ANTIKE WELT 6/17 Leseprobe

Page 1


INHALTSVERZEICHNIS

TITELTHEMA 8 von Annemarie Ambühl

OVID DER ANDERE OVID – FANTASIEN AUS DEM EXIL IN «VERGESSENEN» GEDICHTEN In der Ovid-Rezeption finden seit einigen Jahren auch bislang unbekannte literarische Werke Beachtung. Dazu zählen neben den eigenen Werken des Dichters auch jene aus mittelalterlicher oder gar postmoderner Feder.

13 o Chrisi e Walde

19 o Patri k S holl eyer

PUBLIUS OVIDIUS NASO – EIN AUTOR WIRD BESICHTIGT

Die Metamorphosen Ovids bezaubern die Menschen seit mehr als Jahren, denn die darin erzählten Verwandlungen bieten dank der großen poetischen Imaginationsgabe des Dichters genügend Freiraum für Assoziationen und Reflexionen.

DIE TÖTUNG DER NIOBIDEN – EINE STATUENGRUPPE UND IHRE BEDEUTUNG

Die antike Niobidengruppe ist das berühmteste Beispiel dafür, dass nicht nur nachantike Künstler, sondern auch jene der Alten Griechen und Römer ihre Inspiration für die Bildproduktion in Ovids Metamorphosen fanden.

24 o Ele a Merli

«SCHLECHTE» DICHTUNG ODER GELUNGENE INSZENIERUNG – ASPEKTE DES EXILDISKURSES

Die Exildichtung Ovids sah sich über sehr lange Zeit mit schweren Werturteilen konfrontiert, die sich erst innerhalb der letzten Jahrzehnte wandelten. Die neueste Literaturkritik stellt den virtuosen Charakter dieser späten Werke in den Vordergrund und bringt neue Aspekte in den Exildiskurs.

30 o Giorgi Maisuradze u d Patri k S holl eyer

34 o Ele a Merli

TATSÄCHLICH TROSTLOS? – OVIDS EXILORT ZWISCHEN LITERARISCHER FIKTION UND ARCHÄOLOGISCHER REALITÄT War Tomis am Schwarzen Meer tatsächlich so trostlos, wie es der Dichter in seinen Exilwerken schildert? Neuere archäologische Ausgrabungen brachten zwar keine nennenswerten Befunde aus augusteischer Zeit hervor, Anlass die Schilderungen des Dichters mit Vorbehalt zu betrachten aber durchaus.

OVID UNTER DEN SKYTHEN – EUGÈNE DELACROIX’ BLICK AUF OVIDS LEBEN IM EXIL In seinem Gemälde Ovid bei den Skythen transportiert Eugène Delacroix’ wichtige Aspekte der ovidischen Exildichtung in seine Zeit und schafft – insbesondere vor dem Hintergrund des sich im Exil befindlichen Schriftstellers Victor Hugo betrachtet – ein überaus brisantes Werk. Fotos: o e : akg-i ages / A drè Held; re hts: Mateusz Fai ski.


THEMENPANORAMA ARCHÄOLOGIE RUND UM ENTENHAUSEN – EINE ANDERE SICHT AUF WALT DISNEYS COMICS

43 o Mathias Paus h

Von den Maya und den Ägyptern über Odysseus, das Goldene Vlies oder auch den Schatz des Priamos – in Entenhausen begegnen uns weitaus mehr Szenen und Geschichten archäologischer Themen als vielleicht im ersten Moment gedacht.

ON THE ROAD AGAIN – DAS NACHLEBEN DER RÖMISCHEN INFRASTRUKTUR

49 o Mateusz Fai ski

Archäologische Zeugnisse, Chartas und Chroniken aus dem angelsächsischen Britannien ermöglichen uns einen Einblick in das vielfältige Nachleben der römischen Infrastruktur, insbesondere im Frühmittelalter.

VON EINEM LAND DER SONNE ZUM ANDEREN – BEGEGNUNG MIT ÄGYPTEN UND DIE ENTWICKLUNG DER ÄGYPTOLOGIE IN JAPAN

58 o Yoshifu i Yasuoka

Einen direkten Kontakt zwischen Ägypten und Japan hat es bis in das 9. Jh. nicht gegeben. Der Beitrag beleuchtet den Weg von den Anfängen im . Jh. bis hin zu heutigen groß angelegten Gemeinschaftsprojekten.

NOBLESSE OBLIGE? – TEILNAHME UND FERNBLEIBEN ALS DYNAMIKEN DER MACHT IM REPUBLIKANISCHEN ROM

64 o Ralph La ge

Präsenz und Distanz sind nicht nur zur heutigen Zeit ein Kommunikationsmedium bei Akteuren der Politik. Auch im republikanischen Rom spielten sowohl die Teilnahme als auch das Fernbleiben vom Senat eine wichtige, bislang sogar folgenschwere Rolle.

THEODOR MOMMSEN – WISSENSCHAFTLER, POLITIKER, LITERATURNOBELPREISTRÄGER

AW-SPEZIAL THEODOR MOMMSEN

Am . November jährt sich der Geburtstag Theodor Mommsens zum . Mal. Grund genug, sich dem bedeutenden Altertumswissenschaftler zu widmen und einen Blick auf seine wichtigsten Lebenssituationen zu werfen.

70

EIN LEBEN IN BRIEFEN – DIE VERLOBUNGSZEIT VON THEODOR MOMMSEN UND MARIE REIMER

o Stefa Re e i h

79 o Julia Kö k

Theodor Mommsen und Marie Reimer verband eine lange Ehe, aus der Kinder entstammten, die gemeinsam mit ihren Nachfahren die deutsche Geschichte des . Jhs. auf vielfältigste Weise prägten. Briefe aus der Verlobungszeit Mommsens und Reimers geben nun Einblicke in die Anfänge ihrer Beziehung.

RUBRIKEN

4 6 37 42 56 84 86 90 92 96 97 A o-Ser i e ANTIKE WELT A o iere Sie it der Bestellkarte hi te i IPS-Date ser i e G H | Tel.  /

Het, rufe Sie a oder s hrei e Sie ei e E-Mail: | E-Mail: a @a otea .de | .anike elt.de

Aktuell Spra he u d S hrite Museu si sel Berli Preisrätsel Leserreise Spa ie AW-Shop Musee i aller Welt Bü herspiegel Ausstellu gskale der Vors hau / I pressu Gelügelte Worte


PUBLIUS OVIDIUS NASO Ein Autor wird besichtigt Kau ei Di hter der A ike hat ü er Jahrtause de ei e sol he Faszi aio ausgeü t ie O id. I s eso dere sei e Metamorphosen si d o u ge ro he er Aktualität.

o Chrisi e Walde

D

as Jahr 2017 bescherte uns ein etwas zweifelhaftes Jubiläum, nämlich den 2000. Todestag von Publius Ovidius Naso. v. Chr. in Sulmo geboren, avancierte er neben Vergil zum größten Dichter seiner Zeit, um auf der Höhe seines Ruhms durch Kaiser Augustus von Rom nach Tomi am Schwarzen Meer im heutigen Rumänien) verbannt zu werden. Dass er dort wirklich gerade n. Chr. verstarb, ist allerdings bis heute nicht sicher bezeugt.

abschließbaren Prozess. Ovid erzählt systematisch Mythen, die Phantasien über Schaffung von neuem Leben aus unbelebter und belebter Materie sind, auch unter völliger oder teilweiser Ausschaltung des weiblichen Anteils, also von Schwangerschaft und Geburt. Dies dokumentieren etwa die Mythen von

Abb. 1 Apollo verfolgt Daphne, welche sich, um Apollo zu entkommen in einen Lorbeerbaum verwandelt. Römisches Mosaik aus Thysdrus; . Jh. n. Chr.; Archäologisches Museum von El Djem, Tunesien.

U hei li he Ver a dlu ge Die Metamorphosen Ovids bezaubern ihre Leserschaft schon mehr als zwei Jahrtausende. Diese Nachhaltigkeit hängt in erster Linie mit den darin erzählten Verwandlungen zusammen, denen etwas sehr Unheimliches anhaftet: Menschen werden – aus welchem Grund auch immer – meist gegen ihren Willen in eine andere Existenzform verwandelt, in eine Pflanze, ein Tier oder in einen Stein Abb. . Wer die Metamorphosen gelesen hat, wird die Welt mit anderen Augen sehen, denn nun ist mit vielen Phänomenen der realen Welt – der Narzisse, dem Lorbeer, der Hyazinthe, den Fröschen – das Schicksal von Menschen verbunden, die ihren Körper und die Identität verloren haben. Jede einzelne Metamorphose ist eine Ergänzung der realen Welt. Die Imagination des Dichters begreift die Schöpfung offensichtlich als einen un-

Pygmalion und seiner belebten Statue Abb. und Bacchus, der nach dem Tod der Mutter im Schenkel des Vaters Iuppiter heranreift. Diese Geschichten können selbst vor dem Hintergrund der heutigen Reproduktionsmedizin und Gentechnik als Assoziationsspender und Reflexionsraum dienen.

13 ANTIKE WELT 6/17


PUBLIUS OVIDIUS NASO – Ei Autor ird esi higt

Abb. Pygmalion und Galatea in einem Gemälde von Jean-Léon Gérôme )nv. Nr. . .

; ca.

14 ANTIKE WELT 6/17

; New York Metropolitan Museum of Art


TITELTHEMA

O ids «Lie esges hi hte » Ovid zählt zu den Verwandlungen offensichtlich Konfliktzustände, die in nicht minder unheimlicher Weise in die psychische Struktur des Menschen eingreifen und ebenso eine nachhaltige Veränderung des Betroffenen und seiner Umwelt bewirken. Vielen Metamorphosen geht eine fehlgelaufene Beziehung und Affektbesetzung von Menschen oder Göttern voraus. Diese eindrücklichen Geschichten um Daphne, Callisto, Narcissus oder Pygmalion werden selbst in aktuellster Ovid-Forschung immer noch unscharf-banal und euphemistisch als «Liebesgeschichten» bezeichnet. Doch verschleiert dies das hohe psychologische Potential der Metamorphosen. Genauso greift es zu kurz, Ovid zu unterstellen, er habe sich in seiner «Freizügigkeit» nur ironisch von der geistig-moralischen Wende des Augustus distanzieren wollen. Er verfolgt viel ambitiösere Ziele: In seinen Metamorphosen herrscht eine derartige Freiheit der fast enzyklopädisch dargestellten Objektwahl und Ausübung von Sexualität, dass sie selbst uns heute fremd ist und gerade deshalb fasziniert: Da steht neben Liebe zu Männern oder Frauen oder zu sich selbst die Liebe zu Tieren, ja sogar zu Unbelebtem Abb. . 4). Auch für Ovids Psychologie avant la lettre kann Freuds Diktum über das Objekt, das er «als Objekt meiner Leidenschaft, eines Gefühls, geliebtes Objekt» versteht, geltend gemacht werden: «Es ist das Variabelste am Triebe, nicht ursprünglich mit ihm verknüpft, sondern ihm nur infolge seiner Eignung zur Ermöglichung der Befriedigung zugeordnet.» Triebe und Triebschicksale [ ] GW X, . Schon Ovid markiert, dass das Begehren unabhängig von gesellschaftlichen Bewertungen eine nicht zu unterschätzende Instanz ist. In der Regel enthält er sich einer eindeutigen moralischen Bewertung und macht deut-

lich, dass eine eindeutige Stellungnahme im Kunstwerk, etwa eine Verurteilung, ebenfalls einer Interpretation zu unterziehen ist. Da sich seine Werke nicht in reiner Widerspiegelung der Verhältnisse in Kritik oder Affirmation erschöpfen, eröffnet er neue Perspektiven und verflüssigt traditionelle Sichtweisen. Dank seiner großen poetischen Imaginationsgabe, die in seinen Erzählungen genügend Leerstellen und Widersprüche lässt, bleibt noch Raum für unsere Assoziationen und Reflexionen.

Der Di hter u d der Kaiser Kaum ein Autor ist in der Klassischen Philologie stärker persönlich diskreditiert worden als Ovid. In der älteren Sekundärliteratur wird er zum sexlüsternen Schreibtischtäter stilisiert, der seine perversen Phantasien in Li-

teratur umgesetzt hat. Offensichtlich sind diese Interpreten Ovid auf den Leim gegangen, weil er so überzeugend auf sie wirkte, dass sie seine Erzählerstimmen mit dem historischen Ovid verwechselten. Doch Ovid hat die )dentifikation seines Werks «mit ihm selbst» schon in Tristien II, seiner Rechtfertigung gegenüber Augustus, zurückgewiesen. In seinem größten Geniestreich konstruiert er einen sittenstrengen Kaiser, der fürchtet, dass durch die freizügige Dichtung Ovids die Volksmoral verdorben werde, weshalb er ihn als unliebsamen Konkurrenten um die Oberhoheit über die Köpfe seiner Untertanen in die Verbannung geschickt hat. Doch Ovids Geschichten sind alles andere als sensationalistisch: Dass sie als «perverse» Sexualität wahrgenommen wurden, verdankt sich nicht selten der rigiden Moral seiner moder-

Abb. Leda und )uppiter in Gestalt eines Schwans. Römische Wandmalerei aus dem sog. (aus Josefs )). V))), , in Pompeji; um – n. Chr.

15 ANTIKE WELT 6/17


PUBLIUS OVIDIUS NASO – Ei Autor ird esi higt

nen )nterpreten, die sich – erschüttert durch so viel Toleranz – mit Augustus identifizieren und seine Maßnahmen zur Moralstabilisierung z. B. die Ehegesetze) als absolute Richtschnur setzen, gegen die Ovid verstoßen habe. Entsprechend sind die Abwehrreaktionen mancher )nterpreten – Auslassungen in Textausgaben und Anthologien oder gar «wissenschaftlich» begründete Streichungen kompletter Passagen – gar nicht weit von Augustus‘ Literaturzensur entfernt. Manch gutgemeinte Warnung, sich vom freizügigen Text nicht verderben zu lassen, zeigt erstaunliche Ähnlichkeiten mit Ovids Orpheus, der sein Publikum davor warnt, die Geschichte der inzestuösen Myrrha für Realität zu nehmen. Es wäre sicher sehr aufschlussreich, in einer Sexualgeschichte der Ovid-Re-

zeption zu untersuchen, welche der fast 300 Metamorphosen-Geschichten oder Passagen anderer Werke für die Zensur ausgewählt und dadurch eigentlich besonders markiert wurden.

O ids literaris hes La oratoriu Ovids Schaffen reduziert sich jedoch auch nicht auf eine rein reaktive-ironische Abarbeitung an «unerreichbaren» Vorgängern wie Vergil oder Properz, sondern er verfolgt ein eigenes Konzept. Schon in allen frühen Werken Ovids ist das systematische Durchspielen von «Konstellationen» ein erkennbares Prinzip, das im Spätwerk – in den Fasti, Metamorphosen und Exilgedichten – zum tragenden Element wird. Ovids Œuvre ist ein postmodern anmutendes literarisches Laboratorium

Abb. Narcissus und Echo. Römische Wandmalerei aus Pompeji; um Nazionale Archeologico, Neapel )nv. .

n. Chr.; Museo

von Formen, Perspektiven, Dialogen mit Vorgängertexten, in dem Macht, Sexualität und Geschlechterrollen, die er ganz offensichtlich schon im Sinne eines Konstruktivismus als solche begriffen hat, verhandelt werden. Schon in seinem Erstlingswerk, den Amores «Liebeleien» stellt er in nur scheinbarem Gegensatz zu den früheren Elegikern Properz und Tibull die Performanz, also den Inszenierungscharakter von Beziehungen, in den Vordergrund. )m dritten Buch der Ars Amatoria «Liebeskunst» wendet er sich konkret an ein weibliches Publikum, weil er Frauen als gleichberechtigte Akteure in diesem «Liebesspiel» im wörtlichen Sinne sieht. In den Heroides, elegischen Briefen von Frauen, die von ihren Männern getrennt sind, vermittelt er sogar nur die weibliche Perspektive. Bezeichnenderweise ist in der Sekundärliteratur meist von «verlassenen» Frauen die Rede, was die Passivität der Betroffenen betont: )n Wirklichkeit liegen in dieser wahren Poetik der Distanz verschiedenste Trennungskonstellationen vor.

O id u d ir Natürlich nehmen wir im Zeitalter der Virtualität und einer Gesellschaft, in der die Lebensformen, die von einer Mann-Frau-Paar-Konstellation abweichen, Akzeptanz finden, an den Geschichten Ovids andere Züge wahr als frühere Generationen. Wir erkennen, dass Ovid durch seine immerwährende Rückkehr zu den gleichen Themen die Vielfältigkeit der Objekte auslotet. Der Mensch sucht sich seine Obsessionen, erschafft sich ein Bild von sich selbst und seiner Liebe. Und diese Bilder haben für den Menschen in der Literatur und im realen Leben Folgen, für die man sich am Ende doch selbst entscheidet. Hinter den Amores, den Heroides, vielen Metamorphosen-Geschichten und den Elegien der Distanz des Exils steht also die 16 ANTIKE WELT 6/17


TITELTHEMA

Abb.

Szenen aus dem Laodamia-Mythos. Reliefs auf einem Sarkophag aus dem . Jh. n. Chr. in der Basilica St. Chiara in Neapel.

auch für unsere, durch Virtualität geprägte Zeit, zentrale Frage: Wie viel Realitätsgehalt braucht das menschliche Begehren zur Befriedigung und zur Zufriedenheit? Ovids Gestalten zeigen oft ein unerfülltes, doch selbstbestimmtes Begehren, in der die Phantasieproduktion die bevorzugte, befriedigende Ausübung von Sexualität ist. Sein Orpheus sagt, dass der Unterschied zwischen einem lebendigen Körper und Stein nur ein kleiner sei Met. , . Musste Pygmalions Statue wirklich belebt werden?

P g alio  …

Sicherlich hat die Geschichte des Künstlers Pygmalion, der sich die Statue seiner idealen Frau schafft und sie nach ihrer Belebung zur Geliebten nimmt Met. , – , die größte Flut von Folge-Narrativen hervorgebracht, weil sie ebenso in den Horizont von weiblicher Emanzipation wie von Automatenphantasien, der artificial intelligence und der Reproduktionsmedizin eingeklinkt werden kann Abb. . )m Gegensatz zu Myrrha, die die vollen Konsequenzen ihrer Wunscher-

füllung, des Inzestes mit dem Vater Ausgrenzung aus der Gesellschaft, Schwangerschaft, Verwandlung trägt, lässt Ovid mit dem Happy End der Pygmalion-Geschichte eine wichtige Frage unbeantwortet: Wie ergeht es eigentlich dem Künstler nach der Verwandlung der Statue? Wenn es in der Geschichte nur um die Feier künstlerischer Kreativität ginge, ist für ihn die Belebung eine befriedigende, ja eine gute Lösung? Von der Warte seiner Agalmatophilie, der fetischistischen Liebe zu unbelebten Puppen, sieht es noch schlechter aus: Der amerikanische Ovid-Forscher Anderson meinte, Pygmalion könne nach der Belebung seiner Statue nur Stunden oder bestenfalls einige Tage glücklich sein.

… u d Laoda ia Dass diese Deutung keineswegs abwegig ist, zeigt die obsessive Bildverfallenheit der extrem auf ihren Geliebten fixierten Laodamia, die Ovid im 13. Heroiden-Brief aus deren Perspektive schildert Abb. . : Nach einer ohne göttlichen Segen hastig vollzogenen Hochzeit zieht Protesilaos nach Troia, wo er schon beim Landgang als 17 ANTIKE WELT 6/17

Abb. Laodamia blickt dem Schiff ihres Ehemannes Protesilaos nach. Französische Buchmalerei aus dem . Jh.; Bibliothèque Nationale Paris Ms. fr. , fol. v .


PUBLIUS OVIDIUS NASO – Ei Autor ird esi higt

erster Kriegstoter fällt. Laodamia erträgt die Abwesenheit des Gatten nicht, schafft sich aber mit ihren Tagphantasien und einer Wachspuppe in Gestalt des Gatten einen Ausweg aus ihrer Not. In ihren imaginierten Gesprächen fallen «seine» Antworten genauso aus wie erwünscht, was sie sehr befriedigend findet. Doch schon bedrängen sie beunruhigende Träume, in denen ihr der Gatte als Schatten, also ebenfalls nur in einem wenngleich immateriellen Abbild erscheint – der Grund, warum sie zur Feder greift. Wie wird die Geschichte ausgehen? In einer anderen Version des Mythos geht Laodamia in den Tod, als sie vom Tod des Protesilaos hört. Sicher ist auch der Freitod aus Liebe als Fortsetzung der Epistel plausibel, doch deutet sich eine weitere Alternative an, denn es ist zweifelhaft, ob seine Laodamia, die sich schon so viele Surrogate und damit eine wenngleich obsessive Form von Lebensbewältigung geschaffen hat, den echten Protesilaos überhaupt noch braucht. Mit den literarischen Extremfällen wie Narcissus, Pygmalion, Myrrha, Laodamia verweist Ovid auf die «normalen» alltäglichen Fälle von Liebe und Verliebtheit, die auch nur durch viel virtuelle Ergänzung und Phantasieproduktion möglich sind.

O id u d die Ma ht der Bilder Diese Überlegungen beantworten freilich nicht die Frage, wie Ovids zeitgenössisches Publikum, das stark sozial und individuell differenziert war und keinen homogenen Erwartungshorizont gehabt haben dürfte, auf diese psychologisch realistischen Darstellungen menschlicher Sexualität reagiert haben könnte. Manche Leser könnten in Ovids Metamorphosen so etwas wie Andachtsbilder des menschlichen Begehrens, auch ihres eigenen Begehrens gesehen haben, die sie in Phantasien – auch sexueller Natur – und in neue Kunst, Bilder und Texte umsetzen konnten. Die Bilderwelten römischer Villen sind, wie die Zusammenstellung der Mythen und bestimmte Details zeigen, häufig echte Ovid-Rezeption in einem anderen, dem visuellen Medium. Der Bann des Kaisers Augustus hat jedenfalls weder den Ruhm des Dichters geschmälert noch den Zauber der Metamorphosen gebrochen. Insofern dürfen wir die berechtigte Hoffnung hegen, dass auch die modernen Edikte gegen den altsprachlichen Unterricht die Werke der griechischen und römischen Autoren nicht aus unserem kollektiven Gedächtnis ausmerzen werden. Gerade Ovids betörende Geschichten geben – selbst in den

schlechtesten Übersetzungen – auch heute noch genug Stoff zum Nach- und Weiterdenken.

Adresse der Autorin U i .-Prof. Dr. Chrisi e Walde I situt für Altertu s isse s hate Joha es Gute erg-U i ersität Mai z Jako -Welder-Weg DMai z Bildnachweis

A . : akg-i ages / Gilles Mer et; . . : akg-i ages; : akg-i ages / MPorfolio / Ele ta; : akg-i ages / De Agosi i / Ar hi io / J. La ge. Literatur Text und Übersetzung: N. HOL)BERG, O ids Metamorphosen, Sa Tus ulu .

lu g

Weiterführende Literatur: A. BARCHIESI, The Poet a d the Pri e. O id a d Augusta Dis ourse . M. MOELLER, O id.

Seite

M. BETTINI, Il ritrato dell’a a te

. .

E. A. SCHMIDT, O ids poeis he Me s he elt. Die Meta orphose als Metapher u d Si fo ie . C. WALDE, Auferstehu ge . O id-Rezepio a der We de o . zu . Jahrhu dert, i : M. Ja ka /  U. S h itzer / H. Se g Hrsg. , O id, Werk – Kultur – Wirku g – . DIES., Nar issus i Mitelalter: Na h O id – or Freud, i : A.-B. Re ger Hrsg. , Nar issus. Ei M thos o der A ike is zu C erspa e – . DIES., Literatur als E peri e t? )ur Erzählte h ik i O ids Heroides, i : A ike u d A e dla d 124–138. S. WHEELER, A Dis ourse of Wo ders. Audie e a d Perfor a e i O id’s Meta orphoses .

Anzeige

Von Arthur zu Austen Landschaft, Archäologie und Geschichte Südenglands Reiseleiter: Dr. Andreas Thiel, Archäologe • 11-tägige Studienreise mit Übernachtung/HP in 3- & 4-Sterne Hotels • Rundreise im 4-Sterne-Reisebus ab Stuttgart und Köln • Rückreise: Flug ab London Heathrow • mit Cornwall, berühmte Kathedralen, auf den Spuren von Jane Austen & König Arthur 21.06. – 01.07.2018 | € 2140 im DZ | € 2595 im EZ das ausführliche Programm erhalten Sie bei Heideker Reisen oder im Internet unter www.heideker.de

Heideker Reisen GmbH |  07381 / 93 95 0 72525 Münsingen | Dottinger Str. 55 | info@heideker.de

18 ANTIKE WELT 6/17


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.