘ . . . . . . . . . . . . . .
105
Palazzo Pitti und Boboli-Garten in Florenz: Palazzo in Villa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
109
Palazzo del Te in Mantua: Manierismus und Antikenevokation . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
114
Bramantes Tempietto in Rom: Zentralbau all’antica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
118
Wladislawsaal und Belvedere auf der Prager Burg: Deutsche und welsche Sitten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
121
|8| Schloss Chambord an der Loire: Architektur als Imprese
.........................
126
Themenblock · Schlossbau: Raumfolge, Zeremoniell, Funktionen . . . . . . . . . . . . . |9| San Lorenzo de El Escorial: Der allerkatholischste Klosterpalast . . . . . . . . . . . . . . . . . . |10| Schloss Frederiksborg bei Hillerød: Von der Wasserburg zum Königsschloss . . . . . .
131 132 136
8
|11| St-Eustache in Paris: Resistance und Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |12| St. Michael in München: Rom in Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |13| Stadt und Kirche Freudenstadt: Idealentwurf und Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
140
Themenblock · Festungsbau: Von Leonardo bis Vauban . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
151
|14| Die Basilius-Kathedrale in Moskau: Variationen über ein altrussisches Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |15| Die Süleymaniye-Moschee in Istanbul: Renaissance am Bosporus . . . . . . . . . . . . . . .
153
143 147
157
|16| Der Markusplatz in Venedig: Das Stadtbild als Staatsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |17| S. Giorgio Maggiore in Venedig: Die Kirche als Tempel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
166
|18| Villa Rotonda bei Vicenza: Das Landhaus als Pantheon
..........................
170
Themenblock · Theater: Eine Baugattung wird erfunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |19| Palazzo Farnese in Rom: Der perfekte Renaissancepalast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |20| Das Kapitol in Rom: Der ‚Nabel der Welt‘ wird erneuert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
176 180
|21| St. Peter in Rom I: Zentralbau versus Langbau
..................................
184
Themenblock · Berufsbilder: Baumeister, Ingenieur und Architekt . . . . . . . . . . . . .
190
|22| Il Gesù in Rom: Die Erfindung der Barockkirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |23| S. Ivo alla Sapienza in Rom: Göttliche Weisheit und künstlerische Lizenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |24| S. Lorenzo in Turin: Glaube und Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
191
201
|25| St. Peter in Rom II: Petersplatz und Baldachin
..................................
205
Themenblock · Zeichnung, Druckgrafik und Modell als Entwurfs- und Kommunikationsmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
211
|26| Piazza Navona in Rom: Stadtbaukunst als Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |27| Scalinata di Spagna in Rom: Die Treppe als Platz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Themenblock · Ephemere und illusionistische Architektur: Für Zeit und Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
161
174
196
213 217 221
|28| Kathedrale und Palast von Granada: Renaissance und Reconquista . . . . . . . . . . . . . . |29| Die Wallfahrtskirche von Ocotlán: Kolonisation und Transkulturalität . . . . . . . . . . . . .
223
|30| Das Pellerhaus in Nürnberg: Kaufmannsstolz und Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . |31| Das Rathaus von Antwerpen: Renaissance auf Flämisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
231
227
234
Themenblock · Bürger bauen: Zwischen Fleischhalle und Zeughaus . . . . . . . . . . |32| Das Rathaus von Amsterdam: Palast der Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |33| Die Stadtanlage von Amsterdam: Der Bürger als Stadtgestalter . . . . . . . . . . . . . . . . . .
238
Themenblock · Städtebau: Schönheit der Regelmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
248
|34| Die Stadtanlage von St. Petersburg: Das Fenster zum Westen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |35| Der Louvre in Paris: Die Wiege des grand goût . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
249 253
|36| Schloss, Kapelle und Garten von Versailles: Die Residenz als Bild der Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
258
Inhalt
239 243
9
|37| Hôtel Lambert in Paris: Private Repräsentation entre cour et jardin
...............
264
Themenblock · Tore, Brunnen, Denkmäler: Funktion, Symbol, Erinnerung . . . . . |38| Place Vendôme in Paris: Die Vollendung der place royale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |39| Das Benediktinerkloster Melk: Abt und Architekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |40| Die Wieskirche bei Steingaden: Der Himmel auf Erden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
269
Themenblock · Die Konfessionen: Grundlagen des Sakralbaus . . . . . . . . . . . . . . . . |41| Die Frauenkirche in Dresden: „Ein St. Peter der wahren evangelischen Religion“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |42| Die Würzburger Residenz: Kaiser, Reich und Fürstbischof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |43| Sanssouci bei Potsdam: Das Lustschloss als Selbstbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |44| Queen’s House und Marinehospital in Greenwich bei London: England wird klassisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . |45| Chiswick House bei London: Die Wiedergeburt des Palladianismus . . . . . . . . . . . . . .
284
|46| |47| |48| |49|
271 275 279
285 289 294 297 301
Themenblock · Gärten und Parks: Von Tivoli nach Wörlitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
304
Die Gärten von Stowe in Buckinghamshire: ‚Kunst-Landschaft‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . .
305
Crescent und Circus in Bath: Das Reihenhaus als Palast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
310
Strawberry Hill bei London: Gothic Revival . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
314
Ste-Geneviève, das Pantheon in Paris: Vom griechisch-gotischen Ideal zum Tempel der Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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|50| Der Newton-Kenotaph: Utopie und Denkmalkult
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IV. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
331
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
336
Register der Orte und Bauten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
I. Einleitung
Von Büchern und Bauten Das Vitruvianische Zeitalter
I
m dritten und letzten Teil [meines Buches] werde ich erklären, wie man verschiedene Gebäude in der Weise errichtet, wie es in der Antike üblich war; außerdem einige Entwürfe von mir vorstellen, und das, was ich von den Alten gelernt habe, was aber heutzutage fast ganz verloren gegangen und aufgegeben worden ist. Es wird bewiesen werden, dass in der Antike schönere und würdigere Bauwerke errichtet wurden als heute. (Filarete)
An einem kalten Januartag des Jahres 1417 fällt dem Humanisten Poggio Bracciolini in einem deutschen Kloster ein altes Manuskript in die Hände. Mit dieser Entdeckung rettet er das letzte vorhandene Exemplar […] vor dem Vergessen, nicht ahnend, dass dieses Buch die Welt in ihren Grundfesten erschüttern wird. (Greenblatt) Am Anfang dieses Buches über die Architektur der Frühen Neuzeit stehen zwei Geschichten von Büchern über Architektur: eine wahre und eine erfundene. Die wahre Geschichte handelt von der Wiederentdeckung eines ursprünglich antiken Textes, der zwar niemals völlig vergessen, aber bis zum Beginn der Neuzeit nur in stark veränderten, unvollständigen Fassungen erhalten war (Schuler 1999) und nun erstmals unverkürzt wieder vorlag: die „Zehn Bücher“ des römischen Architekten und Theoretikers Vitruv, eines Zeitgenossen des Augustus, dessen voller Name vermutlich Marcus Vitruvius Pollio lautete. Das um 25 v. Chr. verfasste Werk mit dem Titel „De architectura“ – nach heutigen Begriffen ein Buch mit 10 Kapiteln (im Folgenden jeweils mit I–X angegeben) – sollte zum einlussreichsten Text über die Baukunst werden, der je geschrieben wurde. Das war weniger seiner Qualität als dem Mangel an vergleichbaren Texten dieses Genres geschuldet – es war die einzig erhaltene von vermutlich zahlreichen architekturtheoretischen Schriften der Antike (Knell 2008). Dieser Zufall der Überlieferung traf auf einen kulturellen Kontext, der begierig wie ein Schwamm jeden Tropfen antiken Wissens aufsog, der zu gewinnen war: Eben jener Wissensdurst hatte den Florentiner Gelehrten Poggio Bracciolini über die Alpen getrieben, um
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dort verlorene literarische Schätze zu heben, an denen in Italien seit einigen Jahrzehnten das Interesse gewaltig gewachsen war. Das selbstgesteckte Ziel, die seit Jahrhunderten angeblich vergessene und missachtete Antike wiederzubeleben, hat dem Zeitalter seinen bis heute gebräuchlichen Namen gegeben: die Epoche der ‚Wiedergeburt‘ – die ‚Renaissance‘. Obwohl diese Wiederentdeckungsgeschichte selbst inzwischen als weitgehend legendarisch relativiert ist, so beschreibt sie doch zutreffend die völlig neuartige Bedeutung, die antiken Texten nun zugemessen wurde, und die durchaus mit einer Neuaufindung verglichen werden kann. Der zeittypische Ruf der Humanisten genannten Gelehrten jener Epoche „ad fontes!“ (‚[zurück] zu den Quellen!‘) erklärt die radikal gesteigerte Relevanz, die auch ein bekanntes, aber bisher eher marginalisiertes Buch erlangen konnte, wenn es mit frischem und neugierigem Blick gelesen wurde. Während aber in den meisten anderen Wissensgebieten wie Poetik, Rhetorik, Jurisprudenz, Landwirtschaft oder Geschichtsschreibung eine Vielzahl konkurrierender antiker Schriftquellen zur Verfügung stand, die von den Gelehrten gegeneinander abgewogen und interpretierend ausgelegt werden konnten, blieb Vitruv bis heute konkurrenzlos auf seinem Feld: Das führte dazu, dass man ihm lange Zeit begierig und unkritisch aufs Wort glaubte, und den unbedeutenden pensionierten Militärarchitekten der frühen römischen Kaiserzeit, aus dessen Epoche nur wenige nennenswerte Bauten überliefert sind, zur unangefochtenen Autorität der gesamten antiken Baukunst erklärte. Man setzte seine oft das Legendarische streifenden Berichte und persönlichen Vorlieben, z. B. sein großes Interesse am griechischen Tempelbau (□ vgl. 26) und dessen Proportionen, mit einem allgemeingültigen Wissenskanon und einem scheinbar verbindlichen Regelwerk jener bewunderten, versunkenen Epoche gleich, an die man anknüpfen wollte. Hierbei übersah man völlig bzw. konnte noch nicht ahnen, dass die Mehrzahl aller antiken Bauten und Ruinen, die man in Rom und ganz Italien in denselben Jahren leißig zu studieren begann (□ 1), aus den Jahrhunderten nach Vitruv stammte und daher weder ihm bekannt sein konnte noch den von ihm formulierten, damals längst überholten Regeln folgte. Diese Missverständnisse Schritt für Schritt aufzuklären, sollte zu den besonders fruchtbaren Herausforderungen der allmählich sich formierenden Archäologie zählen. Die Nachwirkungen dieser beispiellosen Rezeptionswelle prägen das Reden und Schreiben über die Baukunst bis in die Gegenwart, weltweit. Die Gelehrten jener Epoche adaptierten weitgehend kritiklos Vitruvs oft eigenwillige Terminologie, z. B. die Benennung der einzelnen Säulentypen nach ihren angeblichen griechischen Entstehungsgebieten als dorisch, ionisch und korinthisch. Bis heute beziehen sich Architekten immer wieder gerne auf die drei vitruvianischen Grundtugenden eines jeden Bauwerks: irmitas, utilitas, venustas (Festigkeit, Nützlichkeit, Schönheit, I. 3). Selbst Begriffe der Umgangssprache wie „Symmetrie“ (I. 2), „Proportion“ (III. 1) oder „Modul“ (III. 3) haben hier ihren Ursprung, auch wenn sich ihre Bedeutung verschoben hat. Es dauerte ca. 350 Jahre, bis die Erforschung der überlieferten oder wiederentdeckten antiken Bauwerke so weit fortgeschritten war, dass sich Praxis und Theorie der Baukunst allmählich von ihrer selbst inthronisierten, scheinbar unhinterfragbaren Vaterigur befreien konnten. Die europäische Architektur jener Jahrhunderte zwischen 1420 und 1770, die den Gegenstand dieses Buches bildet, kann daher mit einem Wort nach ihrem allgemein anerkannten kanonischen Grundgesetz als ‚vitruvianisch‘ bezeichnet werden.
I. Einleitung
13 □ 1 Rom, Ruine des Flavischen Amphitheaters, gen. Colosseum, 72 – 80 n. Chr.
Die beständige Auseinandersetzung mit dem idealisierten, scheinbar unüberbietbaren, maßstabsetzenden Erbe der antiken Baukunst ist das genuin Verbindende jener Epoche, welche die Historiker als ‚Frühe Neuzeit‘, die Stilgeschichte mit den Begriffen Renaissance und Barock bezeichnet. Kein Architekt der Epoche zwischen Brunelleschi und Boullée hätte es wagen können, seine eigenen Werke nicht in irgendeine Beziehung zu dieser Autorität zu setzen: entweder afirmativ oder kritisch, in bewusster Abgrenzung oder in behaupteter Übereinstimmung mit jenen angeblich ewig gültigen ‚Gesetzen‘, die man aus den „Zehn Büchern“ des Vitruv destilliert hatte. Der beste Beleg hierfür ist ein Begriff, der heute selbstverständlich und immer noch alternativlos erscheint, und der doch erst von Vitruv eingeführt wurde: Architektur. Es handelt sich um ein aus dem Griechischen entlehntes lateinisches Kunstwort, nachdem die Vertreter dieses Berufsstandes angeblich als archi-tekton, als Oberste der Bauleute, bezeichnet worden seien: ‚Des Architekten Wissen umfaßt mehrfache wissenschaftliche und mannigfaltige elementare Kenntnisse. Seiner Prüfung und Beurteilung unterliegen alle Werke, die von den übrigen Künstlern geschaffen werden.‘ (I. 1, Vitruv/Fensterbusch 1976, S. 23.) Neben den erhofften Erkenntnissen über Gestaltungsregeln und Bauformen der Antike bot Vitruv noch einen weiteren, nahezu unbezahlbaren Vorzug: Er erhob das bisher handwerklich konnotierte, nützliche, aber mühsame und wenig prestigeträchtige Bauwesen nicht nur zur selbsterklärten ‚Anführerin‘ aller Künste, sondern auch in den Rang einer literaturfähigen, quasi exakten (nämlich gesetzmäßigen) Wissenschaft. Nun gab es also eine schriftlich ixierte Theorie und eine antike Autorität, auf die man sich beziehen konnte. Die mit ihrer bisherigen gesellschaftlichen Stellung unzufriedenen Bauleute hatten folglich nicht das geringste Interesse, die Autorität Vitruvs in Zweifel zu ziehen, verdankten sie ihm doch den Aufstieg ihres Gewerbes in die Sphäre der sog. Freien Künste wie Rhetorik, Geometrie oder Arithmetik. Dieses Anliegen lag bei Vitruv in besonders guten Händen, denn der ehrgeizige Autor war selbst überaus bemüht, an jeder geeigneten Stelle den hohen intellektuellen Rang seiner Theorie und Praxis verbindenden, meist aber unterschätzten Profession herauszustreichen: Er formulierte einen umfangreichen Bildungskanon, dem angeblich jeder Architekt zu genügen habe (I. 1), und erklärte das Bauen zum Urbedürfnis der Menschheit, die sich erst durch die Errichtung eines künstlichen Schutzes vor der Witterung, der sog. Urhütte (□ vgl. 23), aus dem Naturzustand befreit habe (II. 1). Schließlich lieferte Vitruv den Beweis dafür, was unvergänglicher und wirkmächtiger ist als die größten Gebäude: der literarische Nachruhm. Seit seiner Erhebung zum kanoni-
Von Büchern und Bauten
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schen Autor sind Bauten und Bücher untrennbar miteinander verbunden. Das Nachdenken und Schreiben über Architektur, wenn möglich begleitet von erklärenden Abbildungen (die im Falle Vitruvs leider nicht erhalten sind, □ 2, □ vgl. 25), erwies sich als mindestens gleichwertig mit dem Bauen selbst. Hierzu trug entscheidend eine technische Innovation bei, die ebenfalls im 15. Jh. in Deutschland erfunden und kurz darauf in ganz Europa perfektioniert wurde: der Druck von Texten mit beweglichen Lettern und Bildern mittels Holzschnitt und Kupferstich. Nun konnte es nicht mehr geschehen, dass Bücher so lange in Vergessenheit gerieten, bis versprengte handschriftliche Kopien in abgelegenen Klosterbibliotheken zufällig wiederentdeckt wurden. Endlich war die Kenntnis über Gebautes und Geplantes beliebig zu vervielfältigen und mühelos weltweit zu verbreiten. Die Baukunst war dialogfähig geworden: Sie hatte, wie jede anspruchsvolle Wissenschaft, eine international verständli□ 2 Leonardo da Vinci: Illustration zu Vitruvs Proportionsstudie des Menschen, ca. 1490, Venedig, che und verbindliche Terminologie (zunächst Galleria dell’Accademia in der damals geläufigen Gelehrtensprache Latein) und ein ideales Medium, das bedruckte und bezeichnete Papier, gefunden, mit dem man sich über Zeiten und Räume hinweg über ihr Wesen austauschen konnte. Hierbei waren die bildreproduzierenden Techniken mindestens so wichtig wie die gedruckten Texte, denn nun musste man z. B. die unterschiedlichen Detailformen und Proportionen der Säulenordnungen nicht mehr mühsam und missverständlich verbalisieren, sondern konnte diese anschaulich und kopierfähig vor Augen führen. Antike Ruinen und moderne Bauwerke anderer Länder waren so weitab von ihrem Standort rezipierbar, wie z. B. das Antwerpener Rathaus |▶ 31| mit seinen aus einem illustrierten Lehrbuch des in Frankreich tätigen Italieners Sebastiano Serlio entliehenen Fassadendetails zeigt. Hiervon handelt auch die zweite, nunmehr gänzlich iktive Geschichte von Bauten und Büchern, die der Verfasser des Eingangszitats, der mailändische Hofarchitekt Antonio Averlino in seinem ca. 1461 verfassten „Trattato dell’architettura“ erzählt. Dieses illustrierte Manuskript war das erste Architekturbuch in der Nachfolge Vitruvs, das in der italienischen Volkssprache, dem sog. Volgare verfasst war. Dennoch legte der Autor Wert auf seinen antikischen Bildungshintergrund und nannte sich daher Filarete, die italianisierte Fassung des griechischen phil-arete, was Tugendfreund bedeuten soll. Filarete wählte die Textgattung eines höischen Romans, der über weite Teile in Dialogform gekleidet ist. Der Autor schildert darin seine angeblichen Erlebnisse als Architekt eines mächtigen Fürsten, in dessen Auftrag er eine ganze (iktive) Stadt mit dem Na-
I. Einleitung
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men Sforzinda erbaut (Filarete/Spencer 1965). Dies war ein für die Zeitgenossen leicht zu entschlüsselnder Hinweis auf den Brotherrn des Verfassers, den Herzog von Mailand Francesco Sforza, der in dem Buch als vertrauter, gelehriger Schüler seines Baumeisters dargestellt wird – ein Verhältnis zwischen Herr und Diener, das damals allenfalls als Wunschbild gelten konnte, aber sehr deutlich vom neuen vitruvianisch grundierten Selbstbewusstsein des schreibenden Architekten spricht (Tönnesmann 2009). Filarete berichtet im 14. Buch (Kapitel) seines Traktats folgende Begebenheit: ‚Bei diesen Arbeiten [der Fundamentierung der Hafenstadt von Sforzinda] ereignete es sich, daß wir einen Steinblock […] fanden, welcher in Form einer Kiste glatt behauen war […]. Und als der Stein geöffnet war, lagen in ihm [neben anderen rätselhaften Gegenständen …] ein großes goldenes Buch […]. Das Buch war auf Goldblättern mit griechischen Buchstaben geschrieben und mit eingegrabenen Abbildungen ausgestattet. […] Nicht lange darauf schrieb er [der Fürst] uns, er habe sich das goldene Buch und die übrigen Inschriften übersetzen lassen. [… Im Buch war folgender Text zu lesen:] ‚Ich, König Zogalia, […] vertraue diesen Schatz Eurer Obhut an. Bewahrt ihn, bis der kommt, welcher von geringer Herkunft durch seine Tugenden zur Macht gelangt ist und nach Beruhigung seines Staates große Bauten aufführen wird […] Nach vielen Kämpfen mit anderen Fürsten gelang es meinem Vater, dem Volke den Frieden zurückzugeben. Nunmehr begann er zu bauen; vorzüglich gründete er nicht weit von hier, oberhalb im Thale, eine große Stadt, Plusiapolis.‘ […] Auch wies er [der Übersetzer] uns Nachbildungen der Zeichnungen im goldenen Buch, welche die beschriebenen Bauwerke erläuterten […]. Der Prinz kehrte zurück, und wir erbauten Hafen, Palast und Kirche genau nach den im goldenen Buch beschriebenen Bauten.‘ (Filarete/Oettingen 1890, S. 435–444.) Filaretes phantastische Erzählung kann als Parabel auf die Grundkonstellation des Vitruvianischen Zeitalters verstanden werden: In einem wie durch ein Wunder aus der Antike überlieferten, durch glücklichen Zufall wiederaufgetauchten Buch finden sich Beschreibungen großartiger, längst verschwundener Gebäude, verbunden mit der indirekten Aufforderung, diesem Vorbild nachzueifern. Adressat dieser Rede ist aber nicht etwa der Architekt, sondern der potentielle Bauherr, der Fürst. An ihn wendet sich der antike Verfasser, ein Königssohn mit dem Phantasienamen Zogalia: Er ist das literarische Spiegelbild des realen Prinzen von Mailand mit Namen Galeazzo Maria. Der solle nun, nachdem sein Vater die Macht erobert und befestigt habe, durch großartige Bauten beider Ruhm verewigen. Als Vorbild dient ihm hierbei das (wiederum iktive) antike Plusiapolis (Reichtumsstadt). Glücklicherweise sind die Bauten □ 3 Antonio Averlino gen. Filarete: „Haus der Tugenden und dieser untergegangenen Metropole alle im der Laster“, aus dem sog. Codex Magliabechianus (Archi„Goldenen Buch“ genau beschrieben und abtekturtraktat), Florenz, Biblioteca Nazionale, ca. 1464
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gebildet (□ 3), so dass der Fürst und sein Architekt nichts anderes tun müssen, als sich exakt an diese Vorgaben zu halten. Damit übertragen sie den Glanz der erträumten, fernen, natürlich besseren Vergangenheit auf das eigene Tun. Man muss kaum erwähnen, dass alle Abbildungen der phantastischen Bauten von Plusiapolis und alle Texte des „Goldenen Buches“ aus Filaretes eigener Feder stammen. Seine iktive, doppelbödige Konstruktion belegt aber treffend den Legitimationsmechanismus des Vitruvianischen Zeitalters: Jede anspruchsvolle Architektur der Gegenwart muss an der Antike maßnehmen. Je genauer deren (vermeintliche, d. h. selbst formulierte) Vorgaben reproduziert werden, desto großartiger das Ergebnis. Damit die Pläne aber nicht bloßes Papier bleiben, bedarf es eines groß denkenden, mächtigen und ausgabefreudigen Fürsten wie Zogalia-Galeazzo, der sich mit den Bauten identiiziert, sie initiiert, inanziert und damit selbst zu antiker Größe aufsteigt. Dies tut er am besten im vollkommenen Einverständnis mit seinem Architekten. Bauherr und Baumeister sind wie Vater und Mutter, die Bauwerke ihre gemeinsamen Kinder (Filarete/Oettingen 1890, S. 66).
Ordnung, Erfindung, Repräsentation Bauen als Botschaft amit ist das Kräftedreieck beschrieben, in dem sich die Architektur des Vitruvianischen Zeitalters entfalten wird. Unbezweifelbare Grundlage aller Bautätigkeit sind die Regeln und Vorbilder der Antike, die strikt einzuhalten sind: Sie beschreiben die festgefügte Ordnung der Architektur. Als Zweites bedarf es eines fähigen, gebildeten, einfallsreichen Fachmanns, der diese Regeln kompetent auslegt und ihre richtige Anwendung und kreative Umsetzung erst ermöglicht: Seine Aufgabe ist die Erindung (ital. invenzione) bzw. der Entwurf (disegno). Als dritter und entscheidender Faktor tritt aber der Auftraggeber hinzu, der seinen persönlichen Ruhm, seine politische und gesellschaftliche Position, seine ideologische Botschaft durch die Errichtung von Bauwerken verewigen will: Architektur dient hierbei als ideales, zeitgemäßes und konsensfähiges Medium der Repräsentation – nicht nur der obrigkeitlichen, also fürstlichen und kirchlichen, sondern ebenso auch der bürgerlichen und privaten Selbstdarstellung, Verewigung und ‚Sichtbarmachung‘. Mithilfe der Trias „Ordnung – Erindung – Repräsentation“, dem Untertitel dieses Buches, soll im Folgenden die Architekturgeschichte der Frühen Neuzeit verständlich gemacht werden. Sie wird zugleich als eine Mediengeschichte verstanden: Nicht nur, dass Bauten regelmäßig in Bildern und Worten präsentiert wurden und werden – sowohl in diesem Buch als auch zu ihrer Entstehungszeit. Vielmehr wird die Architektur der Frühen Neuzeit selbst als Kommunikationsmedium verstanden und vorgestellt. Neben der von Vitruv benannten praktischen Notwendigkeit – Schutz vor Unbilden der Witterung, vor Feinden und Gefahren, Ort der Versammlung und des Austauschs jeder Art – besitzt sie eine Sprachfähigkeit, die vielleicht in keiner Epoche prägnanter und differenzierter entwickelt und wahrgenommen wurde als in der hier beschriebenen, was als weiterer Grund für die zeittypische Nähe von Bau und Buch, Text und Bild verstanden werden kann.
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Die antikischen Bauformen selbst bilden das Vokabular. Die Kenntnis der Regeln ihrer Anwendung, sozusagen die Grammatik, formt aus den Worten einen Text, der nicht nur allgemein verständlich sein, sondern sogar rhetorisch argumentieren und stilistisch brillieren, der beeindrucken und überzeugen soll. Die Sprache der frühneuzeitlichen Architektur lebt vielfach von Zitaten, Verweisen und Anspielungen. Sie richtet sich generell an gebildete Betrachter, die diesen Code zu entschlüsseln verstehen, die evozierten Vorbilder (er-)kennen und die kalkulierten Normabweichungen, Innovationen und originellen Variationen als Qualitäten zu schätzen wissen. Im Unterschied zur Moderne, die es zur besonderen schöpferischen Leistung erklärt hat, eine originäre gestalterische Lösung scheinbar völlig neu und eigenständig, voraussetzungslos und ohne jede Bezugnahme auf bereits Vorhandenes gleichsam aus dem Nichts erfunden zu haben, bezieht die Baukunst des Vitruvianismus ihre zahlreichen Referenzsysteme, Vorbilder und Vergleichsfolien stets mit ein in die intendierte Wirkung und Aussage. Daher ist ein gewisser Überblick über die Monumente der Antike, die Baugeschichte jener Jahrhunderte, ein Grundverständnis für ihre Gesetze und Konventionen, ihre Zeichensysteme und Codes sowie ein Blick auf die politischen und kulturellen Hintergründe, vor denen die Bauten entstanden und die sie medial transportieren, für deren Verständnis unverzichtbar. Hierfür ein erstes Beispiel (□ 4): 1683 war es dem Kaiser des Heiliges Römischen Reiches Deutscher Nation gelungen, mithilfe einer europäisch-christlichen Koalition die türkisch-muslimische Expansion des osmanischen Sultans an den Mauern seiner Residenzstadt Wien zu stoppen. Man war über diesen Sieg in letzter Minute so erleichtert und hielt ihn andererseits für so unumkehrbar, dass man in den folgenden Jahrzehnten beschloss, den Saum jener Vorstädte, welche während der Belagerung großenteils zerstört worden waren, mit prächtigen Palästen und Kirchen geschmückt wieder aufzubauen. Als 1713 eine Pestepidemie die Stadt verschonte, gelobte Kaiser Karl VI. seinem Namenspatron, dem Mailänder Pestheiligen Karl Borromäus, ein prächtiges Gotteshaus in direkter Blickachse seiner Residenz, der Hofburg, am gegenüberliegenden Rand der Vorstadt zu errichten. Der Auftrag ging 1715 an den in Rom ausgebildeten Hofarchitekten Johann Bernhard Fischer von Erlach, der in denselben Jahren an einer 1721 erstmals edierten, illustrierten Weltgeschichte der Architektur arbeitete – geschmückt mit teilweise fantastischen Ansichten von Bauten aus China und Indien, den antiken Weltwundern und natürlich seinen eigenen Entwürfen für Wien, das als Residenz des Kaisers architektonisch gleichen Rang beanspruchte wie Konstantinopel, Griechenland und das antike Rom. Fischers Karlskirche, 1716–37 realisiert, wirkt auf den unbefangenen Betrachter als ein etwas ungeordnetes, wenig harmonisches Konglomerat von Bauformen, die einem allesamt bekannt vorkommen: Die Kuppel erinnert an St. Peter in Rom, die von Säulen getragene Portikus darunter an heidnische Tempel wie das Pantheon (□ vgl. 17) in derselben Stadt. Statt Kirchtürmen inden sich, unverbunden vor die zurückschwingende Fassade gestellt, mit umlaufenden Reliefbändern verzierte Triumphsäulen nach Vorbild derjenigen der Kaiser Trajan und Marc Aurel. Mit ihren laternenartigen Aufsätzen gemahnen sie aber auch an Minarette. Die seitlich abschließenden, von Torbögen durchbrochenen Flügelbauten schließlich tragen geschwungene Haubendächer, die auf ostasiatische Pagoden verweisen. Es besteht kein Zweifel daran, dass Fischer alle diese Bezüge erkannt wissen wollte. Immerhin trug der Bauherr den Titel eines Römischen Kaisers, daher waren Reminiszenzen
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□ 4 Wien, Karlskirche, J. B. Fischer von Erlach, 1716 – 37
an die Bauten der ‚Ewigen Stadt‘ geradezu geboten. Aber auch die außereuropäischen Assoziationen wurden gezielt gesetzt, sollten sie doch den universalen Herrschaftsanspruch des Stifters untermauern. Karl VI. war einige Jahre lang spanischer König gewesen, bevor er diesen Titel nach einem erbitterten Erbfolgekrieg an die Erzfeinde aus dem französischen Haus Bourbon abtreten musste: Auch wenn die Wiener Habsburger danach kein globales Kolonialreich wie ihre spanischen Vettern regierten, so verstanden sie sich doch als Apostolische Majestäten, von Christus als Verwalter des letzten der vier Weltreiche, des Römischen Kaiserreichs, eingesetzt, bis er selbst am jüngsten Tage wiederkommen würde. Die beiden Säulen können somit mehrfach gedeutet werden: z. B. als Säulen des Herkules, die als Symbol für die Meerenge von Gibraltar noch heute das spanische Staatswappen zieren und somit auf den verlorenen, aber trotzig weiter behaupteten Titel des Bauherrn verweisen. Zugleich erinnern sie den bibelfesten Betrachter (damals eine Selbstverständlichkeit) auch an die Beschreibungen des Salomonischen Tempels in Jerusalem (□ vgl. 24), vor dessen Portal zwei gewundene Säulen aufgestellt gewesen sein sollen – Urbilder jenes Baldachins, der den Petrusaltar in Rom bekrönt |▶ 25| – und somit darauf verweisen, dass der Kaiser auch Schutzherr der katholischen Weltkirche ist. Dieser hypertrophe Anspruch wird gleichzeitig mit der Giebelinschrift relativiert und zu einem Akt demonstrativer Frömmigkeit umgedeutet, die als besondere Eigenart der österreichischen Herrscher (pietas Austriaca) galt: Vota mea reddam in conspectu timentium deum (Ps. XXI): ‚Im Angesicht
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der Gottesfürchtigen [Betrachter] erfülle ich [der Kaiser] meine Gelübde [mit dem Bau dieser Kirche]‘ (Psalm 21) (Sedlmayr 1997, S. 280–300; Matsche 1981). Bau und Inschrift betonen somit den zeittypischen, komplexen Mediencharakter von Architektur: Der Betrachter wird direkt adressiert, das Gebäude dient als sinnlich wirksame, dauerhaft präsente und nonverbal argumentierende Botschaft des Stifters. Der Architekt ist der rhetorisch versierte Übersetzer in die Sprache des Vitruvianismus, in der jede Form lesbar ist, ihre eigene Bedeutung hat; durch die jeweils speziische, neue Konstellation dieser ‚Textbausteine‘ wird eine unverwechselbare eigene Aussage formuliert. Die Ordnung der Architekturelemente und die Erindung ihrer konkreten Kombination und Disposition dienen neben der unmittelbaren sakralen Funktion des Kirchengebäudes vor allem der Repräsentation, also der (Selbst-)Darstellung des Bauherrn, seiner Macht, seiner Religiosität, seiner Bildung, seines Geschmacks, seines politischen Selbstverständnisses und (als Stifter) seiner Freigebigkeit. Es hieße von Betrachtern des 21. Jh.s zu viel erwarten, dass sie diese Sprache auf Anhieb verstünden und bis in die letzte Bedeutungsebene aufzuschlüsseln wüssten. Es ist aber das Anliegen dieses Buches, zumindest einige Grundkenntnisse sowie Gespür für die Lesbarkeit und Eigengesetzlichkeit der Baukunst dieser Epoche zu vermitteln. Es soll ein Zugang zu dieser fremden Welt eröffnet und Prinzipien erläutert werden, wie man sich hinter dieser Tür zur Vergangenheit zurechtinden kann. Es soll ein Grundkurs zum Erlernen einer unbekannten Sprache sein, und niemand darf erwarten, sich danach perfekt darin ausdrücken, alle bedeutungsmäßigen Nuancen und idiomatischen Wendungen verstehen zu können. Es ist aber auch der Anspruch dieses Buches, mehr zu bieten als eine Blütenlese der ‚fünfzig schönsten Bauwerke aus Renaissance und Barock‘ oder einen Kanon prüfungsrelevanter Daten, Namen und Fakten.
Drei Wege durchs Labyrinth Zum Konzept des Buches ieses Buch erzählt Architektur-Geschichten, d. h.: Es versucht, durch die unübersehbare Menge der Ereignisse, Bauten, Personen, Texte, Daten, Hintergründe, Entwicklungsstränge und Interpretationsansätze einige hoffentlich hilfreiche und möglichst wenig verworrene Ariadnefäden zu legen, mit deren Hilfe sich Interessierte im Labyrinth von 350 Jahren orientieren können. Hierfür ist es unvermeidlich, Vereinfachungen und Zuspitzungen vorzunehmen. Auswählen heißt weglassen. Komplexitätsreduktion erleichtert das Verständnis und birgt zugleich die Gefahr der unzulässigen Pauschalisierung. Deshalb werden in diesem Buch nicht nur einer, sondern gleich drei Wege durch den vitruvianischen Urwald gebahnt. Welchen Pfad die Lesenden zuerst beschreiten, dürfte vom jeweiligen persönlichen Interesse abhängen. Es ist daher erklärtes Prinzip dieses Bandes, immer wieder Querbezüge zwischen den verschiedenen Herangehensweisen aufzuzeigen, weil es die Überzeugung des Verfassers ist, dass man nur durch das Vergleichen und Gegenüberstellen, das Herstellen von Bezügen, das Aufzeigen von Gemeinsamkeiten und Unterschie-
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den das jeweils Speziische eines Bauwerks, einer Fragestellung, eines Deutungsansatzes verständlich machen kann. Der erste gebahnte Weg ist der ‚klassische‘ der Stil- und Forschungsgeschichte. Jene Jahrhunderte, die hier als Vitruvianisches Zeitalter im Zusammenhang vorgestellt werden, kennt man aus dem Schulunterricht oder Reiseführer gemeinhin unter der Zweiteilung Renaissance und Barock. Hinter diesen Begriffen verbergen sich jedoch keine eindeutig deinierbaren Kategorien wie ‚Tiere und Planzen‘ oder ‚sauer und basisch‘, sondern Deutungsvorschläge. Die Begriffe wurden ex post, also rückblickend, entwickelt, um den Bestand zu ordnen: Sie sortieren zunächst relativ objektiv nach der Entstehungszeit, dann aber auch nach ästhetischen Kriterien, also durch Beschreibung und Wertung von Eigenarten, Gemeinsamkeiten, Tendenzen und Qualitäten. Es ist heute Mode geworden, solche traditionellen Klassiizierungen in Bausch und Bogen als unwissenschaftlich und veraltet zu verdammen; dies verkennt aber ihre eigentliche Bedeutung als Verständigungsbegriffe, die zweifellos vereinfachen, um etwas anschaulich zu machen. Wenn man nicht der Täuschung erliegt, es handele sich bei diesen Kategorien um fertig fabrizierte, abgeschlossene Schubladen, in die man ein Kunstwerk nur richtig einsortieren müsse, sind sie durchaus nützlich im Sinne jener oben erwähnten Komplexitätsreduktion, die beim Vergleichen, Differenzieren, Zuordnen und Gruppenbilden, kurz: beim Verstehen helfen kann. Die sog. Stilbegriffe waren aber nicht immer und erst recht nicht in den Köpfen der Erbauer vorhanden, sondern sie wurden rückblickend erfunden und deiniert. Sie sind Annahmen, (Zwischen-)Ergebnisse der Forschung, also nur relativ ‚wahr‘ und natürlich selbst zeitgebunden. Daher wird im „Grundzüge“-Kapitel des Buches versucht, die Entstehung und Bedeutung der Vorschläge zur zeitlichen Binnendifferenzierung der untersuchten Epoche zusammen mit der Entwicklung der Interpretationsansätze darzustellen, die in den vergangenen 150 Jahren an die Architektur der Frühen Neuzeit herangetragen wurden. Die Genese der Begriffe und Fragestellungen ist freilich nicht als eine lineare Fortschrittsgeschichte im Sinne einer technischen Weiterentwicklung zu verstehen: Der neuere Ansatz ist nicht automatisch besser oder richtiger als der ältere, er ergänzt diesen vielmehr und modiiziert dessen Deutungsvorschläge. So wie mit jedem zusätzlichen Scheinwerfer, der neu aufgestellt wird, eine Szene heller ausgeleuchtet ist, führt erst die Vielfalt möglicher, tendenziell gleichberechtigter Fragestellungen und Thesen zu einem komplexen Verständnis des untersuchten Gegenstandes. Der zweite Erzählstrang versucht, die drei Leitbegriffe fruchtbar zu machen, unter denen das Vitruvianische Zeitalter hier betrachtet wird: Ordnung, Erindung, Repräsentation. Ordnung dient hierbei als Synonym für das, was gemeinhin Architekturtheorie genannt wird, also das Nachdenken und Reden der Zeitgenossen über die Baukunst. Hauptgegenstand dieser im Wesentlichen mithilfe illustrierter Texte geführten Diskussion war es, Regeln, Gesetze und Qualitätskriterien zu deinieren, sich also darüber zu verständigen, was gute bzw. ‚richtige‘ Architektur sei. Auch hierbei gilt es, einen naheliegenden Trugschluss zu vermeiden: Weder beschreiben und deuten diese Texte vollständig und umfassend die Baupraxis ihrer Zeit, noch dienten sie als Bedienungsanleitung oder Baugesetzordnung. Sie spiegeln vielmehr, oftmals verzerrt und verkürzend, die zeitgenössischen Ideale, Denkmodelle und Fragestellungen. Sie sind vor allem eine Gattung für sich: Texte, die auf andere Texte Bezug nehmen. Nicht alle daran beteiligten Autoren waren auch selbst Archi-
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tekten. Es wäre vermessen zu glauben, dass sie das zutreffend oder vollständig beschreiben könnten, was die Baukunst ihrer Zeit ‚tatsächlich‘ oder ‚im Kern‘ ausmacht. Noch nicht einmal jene Architekten, die ihre eigenen Entwürfe analysieren wie z. B. Palladio, liefern eine vollständige oder zutreffende Interpretation ihres Werks. Sie halten vielmehr ein zeitgebundenes, von rhetorisch-literarischen Konventionen bestimmtes Plädoyer, sie versuchen zu rechtfertigen, zu erklären, zu begründen und zu deuten, zu verdammen und zu loben. Sie alle stehen im langen Schatten Vitruvs, jenes schreibenden Architekten, von dem kein einziges Bauwerk überliefert ist, und dessen Name doch die aller anderen längst vergessenen, erfolgreich bauenden Zeitgenossen überstrahlt. Dieser Ariadnefaden wird zwangsläuig besonders dünn ausgesponnen werden müssen, mag aber als Einstieg in ein ganz eigenes Labyrinth dienen, das gut gefüllte Bibliotheken erschließt (Kruft 1991). Der zweite Leitbegriff lautet Erindung. Hier soll die Dynamik und Innovationskraft des Vitruvianischen Zeitalters nachgezeichnet werden. Trotz aller Regeln und Kontinuitäten handelte es sich um eine Epoche der stürmischen formalen Entwicklung, der Konkurrenz, der Kreativität und Originalität. Kenner sind in der Lage, jedes Bauwerk auf das Jahrzehnt seiner Entstehung genau zu datieren, weil sich seine Schöpfer eben nicht damit begnügten, alles richtig und genauso wie die Vorgänger zu machen oder gar die Antike wortgetreu zu kopieren, wie es Filarete (fälschlich) für sein eigenes Werk behauptet. Das Zeitalter des Vitruvianismus mit seinem scheinbar starren Regelkorsett und seiner Antikenidealisierung brachte gleichzeitig so unabhängige, alle bisherigen Konventionen sprengende Geister wie Brunelleschi und Alberti, Leonardo und Michelangelo, Bernini und Borromini, Neumann und Boullée hervor. Erindung – invenzione – ist ein zeitgenössischer Begriff, der aus einer anderen Mediengattung, nämlich der Rhetorik, also der Theorie der Redekunst entliehen wurde. Auf der Suche nach objektivierbaren Kriterien für künstlerische Qualität stieß man auf literarische Kategorien, die gut übertragbar erschienen: Imitatio war die (durchaus zu empfehlende) Nachahmung qualitätvoller, bedeutender, anerkannter Vorbilder. Aemulatio beschreibt ihre verbessernde Weiterentwicklung, beruhend auf dem Prinzip der Überbietung durch Konkurrenz. Das dritte Prinzip lautete inventio, also die Erindung neuer, eigener rhetorischer Figuren und Strukturen, überraschender Wendungen, überzeugender Argumentationsweisen. Dies war die letzte und höchste Stufe der Rede – und damit auch der Baukunst. Ihr Medium war die Entwurfszeichnung (ital. disegno), die somit mindestens gleichberechtigt neben die reale Bauausführung (fabrica) trat. Dabei bedeutet disegno, ähnlich wie die heutigen Begriffe ‚Design‘ oder ‚Entwurf‘, weit mehr als die Linien auf dem Papier, und umfasst auch Idee, Konzept und Programm einer komplexen gestalterischen Aufgabe. Der dritte Leitbegriff schließlich, Repräsentation, richtet den Blick auf die historischen und kulturellen Rahmenbedingungen, die Auftraggeber und Zeitgenossen, die Sender und Empfänger, die sich des Mediums Architektur bedienten. Vitruv wandte sich mit dem ersten Satz seines Buches direkt an den Imperator Caesar, also Augustus, dem er seine Pension verdankte. Filarete wusste sehr gut, dass selbst im iktiven Sforzinda kein Stein auf den anderen gesetzt würde, wenn nicht der Namens- und Brötchengeber den Befehl (und das Geld) dazu gab. Welche Motive leiteten die Bauherren, welche äußeren und inneren Faktoren bestimmten ihre Entscheidungen für oder gegen eine bestimmte Form der architektonischen Selbstdarstellung? Da der Auftrag bis heute die Basis jedes Bauwerks
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ist, wird die Frage nach der Bedeutung und gesellschaftlichen Einbettung des Bauens als erste behandelt. Der abschließende Hauptteil des Buches schlägt eine dritte Art der Annäherung vor: Nicht als Längsschnitt oder Überblick, sondern als Mosaikbild aus fünfzig höchst individuellen Einzelfällen, die aber dennoch in vielfältiger Art miteinander verbunden sind: als Vorbild oder Gegenbild, als Analogie oder Kontrastfolie. 49 der 50 besprochenen Bauten stehen in Europa, einer in Lateinamerika. Die Länder des Kontinents sind dabei so ungleich vertreten, wie ihr Anteil an der Entwicklung heute gemeinhin wahrgenommen wird. Eine (sicher wünschenswerte) größere Auswahl aus dem Norden und Osten hätte unvermeidlich wichtige Beispiele des Südens und Westens verdrängen müssen. Die Schlüsselwerke sind somit auch ein Bekenntnis zur traditionellen Kanonbildung der Architekturgeschichte, bereichert um einige vielleicht unerwartete Überraschungsgäste. Schließlich hofft und glaubt der Verfasser, ein individuelles Buch geschrieben zu haben. Man darf der Auswahl der Beispiele durchaus anmerken, dass er seinen Forschungsschwerpunkt in der Barockarchitektur Mitteleuropas hat, sich für historische und konfessionelle Fragen besonders interessiert und das Verhältnis der Neuzeit zur Baukunst des Mittelalters für eine wichtige, meist zu wenig beachtete Frage hält. Hauptgegenstand der Darstellung sind nicht die fünfzig hier beschriebenen Bauten, sondern der einundfünfzigste, den der Leser oder die Leserin auf Basis dessen, was hier an Beschreibungs- und Analysetechniken vermittelt wurde, sich selbst erschließt. Es wird nicht vermittelt: „Wie unterscheide ich Renaissance von Barock?“, sondern es sollte verständlich werden, was gemeint ist, wenn diese beiden Kategorien benutzt werden, um Ordnung in eine ziemlich unüberschaubare Vielfalt von gebauten Individuen zu bringen. Was sollte man nicht erwarten? Ein vollständiges, umfassendes, objektiv gesichertes, ‚absolut richtiges‘ und irgendwie erschöpfendes Bild der frühneuzeitlichen Baukunst. Es handelt sich vielmehr um einen individuellen Vorschlag, wie man die Architektur des Zeitalters lesen und verstehen kann. Der Verfasser hofft, nicht mehr als die unvermeidlichen Fehler gemacht zu haben; nur das wenigste hat er selbst erforschen können, in vielem handelt es sich tatsächlich um jenen Fernblick, den man auf den Schultern anderer stehend genießt. Exakte Baudaten und Eigennamen werden in dieser Epoche kaum jemals einheitlich angegeben, können also durchaus von den Angaben anderer Darstellungen abweichen. Beschreibungen, Deutungen, Wertungen und Interpretationen geben regelmäßig den persönlich eingefärbten Blick des Autors wieder, der ebenso viele individuelle Vorlieben und blinde Stellen wie jeder andere Betrachter haben dürfte. Man kann, darf und soll ihm hier gerne widersprechen. Aber es besteht die Hoffnung, dass man sich nach der Lektüre sicherer fühlt, eine eigene Meinung zum Thema zu entwickeln, ein Gespür für das Charakteristische der Zeit zu erwerben und vielleicht Geschmack an der Baukunst jener merkwürdig fremden, bunten, vielgestaltigen Epoche zu gewinnen, die hier die Vitruvianische genannt wird.
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III. Schlüsselwerke
Das Findelhaus in Florenz Der Gründungsbau der Renaissance
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ann beginnt die Architektur der Renaissance? In seltener Einigkeit werden hier die meisten Wissenschaftler das Jahr 1419 nennen, in dem der Florentiner Goldschmied Filippo Brunelleschi von der arte della seta, der Seidenweberzunft, den Auftrag zum Neubau des kommunalen Waisenhauses seiner Vaterstadt erhielt. Die Zünfte waren in der Stadtrepublik am Arno nicht nur reine Berufsverbände, sondern vielmehr mit bestimmten öffentlichen Aufgaben betraute Bürgervereine: So waren Seidenweber seit 1294 für die sog. Findelkinder zuständig, (nicht nur) außerehelich geborene Babys, die von ihren Eltern aus inanziellen oder gesellschaftlichen Gründen nicht aufgezogen werden konnten und daher ausgesetzt bzw. in die Obhut der Kommune gegeben wurden. Hier wurden sie zunächst von Ammen genährt und erlernten später Lesen und Schreiben und ein Handwerk (z. B. die Seidenweberei), wodurch sie sich für das Gemeinwesen nützlich machen konnten (Sandri 1996, S. 59–83). Die Sorge um den verwaisten Nachwuchs, bis zu 1000 Kindern gleichzeitig, war in einem Stadtstaat, der sich zwar auf dem Gipfel seines
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Reichtums und Ansehens befand, aber dessen Bevölkerung nicht zuletzt infolge der Pest des Jahres 1348 von ehemals 90 000 auf zeitweise 37 000 Einwohner zurückgegangen war (Battisti 1979, S. 48), eine höchstrangige Aufgabe. Dies erklärt, warum sich die kommunalen Bauherren für einen derart repräsentativen Komplex entschieden. Brunelleschi, der 1404 der Seidenweberzunft beigetreten war (Löhneysen 1999, S. 31), ist durch die bis 1427 geleisteten Zahlungen in seiner Funktion als Entwerfer und Bauverantwortlicher in den ersten Jahren des Projektes gesichert. Danach löst ihn Francesco della Luna, ein weiterer nebenberulicher Architekt aus dem die Republik prägenden Florentiner Großbürgertum, ab, unter dessen Leitung zehn Jahre später das Obergeschoss über der Loggia errichtet und dem die meisten Unregelmäßigkeiten des Bauwerks angelastet wurden. 1445 wurde das Gebäude eingeweiht, doch noch 1487 werden Veränderungen wie die Anbringung der Wickelkinder zeigenden Majolika-Reliefs Andrea della Robbias an der Fassade vorgenommen, so dass der ‚Originalplan Bru-
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□ 41 Florenz, Findelhaus, Platzfassade, F. Brunelleschi, 1419 – 45
nelleschis‘ nur hypothetisch aus Beschreibungen und Detailbeobachtungen zu rekonstruieren ist (Saalman 1993, S. 32–82, hier 51, 69). Dennoch kann man davon ausgehen, dass das Gesamtkonzept und die Architektursprache dieses ersten bedeutenden profanen Renaissancebaus weitgehend dem Entwurf des genialen Dilettanten entsprechen. Dilettant, also Liebhaber-Architekt, kann man Brunelleschi deshalb nennen, weil er kein ausgebildeter Maurer, Steinmetz oder Zimmermann, sondern Bildhauer war. 1418 hatte er als Mitglied einer wiederum von der Seidenweberzunft eingesetzten Kommission die Verantwortung für die prominenteste Baustelle der Stadt, die Fertigstellung der Kuppel des 1296 begonnenen Doms übernommen. Durch ein von ihm entwickeltes zweischaliges Fischgrät-Wölbsystem gelang es ihm, die riesige 1413 bis zum Tambour fertiggestellte Kuppel bis 1436 zu schließen, ohne einen Wald von Lehrgerüsten dafür im Inneren aufzustellen, was dem damals
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üblichen Verfahren entsprochen hätte (Saalman 1980). 1444 wurde der Bau schließlich mit der von Brunelleschi entworfenen Laterne bekrönt. Zurück zum Findelhaus: Worin liegt nun die Schlüsselstellung dieses Gebäudes für die kommenden 250 Jahre der Architekturgeschichte begründet? Heutigen Betrachtern fällt es nicht ganz leicht, das Revolutionäre dieser lediglich zweigeschossigen, eher schlicht gestalteten Fassade spontan zu empinden (□ 41). Eine Annäherung an ihre ursprüngliche Wirkung wird auch dadurch erschwert, dass die Schauwand Brunelleschis ab 1516 an zwei Seiten des Platzes variierend wiederholt und durch das 1608 von Pietro Tacca gegossene Denkmal des Großherzogs Ferdinand I. der Toskana nachträglich zentriert wurde. Das Findelhaus war ursprünglich in einer zunächst weitgehend unbebauten nördlichen Erweiterungszone der Kernstadt entstanden. Seine ehemals beherrschend und einzigartig wirkende Front erscheint heute hingegen als Teil einer eher zurückhaltenden, seri-
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ellen Platzrahmung (Sandri 1996, Abb. 12, 16). stalteter Portale im zweiten, fünften und achOb Brunelleschi seine Fassade als Muster für ten Joch deutet die bei Profanbauten neuartige eine vereinheitlichende, regelmäßige Fassung Regelmäßigkeit und Spiegelsymmetrie an. Das der Gesamtanlage im Sinne antiker Forums-Por- Loggien-Motiv, also die Schaffung eines halböftiken verstand, ist nicht zu entscheiden. fentlichen, leicht erhöhten Zwischenraumes Zunächst muss das Hospital höchst auffäl- vor einem Gebäude, ist fester Bestandteil der lig gewirkt haben, denn mit seiner gleichmä- Florentiner Bautradition, wie z. B. die 1381 vollßig gestalteten Frontlänge von ca. 70 Metern endete sog. Loggia dei Priori (der Ratsherren) (= 120 braccia = Florentiner Ellen) setzte es an der Piazza della Signoria, dem Rathausplatz, neue Maßstäbe für Profanbauten seiner Zeit. zeigt. Schon an diesem Bau, einer Art öffentliBrunelleschis Waisenhaus besteht aus einem chem Festsaal der Stadtregierung, inden sich Kernbau um einen quadratischen, von Arkaden halbrunde Bogenformen; dagegen stellte die umgebenen Innenhof, der von zwei längsrecht- Gestaltung der Freistützen des Findelhauses eckigen Bauten, links der Kirche und rechts einen deutlichen Bruch mit dem gotischen Fordem Schlafsaal der Kinder, flankiert wird mengut dar, denn statt Bündel- oder Polygonal(□ 42). Diese symmetrische Gesamtdisposition pfeilern verwendet Brunelleschi korinthische ist durch spätere Umbauten, vor allem einem Säulen. Eine weitere wichtige Innovation liegt südlich angefügten zweiten Innenhof verun- in der Gestaltung der Wölbungen, die als laklärt; auch die Fassade wurde mehrfach umge- che Hängekuppeln, nicht mehr als Rippenkonstaltet und restauriert. Zum Platz hin ist dem struktionen ausgeführt sind. Die Funktion der Komplex ein breit gelagerter, zweigeschossiger, Loggia als Übergangszone zwischen Platz und nur ein Joch tiefer Fassadenbau vorgelegt, der Gebäude wird auch durch einen Einbau an der aus einer neunjochigen Loggia und zwei lan- Schmalseite dokumentiert, der in seiner Funkkierenden, ursprünglich geschlossenen Eckrisaliten mit Ädikulen als Portalen besteht. Die Gebäudefront wurde später verbreitert, so dass die Fassade heute elf Bögen zeigt. Die Loggia liegt nicht auf Platzniveau, sondern ist über einer Freitreppe in voller Breite der Bogenstellung erhöht. Die seitlichen Risalite sind im Erdgeschoss durch Pilaster eingefasst. Das Obergeschoss ist durch eine gleichmäßige Abfolge von ursprünglich elf Rechteckfenstern unter Dreiecksgiebeln gestaltet. Beide Geschosse sind durch einen breiten Streifen getrennt, den man als dreiteiliges Gebälk lesen könnte (genauer gesagt ist es ein gerahmtes Feld auf einem Architrav), als dessen Stützen dann die Pilaster der Risalite zu verstehen wären. Die dreiteilige Grundrissdisposition spiegelt sich an der Fassade kaum wider, lediglich die regelmäßige □ 42 Florenz, Findelhaus, Grundriss und Aufriss, F. Brunelleschi, Anordnung großer, nahezu gleich ge1419 – 45, Rekonstruktion Saalman
Das Findelhaus in Florenz
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tion den heute wieder geläuigen Babyklappen zu vergleichen ist (Sandri 1996, S. 62 f.). Der Kontrast von weißem, neutralem Putzgrund und grauem Naturstein, pietra serena, für die hervorgehobenen Bauteile formulierte eine neue, differenzierende, die Ablesbarkeit der sorgfältig ausgearbeiteten Einzelformen unterstützende, quasi graphische Architektursprache, die sich markant von der plastischen Wucht bisheriger Florentiner Repräsentationsbauten, etwa des Rathauses Palazzo Vecchio oder von Privatpalästen wie dem (zeitweise irrtümlich Brunelleschi zugeschriebenen) Palazzo Pitti |▶ 4| unterschied. Wollte Brunelleschi mit seinem Findelhaus Bauten der Antike nachahmen oder eine genuin neue Architektur schaffen? Vermutlich beides, und ein Drittes dazu: nämlich eine typisch lorentinische Architektur, die bewusst auf ältere lokale Vorbilder zurückgriff. So inden sich Säulenarkaden mit ähnlichen Kapitellen auch schon in mittelalterlichen Bauten, z. B. der vor 1100 erbauten Kirche SS. Apostoli (Günther 2009, Abb. 25). Der wichtigste Bezugspunkt war ohne Zweifel S. Giovanni, das Baptisterium des Domes (□ vgl. 19), ein romanisches Oktogon vermutlich aus dem 11. Jh., welches damals für einen antiken Marstempel gehalten wurde, der zur ersten Kathedrale der Stadt umgewidmet worden sei. Die etwa gleichzeitig erbaute Kirche S. Miniato al Monte mit ihrer Freitreppe, den schlanken Blendarkaden, dem Ädikulenfenster in der Fassadenmitte, dem beide Geschosse trennenden kräftigen Hauptgesims und dem auffälligen Farbwechsel – hier freilich grüne und weiße Marmorinkrustationen – konnte ebenfalls als Vorbild dienen (Busignani 1974, S. 225). Details, die schon den Zeitgenossen am Findelhaus als dezidiert ‚unantikisch‘ erschienen wie der an den Gebäudekanten neben den Pilastern senkrecht abknickende Architrav haben in diesen geschichtsträchtigen Bauten ihre Vorbilder, deren ungewöhnlich antikennahe Gestaltungsweise
III. Schlüsselwerke
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durch die Kunstgeschichte die anschauliche, aber etwas verwirrende Benennung Protorenaissance erhalten hat. Giorgio Vasari erzählt in seiner Biographie Brunelleschis, dieser habe den mit ihm befreundeten della Luna wegen des abknickenden Architravs scharf kritisiert, da dieses Detail nicht ,der [lies: guten, vitruvianischen] Architektur gemäß sei‘. Della Luna antwortete, es stamme vom Baptisterium, das doch nach allgemeiner Auffassung antik sei? Brunelleschi replizierte: ,Ein einziger Fehler ist an diesem Bau, und den hast du übernommen!‘ (Vasari /Burioni 2012, S. 51). Unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt belegt die Geschichte, wie sehr gute und regelhaft normierte Architektur in der Renaissance als Synonyme verstanden wurden. Brunelleschi bemühte sich also im wörtlichen Sinne um eine ‚Wiedergeburt‘ der lokalen, vermeintlich antiken Tradition, wobei er auch die gotischen Innovationen der vergangenen Jahrhunderte nicht verleugnete. Sie zeigen sich allerdings nur in den schlanken, luftigen, oft ‚entschwerten‘ Proportionen und Kompositionsprinzipien. Der Bautypus ‚zweigeschossiges Hospital mit vorgelegter Säulenloggia‘ war in Florenz nichts Neues, wie das nahe gelegene Ospedale di S. Matteo an der Piazza S. Marco von 1384 belegt (Saalman 1993, S. 35 ff.): Die Einzelformen dagegen sind alle konsequent aus dem antiken bzw. pseudoantiken Repertoire entlehnt. Man könnte daher von einer Reformarchitektur sprechen, die einen bewährten Bautyp formal erneuert, indem sie an (noch) Älterem Maß nimmt – eine Wieder-Geburt im Wortsinn, wenn schon nicht der klassischen Antike, so doch der (als antikisch verstandenen) Florentiner vorgotischen Tradition. Zu den zukunftsweisenden Innovationen der Findelhausfassade gehört die differenzierte Anwendung der Stützglieder an einem Gebäude, ja in einem Geschoss: Während die schlanken Säulen die Bögen der großen Loggia tragen, sind die beiden äußersten Achsen
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von Pilastern, also lachen, statisch funktionslosen Wandaulagen gerahmt, die – wiederum scheinbar – das den Bögen aufliegende Zwischengesims tragen. Die Säulenschäfte sind glatt, die der Pilaster kanneliert, beide tragen korinthische Kapitelle. Die antikischen Stützen treten also bereits bei ihrer ersten ‚Wiederverwendung‘ in zwei Gestalten auf: Als autonomes, funktional begründetes Tragglied und als Element der Wandgliederung, das vor allem gestalterische Zäsuren setzt und rhythmisiert. Auch hierfür konnte das Innere des Baptisteriums als Vorbild dienen (Frommel 2009, Abb. 2). Pilaster und Säule werden bei Brunelleschi als voneinander unabhängige, nicht austauschbare, sondern funktional differenzierte Elemente behandelt. Das wird beim Blick ins Innere der Loggia deutlich. Als Aulager für die Gurtbögen der Hängekuppeln dienen hier Kapitelle, die auf Konsolen aufruhen – eine (wiederum in der Loggia dei Priori vorgeprägte) Verlegenheitslösung, die systematisch gedacht, aber ästhetisch wenig überzeugend ist. Schon bei seinem nächsten Bau, der Basilika S. Lorenzo |▶ 2|, wird Brunelleschi eine andere, nun maßstabsetzende Lösung für dieses Problem anbieten, indem er Säule und Pilaster als aufeinander bezogene, gleichwertige Elemente in ein kohärentes System einbindet. Das erst nach einer längeren Bauunterbrechung durch Brunelleschis Nachfolger ausgeführte Obergeschoss der Fassade erschien schon den Zeitgenossen als wenig überzeugend. Die Jochgliederung des Erdgeschosses wird oberhalb des Zwischengesimses nicht fortgeführt, die schmächtigen Rechteckfenster mit Dreiecksgiebeln vermögen die homogene Wandläche nicht überzeugend zu gliedern; der Systemwechsel von der Loggia zu den Eckrisaliten zeichnet sich im Obergeschoss nur durch einen vergrößerten Abstand der Fenster ab. Ob Brunelleschi auch hier Pilaster als Zäsur vorgesehen hatte, also zwei Ordnungen in sog. Superposition übereinandersetzen wollte, bleibt
Hypothese. Sein Biograph Manetti entschuldigte dies damit, dass der Architekt lediglich einen gezeichneten und vermaßten Plan, aber nicht wie damals üblich ein Holzmodell gefertigt und die Bauleute nur mündlich angewiesen habe. Bei einer längeren Abwesenheit des Meisters hätten die Handwerker dann die heute noch sichtbaren Ausführungsfehler verschuldet (Manetti/Saalman 1970, S. 96). Unabhängig vom Wahrheitsgehalt beleuchtet dieser Episode die Kluft, die sich im Zeitalter des disegno zwischen dem entwerfenden Künstler und den ausführenden Handwerkern auftut – Alberti wird diese Trennung wenig später sogar als wünschenswert einfordern. Dennoch sprechen die harmonierenden Maßverhältnisse der beiden Fassadengeschosse für deren kohärente Gesamtplanung: Die Säulenhöhe der Loggia – 10 lorentinische braccia – entspricht dem Interkolumnium, die Obergeschossfenster sind halb so hoch und ihre Sohlbank liegt genau zwei Säulenabstände über der obersten Stufe der Loggia (De Angelis d’Ossat 1980). Auch hiermit erweist sich Brunelleschi als Pionier, denn die ganzzahligen Verhältnisse der Baumaße nehmen Bezug auf Vitruvs mathematisch-modulares Proportionsmodell und lösen das bis dahin vorherrschende, geometrische, auf Dreieckskonstruktionen mit Zirkel und Lineal basierende System der Bauhütten ab (vgl. S. 57 f.). Abschließend kann man feststellen, dass der Gründungsbau der Renaissance evolutionär, nicht revolutionär zu deuten ist. Er beschreibt keinen radikalen Bruch mit dem gotischen Erbe, sondern einen mit neuer ästhetischer Konsequenz betriebenen Perfektionierungsversuch. Findelhaus und Domkuppel sind weniger als isolierte Geniestreiche eines Einzelnen zu verstehen, vielmehr als innovative Transformationen einer zunächst regional fundierten Bautradition. Dass von hier eine neue Epoche der Baukunst ausging, erkannten erst spätere Generationen (Vasari/Burioni 2012, S. 13 f.).
Das Findelhaus in Florenz
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Säulenordnungen: Dekorum, Norm und Dekoration
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rundaxiom der frühneuzeitlichen Architekturtheorie war, dass die möglichst genaue Einhaltung von (aus der Antike abgeleiteten) Regeln, Formen, Proportionen und Fügungen der Elemente die Basis jeder anspruchsvollen Baukunst sei. In Analogie zu Rhetorik und Poetik entwickelte man die Vorstellung eines feststehenden Vokabulars und einer exakten Grammatik seines Gebrauchs (‚Disposition‘), die man als Ordnung bezeichnete. Schönheit entstehe dadurch, dass man vollkommene Vorbilder exakt kopiere und angemessen verwende. Die nachantike Neuerindung von Formen, die man der Gotik vorwarf, galt als genuin regellos, willkürlich und daher barbarisch. Außerdem waren alle Elemente so einzusetzen, dass sie der Funktion und dem Rang des Gebäudes und des Bauherrn möglichst entsprechen sollten. Diese Angemessenheit von Form und Inhalt bezeichnete man als Dekorum (von decens = ‚schicklich‘, passend, adäquat).
Für dieses selbst ausgedachte ‚Regelwerk‘ gab es zwei Hauptquellen: das einzige aus der Antike überlieferte Architekturtraktat des Vitruv (unillustriert und textlich schwer verständlich) sowie die Überreste der antiken Gebäude selbst, hauptsächlich in Rom und Italien, da Griechenland weitgehend unzugänglich war. Die Ruinen wurden exakt abgezeichnet (□ vgl. 17), vermessen, oft recht phantasievoll auf dem Papier ergänzt (□ vgl. 25, 27) und hierbei (meist vergeblich) versucht, diese Bauaufnahmen mit den Angaben bei Vitruv in Übereinstimmung zu bringen. Der kanonische Text orientierte sich nämlich vorzugsweise am griechischen Tempel (□ vgl. 26), einer von Freisäulenkolonnaden geprägten Sonderform des Sakralbaus, die mit der mehrheitlich in den Jahrhunderten nach Vitruv entstandenen kaiserzeitlich-römischen Architektur kaum in Übereinstimmung zu bringen war. So beschreibt Vitruv die dorische Säule z. B. als kanneliert und basislos, was nur für klassische griechische Bauten galt.
III. Schlüsselwerke
Vitruv listet im zweiten Kapitel seines ersten Buches drei sog. Säulen-‚Genera‘ (Geschlechter) auf, die nach ihrer historischen Entstehung gereiht und nach den griechischen Regionen benannt sind, in denen sie angeblich erfunden wurden: dorisch (Athen), ionisch (Kleinasien), korinthisch. Der Text verbindet mit dieser Aufzählung keine Rangfolge, sondern eine Charakterisierung: Dorische Säulen sind stämmig und wenig dekoriert, also für die Tempel männlicher Gottheiten geeignet; ionische Säulen sind wie Frauen schlanker und reicher geschmückt, korinthische Säulen wie Mädchen, grazil und elegant. Charakteristisch ist jeweils das Kapitell (der Kopf) der Säule sowie ein speziisches, meist dreiteiliges Gebälk, bestehend aus Architrav, Fries und Gesims. Durch diese Analogiebildung und den Verweis auf das Motiv der Karyatiden, Stützen in Menschengestalt, wird eine die gesamte Epoche prägende Assoziation von menschlichen und architektonischen Proportionen, Natur und Baukunst hergestellt. Wahre Schönheit sei keine individuelle, regionale oder zeitbedingte Geschmacksfrage, sondern von Naturgesetzen abhängig und damit unveränderlich. Jede sog. Säulenordnung besitzt demnach eine ihr allein angemessene Proportion, d. h. ein nicht variables Verhältnis von Breite und Gesamthöhe: dorisch 1 : 7, ionisch 1 : 9, korinthisch 1 : 10. Den unteren Schaftdurchmesser benennt Vitruv als Modul, d. h. als Grundmaß: Alle Baumaße sollten ein Vielfaches dieser Grundzahl sein. Das bedeutet, dass die Säule von nun an als das proportionsgebende und beherrschende Element jeder anspruchsvollen Architektur galt (Germann 1993). Durch das Studium römischer Bauten ergänzte und modiizierte man dieses anscheinend für die gesamte antike Architektur gültige Regelwerk: Am Amphitheater des Colosseums (□ vgl.1) sah man die Säulengenera Vitruvs übereinander in sog. Superposition angeordnet und deutete dies als Hierarchie: Demnach war die unten stehende Dorica eher für einfache, die
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oben abschließende Corinthia für höchste Bauaufgaben geeignet. Außerdem deinierte man zwei weitere, römische Ordnungen: die sog. tuskische (Toscana) als eine vereinfachte Variante der Dorica mit nichtkanneliertem Schaft, ungeschmücktem Fries und Basis, und die in der Spätantike häuig angewandte sog. Composita, eine Verbindung der ionischen Volutenschnecken mit dem korinthischen AkanthusBlätterkranz. Hierdurch war die kanonische Abfolge der fünf nunmehr ‚klassisch‘ genannten Säulenordnungen deiniert (□ 43; Forssman 1961). Gerade die antiken Bauten zeigten, dass die Ordnungen keineswegs nur als autonome konstruktive Stützglieder, sondern (wie beim Colosseum) auch als auf die tragende Wand applizierter zusätzlicher Schmuck eingesetzt werden konnten, z. B. als Halbsäule oder Pilaster. Hierbei war ihre Hauptfunktion offensichtlich der ‚Dekor‘, also der würdige, die Bedeutung des Gebäudes kommunizierende Schmuck im Sinne der modernen Wortbedeutung ‚Dekoration‘. Dieser durfte freilich niemals beliebig eingesetzt werden, sondern immer regelkonform und mit Bezug auf den Rang der jeweiligen Bauaufgabe: Ordnungen sollten nicht willkürliche Verzierung, sondern Würdezeichen mit Signalcharakter, nobilitierende Auszeichnung sein. Um die neuen ‚Gesetze‘ auch denjenigen bekannt zu machen, die die Ruinen nicht im Original studieren konnten, entstand um 1540 die Gattung des illustrierten sog. Säulenbuchs, in dem die fünf Ordnungen in ihrer hierarchisierten Abfolge und den jeweils charakteristischen, idealen Proportionen gemäß ausgewählten Vorbildern reproduziert wurden. Die Stützen und Gebälke wurden hierfür aus dem Zusammenhang der Gesamtgebäude isoliert und damit als frei verfügbare, beliebig kombinierbare, wenn auch buchstabengetreu anzuwendende Vokabeln neu deiniert. Das gebräuchlichste und praktischste dieser Vorlagenbücher wurde 1562 von Jacopo Barozzi gen. Vignola vorgelegt, der zum ersten Mal ein Maßsystem auf Basis der Säulenhöhe statt des unteren
□ 43 Die fünf Säulenordnungen, aus: Sebastiano Serlio, 4. Buch, 1537
Durchmessers vorschlug, was der von vorgegebenen Stockwerkshöhen ausgehenden Planungspraxis entgegenkam (Thoenes 1983). Gerade in Nordeuropa wurden diese dekontextualisierten Vorlagenwerke als Aufforderung verstanden, die importierten Bedeutungsträger relativ frei mit der lokalen Bautradition zu amalgamieren (Forssman 1956). Schwerpunkt der theoretischen Diskussion in den folgenden Jahrhunderten war stets, wie zwingend alle Details der vermeintlichen antiken ‚Gesetze‘ eigentlich seien, ob man neue Ordnungen dazuerinden könne (was oft versucht wurde, sich aber niemals durchsetzte, sieht man von den gewundenen ‚salomonischen‘ Säulenschäften ab), wie viel Freiheit man sich z. B. bei Rhythmus, Proportion und Detailausbildung nehmen dürfe, oder ob man nicht doch besser zu einer stren-
Säulenordnungen
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geren, ‚klassizistischen‘ Auslegung dieser Formen zurückkehren müsse. Hierbei erwiesen sich die Zentren mit ihren Akademien als eher normverstärkend, die Peripherie dagegen als freier und selbstbewusster im Umgang mit dem Vokabular. Bis zum Ende des Vitruvianismus war es aber der Anspruch der meisten Architekten, die Übereinstimmung der eigenen Gestaltung mit den antiken Vorbildern zu behaupten. Allzu
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freizügige Abweichungen, z. B. bei Michelangelo, Borromini oder im Rokoko, lösten meist eine Gegenbewegung aus, die eine ‚Reinigung‘, also eine Rückkehr zu den ‚einzig richtigen, natürlichen‘ Formen forderte. Erst nach 1750 wurde mit der Rehabilitierung der Gotik und der Wiederentdeckung des Ägyptischen das normative Korsett der klassischen Ordnungslehre relativiert und zuletzt gesprengt.
S. Lorenzo in Florenz Die Wiedergeburt der Basilika
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enn das Findelhaus |▶ 1| als Gründungsbau der profanen Renaissancearchitektur gelten kann, so beansprucht ein weiteres Projekt Brunelleschis, die nach seinen Plänen errichtete Laurentiuskirche in Florenz, dieselbe Bedeutung im Bereich des Sakralbaus (Saalman 1993, S. 107–209). Der Neubau einer
□ 44 Florenz, S. Lorenzo, Grundriss der Gesamtanlage
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Sakristei, welche zugleich als Grabstätte des Stifters Giovanni de’ Medici dienen sollte, entstand (vermutlich ab 1419) im Zusammenhang einer Erweiterung und Erneuerung der alten, romanischen Stiftskirche S. Lorenzo; hierdurch wurde der Grundstein zu einem Komplex gelegt (□ 44), der sich in den folgenden 300 Jahren zu einem Monument der Patronatsfamilie und zu einem Seismographen der Architekturentwicklung im Florenz der Frühneuzeit entwickeln würde. S. Lorenzo zeichnet so den Aufstieg der Bankiers-Dynastie de’ Medici vom großbürgerlichen primus inter pares zum großherzoglichen Fürstenhaus nach. Zwei im folgenden Jahrhundert realisierte Anbauten, die nach dem Ahnherrn des Stifters Lorenzo de’ Medici benannte Bibliotheca Laurenziana und die sog. Neue Sakristei, eigentlich eine Grabkapelle für die beiden ersten hochadelig gewordenen Mitglieder des Hauses Medici, wurden durch den Florentiner Universalkünstler Michelangelo Buonarroti entworfen und stellen Marksteine in der Entwicklung von der sog. Hochrenaissance zum Manierismus dar (Argan/Contardi 1993, S. 94 –145). Ähnliche Bedeutung hat die Fas-